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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[307]
Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten!


„Und nun fasse wieder Vertrauen zu mir, Kind!“ fuhr Raven fort. „Wenn ich jetzt streng gegen Dich und Deine Liebe bin, so sieh darin nur die Pflicht des Vormundes, der für ein junges, ihm anvertrautes Wesen einzustehen hat. Willst Du mir das versprechen?“

„Ja, Onkel Arno.“ Der Name kam doch seltsam zögernd und gezwungen von den Lippen des jungen Mädchens. Die Unbefangenheit, mit der sie einst dem „Onkel Arno“ entgegengetreten, war unwiederbringlich dahin.

„Ich habe mit dem Assessor Winterfeld gesprochen,“ nahm Raven wieder das Wort, „und ihm gleichfalls mitgetheilt, daß ich meine Einwilligung zu Deiner Verbindung mit ihm auf das Entschiedenste versage. Es bleibt bei meinem Nein, denn ich weiß, daß eine solche Verbindung nach kurzer Täuschung für Dich nur eine Quelle der Sorgen und Thränen werden würde, und um Deiner selbst willen muß ich sie verhindern. Du bist in aristokratischen Anschauungen und Gewohnheiten erzogen, an Reichthum und Ueberfluß gewöhnt und wirst Dich nie in einer anderen Sphäre zurechtfinden. Was Dir Winterfeld bieten kann, ist im besten Falle die einfachste Häuslichkeit mit den bescheidensten Mitteln. Mit jener Heirath trittst Du in ein Leben von Dunkelheit und Entbehrungen und mußt Alles zurücklassen, was Dir lieb und nothwendig ist. Es mag Charaktere geben, die solchen fortwährenden Aufopferungen und Entsagungen gewachsen sind – Du bist es nicht; Du müßtest denn Deine ganze Natur ändern, und ich habe es dem Assessor fühlen lassen, welchen Egoismus er bekundet, wenn er Dir dergleichen Opfer zumuthet.“

„Er muthet sie mir nur für wenige Jahre zu,“ fiel Gabriele ein. „Georg Winterfeld steht ja erst im Anfange seiner Laufbahn, und wir vertrauen auf die Zukunft. Er wird sich emporarbeiten, wie Du selber es gethan hast.“

Raven zuckte die Achseln. „Vielleicht – vielleicht auch nicht! Jedenfalls ist er keine von den Naturen, die sich ihre Zukunft im Sturme erringen und erobern; er gewinnt sie höchstens mit ruhiger, steter Arbeit. Aber dazu gehören lange Jahre, und dazu gehört vor Allem, daß er frei und auf sich selbst gestellt bleibt, wie jetzt. Die Sorge für eine Familie, die tausend Bande und Rücksichten, mit denen sie ihn fesselt, wird ihm keinen Raum mehr zur Entfaltung seines Ehrgeizes lassen und ihn in die Bahn der Alltäglichkeit lenken, wo man nur noch arbeitet, um zu leben. Dann ist er verloren für jedes höhere Ziel, und Du bist es mit ihm. Du weißt freilich noch nicht, was es heißt, mit der ganzen Existenz auf eine Summe angewiesen zu sein, wie sie jetzt Dein Toilettengeld bildet. Ich möchte Dich davor bewahren, es zu erleben, wie das Ideal von der Hütte und dem Herzen in Wirklichkeit aussieht.“

In Gabrielens Auge schimmerte eine Thräne, als der Vormund ihr mit fester, grausamer Hand das Zukunftsbild zeichnete, aber sie vertheidigte sich muthig.

„Du glaubst an keine Ideale mehr,“ entgegnete sie. „Du hast es mir ja selbst gesagt, daß Du die Welt und das Leben verachtest. Wir glauben noch daran, und darum wird es für uns auch noch Liebe und Glück geben. Georg hat nie daran gedacht, mir jetzt schon seine Hand zu bieten; er weiß, daß dies nicht möglich ist, aber in vier Jahren bin ich mündig, und er hat eine höhere Stellung erreicht, dann gehöre ich ihm, und dann hat Niemand mehr das Recht uns zu trennen, Niemand auf der Welt.“

Sie warf die Worte mit einer ganz ungewohnten Hast und Leidenschaftlichkeit hin, aber es war darin nicht der frühere Trotz und Eigensinn. Es war vielmehr ein halb unbewußtes, angstvolles Sträuben gegen jene Empfindung, der Gabriele schon im Anfange ihres Hierseins Worte geliehen, als sie der Mutter gestand, es sei ihr, als gehe von dem Freiherrn irgend eine geheime Macht aus, die sie quäle und gegen die sie sich wehren müsse um jeden Preis. Auch heute flüchtete sie sich in ihre Liebe zu Georg, und das allein war es, was die Heftigkeit ihrer Antwort verschuldete.

Um Raven’s Lippen spielte ein bitteres Lächeln. „Du scheinst ja sehr genau zu wissen, bis zu welcher Grenze meine Macht reicht,“ erwiderte er. „Man wird Dir das wohl oft genug klar gemacht haben; wofür ist man denn Jurist! Nun gut, so lassen wir die Sache ruhen bis zum Tage Deiner Mündigkeit. Wiederholst Du mir dann die heutigen Worte, so kann und werde ich Dich nicht mehr hindern, wenn unsere Wege sich auch fortan trennen. Bis dahin aber soll kein übereiltes Versprechen und keine eingebildete Fessel Dich binden, und deshalb wird Winterfeld Dir von jetzt an fern bleiben. Inzwischen bist Du frei, für die Bewerbung eines Jeden, dessen Lebensstellung und Persönlichkeit ihn dazu berechtigt. Ich werde einer ebenbürtigen Vermählung meine Einwilligung nicht versagen – das war es, was ich Dir mittheilen wollte.“

Er hatte ernst und kalt gesprochen; nicht das geringste Beben der Stimme, nicht das leiseste Zucken der Lippen verrieth, daß

[308] die letzte Verheißung ihm schwer werde. Der Traum sollte ja zu Ende sein, und Arno Raven schien ganz der Mann, dieses Wort wahr zu machen. Er zwang sich selbst mit der gleichen despotischen Gewalt, die er gegen Andere ausübte.

Er öffnete die Thür des Nebenzimmers, in dem sich die Baronin befand, die zu ihrem großen Leidwesen auch nicht ein Wort der Unterredung hatte auffangen können, da die schweren Portièren jeden Schall dämpften.

„Wir sind zu Ende, Mathilde,“ sagte der Freiherr. „Ich übergebe Ihre Tochter jetzt Ihrer Obhut, aber noch einmal – keine Vorwürfe! Ich will es nicht. Leb’ wohl, Gabriele!“




„Jetzt fange ich aber wirklich an, die Geduld zu verlieren,“ sagte Max Brunnow, als er in die Wohnung seines Freundes trat. „Ich glaube, alle Welt hat sich in die Ansicht des Hofrathes Moser verrannt, daß ich nothgedrungen staatsgefährlich sein müsse, weil ich den Namen Brunnow trage. Ueberall sieht man mich mit verdächtigen oder hochachtungsvollen Blicken an, je nach der Parteistellung. Es ist diesen Menschen schlechterdings nicht beizubringen, daß ich ein friedfertiger Arzt bin, der nicht daran denkt, Revolutionen anzuzetteln und Regierungen zu stürzen, sondern im Gegentheil die vortrefflichsten Anlagen zu einem ganz musterhaften Staatsbürger hat. Aber das glaubt mir Niemand, und nun bin ich mit meiner verhängnißvollen Familientradition auch noch in dieses aufgeregte R. gerathen, das fortwährend die krampfhaftesten Versuche macht, seinen Gouverneur abzuschütteln und sich dabei äußerst revolutionssüchtig zeigt. Aber Seine Excellenz sitzen fest im Sattel und setzen dem widerspänstigen Roß bei jedem Sprunge, den es macht, die Sporen tiefer in die Seiten. Der ist Euch Allen gewachsen.“

Assessor Winterfeld, der in der Sopha-Ecke lehnte, hatte ganz gegen seine Gewohnheit den Freund nicht begrüßt. Er achtete kaum auf dessen Worte und sagte jetzt in mattem gedrücktem Tone:

„Gut, daß Du kommst, Max! Ich wollte Dich soeben aufsuchen, um Dir eine Neuigkeit mitzutheilen.“

Max wurde aufmerksam. „Was giebt es denn? Ist Dir etwas Unangenehmes widerfahren?“

„Ja. Ich verlasse R. – wahrscheinlich auf immer.“

„Um Himmelswillen, was ist denn vorgefallen? Du willst fort?“

„Ich will nicht – ich muß. Heute Morgen habe ich die Nachricht von meiner Versetzung nach der Residenz und an das Ministerium erhalten.“

„An das Ministerium?“ wiederholte Max. „Ist das eine Beförderung oder –“

„Nein, es ist ein Gewaltschritt des Gouverneurs,“ brach Georg mit Bitterkeit aus. „Ich soll fort aus Gabriele’s Nähe; es soll uns in Zukunft jede Begegnung unmöglich gemacht werden. Raven hat es mir ja angekündigt, daß er seine Macht schonungslos gebrauchen werde. Er macht die Drohung nur zu bald wahr.“

„Du glaubst, daß diese Schritte gegen Dich von Deinem Chef ausgehen?“ fragte der junge Arzt, der jetzt auch ernst geworden war.

„Es ist sein Werk allein. Er ist einflußreich genug in der Residenz, um mich in eine der dortige Vakanzen einzuschieben, noch dazu, wenn es unter dem Vorwande der Verwendung für einen strebsamen jungen Beamten geschieht, dem man vorwärts helfen möchte. Ich weiß, daß von meiner Versetzung nie die Rede gewesen ist, sie trifft mich jetzt wie ein Blitzstrahl. Freilich, ich hätte den Freiherrn kennen sollen. Er droht nie, aber er weiß zu treffen. Seit unserer letzten Unterredung habe ich kein Zeichen seines Unwillens empfangen. Er vermied den Verkehr mit mir, und wenn er mir hin und wieder einige Worte sagen mußte, so geschah es kühl und geschäftsmäßig, aber ohne die geringste Hindeutung auf das Vorgefallene. Ebenso kühl und geschäftsmäßig kündigte er mir heute Morgen in der Kanzlei meine neue Bestimmung an. Er fügte sogar einige anerkennende Worte über einen Bericht hinzu, den ich für das Ministerium ausgearbeitet habe, und der ihm wahrscheinlich den Vorwand lieferte, die Sache einzuleiten. Das Ganze ließ sich wie eine besondere Bevorzugung an, und die Collegen gratulirten mir denn auch zu den brillanten Aussichten, die sich mir in der Residenz eröffnen.“

„Da haben sie ganz Recht,“ bemerkte Max, der jetzt, wo die erste Ueberraschung vorbei war, die Sache wie gewöhnlich von der praktischen Seite nahm. „Dein Chef mag persönliche Gründe gehabt haben; allzu schlimm ist er gerade nicht mit Dir verfahren, als er Dir die Residenz und das Ministerium öffnete. Das ist der Boden, aus dem er seine eigene glänzende Carrière gemacht hat. Was hindert Dich, es ihm nachzuthun?“

„Was hilft es mir,“ rief Georg mit Heftigkeit, indem er aufsprang, „wenn ich mich dort emporringe und emporarbeite, während mir hier Alles genommen wird, was mir das Leben und die Zukunft theuer macht? Ich weiß, daß ich Gabriele verliere, wenn sie all den feindseligen Einflüssen, die unsere Liebe bedrohen, hier jahrelang preisgegeben bleibt. Eine Natur wie die ihrige kann da nicht Stand halten, und ich ertrage es nicht, sie zu verlieren.“

Der junge Arzt hatte in aller Ruhe die leer gewordene Sopha-Ecke eingenommen und schien die Erregung seines sonst so besonnenen Freundes sehr wenig zu begreifen.

„Du bist ja ganz außer Dir,“ sagte er. „Was meint denn Fräulein von Harder zu der Trennung? Ist sie überhaupt schon davon unterrichtet?“

„Das weiß ich nicht. Mir ist ja jeder Verkehr mit ihr abgeschnitten, aber ich muß sie vor meiner Abreise noch einmal sehen und sprechen, ich muß, koste es was es wolle! Wenn mir kein anderer Ausweg bleibt, so gehe ich geradewegs zu der Baronin Harder und erzwinge mir den Abschied von meiner Braut.“

Max zuckte die Achseln. „Nimm es mir nicht übel, Georg, das ist eine unsinnige Idee. Die Baronin steht zweifellos unter dem Einfluß ihres Schwagers, und der läßt sich sicher nichts abtrotzen. Laß uns die Sache einmal vernünftig überlegen! Vor allen Dingen – wann mußt Du fort?“

„Schon in den nächsten Tagen, man hat selbstverständlich für einen Posten gesorgt, der sofortige und dringende Vertretung erfordert.“

„So ist keine Zeit zu verlieren. Du warst ja wohl erst kürzlich bei dem Hofrath Moser?“

„Ich habe ihm selbst einige Acten zurückgebracht, die ich mit nach Hause genommen hatte.“

Max sann nach. „Gut, so hast Du einen Vorwand, das zum zweite Male zu thun. Nimm meinetwegen das dickste Actenheft mit, das Du in Deiner Kanzlei auftreiben kannst, aber richte Dich so ein, daß Du den Hofrath verfehlst! Das ist die Hauptsache.“

Georg, der unruhig im Zimmer auf und nieder ging, blieb überrascht stehen. „Aber was soll denn das alles heißen?“

„Geduld – ich habe einen ganz vorzüglichen Plan. Fräulein Agnes Moser ist mit Baroneß Harder bekannt, allerdings nur oberflächlich. Der Hofrath hat seine Tochter den Damen vorgestellt, und die jungen Mädchen haben sich einige Male gesehen und gesprochen.“

„Woher weißt Du denn das alles?“ fiel Georg ein. „Ich denke, Du hast Fräulein Moser nur ein einziges Mal gesehen, bei jener irrthümlichen Visite?“

„Bitte um Entschuldigung; ich sehe und spreche sie fast täglich bei meiner Patientin, die ich auf Deinen Wunsch behandele; sie arbeitet an dem Seelenheil der Kranken und ich an deren leiblichem Wohle. Die Theilung der Arbeit geht ausgezeichnet von Statten.“

„Aber Du hast mir ja niemals eine Silbe davon erzählt.“

„Wozu das? Du bist verliebt, und verliebte Leute haben selten Interesse für vernünftige Dinge.“

Winterfeld überhörte die Bosheit, die in diesen Worten lag; der Gedanke an ein Wiedersehen mit Gabriele beschäftigte ihn vollständig.

„Und Du glaubst, das junge Mädchen, das, wie es heißt, in streng klösterlichen Umgebungen und Grundsätzen erzogen ist, werde sich zur Vermittlerin hergeben?“ fragte er.

„Mühe genug wird es kosten,“ antwortete der junge Arzt bedenklich. „Indeß, ich will es versuchen. Im schlimmsten Falle lasse ich mich einmal ordentlich bekehren; dann denkt sie an nichts weiter, als meine Seele dem Himmel zu retten, und willigt in Alles. Du mußt nämlich wissen, daß ich jetzt nach allen Regeln bekehrt werde.“

[309] Georg mußte trotz seines Kummers lächeln. „Du armer Max!“ sprach er mitleidig.

„Höre, Georg,“ sagte dieser ganz ernsthaft, „das ist auch so eine von den vorgefaßten Meinungen, daß man glaubt, das Bekehren müsse immer langweilig und trübselig sein, es ist bisweilen auch recht angenehm. Ich sage Dir, mir fehlt ordentlich etwas, wenn ich einmal nicht zu meiner Patientin komme, wo die üblichen Bekehrungsversuche mit mir angestellt werden.“

„Von Deiner Patientin?“

„Warum nicht gar! Von Agnes Moser. Bis jetzt hält sie mich allerdings noch für einen verstockten Sünder und verabscheut mich demgemäß, trotzdem sind wir schon ziemlich weit vorwärts gekommen. Die heilige Sanftmuth zum Beispiel, die mich im Anfange oft genug zur Verzweiflung brachte, habe ich ihr gründlich abgewöhnt. Sie kann jetzt schon ein ganz hübsches Trotzköpfchen aufsetzen, und wir zanken uns oft in einer herzerquickenden Weise.“

Georg’s Auge ruhte forschend auf dem Gesichte seines Freundes. „Max,“ sagte er plötzlich, ohne jeden Uebergang, „so viel ich weiß, besitzt Herr Hofrath Moser gar kein Vermögen.“

„Was in aller Welt geht das mich an?“

„Nun, ich meine nur wegen Deines Heirathsprogramms. Paragraph eins: Vermögen.“

Doctor Brunnow fuhr aus seiner Sopha-Ecke in die Höhe und starrte den Freund mit großen Augen an.

„Was fällt Dir denn ein? Agnes Moser will ja Nonne werden.“

„Ich habe auch davon gehört, und die Klostererziehung paßt nun allerdings nicht zu dem bequemen Leben, das Du in Deiner Ehe beanspruchst. Zartheit kannst Du bei Deiner Frau ohnehin nicht brauchen, und was die praktischen Hausfrauen-Eigenschaften und die blühende Gesundheit betrifft –“

„Das brauche ich nicht erst von Deiner Weisheit zu hören; das kann ich mir allein sagen,“ brauste Max im vollsten Aerger auf. „Ich begreife wirklich nicht, wie Du zu solchen ganz grundlosen Folgerungen kommst. Du meinst wohl, alle Welt müsse sich lieben, weil Du und Deine Gabriele es thun? Wir denken nicht daran, aber das hat man davon, wenn man sich als Freund in der Noth erweist. Die reinsten Absichten werden verdächtigt. Ich und Agnes Moser – lächerlich!“

Winterfeld hatte Mühe, seinen höchst aufgebrachten Freund zu besänftigen; endlich gelang es ihm. Der Herr Doctor ließ sich herab, die lächerliche Idee zu vergessen, mit der man ihn beleidigt hatte, und versprach seine Hülfe. Er trat denn auch bald darauf den gewohnten Weg zu seiner Patientin an. –

Die Kranke befand sich in der That ganz vortrefflich bei dem Eifer, mit dem man sich von zwei verschiedenen Seiten um ihr Wohl bemühte. Die Cur ihres Arztes hatte einen Erfolg, den dieser selbst im Anfange kaum zu hoffen wagte. Die Krankheit nahm die entschiedenste Wendung zum Besseren; es war gegründete Hoffnung zur vollen Genesung vorhanden, und heute hatte die Patientin bereits bei dem warmen Sonnenschein eine halbe Stunde in dem kleinen Garten zubringen können, der das Haus umschloß.

In diesem Gärtchen nun spazierten Doctor Brunnow und Fräulein Moser dem Anscheine nach ganz friedfertig auf und nieder. Es hatte sich in den wenigen Wochen ihrer Bekanntschaft ein Verkehr zwischen ihnen herangebildet, dessen Unbefangenheit hauptsächlich in der felsenfesten Ueberzeugung wurzelte, daß sie gar nichts für einander fühlten. Agnes hegte wirklich die ernstliche Absicht, den tief in Weltlichkeit und Unglauben versunkenen jungen Arzt für den Himmel zu retten, und sie wiederholte diese Versuche um so hartnäckiger, je vergeblicher sie sich erwiesen. Daß diese Seelenrettung auch für sie selber schließlich etwas bedenklich werden könne, fiel ihr gar nicht ein. Man hatte ihr jede Gefahr, die ihrem Herzen etwa von der Männerwelt drohen könne, unter dem Bilde der Schmeichelei, der Artigkeit und Liebenswürdigkeit dargestellt. Hätte sie etwas dergleichen entdeckt, sie würde sich erschreckt und eiligst zurückgezogen haben, aber Doctor Brunnow war und blieb rücksichtslos; er konnte unter Umständen sogar recht grob werden, und einzig diesen vertrauenerweckenden Eigenschaften dankte er es, daß das junge Mädchen ihn für vollständig ungefährlich hielt. Was ihn selbst betraf, so war er durchaus nicht verliebt, wenigstens war die Entrüstung, womit er gegen eine solche Zumuthung protestirte, vollkommen aufrichtig gemeint. Sein Heirathsprogramm enthielt bekanntlich sehr viel nützliche Paragraphen, aber nichts von dem unpraktischen Idealismus der Liebe. Da Agnes Moser’s Persönlichkeit nun durchaus nicht diesem Programm entsprach, so konnte von einer Neigung natürlich gar nicht die Rede sein.

Uebrigens hatte der junge Arzt entschiedenes Glück mit seinen Curen, denn auch Agnes hatte sich im Laufe der letzten Wochen außerordentlich erholt, jedenfalls nur in Folge der Gewissenhaftigkeit, mit der sie die ärztlichen Vorschriften befolgte. Auf ihren sonst so blassen Wangen zeigte sich eine leise Röthe; das Auge war belebter, die Haltung kräftiger, und ihr Wesen hatte viel von seiner Schüchternheit verloren, wenigstens dem Doctor Brunnow gegenüber. Seine Gottlosigkeit und ihr Bekehrungseifer begegneten sich so oft und sie vertieften sich so häufig in dieses interessante Thema, daß sie nothgedrungen vertrauter mit einander werden mußten. Auch heute hatte die junge Dame ihren Begleiter wieder gehörig abgekanzelt, der letztere sah aber durchaus nicht zerknirscht aus; seine Miene verrieth im Gegentheil das außerordentliche Behagen, das diese theologischen Streitigkeiten ihm gewährten.

„Jetzt aber, mein Fräulein, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für ewige irdische Dinge,“ sagte er, eine Pause des Gespräches benutzend. „Die Angelegenheit, die ich Ihnen mittheilen will, ist jedoch Geheimniß, und ich rechne auf Ihr unbedingtes Schweigen, gleichviel, ob Sie meine Bitte gewähren oder nicht.“

Das junge Mädchen machte große Augen bei dieser feierlichen Einleitung, verhieß aber zu schweigen und hörte gespannt zu.

„Sie kennen Fräulein Gabriele von Harder,“ fuhr Max fort, „und auch mein Freund, der Assessor Winterfeld, ist Ihnen bekannt. Ich weiß aus seinem Munde, daß er bereits einmal das Vergnügen hatte, Sie in Ihrer Wohnung zu sehen.“

„Ich erinnere mich; er war bei meinem Vater.“

„Nun wohl, Baroneß Harder und der Assessor lieben sich.“

„Lieben sich!“ wiederholte Agnes, mit einem Gemisch von Bestürzung und Verlegenheit. Sie schien den Gegenstand der Unterhaltung sehr unpassend zu finden.

„Ja, sie lieben sich ganz bedeutend,“ sagte Max mit Nachdruck. „Der Vormund der jungen Dame aber, Freiherr von Raven, und die Baronin Harder widersetzen sich der beabsichtigten Verbindung, weil Georg Winterfeld seiner dereinstigen Gattin keinen Rang und Reichthum bieten kann. Was mich betrifft, so bin ich von Anfang an der Schutzengel dieser Liebe gewesen.“

„Sie, Herr Doctor?“ fragte das junge Mädchen, den Schutzengel mit sehr kritischen Blicken ansehend.

„Sie meinen wohl, daß ich nicht viel Engelhaftes an mir habe?“ fragte Max nun seinerseits.

„Ich meine, daß es unter allen Umständen Sünde ist, sich gegen den Willen der Eltern zu lieben,“ lautete die ein wenig scharfe Antwort.

„Das verstehen Sie nicht, mein Fräulein,“ belehrte der junge Arzt. „Danach wird bei der Liebe gar nicht gefragt, und hier ist das junge Paar vollends in seinem Rechte. Was soll man denn anfangen, wenn die Eltern und Vormünder aus bloßem Vorurtheil und äußeren Rücksichten zwei eng verbundene Herzen trennen?“

„Man soll gehorchen,“ erklärte Agnes mit einer Feierlichkeit, die ihr in diesem Augenblicke eine gewisse Aehnlichkeit mit ihrem Vater gab.

„Das sind ganz veraltete Ansichten,“ sagte Max ungeduldig. „Im Gegentheil, man rebellirt und heirathet sich doch.“

Fräulein Agnes hatte seit den letzten Wochen offenbar schon bedeutende Fortschritte gemacht. Sie setzte den verwerflichen Ansichten des Doctor Brunnow durchaus kein resignirtes Schweigen mehr entgegen; sie hatte es wirklich schon gelernt, ein ganz hübsches Trotzköpfchen aufzusetzen, und machte jetzt von dieser neuen Errungenschaft Gebrauch, als sie erwiderte: „Das haben Sie gewiß dem Herrn Assessor angerathen.“

„Keineswegs! Ich habe im Gegentheil alle Hände voll zu thun, um ihn nur einigermaßen bei Vernunft zu erhalten.“ „Genug, mein Freund verläßt R. schon in den nächsten Tagen, und man geht so weit, ihm sogar den Abschied von seiner Braut zu verweigern. Er will und muß sie aber noch einmal sehen, um ihr ein letztes Lebewohl zu sagen. Fräulein Agnes –“ der Redende [310] machte hier eine äußerst wirkungsvolle Pause – es ist etwas Schönes, der Schutzengel einer reinen und wahren Liebe zu sein. Ich muß das wissen, ich habe es lange genug durchgemacht.“

„Was meinen Sie denn eigentlich, Herr Doctor?“ fragte das junge Mädchen, das jetzt Verdacht schöpfte und sehr eilig vorwärts zu schreiten begann.

„Das will ich Ihnen erklären,“ rief Max, und schloß sich ihr augenblicklich mit der gleichen Geschwindigkeit an.

Agnes blieb stehen, sie wußte aus Erfahrung, daß das Davonlaufen hier nichts half; dieser unverwüstliche Doctor hielt jedes Tempo von Schritten aus. Sie fügte sich also und hörte zu.

„Sie erzählten mir, daß Baroneß Harder bereits einmal bei Ihnen gewesen sei,“ nahm Max wieder das Wort. „Wenn das nun wieder geschähe und zufällig zu derselben Zeit Assessor Winterfeld –“

„Ohne Wissen der Frau Baronin?“ fuhr Agnes entrüstet auf. „Niemals!“

„Aber so bedenken Sie doch –“

„Niemals! Das ist ein Unrecht, eine Sünde. Solch einen Plan konnten nur Sie ausdenken, aber ich werde mich nie zur Mitschuldigen dabei machen. Ich will nicht.“

Fräulein Agnes war purpurroth vor Erregung und Entrüstung und traf den Doctor Brunnow mit einem so strafenden Blicke, daß er eigentlich die Augen hätte niederschlagen müssen. Aber Max war und blieb verstockt; er blickte das junge Mädchen mit ganz unzweideutigem Wohlgefallen an.

„Sieh den Trotzkopf!“ sagte er bei sich selber. „Ich wußte es ja, die ganze gottselige Ergebung und fromme Lammesgeduld ist nur angelernt, und sobald diese verwünschte Klostererziehung in den Hintergrund tritt, kommt etwas ganz Erträgliches zum Vorschein. Ich werde die Taktik ändern müssen. – Sie willigen also nicht ein?“ setzte er laut hinzu.

„Nein,“ erklärte Agnes mit einem Tone, in dem zwanzig Proteste lagen.

Max nahm eine resignirte Miene an. „So mag das Unglück denn seinen Lauf nehmen! Ich habe alles versucht, meinen Freund von verzweifelten Schritten zurückzuhalten, und ich hoffte das mit Ihrer Hülfe auch zu thun, indem ich ihm wenigstens den Abschied von seiner Braut ermögliche. Wird ihm dieser letzte Trost geraubt, so stehe ich für nichts mehr ein. Er nimmt sich wahrscheinlich das Leben.“

„Er wird doch nicht!“ meinte Agnes unruhig.

„Ich bin leider davon überzeugt. Was Fräulein von Harder betrifft, so wird sie seinen Tod schwerlich überleben; sie stirbt ebenfalls vor Gram und Kummer.“

„Kann man denn wirklich vor Kummer sterben?“ fragte das junge Mädchen, das sichtlich ängstlich geworden war.

„Ich habe in meiner Praxis bereits mehrere derartige Fälle erlebt,“ log der gewissenlose Doctor. „Ich zweifle gar nicht daran, daß ein solcher auch hier eintreten wird. Die Baronin und Freiherr von Raven werden ihre Härte zu spät bereuen, und auch Sie, mein Fräulein, werden dies thun, denn in Ihrer Hand lag es, zwei brechende Herzen vor der Verzweiflung zu bewahren.“

Agnes hörte mit tiefem Mitleid, aber auch mit steigender Verwunderung zu; sie hatte den Doctor Brunnow gar nicht für so gefühlvoll gehalten, aber dieser war jetzt einmal in das Rührende gerathen, und da ihm dies zu seiner eigenen höchsten Verwunderung so ausgezeichnet glückte, griff er zu einem kühnen Schlußeffect. Es kam ihm dabei gar nicht darauf an, den Selbstmord und den Tod aus Kummer, woran vorläufig noch Niemand dachte, als bereits geschehen anzunehmen.

„Und ein solches Ende muß ich erleben!“ sagte er melancholisch. „Ich, der ich gehofft hatte, meinen Freund und dessen Erwählte in die Kirche und zum Altare zu geleiten!“

„Das würden Sie schwerlich gethan haben,“ warf das junge Mädchen ein. „Sie haben mir ja selbst gesagt, daß Sie niemals in die Kirche gehen.“

„Ich werde es in Zukunft thun, wenn das Unglück abgewendet wird,“ erklärte Max. „Uebrigens ist eine Hochzeit eine Ausnahme.“

Fräulein Agnes spitzte bei den ersten Worten die Ohren. Sie war viel zu eifrig im Bekehren, um sich nicht schleunigst der Handhabe zu bemächtigen, die sich ihr so unerwartet darbot.

„Ist das Ihr Ernst?“ fragte sie hastig. „Wollen Sie wirklich in die Kirche gehen?“

„Wollen Sie meine Bitte erfüllen und nur auf eine einzige Viertelstunde meine Schutzengelrolle übernehmen?“

Agnes überlegte; es war ohne Frage ein schweres Unrecht, eine Zusammenkunft zu begünstigen, die der Vormund und die Mutter verboten hatten, aber andererseits galt es, eine Seele dem Himmel zu retten, und dieser letzte Beweggrund besiegte alle Bedenken. Der jesuitische Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige, richtete auch hier wieder Unheil an.

„Morgen ist Sonntag,“ sagte das junge Mädchen zögernd. „Wenn Sie – wenn Sie die Vormittagspredigt im Dome besuchen wollten –“

„Die Frühmesse,“ verbesserte Max, der eine dunkle Idee davon hatte, daß diese Ceremonie die kürzeste zu sein pflegte.

„Die Vormittagspredigt!“ sagte Agnes so diktatorisch, als hätte sie dem Doctor Brunnow den Ton, in welchem er seine Verordnungen zu geben pflegte, förmlich abgelernt. Sie traute ihm offenbar noch nicht recht; jedenfalls wollte sie den betreffenden Kirchgang erst controlliren, ehe sie sich zur Gegenleistung entschloß; sie setzte deshalb hinzu. „Aber die ganze Predigt, von Anfang bis zu Ende.“

Max stieß einen Seufzer aus. „Wenn es nicht anders geht – in Gottes Namen!“

Das war endlich eine fromme Aeußerung, wie Fräulein Agnes mit Wohlgefallen bemerkte. Sie gab sich der gegründeten Hoffnung hin, daß die Predigt den so mühsam gewonnenen Grund für die rechte Gläubigkeit weiter bearbeiten werde, und in der Freude darüber reichte sie ihrem Widersacher, der jetzt ihr Bundesgenosse geworden war, die Fingerspitzen, bereute dies aber sofort wieder, denn Max machte es wie der Teufel im Sprüchwort; er nahm die ganze Hand, die er in der herzhaftesten Weise drückte und schüttelte.

(Fortsetzung folgt.)



Die religiöse Ueberzeugung vor dem Kirchengerichte.


          – – Laßt durch
     Tyrannisch Droh’n zum Glauben Euch nicht zwingen,
     Der allem äußern Sinn und innern Fühlen
     Entgegen; denkt, harrt aus und schafft im Herzen
     Euch eine inn’re Welt, versagt die äuß’re!
     So kommt der geistigen Natur Ihr näher,
     Und sieget in dem Kampf mit Eurer eig’nen.

          Lord Byron

Immer mehr bricht in dem heutigen Geschlechte sich die Erkenntniß Bahn, daß diejenige Art von Christenthum, welche die Kirche bisher zur Erziehung der Jugend anwandte und noch anwendet, das heißt also ein Christenthum, bei welchem auf Glaubensartikeln und äußerlichen Uebungen der Hauptnachdruck liegt, vom Uebel ist. Es wird dadurch der entschiedenere Theil der Zweifelnden sichtlich allem Religiösen abwendig gemacht; es wird andererseits im Volke jene – geflissentliche oder gewohnheitsmäßige – äußerliche Kirchlichkeit conservirt, welche weder mit dem Kopf noch mit dem Herzen in wirklichem Zusammenhange steht und im Grunde nur eine Art Heuchelei ist. Der philosophischen und geschichtlichen Erkenntniß vom Wesen des Christenthums, wie die freieren Köpfe sie in geistigem Ringen und Arbeiten seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gewonnen haben, stehen überdies jene Dogmen als etwas Veraltetes, Fremdgewordenes gegenüber. Wer will es hiernach der großen freisinnigen Partei der neueren Theologen, welche den wichtigen Culturhebel echter, innerlich wahrhaftiger Religiosität der Menschheit erhalten möchte, verdenken, wenn sie das Recht in Anspruch nimmt, die altkirchlichen Glaubenssätze unter die persönliche Ueberzeugung zu stellen, dafern diese letztere den ewig gültigen sittlich–religiösen Gehalt des Christenthums nicht verleugnet! Die

[311]

Schmuggler in Nöthen.
Originalzeichnung von Albert Richter in Dresden.

[312] Orthodoxie jedoch hält fester als je zuvor an der Dogmenherrschaft, und so sind scharfe Conflicte unausbleiblich. Der jüngste Fall dieser Art, der Hoßbach’sche, hat jetzt ein Nachspiel gefunden, welches jedem, der Respect vor charakterfester Ueberzeugungstreue, vor männlich tüchtigem Wesen hat, innige Freude bereiten muß und von dem im Interesse der Volksbildung nur zu wünschen wäre, daß es das erste Glied in einer großen Kette sein möchte. Wir haben hier den „Fall Kalthoff“ und den Helden dieser Affaire im Auge.

Mit dem Ausgangspunkt der ganzen Angelegenheit verhält es sich bekanntlich so: Als der Prediger Hoßbach in der Jacobi-Gemeinde zu Berlin es wagte, seine freie Stellung zu den Glaubensartikeln klar zu bezeichnen und das Wunder zu leugnen, versagte das Consistorium ihm im Angesichte der Wissenschaft und Forschung des neunzehnten Jahrhunderts die Bestätigung seiner Wahl. Der charaktervolle Theologe mußte sich hinterher von Professor Treitschke belehren lassen, er habe weder klug noch tactvoll gehandelt. Erst im Amte, meinte der Herr Professor, hätte Hoßbach seiner Ueberzeugung Ausdruck geben dürfen, erst nach der Wahlbestätigung hätte er, mit kluger Umgehung kirchlicher Vorschriften, seine wahren Ansichten verbreiten dürfen. Und so sprechen auch Andere, sogar auch liberale Zeitungen. Seltsame Verirrung eines nüchternen Zeitalters! Als ob jemals in einer Sache religiöser Ueberzeugung, die niemals etwas Anderes sein kann, als ein Ausfluß tiefster Herzensbegeisterung für die höchsten und heiligsten Güter, als ob jemals in derartigen Fragen des Gewissens durch die zaghafte Rücksicht auf eine sogenannte „Opportunität“, durch ängstliches Diplomatisiren und kleinliches Rechnen mit den Machtverhältnissen und den Stimmungen mächtiger Personen ein würdiges Ziel erreicht worden wäre!

Und fast hatte es den Anschein, als beobachtete die Mehrzahl der liberalen protestantischen Theologen dem Oberkirchenrathe gegenüber die Taktik zuwartenden Schweigens, denn als diese Behörde einen Prediger von einem Amte ausschloß, welcher ihre Kirchenlehre als absolute Grenze für das Gewissen nicht respectiren zu dürfen glaubte, erhoben sich seine Genossen im Ganzen und Großen nicht, um ihr heiliges Ueberzeugungsrecht zu wahren. Einer nur that es, und das war der Pfarrer zu Nickern, Dr. A. Kalthoff. Dieser Mann aber that es mit der vollen Entschiedenheit und dem Wahrheitsmuthe eines Luther, der da sagte: „Hier stehe ich – ich kann nicht anders.“ Dr. Kalthoff schwankte nach dem Hoßbach’schen Falle keinen Augenblick in Bezug auf das, was er zu thun hatte. Ohne Rücksicht auf Amt und Stellung sagte er sich: Gewährt uns die evangelische Kirche für das edelste Streben des Menschen, für das Suchen nach immer vollendeterer Erkenntniß in der That keinen Raum, so kann ich dieser Gemeinschaft nicht mehr angehören. Mit ruhiger Entschlossenheit trat der Pfarrer von Nickern gegen die Entscheidung des evangelischen Oberkirchenraths in der Hoßbach’schen Sache auf und erklärte: „Ich lehre in meiner Gemeinde nicht das Wunder und die Gottheit Christi; ich beanspruche für meine Person das protestantische Recht, jeder Zeit mein geistiges Selbst, meine Ueberzeugung bekennen zu dürfen!“

Damit hat der tapfere Mann dem Oberkirchenrathe die glühende Kohle in die Hand gedrückt, und letzterer suspendirte ihn sofort vom Amte.

Es ist eine fast befremdende und doch auch wieder leicht erklärliche Erscheinung, daß der Theologe, welcher dem Kirchenregimente Trotz zu bieten wagt, aus einer Gegend und einer Zeit stammt, wo der Pietismus die üppigsten Blüthen trieb. Unser Kalthoff ist im Wupperthale und zwar in der frommen Stadt Barmen am 5. März des Jahres 1850 geboren. Die Knabenzeit des achtundzwanzigjährigen Predigers fällt also in jene Tage, wo Pastor Krummacher und andere Säulen der Orthodoxie alle Hebel in Bewegung setzten, um das Wupperthal den modernen Ideen zu verschließen und es ganz einzuhüllen in das Dunkel des Mysticismus. Kalthoff’s Vater, welcher im Jahre 1873 starb, gehörte selber der streng konservativen Richtung in der Politik wie in der Kirche an. Er war einer der Stifter des Treubundes in Barmen, erwarb sich aber durch seinen unbestechlichen Wahrheitssinn und seine Ueberzeugungstreue die Achtung auch seiner kirchlichen und politischen Gegner. Der alte Kalthoff war Färbereibesitzer. Als Familienvater zeigte er sich ebenso liebevoll wie verständig; die Erziehung seiner sechs Kinder war bei tiefer Religiosität, die sich freilich zum Theile in den hergebrachten Formen der Wupperthaler Frömmigkeit bewegte, doch eigentlich eine sehr freie, denn er that nicht das Mindeste, was die eigenartige Entwickelung seiner Kinder hätte hemmen oder verkümmern können, und er legte den allerhöchsten Werth auf eine gute Schulbildung. Der fromme Herr liebte es, fröhliche Gesichter um sich zu sehen, und in opferfreudigster Weise legte er sich selber Entbehrungen auf, um den Kindern Vergnügungen zu bereiten. Die Mutter unseres Pfarrers, welche heute noch in Barmen lebt, sorgte für die allgemeine Bildung und weckte namentlich unter ihren Kindern die Liebe zur Musik.

Der Knabe sollte erst Kaufmann werden und besuchte zunächst die Realschule in Barmen; dann siedelte er auf Anrathen der Lehrer in’s Gymnasium über. Der Director dieser Anstalt, Dr. Thiele, feuerte seinen Schüler zu idealem Streben an, und der Einfluß dieses Mannes, verbunden mit der im Elternhause gepflegten Frömmigkeit, wurde entscheidend für den Entschluß des jungen Kalthoff, Theologie zu studiren.

Im Jahre 1869 ging er zum Besuche der Universität nach Berlin. Dort studirte er weniger unter den Auspicien der Professoren als auf eigene Faust. Dem unabhängigen Geiste des jungen Studenten mochte es von vornherein recht abgeschmackt erscheinen, daß man seine religiöse Ueberzeugung aus den Händen des Professors empfangen müsse. Er machte sich eifrig und eng vertraut mit den Werken unserer hervorragenden Denker; er studirte Kant, Hegel und Schelling so eifrig wie Fichte, Schopenhauer und Hartmann. Unter schweren Kämpfen vollzog sich bei ihm allmählich der Proceß, durch welchen die alten Formen orthodoxer Frömmigkeit zerstört und Raum geschaffen wurde für eine freiere, lichtvollere menschlichere Auffassung des Christenthums. Kalthoff ging durch eine lange Zeit des Zweifels hindurch und erkämpfte sich Schritt für Schritt die Ueberzeugung, für welche er heute eintritt und der er Alles zum Opfer zu bringen entschlossen ist.

In den Jahren 1873 und 1874 war Kalthoff Hauslehrer in der Familie des Grafen August von der Goltz aus Schönau in Westpreußen. Obgleich der Graf ganz anderen Anschauungen huldigte, als der Erzieher seiner Kinder, so half dem Letzteren doch die liebenswürdige, wahrhaft biedere Art dieses wackeren Edelmannes über manche Kluft hinweg, und der junge Theologe nahm viele freundliche und schöne Erinnerungen aus dem gräflichen Hause mit auf seinen Lebensweg. Seine theologischen Examina bestand Kalthoff in Berlin und promovirte gleichzeitig in der philosophischen Facultät zu Halle. Seine Dissertation: „Die Frage nach der metaphysischen Grundlage der Moral, mit besonderer Beziehung auf Schleiermacher untersucht“, giebt im Wesentlichen noch heute die Grundzüge seiner Weltanschauung an; er zeigt sich darin als ein Mann von hervorragender Denkkraft, der sich an Kant’schen Werken gebildet hat und in seinen Grundanschauungen weit entschlossener vorgeht, als Schleiermacher.

Im Jahre 1874 wurde Kalthoff als Hülfsprediger an die St. Marcuskirche nach Berlin gerufen, im Januar 1875 nahm der Präsident des Consistoriums, Hegel, an dem Barte unseres Helden Anstoß. Der Streit um Kalthoff’s Bart setzte in Berlin und in weiteren theologischen Kreisen alle Gemüther in Bewegung. Selbstverständlich hätte es den jungen Hülfsprediger nicht die geringste persönliche Ueberwindung gekostet, seinen Bart dem Rasirmesser zu opfern, allein er sagte sich: was hat das Consistorium, was hat die evangelische Kirche, was hat die Religion mit meinem Bart zu schaffen? Welchen vernünftigen Grund könnte Herr Hegel gegen diesen Bart in’s Gefecht führen? Das ideale Bild Jesu, wie es sich die Phantasie der Christen gebildet hat, zeigt einen Vollbart, warum sollen die Jünger des erhabenen Meisters mit glattrasirtem Kinn predigen? Das Consistorium wußte nicht den geringsten stichhaltigen Grund für die Abschaffung des Bartes anzugeben, und der Hülfsprediger in der St. Marcuskirche ging ungeschoren aus diesem Conflict mit dem Kirchenregiment hervor.

Im Herbste desselben Jahres wurde Dr. Kalthoff von dem Patronat in Nickern, einem kleinen Orte in der südöstlichen Ecke der Provinz Brandenburg, zur Verwaltung des dortigen Pfarramts berufen. Der Conflict mit dem Consistorium hatte seine finsteren Schatten vorausgeworfen, und kaum war der neue Pfarrer [313] in seiner Gemeinde eingetroffen, so verbanden sich, bis auf drei alte Herren, alle Geistlichen des Kreises „solidarisch“ mit dem Superintendenten in Züllichau „zur Abwehr des seelenverderblichen Eindringlings“, wie es an der Abmachung wörtlich hieß. Natürlich versuchte man alle erdenklichen Mittel, um dem neuen Pfarrer seine Gemeinde zu entfremden, und jener hatte einen recht schweren Stand und würde anfangs bittere Tage verlebt haben, wäre ihm nicht eine treue liebe Gattin zur Seite gestanden, welche Trost und den Sonnenschein des Glücks in das einsame Pfarrhaus brachte. Kurz vor Uebernahme der Pfarre in Nickern hatte sich Dr. Kalthoff mit Fräulein Anna Franz aus Rügenwalde vermählt, die ihm während einer zweiundeinhalbjährigen, überaus glücklichen Ehe einen Sohn schenkte und dann zu Anfang dieses Jahres starb. So schwand dieses Familienglück gleich schnell dahin, wie jenes unseres Lessing, von welchem Heine sagte: „Dieses Glück war wie der Sonnenstrahl, der den Fittig eines vorüberfliegenden Vogels vergoldet.“

Indessen gelang es Dr. Kalthoff, sich trotz aller Machinationen seiner orthodoxen Collegen in so hohem Grade die Zuneigung seiner Gemeinde zu erwerben, daß nach der Versicherung höchst ehrenwerther Gemeindemitglieder die Kirche nie zuvor auch nur annähernd so gut besucht war, wie seit der Zeit, da er die Kanzel bestieg, und daß keinem seiner Collegen im Kreise so viel Vertrauen und Liebe entgegengebracht wird, wie dies ihm gegenüber von Seiten seiner Gemeinde geschieht. Zur Erwerbung dieses Vertrauens hat nicht zum geringsten Theil die Thatsache beigetragen, daß er nie versuchte, in der Predigt seine Ueberzeugung zu verschleiern; er gab seiner redlichen Meinung einen unverfälschten und höchst beredten Ausdruck, und von allen Seiten strömten ihm die Hörer zu. So zeigt sich stets nur um so deutlicher, wie wenig Boden die Orthodoxie im Volke hat, je rücksichtsloser und geschlossener sie auftritt.

Kurz nach dem Hinscheiden seiner Frau erhielt Dr. Kalthoff die Actenstücke des Oberkirchenrathes in der Hoßbach’schen Sache. Sofort drängte sich dem Manne mit unabweisbarer Macht der Gedanke auf: jetzt heißt es Farbe bekennen. In seinen Augen war durch jene Entscheidung des Oberkirchenraths der liberalen Theologie ein Schlag in’s Gesicht versetzt, und den vermochte er nicht zu ertragen. Es war für ihn eine einfache sittliche Nothwendigkeit, zu erklären, daß er sich in dem Bekenntniß seiner inneren wahrhaften Ueberzeugung nicht durch die vom Kirchenregiment gezogenen Schranken hindern lasse. Vor den Scheideweg gestellt, entweder das zu thun, was der Oberkirchenrath verlangte, und das Wunder, die Existenz der Hölle und des Teufels zu predigen, oder sich selber treu zu bleiben, entschied er sich unbedenklich für das Letztere, denn er konnte nicht vor seiner Gemeinde zum Lügner werden.

Kalthoff that seine Pflicht und gab die Gründe an, weshalb er dem Verlangen der kirchlichen Behörde nicht zu entsprechen vermöge. Am 12. März forderte die Kirchenbehörde ihn auf, sein Amt niederzulegen. Kalthoff verweigerte dies und fragte bei seiner Gemeinde an, ob er recht gehandelt und ob diese Weigerung ihre Zustimmung habe. Die Aufregung, welche in der Gemeinde entstand, als dieselbe erfuhr, was vorgefallen, war eine ungeheuere. Als am 27. März die Amtssuspension erfolgte, steigerte sich diese Aufregung zur Erbitterung gegen diese Maßregel. Die Gemeindevertretung gab vorerst ihrem Pfarrer eine Vertrauenserklärung, von welcher eine Abschrift an den Oberkirchenrath geschickt wurde. Dann sandten sämmtliche Hausväter der Gemeinde einen Protest gegen jene Amtssuspension ab, worin sie erklärten, daß sie von keinem anderen, ihnen aufgedrungenen Prediger Amtshandlungen entgegennehmen würden, indem sie hinzufügten: „Es scheint ja fast, als wenn ein hoher Oberkirchenrath mit seinem Verfahren gegen unseren rechtmäßigen, uns lieb gewordenen Prediger uns zur Landeskirche hinausdrängen wollte. Wir wiederholen daher schließlich nochmals so dringend wie ergebenst unsere Bitte, uns unseren Prediger, der unsere volle Liebe, Achtung und unser volles Vertrauen besitzt, nicht entreißen zu wollen und die Untersuchung gegen ihn zurückzuziehen.“

Als hierauf eine Antwort nicht erfolgte, bat die Gemeinde, es möge Kalthoff die Fortsetzung des Confirmandenunterrichts gestattet werden. Dies Gesuch wurde abgeschlagen. Jetzt schrieb der Gemeindekirchenrath an die oberste Behörde, daß, wenn man ihrem Pfarrer die Einsegnung nicht gestatte, die Familienväter der Gemeinde überhaupt von einer Einsegnung Abstand nähmen. Auf diese Eingabe ist bis heute so wenig eine Antwort erfolgt, wie auf die erste.

Da nun dem Pfarrer von Nickern die Kirche verschlossen war, so veranstaltete der Patron der Kirche, der Rittergutsbesitzer Schulz, eine öffentliche Versammlung aller Glieder der Kirchengemeinde unter freiem Himmel. Trotz des stürmischen Wetters erschien eine zahlreiche Menge, die von Nah und Fern herzugeströmt war. Dr. Kalthoff hielt in bürgerlicher Kleidung eine weihevolle, ernst religiöse Rede und schloß dieselbe mit einem Gebet. Dieser von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit eingegebene Act bildete in den Augen des königlichen Consistoriums einen weiteren Stein des Anstoßes, und Hegel ließ an Kalthoff betreffs dieses Unterfangens eine neue Verwarnung, mit Androhung von Disciplinarstrafen ergehen. Dabei wurde Kalthoff besonders darauf hingewiesen, daß auch ein suspendirter Prediger unter Aufsicht und Disciplin des Kirchenregiments stehe und zwar auch in seinem außeramtlichen Verhalten. Die Abhaltung solcher Versammlungen müsse aber unter den obwaltenden Umständen als „strafbarer Trotz“ gegen kirchenregimentliche Anordnungen aufgefaßt werden.

Der Gemaßregelte erwiderte darauf sehr ruhig, daß er nicht in der Lage sei, der Weisung Folge zu leisten. Als Grund für die Weigerung führte er an, daß in der preußischen Staatsverfassung die Freiheit der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübungen so wie das Recht freier Versammlungen garantirt werde. Neben jenen verfassungsmäßig gewährleisteten Rechten glaubte Kalthoff aber auch die einfachste Christenpflicht zu erfüllen, wenn er, so oft und so viel es in seinen Kräften stünde, allen denen, welche von ihm Belehrung und Rath wollten, denselben ertheile. Daß die Kirchenbehörde Anstoß daran nehme, weil er ein Gebet mit Segenswunsch gesprochen, findet Kalthoff ganz unerklärlich, und er bemerkt darüber: „Das ursprünglichste heiligste Christenrecht, beten zu können, wann und wo das Herz dazu drängt, beten zu können auch mit denen, mit welchen mich die Gemeinschaft des Geistes verbidet, werde ich mir durch keine Kirchenbehörde verkümmern lassen. In solchem Gebet will ich auch Segen erbitten, nicht allein für meine Freunde, sondern auch für meine Feinde!“

In wie hohem Grade das tapfere, männliche Auftreten Kalthoff’s nicht nur die Sympathien seiner Gemeinde verstärkt, sondern auch die weiterer Kreise ihm zugewendet hat, zeigte sich am Osterfeste. Die Parochie Nickern zählt nur vierzehnhundert Seelen, gleichwohl brachte die kleine Gemeinde an den Festtagen durch freiwillige Sammlung ein Festgeschenk dem verehrten Prediger dar, welches so reichlich war, daß dadurch der durch die Suspension entstandene Ausfall im Einkommen desselben mehr als gedeckt ist. Ferner waren aus den Kreisstädten Züllichau und Schwiebus, in denen Dr. Kalthoff sich durch eine Reihe öffentlicher Vorträge schon früher zahlreiche Freunde erwarb, Hunderte von Hörern nach Nickern gezogen, um seine Festpredigten unter freiem Himmel zu hören und ihm ihre Achtung zu bezeugen. Wohl über dreitausend Personen hatten sich eingefunden.

Wenn diese Zeilen im Druck erscheinen, ist die Entscheidung des Consistoriums bereits gefallen, denn der Termin war auf den 9. Mai festgesetzt worden; wie sie auch ausfallen möge, so viel läßt sich schon heute mit Sicherheit annehmen, die Gemeinde Nickern hält treu zu dem ihr lieb gewordenen Prediger. Ist in der evangelischen Kirche kein Raum für Jene, welche ein freies Bekenntniß ihrer tiefinnersten Ueberzeugung ablegen wollen, duldet man unter Protestanten die protestantische Freiheit nicht mehr, so verläßt die Gemeinde mit ihrem Hirten diese Kirche, deren Behörde der Toleranz so entfremdet zu sein scheint.

Kalthoff, der in der äußern Erscheinung der echte Typus eines blondhaarigen Germanen ist, wird von allen Mitgliedern seiner Gemeinde geachtet, von den meisten geliebt und verehrt. Sein Kirchenpatron schildert ihn als einen ehrenhaften, selbstlosen, bescheidenen Mann, der von seinen Kenntnissen und seiner reichen Begabung den liebenswürdigsten Gebrauch mache. In seinem Wesen sei nicht der Schatten eines prahlerischen Zuges zu finden, alles an ihm erscheine klar, offen und ehrlich. Zur Opposition gegen das Kirchenregiment habe ihn einzig sein Gewissen getrieben, weiter nichts.

[314] Mit seinen Collegen an der St. Marcuskirche lebte Dr. Kalthoff im allerbesten Einvernehmen, und in dem Zeugniß, welches der Kirchenrath ihm bei seiner Bewerbung um die Pfarrstelle in Nickern ausstellte, heißt es: „Wir können der Gemeinde zu ihrer Wahl nur Glück wünschen und unsere Liebe und Hochachtung wird ihn (Dr. Kalthoff) auch in die Ferne begleiten.“

Wenn dieser Mann im Streite mit der Orthodoxie materiell unterliegt, so ist die Thatsache heute schon gewiß: moralisch muß er siegen. Wie die päpstliche Hierarchie, so wollte auch der evangelische Oberkirchenrath für alle Zeiten feststellen, was in der Landeskirche als wahres Christenthum, als wahre Religion zu gelten habe. Durch diese dogmatische Grenzsperre wäre jedes Forschen nach Erkenntniß für Geistliche und Laien ein- für allemal ausgeschlossen worden.

Die menschliche Erkenntniß aber geht weiter, ohne jede Rücksicht auf die Dogmen der Kirche, und dem Zurückbleiben einer an überlebten Traditionen festhaltenden Geistlichkeit haben wir nur einen argen Zwiespalt zu danken, der sich bei unserer Jugenderziehung geltend macht. Was die Schule, gestützt auf die Erfahrung, als wahr und gewiß lehrt, wird im Religionsunterricht und in der Kirche, gestützt auf die Offenbarungen, als falsch verworfen. Es ist eine durch die Geschichte gewonnene Thatsache: je höher Erkenntniß und Cultur eines Volkes steigen, desto reiner und geläuterter wird auch seine Religion. Die Confessionen oder der Glaube an geoffenbarte Lehren hat Scheidewände zwischen den Menschen aufgeführt, die wahre Religion, das heißt die human-sittliche Liebe reißt sie wieder ein.

Freilich ist von dem natürlichen Erkenntnißstreben der Irrthum nicht ausgeschlossen; aber da müssen wir eben mit Gotth. Ephraim Lessing sagen: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke und sagte: Vater, gieb, die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“

R. Elcho.




Erinnerungen an Teplitz.
Von Walter Schwarz.

Es giebt kein langweiligeres Genre in der Literatur als die üblichen Badeberichte aus Karlsbad oder Homburg, keine fatalere Lectüre als vornehme Plaudereien aus Wiesbaden oder Baden-Baden. Was ich hier dem Leser biete, sollen nur schlichte anspruchslose Erinnerungen nicht an Teplitz, das Bad, sein, wohl aber an Teplitz, das historisch wie malerisch so interessante Städtchen an der Tepel. Eine liebliche Natur, blaue Berge, dunkle Waldungen rahmen es freundlich ein. Auf dem halb poetisch, halb historisch gefärbten Hintergrunde der prächtigen Schlösser, Kirchen und Klöster in seiner Umgebung tauchen Namen und Erinnerungen auf, die unseren Antheil wecken. Und nicht immer waren es nur Kranke, die sich hierher wendeten. Auch Teplitz hat seine große Zeit gehabt als Sammelplatz der auserlesensten Gesellschaft, damals, als Rahel und Varnhagen, der geistreiche Prinz von Ligne, Prinz Bentheim, der ritterliche Cavalier, die schöne Schauspielerin Auguste Brede und viele andere, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts oft genannte Persönlichkeiten hier ihre Sommerfrische suchten. In ihren Korrespondenzen lesen wir, wie bunt und anregend sich damals in Teplitz Alles zusammenfand: Preußens, Oesterreichs und Rußlands Größen; in wie heiterer Gemeinschaft man oben in dem großen Hôtel am Schloßplatze speiste, das noch heute den Namen des Prinzen von Ligne trägt. Nach ihm nennt sich auch das Lusthäuschen mit bunten Glasfenstern, welches sich auf spitzem Steinkegel zwischen Teplitz und Schönau erhebt und eine reizende Aussicht gewährt: dicht unten zu Füßen die dampfenden Straßen der Stadt, die sich in drei Schlangenlinien eng zwischen den steilen Felswänden hinziehen, hie und da von einer dunklen Tannenkuppe überragt, weiter hin die zarte, in blauem Duft schwimmende Ferne.

Rahel war sehr oft in Teplitz. Sie liebte den Ort, traf daselbst ihre österreichischen Freunde und Varnhagen, der 1811 als Officier beim Oberst Bentheim in Prag und Komotau stand; sie suchte auch nach den Kriegsjahren in den Teplitzer Heilquellen Stärkung ihrer tieferschütterten Gesundheit. Noch ehe sie geistreich und anregend mit all den Beziehungen, die sie überall fand, und die ihr überall folgten, den Schauplatz dort belebte, traf ihren Freund, den Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, in Teplitz eines der tragischen Abenteuer seiner stürmischen Laufbahn. Auf einem Balle im Cursaal veruneinigte er sich wegen einer der schönen Tänzerinnen mit dem Chevalier de Saxe. Es kam zur Forderung. Das Rendezvous wurde für den nächsten Morgen unter zwei Linden im Walde, die noch heute stehen, dicht hinter Osseg verabredet. Man wählte diese Richtung, weil dort die leicht zu erreichende sächsische Grenze dem Ueberlebenden die günstige Gelegenheit zur Flucht bot. Der Prinz tödtete seinen Gegner, richtete aber, ehe er von dannen eilte, an den Sterbenden die Bitte: „Chevalier, können Sie mir verzeihen?“ – Jener reichte ihm die Hand und entgegnete: „Ich verzeihe Ihnen, wie Gott mir verzeihen möge.“ Der Chevalier de Saxe wurde, da er ohne Absolution gestorben, nur in Folge besonderer Vergünstigung auf dem Kirchhofe von Osseg beerdigt, aber im äußersten Winkel desselben, hart an der Mauer, die der spitzige Ueberbau eines kleinen Denkmals, das man ihm errichtet, etwas überragt, wodurch die Grabstätte leicht kenntlich wird.

Osseg ist ein altes Cisterzienserkloster von großartiger Anlage mit hohen, hallenden Gängen und einem geräumigen Refectorium, das über Blumenterrassen in die blühendste Landschaft hineinblickt. Zwischen den Terrassen, die von schwerem Steingeländer eingefaßt sind, thun sich spiegelglatte Bassins auf. Man sieht die für die Abttafel bestimmten fetten Fische lustig darin springen. Die dichten Buchenhecken im Garten sind nach altfranzösischem Geschmack verschnitten. Sandsteingruppen bergen sich in ihrem Schatten. Kühl plätschert das Wasser der von Terrasse zu Terrasse ablaufenden Fischbehälter, und hinter den Klosterthürmen steigen die tannendunklen Berge groß und ernst empor. Alles hier ist vornehm, feierlich, auch die Kirche ungewöhnlich prachtvoll und elegant gehalten. Ein kunstvoll gearbeitetes Messinggitter, das sie der Quere nach durchschneidet, gleicht dem feinsten Filigran. Von der mittleren Deckenwölbung herab drapirt sich ein Vorhang, welchen schwebende Engel zusammenraffen und emporheben. Seine Falten fallen so leicht und lose wie duftiger Stoff, und doch ist das Ganze eine Sculptur aus blassem Marmor.

Dicht hinter Osseg steigt prachtvolle Waldung am Berge empor. Ein brausendes Gewässer rauscht im tiefen Grunde über die Wurzeln der Edeltannen, zwischen bemoosten Steinblöcken hin. Wenn man eine Stunde ungefähr gestiegen ist, wird, eng zwischen die Waldberge eingeklemmt, der uralte Bau der Riesenburg sichtbar. Die Ruine ist ebenso malerisch wie interessant, köstlich der Blick hinunter auf Osseg, das sich mit seinen weißen Mauern und rothen Dächern, scheinbar klein, wie Kinderspielzeug, zwischen zwei hohen Berglehnen aufbaut, vom duftblauen, vierkantigen Biliner Felsen überragt. Auf der Riesenburg erblickte der heilige Adalbert, Bischof von Prag und Apostel von Preußen, im zehnten Jahrhundert das Licht der Welt.

Eine andere Ortschaft in der Umgegend von Teplitz, die interessant zu besuchen, ist das Gebirgsstädtchen Graupen. Es liegt in entgegengesetzter Richtung von Osseg, am Südabhange des Erzgebirges, und besteht aus einer einzigen langen Straße, die eng und steil in die Höhe klimmt. Ihre unregelmäßigen, dicht an einander gerückten Giebelhäuser entzücken jedes Malerauge. In der Kirche, die mit hohem Schindeldache und kurz aufgedrücktem Holzthürmchen an der Bergwand zu kleben scheint, befindet sich eine alte, umfangreiche Schnitzarbeit von unbekannter Hand, die mit Recht für sehr merkwürdig gilt. – „Die Gruppe befindet sich dem Eingange gegenüber und zählt wohl zwanzig Figuren in Lebensgröße,“ hatte man mir gesagt. Das war also nicht zu übersehen. Ich kam an einem Sonntage zur Abendandacht nach Graupen. Die Kirche war von Menschen

[315] erfüllt. Doch fand ich noch ein Sitzplätzchen, und unter Gesang und Messelesen hoffte ich das Kunstwerk um so ruhiger betrachten zu können. Aber ich konnte es nicht entdecken; Kopf an Kopf umgab mich die Menge, unten im Schiff, oben auf dem Chore. Instrumentalmusik wechselte mit Gesang; Weihrauch dampfte empor – aber das Schnitzwerk sah ich nicht und meinte schon, es sei von einer ganz anderen Kirche, als der in Graupen, die Rede gewesen. Nun war der Gottesdienst zu Ende. Es kam Bewegung in die Menschenmasse, die sich langsam nach der einzigen Ausgangsthür hinschob.

Da fiel mir’s auf, daß oben auf dem Chor eine Anzahl Menschen regungslos stehen blieb, und nun endlich erkannte ich die Holzfiguren, nach denen ich gesucht hatte. Es war ein überraschender, fast unheimlicher Eindruck: mitten unter den Lebenden diese todten Gestalten, die sich nicht mit fortbewegten, die schon seit Jahrhunderten so dagestanden und vielleicht noch einmal Jahrhunderte hindurch so dastehen werden. Nach alter Art ist das Schnitzwerk in den Farben des Lebens gemalt. Unter dem bunten Sonntagsstaat des Gebirgsvolkes waren mir die fremdartigeren Gewänder gar nicht aufgefallen, um so mehr als die Abendstunde und der aufsteigende Weihrauch schon leise Dämmerung durch die Kirche webte. Die Gruppe stellte Christus und Pilatus vor. Der Chor ist als Söller gedacht, von dem herab der Landpfleger zu dem unten versammelten Volke spricht, ihm sein Opfer weihend. Die Gestalt des Heilands selber ist nicht hervorragend. Kläger, Hohepriester und sonstige Betheiligte aber, die einzeln und frei herumstehend die Mittelgruppe umgeben, sind merkwürdig wahr im Ausdruck, in Stellung und Geberde so bewegt und natürlich, daß man sie wirklich, besonders wenn sich wie vorhin das Leben selber unter sie mischt, kaum von diesem unterscheiden kann. Es dauerte lange, bis der Raum sich leerte; ich hatte Zeit, die merkwürdige Arbeit genau zu betrachten, bis ich endlich als Letzter die Kirche verließ. Nur noch die Hand Eines der zornigen Kläger sah ich drohend emporgehoben, da die Thür sich langsam hinter mir schloß; dann sank die wunderbare Täuschung in Schweigen und Dunkelheit zurück.

Seume’s Grab in Teplitz.
Originalzeichnung von C. Reinhardt.

Es gäbe viel zu erzählen, wollte ich all der schönen Punkte erwähnen, die Teplitz umgeben: des stillen, waldumschlossenen Schweißjägers, mit seiner blauen Fernsicht; des Klosters Mariaschein, wo alte mit Gold und echten Perlen gestickte Meßgewänder gezeigt werden, wahre Prachtstücke nonnenhafter Kunstfertigkeit; des Milischauers mit seinen mehr romantischen als bequemen Mooslagern und der köstlichen Rundschau bis Prag einerseits, bei klarem Wetter bis zur Schneekoppe auf der anderen Seite. Nur einen Blick noch nach Dux, dem Waldstein’schen Grafenschloß, dessen edel vornehmen Bau ein herrlicher Park umgiebt. Die Gemälde-Gallerie im ersten Stock bedeutet nicht viel. Selbst das Dyk’sche Portrait des Herzogs von Friedland, in voller Rüstung, die Hand am Schwert, ist eine etwas harte, arg nachgedunkelte Arbeit. Im Erdgeschoß aber befinden sich in einer Curiositäten-Sammlung sehr schöne alte Meßbücher, die der näheren Betrachtung werth sind. Auch zeigt man dort Waffen und sonstige Andenken Wallenstein’s, darunter den blutbefleckten Halskragen, den man seinem Leichnam abgenommen. Merkwürdig besonders ist der Himmelsglobus, welcher ihm bei seinen astronomischen Operationen gedient hat, ein wunderliches, altes Ding, mit Sternbildern, Figuren und geheimnißvollen Zeichen bemalt. Und daran hat ein Menschenschicksal – ein großes, tragisches – gehangen!

Sehr interessant ist auch die Sammlung des Pfarrers Vincenz Hassak an Weißkirchlitz, einem kleinen Kirchdorfe zwischen Teplitz und Graupen. Neben allerlei Alterthümern, wunderschönen Mineralien, amerikanischen und inländischen Achaten, Labradoren und Drusen von ungewöhnlicher Schönheit hat der geistliche Herr eine beträchtliche Anzahl alter Druckschriften von hohem Werthe zusammengetragen. Eine Collection vor-lutherischer Bibelübersetzungen besonders hat schon manchen Forscher herbeigelockt. [316] Die Sammlungen des Pfarrers sind in einem einzigen Zimmer, unglaublich eng bei einander, aber mit Verständniß und künstlerischem Geschmacke aufgestellt. Ihr Besitzer, ein kindlich freundlicher alter Herr von ungewöhnlicher Lebendigkeit, zeigt sie gern und erklärt sie in liebenswürdigster Weise. Es wird kein Besucher unbefriedigt von ihm gehen.

In Teplitz selbst ist das Cabinet des Mineralienhändlers Seyffert, oben auf der Höhe der Schlackenburg, im Belvedere sehenswerth. Dort flimmert und funkelt uns der ganze kostbare Steinreichthum des böhmischen Gebirges entgegen: dunkelglühende Granaten, Quarze in buntfarbiger Krystallisation, grün und golden schimmernde Metalle, wie sie, gleichsam verzaubert, im tiefen dunklen Felsenschachte ruhen. Herr Seyffert – ein übrigens recht unterhaltend gescheiter Mann, der von seinen Bergen und Steinen, Pflanzen und Versteinerungen viel Interessantes zu erzählen weiß – besitzt eine der schönsten Mesotypdrusen, die überhaupt gefunden worden. Verschiedene Museen haben ihm bereits Beträchtliches für das Exemplar geboten, aber er kann sich von seinem Kleinod nicht trennen. Der Stein hat die Größe eines Kinderkopfes und ist von außen grau und unansehnlich. Klappt man ihn vorsichtig aus einander – die beiden Hälften schließen so genau an einander, daß zusammengefügt kaum ein feiner Riß auf der Oberfläche sichtbar bleibt – so scheint sich ein Feenreich vor uns aufzuthun. Tausend zarte kleine Krystalle, weiß wie Silber schillernd, bauen sich in den feinsten Formationen auf, und keines fehlt, kein Nädelchen, kein Spitzchen ist abgebrochen. Des alten Seyffert’s Augen leuchten, wenn er vor einem Kenner diese Schatzkammer aufschließt. Man kann in dem Cabinete stundenlang Unterhaltung und Belehrung finden, und hübsch ist es dann auch wieder hinauszutreten und von der freien Höhe dort in die blaue Landschaft zu blicken. Ueber einem frischgrünen Vordergrund steigen hier, groß gezeichnet und doch fein in der Linie, die beiden Milischauer empor. Im Sonnenscheine sieht man am Abhange des großen Milischauer zwischen dunklen Waldmassen das weiße Gemäuer von Kostenblath aufleuchten.

Nicht weit ist es von des alten Seyffert’s Höhe hinunter in den Schloßgarten, der in seiner abgeschlossenen Stille und Kühle ein Lieblingsaufenthalt des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm’s des Dritten war. Sie ist aber auch wirklich schön, die aufstrebende Kraft dieses mächtigen Baumwuchses; darunter der ruhige Wasserspiegel des großen Teiches, durch den sanfte Schwäne ziehen, während am Ufer eine breite Trauerweide die feinblätterigen Zweige bis in das Wasser hinein neigt. Zur Maienzeit besonders, wenn Faulbaum und Flieder hier in üppiger Fülle die duftigen Dolden öffnen, die Rasenplätze mit weißen, sternäugigen Anemonen übersäet sind und munterer Finkenschlag das junge Grün belebt, kann es kaum anmuthigere Wege zum Wandeln und Sinnen geben, als diese hier.

Auch er mag sie gewandelt sein vor Jahren, der unermüdliche Spaziergänger nach Syrakus, Johann Gottfried Seume[WS 1], der 1811 in Teplitz gestorben ist. Sein ganzes Leben war ein Wandern und Pilgern. Bekanntlich wurde er schon als neunzehnjähriger Student, da er von Leipzig nach Frankreich zog, von den Schergen des damaligen hessischen Tyrannen ergriffen und nach Amerika verhandelt. Auch über seinen ferneren Lebenswegen hat die Glückssonne nur spärlich geschienen; sie blieben rauh und steil bis an’s Ende. In den böhmischen Bergen endlich sollte er die ewige Ruhe finden. Man begrub ihn auf dem alten Kirchhofe, der sich auf grün bewachsenen Höhenrücken zwischen Teplitz und Schönau hinzieht. Als vor zwei Jahren diese Stätte des Todes in freundliche Promenaden umgewandelt und alle hier ruhenden Gebeine nach dem Eichwalder Kirchhofe übergeführt wurden, blieb Seume’s Grab unberührt. Inmitten der neu erschaffenen Anlagen ruht noch heute, von einer knorrigen, sich über das Grab hinbeugenden Eiche beschattet, der breite dunkle Stein, der nur den Namen „Seume“ trägt. Freunde, die bei seinem Tode anwesend, darunter Fichte und Elise von der Recke, haben ihm dem Andenken des deutschen Schriftstellers gesetzt. Albert Traeger hat diesem Dichtergrabe vor Jahren (Gartenlaube 1857) die nachfolgenden tief empfundenen Strophen gewidmet:


Ein schmucklos[WS 2] Grab: ein Stein und eine Eiche,
Ein stiller Frieden, der darüber liegt,
Gebettet unten eines Dichters Leiche,
Vom Blätterrauschen in den Schlaf gewiegt.

Ein müder Wandrer, krank und aufgerieben
Von rauhen Wegen und von bitt’rer Noth,
Zur Quelle kam er und ist dort geblieben,
Er suchte Heilung und genas – im Tod.

Daß Deinem Schlummer nicht die Ruhe fehle,
Die stets geflohen Deines Leibes Pein,
Ließ Deiner Freundin[1] zarte Dichterseele
Der Eiche Zweige schatten Deinen Stein.

Verlassen bist Du, Armer, nun nicht länger,
Die Eiche hütet treulich Deinen Traum,
Du warst es werth: es darf der deutsche Sänger
Wohl Frieden finden bei dem deutschen Baum.

Schlaf, Seume, sanft! Im Grund die Wurzeln schlingen
Sich um Dein Haupt, wie einer Mutter Arm,
Und Vöglein oben in dem Wipfel singen
Ein Lied, wie Deines, innig zart und warm.


Diesem Traeger’schen Gedichte war auch die umstehende Abbildung des Seume’schen Grabes beigefügt, deren Wiedergabe heute um so mehr am Platze sein dürfte, als inzwischen die Zahl der Gartenlauben-Leser wohl um 300,000 gewachsen ist; doppelt willkommen wird sie deswegen sein, weil, wie man hört, der moosbewachsene Stein demnächst verschwinden wird, nun – hoffen wir es! – einem würdigen Dichterdenkmale Platz zu machen.[2]

Unsere Zeit geht nicht mehr zu Fuß nach Syrakus. Einem muthigen Streben in’s Große, Weite eröffnen sich jetzt freiere Bahnen, als dem armen, hartgeprüften Seume. Eine weiße Marmortafel bezeichnet unten in Schönau ein Haus – es ist der Morgenstern – als Geburtshaus Peyer’s, des kühnen Nordpolfahrers, der vor zwei Jahren ruhmgekrönt seine Heimath wieder besuchte, um von Souveränen gefeiert, von seinem Volke mit Jubel begrüßt zu werden. Freuen wir uns, daß Fürsten jetzt selber der strebenden Forschung helfend die Hand bieten, freuen wir uns dankbar der Tage, in denen wir leben! Treue Erinnerung aber auch den Märtyrern einer andern Zeit – ein grünes Blatt, Wandrer Seume, auf Dein stilles Grab!




Aus Robert Blum’s Leben.
3. Lehr- und Wanderjahre.

Wenn das lebhafte Rechtsgefühl, das Robert Blum Zeit seines Lebens beseelte, überhaupt auf eine bestimmte Erfahrung zurückgeführt werden kann, so hat er es sicherlich in der Hauptsache den Leiden und der Rechtlosigkeit seiner Lehrjahre zu danken. Denn geradezu das Gegenbild des heutigen Rechtsverhältnisses zwischen Lehrherrn und Lehrling boten jene Tage, da er Lehrjunge wurde. Hinweggefegt mit allen anderen historischen Einrichtungen früherer Jahrhunderte wurden auch die ehrsamen Zünfte, als die Jacobiner Frankreichs über Köln sich ergossen hatten. Keine Thräne soll etwa hier dem alten Zunftwesen nachgeweint werden. Unleugbar wurde der Lehrling im Zunftstaate der guten alten Zeit mehr als billig vom Meister ausgebeutet: das Lehrgeld kam sehr theuer zu stehen, und viel zu lange währte die Lehrzeit. Dagegen hatte die alte Zunftzeit auch jede herzlose Ausbeutung und Behandlung des Lehrlings von Seiten des Meisters, die über die Grenzen des nach damaligen Begriffen Erlaubten hinausging, streng geahndet. Kein Meister durfte wagen, dem Ehrenrathe der Zunftgenossen zu trotzen: wenn er es that, stellte er seine ganze Existenz auf’s Spiel.

Von diesen heilsamen Schranken gegen die Willkür des Meisters hat Robert Blum in seinen Lehrjahren nichts mehr vorgefunden. Wir Deutschen von heute können uns kaum eine [317] Vorstellung von den Verhältnissen eines Lehrjungen jener Tage machen. Wir sind eben im Begriffe, die Zuchtlosigkeit und die Geneigtheit zu Vertragsbruch, die in erschreckendem Maße unter den heutigen Lehrlingen – in Folge bekannter Hetzereien – sich ausbreitet, durch gesetzliche Bestimmungen einzuschränken. Wir würden es einfach für unmöglich halten, daß heute ein Meister wagen sollte, seinen Lehrling nur als den Sclaven der Launen aller Hausgenossen und außerdem als „Mädchen für Alles“ zu benutzen – ohne auch nur den Versuch zu machen, den Lehrling in dem Gewerbe zu unterrichten, das er lernen soll. Der starke Arm des Gesetzes schützt auch den Aermsten und Schüchternsten vor solcher Ausbeutung. Robert Blum dagegen hat mehr als einmal Lehrherren von diesem Schlage kennen gelernt.

Lange hatte der dreizehnjährige Knabe nachgesonnen, welchem Handwerke er sich zuwenden solle, als die Pforten des Gymnasiums sich ihm für immer geschlossen hatten. Seine Eltern ließen ihm freie Wahl. Robert entschloß sich, Goldschmied zu werden. Das edelste der Metalle, der Rohstoff, auf dessen Besitz das einzige Streben vieler Millionen unablässig gerichtet ist, wollte er bearbeiten und zu schmückendem Zierrathe künstlerisch gestalten lernen. Tiefer Sinn lag in dieser Berufswahl, die der denkende Knabe gewiß mit vollem Bewußtsein traf. Da nun einmal das reine Gold der Wissenschaft, das er ohne jeden unedeln Beisatz auszumünzen hoffte, seinen Händen für immer entrückt war, so wollte er wenigstens täglich jenes wichtigste Element unter den Händen haben, das so Viele noch höher schätzen, als das reine Geld der Wissenschaft. Seine Eltern billigten die Wahl. Robert wurde zum Goldarbeiter Asthöver in der Mauthgasse in die Lehre gebracht.

Es ist nun eine von allen bisherigen Biographen Robert Blum’s mit rührender Einstimmigkeit berichtete Fabel, deren „Moral“ nicht erst erläutert zu werden braucht: Robert habe bei Asthöver – den Namen des Meisters nennt übrigens Keiner der bisherigen Biographen – ein halbes Jahr lang Draht gezogen, ausgeglüht und als erste selbstständige Arbeit endlich Ketten machen sollen, dazu aber habe er sich vollständig unfähig erwiesen. „Allerdings war sein späteres Streben nur darauf gerichtet, alle Ketten zu sprengen, welche die Menschen noch ihrer Freiheit berauben“, bemerkt einer dieser gemeinplatzwandelnden Biographen. Aus diesem Grunde soll Robert von dem Meister, den man sich nach der Nutzanwendung der Fabel eigentlich als ränkeschmiedenden Reactionär vorstellen müßte, fortgejagt worden sein. Allein diese allerliebste Geschichte hat nur den einen Fehler, daß sie nicht wahr ist. Nach den Familienaufzeichnungen, die wir eben wegen ihrer Schmucklosigkeit und Tendenzlosigkeit und ihrer Fülle von Detail und Localfarbe für völlig glaubhaft halten dürfen, hat sich die Sache vielmehr so zugetragen:

Meister Asthöver war ungefähr das, was man im gewöhnlichen Leben einen guten Menschen, aber schlechten Musikanten nennt. Er scheint seinerseits einen ansehnlichen Beitrag zu der den Franzosen und anderen lateinischen Völkern völlig unbegreiflichen deutschen Volksvermehrung geliefert zu haben. Wenigstens hat Robert während der neun Monate seiner Lehrzeit bei Asthöver von den Functionen der Magd bis zu denen des Kinderwiegens, -Tragens und -Laufenlehrens alle Aufgaben eines ersten Erziehers überkommen und vollzogen. Und wahrscheinlich wäre bei längerer Fortdauer seiner Lehrzeit in dieser Art von Werkstatt derselbe Kreislauf der Pflichten ihm noch mehr als einmal beschieden gewesen. Jedenfalls war es nicht der Fehler Asthöver’s, daß dies nicht der Fall war. Vielmehr klagte Robert Blum selbst seiner Mutter nach dreivierteljähriger Lehrzeit, daß er die Werkstatt des Meisters kaum zu sehen bekomme, und meist nur als Kinderwärter, höchstens als Küchenjunge verwendet werde. Die Mutter, welche die Wahrheitsliebe ihres Robert schon so oft erprobt hatte, ging zu Asthöver und beschwerte sich über den Mißbrauch. Da fand auch der biedere Meister eine flotte Ausrede. Er erklärte, daß er den kurzsichtigen Knaben mit den schwachen Augen zur Berufsarbeit nicht brauchen könne. Wann und wie lange er diese betrübende Entdeckung gemacht, verrieth er der Mutter nicht. Zum Kettenschmieden ist Robert jedenfalls nicht gekommen.

Es scheint, als habe Robert nun zunächst den Zufall über seine Berufswahl bestimmen lassen. Bei einem Gürtler war eine Lehrstelle offen. Er nahm sie an. Aber nach einem halben Jahre schon war auch dieser Berufszweig verdorrt; denn der Meister mußte wegen verschiedener schlechter Streiche, welche die Nachfrage der Behörden nach seiner werthen Person in bedenklichem Maße steigerten, Köln verlassen und das Weite suchen.

Zum dritten Mal stand also Robert in dem ärmlichen Hause der Eltern vor der dringenden Frage: „was nun?“ Da wurde durch die Zeitung bekannt gemacht, daß ein Gelbgießer in Köln einen Lehrling suche. Robert bot sich sofort an. Der ehrsame Meister, der den Lehrling suchte, war Peter Räder, Gelbgießer aus Düsseldorf, seit Kurzem erst nach Köln gezogen. Robert gefiel dem Meister sehr, und der Contract wurde daher sofort geschlossen. Ob das Gefallen auf Gegenseitigkeit beruhte, wissen wir nicht. Jedenfalls verbreiteten sich bald die schlimmsten Gerüchte über die Vergangenheit des Meisters. Er sollte in Düsseldorf seine Frau so lange gequält und geärgert haben, bis sie habe in’s Grab steigen müssen. Nach Köln sei er nur gezogen, um seinen Schwägern aus den Augen zu kommen, die ihm Rache geschworen. Vor Robert hatte er einen Lehrling gehabt, der aus Aerger über des Meisters stetes Zanken und seine Unzufriedenheit mit jeglicher Leistung erst die Gelbsucht bekommen hatte, dann an der Auszehrung gestorben war.

Das Verhalten Räder’s Robert gegenüber rechtfertigte vollkommen diesen bösen Leumund. Dieser Meister der Gelbgießerei zeigte sich geizig, zänkisch, kleinlich und von Herzen bösartig. Gleichwohl suchte Robert durch vier lange Jahre es ihm recht zu machen, um nur von sich selbst den drückenden Verdacht abzuwehren, als sei er unstet und ungeschickt, unwillig zum Lernen eines ordentlichen Handwerkes. Niemals gewann er in dieser langen Zeit von seinem Meister die geringste Aufmunterung, das bescheidenste Zeichen der Zufriedenheit. Daß der Meister mit Robert nicht fortwährend zankte, war schon ein Beweis der treuesten Pflichterfüllung des Lehrlings.

Ein Vorkommniß ist besonders bezeichnend für den Charakter dieses Lehrherrn. Räder erhielt eines Tages ein große Bestellung von Seiten des Militärfiscus, wie wir heute sagen würden. Eine sehr erhebliche Anzahl der mit einzelnen Messingplättchen belegten, spitz zulaufenden Riemen an den Czakos der (preußischen) Soldaten sollte in größter Eile geliefert werden. Räder konnte nur durch ungewöhnliche Anstrengung aller seiner Leute hoffen, die lohnende Arbeit in der vorgeschriebenen Zeit zu bewältigen. Er sicherte daher Allen, die vier bis fünf Stunden des Nachts während sechs Wochen an dieser Arbeit mit helfen würden, einen bestimmten Lohnsatz pro Stunde für diese Extra-Arbeit zu. Robert speciell versprach er für jede dieser Arbeit geopferte Nacht fünf Groschen. Freudig ging das junge Blut auf dieses Angebot ein. Fortan kam Robert Abends acht Uhr, wie sonst, zum Essen nach Hause und ging vor zehn Uhr wieder an die Nachtarbeit. Bis drei Uhr Nachts war er thätig. Dann gönnte er sich im Hause des Lehrherrn einige Stunden Ruhe, kam zum Frühstück nach Hause und ging, wie gewöhnlich, um sieben Uhr Morgens an sein Tagewerk. Voller Freude sprach er mit den Seinen von der schönen Summe Geldes, die er sich durch das Opfer seines Schlafes erkauft habe. Mit der reichen Hoffnung der Armuth malte er sich schon eine königliche Bescheerung aus, die er sich selbst leisten werde. Nun waren die schweren sechs Wochen um. Die Gesellen, die jede Woche, auch für die Nachtarbeit, abgelohnt worden waren, hatten längst ihr Geld in der Tasche. Räder hatte ein vortreffliches Geschäft gemacht. Aber Robert erhielt nichts; kein Wort des Lehrherrn verrieth dessen Absicht, sich dem armen Lehrling gegenüber an das gegebene Versprechen zu erinnern. Endlich geht die Mutter entschlossen zu Räder und bittet um das Geld für ihren Sohn. Da meint der Meister: „es sei doch spaßhaft, wenn selbst der Lehrling komme und seine Mühe bezahlt haben wolle. Wenn Arbeit da sei, müsse eben der Lehrling arbeiten – dafür sei er Lehrling; auf ein bischen mehr oder weniger komme es nicht an.“ Dabei blieb es. Kein Pfennig war aus dem hartherzigen Knauser herauszupressen. Von diesem Tage an fehlte es nun für Robert auch an stetem Zanken und Schelten nicht. So meinte Räder am bequemsten die Stimme des Gewissens zu übertäuben.

Endlich waren auch diese vier bösen Jahre um. Robert zählte neunzehn Jahre, als er zum Gesellen gesprochen wurde [318] (November 1826). Aber der Geselle und der Prophet gelten nichts in ihrem Vaterlande. Beide müssen wandern. Auch Robert wanderte, natürlich nicht als Prophet, sondern als Gelbgießergeselle. Diese Tage der Wanderschaft kann ich nun auf Tag und Stunde, an der Hand der eigenen Aufzeichnungen des Wanderers verfolgen. Robert Blum hat nämlich durch seine Wanderjahre ein „Reise-Journal“ geführt. Das ist der früheste eigenhändig von ihm geschriebene und, was die Glaubwürdigkeit erhöht, auf der Wanderschaft selbst tagebuchartig fortgeführte Bericht aus seinem Leben, den ich besitze. Er wurde unter seinen nachgelassenen Papieren vorgefunden. Leider sind alle seine Briefe an die Seinen aus jener Zeit, deren er trotz des theuren Portos viele schrieb, verloren gegangen. Aber das Reise-Journal läßt, obwohl es nur die Reiseroute in Meilen, die Zeit des Aufenthaltes an den einzelnen Orten angiebt und diese Orte nebst Umgegend schildert, alles das zwischen den Zeilen lesen, was aus den mir vorliegenden Zeugnissen seiner Meister und sonstigen Quellen über seine Wanderschaft berichtet wird: daß Robert nämlich, in Folge seiner schwachen Augen, überall zu feinerer Arbeit sich wenig tauglich zeigte, und daher überall nur kurze Zeit kaum lohnende Arbeit fand, obwohl er sich überall „honett betrug“, wie es in den Zeugnissen steht.

Am 25. November 1826, genau zwanzig Jahre nach dem Hochzeitstage seines Vaters, trat Robert, noch seinem Reise-Journal, die Wanderung an. Er erreichte an diesem Tage Bonn. Es war der erste Schritt in die Welt, den er that. Man sieht den ersten Seiten des Journals deutlich an, mit welcher Begeisterung der arme, zeitlebens bisher an die Scholle gefesselte junge Mann oder „Jüngling“, wie er sich selbst noch drei Jahre später nannte, die Wunder des Rheinlandes begrüßte. Die für die „Bemerkungen über die Gegend“ eingerichtete Spalte des Journals reicht überall nicht zu, um das volle Herz ausströmen zu lassen. Dabei spricht Robert natürlich wie ein Buch. Er will vor sich selbst zeigen, daß er doch schon Einiges gelernt und nichts vergessen hat. So versichert er, kaum in Bonn angekommen, und ohne jede eigene Kenntniß von anderen Städten als Köln und Bonn: „Die Reste von Bonns ehemaliger Herrlichkeit als kürfürstliche Residenz, verbunden (!) mit der Universität und ihren gelehrten Instituten, machen die sonst unbedeutende Stadt zu einer der merkwürdigsten am Rheine.“ Schon am 27. November wanderte er über Remagen, Andernach, Neuwied nach Weißenthurm, am 28. bis nach Coblenz. „Ihm gegenüber liegt auf der fast unersteigbaren Zinne eines schroffen Felsens die Bergveste Ehrenbreitstein, das deutsche Gibraltar, ein vollendetes Meisterwerk deutscher Befestigungskunst,“ schreibt er in sein Journal. Und dann schildert er die Gegend auf seinem Weitermarsch nach Caub, Bacharach etc. also: „Von hier aus wird die Gegend immer wilder und romantischer. Gigantische, jeder Vegetation (?) unfähige Felsenmassen, deren Gipfel mit den Denkmälern grauer Vorzeit und deutschen Heldenmuthes gekrönt sind, wechseln mit lieblich grünenden Weinbergen; der stolze Fluß, in enge Schlünde zusammengedrängt, bahnt sich in mäandrischen Krümmungen den Weg durch das Felsenlabyrinth und scheint oft mit dem Donnern und Brausen seiner Wogen das ganze Bett sprengen zu wollen.“ Gewiß haben wenige wandernde Gelbgießergesellen damaliger Zeit so gut geschrieben und so wenig Arbeit gefunden, wie Robert. Denn schon am 10. December traf er, auf demselben Wege rückwärts wandernd, wieder in Köln ein.

Der Schrecken der Seinen über die rasche Heimkehr scheint kein geringer gewesen zu sein. Schon nach zwei Tagen ergreift er abermals den Wanderstab und zieht über Opladen und Solingen nach Elberfeld. Die Landschaft, die er durchwandert, schildert er in seinem Reise-Journal also: „Die Gegend, welche an den Ufern des Rheins flach bleibt, beginnt östlich von Opladen sich zu erheben; Hügel von Sand und Mergel sind die Vorboten größerer Berge, die in romantischen Gruppen die Gegend bedecken und ihr ein wahrhaft schweizerisches (?) Ansehen geben. Ackerbau findet man meistens nur in den Thälern und am Fuße der Berge und auch hier nur unbedeutend. Die Einwohner ernähren sich größtentheils von Fabrikarbeit, und ihr Fleiß und ihre Arbeitsamkeit sind bewundernswerth und fast beispiellos. In den verborgensten Tiefen klappern unaufhörlich die Hämmer der zahlreichen Eisenwerke, und nicht selten tönt uns von der unwirthbarsten Spitze der Berge aus einer einzelnen Hütte das Knarren der Webstühle entgegen oder wir hören die einförmigen Schläge einer Schmiede, die auch in der schaurigsten Einöde an das Dasein uns ähnlicher Wesen erinnern.“

In Elberfeld und Barmen blieb Robert vom 12. December 1826 bis zum 6. Juni des Jahres 1827 in Arbeit bei verschiedenen Meistern. Der zweite, der ihn beschäftigte, sagte ihm beim Abschied – gewiß nicht mit Unrecht –: „er passe nicht zu einem Handwerksmann; er solle lieber ein Federfuchser werden.“ So viel Wahrheit und Menschenkenntniß in diesem Worte lag, für Robert enthielt es das Schmerzlichste, was ihm ein Mensch damals offenbaren konnte: die rückhaltlose Aussprache der furchtbaren Erkenntniß, die er selbst im tiefsten Schrein seines Herzens bewahrte – daß er seinen Beruf verfehlt habe, daß ihm aber zur Durchführung seiner wahren Lebensaufgabe, der productiven Geistesarbeit mit der Feder, das Nöthigste abgehe, Wissen und die Mittel zur Fortbildung.

Unter der ganzen Wucht dieser erdrückenden Erkenntniß, völlig überzeugt, daß ihn sein Handwerk, bei dem so viele Andere ihr reichliches Auskommen fanden, nicht nähren könne, trat Robert am 6. Juni 1827 wieder den Heimweg nach Köln an,[3] wo er verzweifelt den Seinen das ganze Herz ausschüttete.

Da begünstigte ihn zum ersten Mal in seinem Leben ein fast wunderbarer Glücksfall. Als er hoffnungs- und aussichtslos die Zeitung durchblätterte, um nach irgend einer Stellung zu suchen, welche ihm wenigstens ermöglichte, seiner guten Mutter die Sorge für seine Ernährung abzunehmen, fand er die Anzeige eines Herrn J. W. Schmitz, eines Lieferanten der vor Kurzem neu eingeführten Straßenlaternen mit einem Licht. Dieser Vertreter der öffentlichen Aufklärung suchte „einen jungen Mann mit hinlänglichen Schulkenntnissen, der in Arbeiten in Metallen erfahren und geneigt sei, Arbeiten zu beaufsichtigen und selbst mit zu arbeiten“. Robert bot sich sofort bei Schmitz an. Er gefiel dem Manne und Schmitz nahm ihn gleich an. Als die Mutter, die wohl kaum an das gute Glück ihres unglückliche Kindes glauben mochte, nun auch zu Schmitz eilte, um einen „Accord“ mit ihm zu machen, sagte der Straßenbeleuchter: „Liebe Frau, es bedarf keines Accordes. Ich habe in Ihrem Sohne einen Schatz gefunden. Ich kenne ihn erst sehr kurze Zeit, aber ich habe seine herrlichen Eigenschaften erkannt und weiß sie zu würdigen. Für die Beschäftigung, zu der ich ihn anfangs anzunehmen gedachte, ist er zu gut. Seine Ausbildung und seine Zukunft nehme ich auf mich. Ich habe ihn lieb gewonnen.“

So glücklich und verheißungsvoll eröffnete sich Robert’s Stellung bei einem Manne, der trotz der widersprechendsten Anlagen seines Charakters und trotz der schroffsten Wandlungen in seinem Verhalten Robert gegenüber doch eine der bedeutsamsten Rollen im Leben desselben gespielt hat. Denn Schmitz hat dem jungen Mann zum ersten Mal Gelegenheit gegeben, sein Vaterland kennen zu lernen, es sorgenlos und behaglich beobachtend zu durchmessen. Er hat Robert zum ersten Mal Muße, Anregung und – wenn auch dürftige – Mittel geboten, um an seiner wissenschaftlichen Fortbildung zu arbeiten. Er hat ihn die reichen Bildungsmittel, welche schon der bloße Anschauungsunterricht des damaligen München und Berlin bot, monatelang benützen und genießen lassen. Und derselbe Mann hat dann andererseits seinen treuesten, begeistertsten und dankbarsten Mitarbeiter tiefer gedemüthigt und härter behandelt, als irgend ein Anderer, von dem Robert mit seiner Existenz abhing. Schon vom psychologischen Standpunkte aus verdient daher dieser merkwürdige Mensch besondere Beachtung, hier aber insbesondere auch darum, weil der Dienst bei ihm für Robert’s Lebensziel und Ausrüstung nach dem Obigen von größter Bedeutung war. Daher scheint es gerechtfertigt, wenn wir das nächste Capitel überschreiben: Bei „J. W. Schmitz“.

Hans Blum.

[319]

Vor die richtige Schmiede.
Von C. M. Seyppel.



Der Kriegsplanet
nach den Ergebnissen seines vorjährigen Besuches.

Unter allen Wandelsternen, die mit uns um die Sonne kreisen, hat keiner die Phantasie der Völker und den Scharfsinn der Astronomen früher und nachhaltiger beschäftigt, als der Mars, unser nächster Nachbar im Planetensystem nach der äußern Seite. Weder die Venus, welche als Morgen- und Abendstern die Hirten- und Nomadenvölker zu ihrer dichterischen Verherrlichung herausforderte, noch der Jupiter, das strahlendste Gestirn unserer Nächte, haben mit so unwiderstehlicher Gewalt die Blicke der Irdischen auf sich gezogen, wie der Mars. Sein düsterrother Schein, welcher im vorigen Sommer und Herbst alle andern Sterne des Firmamentes überstrahlte, erinnert an Blut und Feuersgluth und gab schon den ältesten Sternbeobachtern, den Chaldäern, Veranlassung, ihn als den Krieg bringenden Planeten zu betrachten und ihn in den Schutz eines Gottes zu stellen, dessen gewöhnliche Beinamen auf den neuerlich entzifferten Ziegelsteintafeln der Bibliothek von Ninive lauten: „der große Held, der König des Handgemenges, der Meister der Schlachten, der Kämpfer der Götter“ u. s. w. Die Chaldäer beobachteten seine Bewegungen daher eifrig von den Plattformen ihrer Stufenpyramiden, die zugleich Tempel und Sternwarten waren, und hatten bereits die an diesem Planeten allerdings sehr auffallenden „Schleifen“ (das heißt die durch die Bewegungen des Beobachters zeitweilig entstehenden scheinbaren Rückwärtsbewegungen, auf dem regelmäßigen Wege von West nach Ost) und seine zeitweisen Annäherungen und Entfernungen an und von uns bemerkt. Wegen jener Laufeigenthümlichkeit nannten sie ihn Nirgal oder Nergal, das heißt: der Springende oder Stampfende, und zwei andre chaldäische Namen bezeichnen ihn als Mamna (Mars in der Erdnähe) und Baluv, das heißt: das „entschwindende Gestirn“, oder der Stern, welcher nicht mehr da ist. Jene Auffassung des Mars als Kriegsplanet ist von den chaldäischen Vätern der Astrologie an bis zum Mittelalter festgehalten worden, immer wieder galt seine Erscheinung in besondern Stellungen als höchst unheimlich, Krieg und Verderben bringend, namentlich wenn er in Gemeinschaft mit dem bleichen Saturn auf die Geschicke der Menschen wirken zu wollen schien.

Den Astronomen wurde er durch die Bequemlichkeiten, die er der Beobachtung darbietet, das wertheste und umworbenste Gestirn, um daran den Bau des Sonnensystems zu studiren und die Gesetze der Planetenbewegungen zu ergründen. Seiner [320] Beobachtung verdankt die Astronomie den großartigsten Aufschwung, den sie je empfangen hat. In der Vorrede seiner „Neuen Astronomie“ erstattet der große Kepler dem Kaiser Rudolph von Habsburg Bericht über den Ausgang des unter seiner Regierung begonnenen „großen Kampfes mit dem heidnischen Kriegsgotte Mars, in welchem sich der kaiserliche Feldherr Tycho de Brahe den größten Ruhm gewonnen, da er in zwanzigjährigen Nachtwachen sämmtliche Gewohnheiten, Stellungen und Kriegslisten jenes Feindes ausgekundschaftet, sodaß er (Kepler) nunmehr diesen höchst noblen Herrn gefangen vor den Kaiser führen könne“. In der That waren es die musterhaften Beobachtungen des Mars durch Tycho de Brahe, aus denen Kepler die drei Planetengesetze ableitete, die seinen Namen unsterblich gemacht haben.

Diese Gesetze lehren bekanntlich, daß sich die Planeten nicht in Kreisbahnen, wie man früher glaubte, und mit gleichmäßiger Schnelligkeit um die Sonne bewegen, sondern in elliptischen (eirunden) Bahnen, und daß die Bewegung um so schneller ist, je mehr sich der Planet der Sonne nähert, die nicht in der Mitte, sondern in einem Brennpunkte der Bahn befindlich ist. In Folge der langgezogenen Bahncurve ändert dieser Planet aber nicht nur seine Abstände von der Sonne sehr beträchtlich, sondern auch seine Entfernung von der Erde bietet Unterschiede, wie sie in ähnlichen Verhältnissen bei keinem andern Planeten, selbst bei der Venus nicht, beobachtet wurden. Mars und Erde können einander auf weniger als acht Millionen Meilen nahekommen, um sich im andern Extrem auf fünfundfünfzig Millionen Meilen von einander zu entfernen!

Die jüngste Beobachtungsgelegenheit der ungewöhnlich großen in dieser Weise nur in Jahrzehnten wiederkehrenden Annäherung, welche letztere man wohl einen Besuch nennen kann, wurde von den Astronomen mit Spannung erwartet. Denn auch der neueren Zeit ist der Mars einer der interessantesten Planeten geblieben. Er ist der in jeder Hinsicht unserer Erde ähnlichste Mitbürger des Planetensystems, nach allen seinen Verhältnissen ein wahrer Bruder der Erde. Er dreht sich fast in derselben Zeit wie sie um seine Achse, sodaß Tag und Nacht zusammengenommen nur ungefähr um eine halbe Stunde länger ausfallen als bei uns. In unseren Fernröhren bietet der Mars einen ganz verwandten Anblick, wie die Erde ihn aus ähnlichen Fernen geben mag, nämlich den einer kreisförmigen gegen die Pole hin etwas abgeplatteten Lichtscheibe, über welcher, wie es scheint, eine Lufthülle sich trübt und aufhellt. Von dem meist gluthrothen Innern der Scheibe heben sich mehr in’s Bläuliche ziehende Schattenflecken ab, die man für Meere gehalten hat, und an den beiden Polen zeigen zwei beständig silberweiß glänzende Flecke, die um so mehr an unsere vereisten Polarzonen erinnern, als sich diese weißen Kappen abwechselnd, wie bei uns, an demjenigen Pole verkleinern, der gerade seinen Polarsommer erlebt. Denn wie die Erde, erfreut sich auch der Mars wegen der geneigten Stellung seiner Drehungsachse eines Jahreszeitenwechsels; kurz wir könnten uns dort ein im Allgemeinen ähnliches Naturleben vorstellen, wie auf der Erde, wenn es mit dem Wasser und der Luft daselbst seine Richtigkeit hat.

Es war also eine im Allgemeinen gerechtfertigte und sehr verzeihliche weltnachbarliche Neugierde, welche mit der Brille des Spectral-Apparates unseren Planetenbruder bei seiner diesmaligen Annäherung gründlich von oben bis unten zu mustern begehrte, um mit den neugewonnenen Beobachtungsmitteln womöglich festzustellen, woher eigentlich seine rothe Gesichtsfarbe stammt, die uns lange genug geängstigt hat, und wovon die bläulichen Flecken darauf herrühren. Konnte doch auch der kürzlich verstorbene Jesuitenpater Secchi in Rom, ein Meister der Spectralanalyse, nunmehr daran denken, die Frage zur Entscheidung zu bringen, welche vor zweihundert Jahren sein College Athanasius Kircher in seiner „Himmelsreise“ aufgeworfen hat: ob es nämlich auf den Planeten auch Wasser gäbe, um ihre etwaigen heidnischen Bewohner zu taufen! – Kurz es gab der für eine solche Gelegenheit aufgesammelten Fragen eine reiche Anzahl.

Am meisten hatte man die etwaigen Marsbewohner bedauert, daß ihren Nächten das Mondlicht mangele, und die Astronomen hatten das sogar sehr seltsam gefunden, da die äußeren Planeten sich sonst, z. B. Jupiter und Saturn, einen so erheblichen Luxus in der nächtlichen Erleuchtung gestatten; man hatte schon allerlei bedenkliche Vermuthungen aufgestellt, wie denn wohl der Mars möglicher Weise um seine früher wahrscheinlich besessenen Trabanten gekommen sein könnte. Es war daher eine der angenehmsten Ueberraschungen, die uns der Kriegsplanet gleich in den ersten Tagen seiner Annäherung bereitete, als er den Astronomen, anstatt des längst vermißten einen, gleich zwei Adjutanten vorführte, so klein freilich, daß sie bisher nothwendig übersehen werden mußten. Sie wurden zuerst von dem Professor Asaph Hall in Washington am 16. und 17. August als Marsmonde erkannt, nachdem der äußere von ihnen schon einige Abende vorher die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf sich gezogen hatte. Bald darauf sind sie dann auch auf vielen anderen Sternwarten gesehen worden. Die Taufe der beiden Marssöhne (mit irdischem Wasser) ist erst vor wenigen Wochen vollzogen worden; man hat dabei, in nicht unpassender Weise, auf einige Stellen des Homer und Hesiod Bezug genommen, und den äußeren Mond Demos, den inneren Phobos genannt. Hesiod erzählt uns nämlich in seiner „Abstammungsgeschichte der Götter“, daß Venus ihrem kriegerischen Gemahl zwei Söhne, Deimos und Phobos (Grauen und Entsetzen) geboren habe, die an seiner Seite Schrecken in die Reihen der Kämpfenden bringen, und Homer läßt merkwürdiger Weise den Mars, während er sich die Erde zu besuchen anschickt, seinen beiden Söhnen gebieten, die Pferde des Schlachtwagens anzuschirren und ihn (wie man hinzu denken kann) als Wagenlenker zu begleiten. Homer-Schwärmer könnten daraus schließen, daß bereits der Sänger der Ilias die beiden, nur bei den größten Annäherungen sichtbaren Monde des Mars gekannt habe.

Die beiden Mars-Monde verdienen eine nähere Betrachtung schon deshalb, weil sie die kleinsten aller im Weltraume jemals beobachteten Himmelskörper vorstellen. Auch in den stärksten Fernröhren erschienen sie nur als unbedeutende, um die stark vergrößerte Marsscheibe kreisende weiße Pünktchen, den kleinsten noch sichtbaren Sternen vergleichbar. Eine Messung ihres Durchmessers war unmittelbar gar nicht möglich, aber die amerikanischen Astronomen Newcomb und Pickering haben eine Schätzung ihrer Größe versucht, indem sie die von ihnen ausgestrahlte Lichtmenge mit derjenigen der Marsscheibe in genauen Instrumenten verglichen. Wenn man annehmen darf, wie dies sehr wahrscheinlich ist, daß die Oberfläche der Monde ungefähr ebenso stark das Sonnenlicht zurückwirft, wie die des Planeten, so würde der Durchmesser des äußeren Mondes ungefähr sechs und der des inneren etwa sieben englische Meilen betragen. Man malt sich gern in der Phantasie das Betreten einer solchen Liliputwelt aus, deren Weltbeherrscher schwerlich so viel Menschen regieren könnte, wie der Bürgermeister einer europäischen Hauptstadt, und um deren Aequatorbahn man, wie Professor Newcomb sich ausdrückt, recht gut zwischen zwei Mahlzeiten eine „Reise um die Welt“ machen könnte, um auf einem Nachmittagsausfluge bei den Antipoden seinen Kaffee einzunehmen. Wegen der starken Oberflächenkrümmung würde man auf einem Spaziergange schon bei mäßiger Schnelligkeit die Sonne immerfort neu auf- oder untergehen sehen können, und das Kunststück des Abts von St. Gallen, mit der Sonne um die Welt zu reiten, würde dort eine Kleinigkeit sein, wenn man über die irdischen Muskelkräfte verfügen dürfte. Der innere Mond bewegt sich in sieben Stunden und achtunddreißig Minuten um den Mars, während der äußere Mond fast die vierfache Zeit braucht, um seine Bahn zu vollenden. Immerhin wird der Wechsel der Phasen und Stellungen beider Monde, von der Oberfläche des Mars aus gesehen, ein ziemlich reicher sein, und das Lied vom „wechselnden Mond, unter dem es nicht immer so bleiben kann“, dürfte den Marsbewohnern aus dem Herzen gedichtet sein, wenn es nämlich solche giebt.

Die Beobachtungen des vorigen Jahres, die nun wohl sämmtlich in den Fachzeitschriften erschienen sein werden, sind, soweit sich bis jetzt übersehen läßt, der Möglichkeit einer thierischen Existenz auf dem Mars nicht ungünstig. Zunächst hat sich deutlich das Vorhandensein einer Atmosphäre kundgegeben. Dieselbe zeichnete sich an manchen Tagen bestimmt als ein weißlich glänzender Ring ab, der die rothglühende Scheibe umgab, aber manchmal verschwand dieser Ring gänzlich, wahrscheinlich bei größerer Durchsichtigkeit der Atmosphäre. Vom Vorhandensein der letzteren hat man sich unter Anderem auf der Sternwarte von Greenwich [321] durch die Spectralanalyse überzeugt. Man wählte dabei als Vergleichsgegenstand unsern Mond, wenn er gerade in gleicher Höhe am Himmel stand, wozu sich derselbe wegen seines Atmosphärenmangels vorzüglich eignet. Dabei fand man nun, daß das Sonnenlicht, welches vom Mars zurückgeworfen wird, viel mehr Strahlensorten verloren hat, als das vom Monde zurückgeworfene: das Marsspectrum zeigte nämlich fünf dunkle Streifen, welche sich im Mondspectrum nicht finden, und diese entstehen eben allem Anscheine nach durch die Aufsaugung bestimmter Sonnenlichttheile, bei dem zweimaligen Durchgange durch eine Marsatmosphäre.

An sich erscheint diese Atmosphäre keineswegs von einer außerordentlichen Klarheit. Die Umrisse der Oberfläche des Planeten sehen wir immer nur wie durch einen dünnen Schleier, aber der Schleier hat den Vortheil, daß keine Ornamente eingewebt sind, das heißt die Atmosphäre enthält sehr selten Wolkenbildungen. Auf der Sternwarte zu Madeira hat man, durch klare Nächte begünstigt, im August und September über vierzig Zeichnungen der Marsoberfläche entworfen, wie sie in den aufeinanderfolgenden Nächten erschien, und diese Zeichnungen wiederholen sich mit ziemlicher Treue in den Einzelheiten. Nur in sehr vereinzelten Fällen sind weiße Flecken wie von Wolken gesehen worden; namentlich herrscht in den äquatorialen Gegenden andauernde Wolkenlosigkeit. Dagegen deuteten die Aenderungen in der Schärfe der Umrisse und in den Farben der Scheibe allerdings auf vorkommende Veränderungen in der Beschaffenheit der Atmosphäre. Die Farbe des Grundes wechselte in verschiedenen Nächten zwischen rosa, orange, gelb und scharlachroth, und die dunklen Flecken, welche man für Seen und Meere zu halten pflegt, erschienen blaugrau, kobaltblau, einmal auch dunkelolivengrün. Es ist darauf aufmerksam zu machen, daß diese Schattirungen den atmosphärischen Farben entsprechen, und daß die furchterweckende Erscheinung des Mars vielleicht nur dadurch so blutig gefärbt erscheint, weil das sonnenerleuchtete Marsfeld durch einen ganz zarten Dunstschleier gesehen wird, wie er das Sonnenlicht roth und dunkle Schattenstellen bläulich färbt.

Auch Luftströmungen oder Winde glaubt man auf dem Mars von Madeira aus wahrgenommen zu haben. Man bemerkte nämlich am 21. August eine Anzahl von Linien, die dem Nordpole zustrebten und die möglicher Weise von Luftströmungen herrühren, die unseren Passatwinden verglichen werden dürfen. Uebrigens gewahrte man in dieser günstigen Beobachtungszeit, wie schon bei früheren Gelegenheiten, eine bedeutende Verminderung der weißen Masse am Südpol, der gerade seinen Sommer erlebte; sie war gegen Ende des Septembers wohl auf die Hälfte ihres vorherigen Umfanges zusammengeschmolzen, und an ihrem Rande nahm man unregelmäßige Vorsprünge und Einkerbungen wahr, wie die vorgeschobenen Rücken eines schneebedeckten Hochgebirges, zwischen denen sich dunkle Thäler einbetten.

Sehr merkwürdig sind einige Beobachtungen, welche der englische Astronom John Brett mittelst eines ausgezeichneten Spiegelteleskopes an diesen Polarzonen gemacht hat. Schon früher war es einzelnen Astronomen vorgekommen, als ob die beiden silberglänzenden Kappen, welche die Pole des gluthrothen Planeten bedecken, sich ein wenig über die Oberfläche des Planeten erhöben, aber man schob dies auf jene Augentäuschung, durch welche eine hellere Masse immer etwas größer erscheint, als eine gleich große weniger helle, wie denn die dünne Mondsichel ebenfalls gleich einer Mütze über den dunklen Theil, wenn derselbe erkennbar ist, hinwegzugreifen scheint. Der genannte Astronom will sich nun Ende September auf das Bestimmteste überzeugt haben, daß diese weißen Massen über der Oberfläche des Planeten schweben und in jenen Tagen einen deutlichen breiten Schatten unter sich auf die tieferliegende Planetenoberfläche warfen. Er nimmt deshalb an, daß diese Kappen aus Wolkemasse bestehen, welche immerfort die Pole umlagern, weil die Polarländer vielleicht die einzigen Gegenden des Mars sind, an denen es kühl genug ist, um die Verdichtung der Atmosphärenfeuchtigkeit zu gestatten. Zugleich spricht er die Meinung aus, daß der Mars wirklich vielleicht noch rothglühend sei, wie er uns erscheint, und daß die Hitze der Atmosphäre eben Wolkenbildungen an anderen Orten, als an den Polen, nicht gestatte.

Gegen diese Deutung seiner Beobachtungen durch Brett dürfte sich indessen manches einwenden lassen. Nach der allgemein[WS 3] angenommenen Theorie der Planetenabschleuderung von der Sonne ist es nicht denkbar, daß der früher abgeschleuderte Mars noch rothglühend sein sollte, während sein jüngerer, bedeutend größerer Bruder seit undenklichen Zeiten äußerlich abgekühlt ist; auch steht jene Annahme mit den gleichbleibenden Umrissen der Marsoberfläche und selbst mit dem Grade seiner Atmosphärendurchsichtigkeit im Widerspruche. Wir können uns aber recht wohl denken, daß die kühlere Marsatmosphäre vielleicht stets weniger Wasserdampf aufgelöst enthält, als die irdische, und daß sie deshalb ihre Wolkenbildungen auf einen engeren Polargürtel beschränkt. Auch die Erde wird von Weitem ihren Winterpol mit einem ungeheuren, bis weit in die gemäßigte Zone reichenden bleibenden Wolkendache bedeckt zeigen, welches sich häufiger in der Nacht als bei Tage hier und da öffnet, und dann, wenn die Oeffnung groß genug ist, auch nur Schnee und Eis zeigen würde. Sie wird, wie gesagt, von den näheren Planeten aus ganz ähnlich aussehen, wie der Mars für uns, und auch um ihren Sommerpol würden sich die Wolkenmasse vermindern.

Es ist mir sogar sehr wahrscheinlich, daß unser Erd-Antlitz in den Mittelpartien ebenfalls etwas geröthet erscheinen dürfte. Denn da der klare Himmel bei uns die blaue Farbe zurückwirft, so wird das von ihm durchgelassene Licht der erleuchteten Erde jedenfalls etwas röthlich angehaucht sein müssen. Wir sehen ja den Mond bei seinen Finsternissen, wenn ihn ein Sonnenstrahl trifft, der durch unsere Atmosphäre gegangen ist, wie in rothem bengalischem Feuer strahlen („Gartenlaube“ 1877 S. 235, und auch wenn die Erde ihn mit dem zurückstrahlenden Sonnenlichte erleuchtet, sehen wir ihn deutlich röthlich-aschgrau. Während wir so schließen dürfen, daß der Erdplanet aus der Ferne ebenfalls roth erscheinen wird, um die Marsbewohner gleichfalls gruseln zu machen, können wir andererseits auch auf dem Mars einen blauen Himmel voraussetzen. Auch auf der von ferne gesehenen Erdscheibe werden die losen Wolkenmassen, welche die Pole umlagern, silberweiß aus dem rothen Grundton auftauchen, und gerade wie die Marsmonde wird auch unser Mond in bleichem weißem Lichte um den röthlichen Planeten kreisen, wie eine Feuerfliege um die Milchglaskugel der Gartenlaterne. Ebenso dürften auch im Erdbilde die dunklen Meere und Tropenwälder als bläulich schattirte Flecke auf dem röthlich glänzenden Schilde erscheien.

Mit neuer Theilnahme werden wir von jetzt ab den Mars betrachten dürfen. Denn so weit mein Urtheil reicht, kann durch alle im vergangenen Jahre gemachten Beobachtungen unser Zutrauen nur gestärkt werden, daß dort Wesen von ähnlicher Beschaffenheit wie wir wohnen könnten, eine Annahme, die der große Huyghens in seinem „Weltbeschauer“ auf alle Planeten ausdehnte, die uns aber höchstens noch für die Venus annehmbar erscheint, obwohl wir von deren näherer Beschaffenheit viel weniger wissen. Die großen äußern Planeten könnten, so viel wir von ihnen Kenntniß haben, nur Wesen, von denen wir uns durchaus keinen Begriff machen können, als Wohnplatz dienen, denn sie sind noch heiß, vielleicht zum Theil in Dampf aufgelöst. Die Sonnen und Fixsterne aber hat man seit der Entdeckung der Spectralanalyse ganz von der Liste der „bewohnten Welten“ gestrichen, weil sie in stärkster Gluth befindlich sind. Von dem Monde nehmen wir mit ziemlicher Sicherheit an, daß ihm Luft und Wasser, die ersten Bedingungen einer Lebewelt gleich der unserigen, mangeln. So bleibt uns von den Welten, die wir sehen können, fast nur der Mars als ein Feld, welches wir mit unseren Phantasien und Träumen befruchten können, ohne mit der Wissenschaft in Widerspruch zu gerathen. Statt also über seine Erscheinung in Schrecken zu gerathen, müssen wir sie mit besonderer Sympathie und kosmopolitischer Wärme begrüßen, denn auf ihm können wir gleichfühlende Herzen am ersten voraussetzen. Wie süß und beruhigend es aber dem menschlichen Gemüthe ist, mit derartigen Gedanken die ungeheure Reise durch den Weltraum fortzusetzen, das beweisen uns die zahlreichen Werke über die „Mehrheit bewohnter Welten“, welche in den letzten Jahrhunderten erschienen sind.

Carus Sterne.

[322]
Blätter und Blüthen.


Popp XXII. und der Herzog von Altenburg. Die jüngst mit so festlichem Pompe begangene „silberne Hochzeit“ des Herzogs Ernst von Sachsen-Altenburg ruft uns eine lustige Erinnerung wach, eine Scene aus fröhlicher Jugendzeit, welche vielleicht auch dem Unbetheiligten ein Lächeln entlockt. Die Scene spielt in Jena, und jugendlich übermüthige Musensöhne sind die Helden der Anekdote. Eine Eigenthümlichkeit des Jenaer Studentenlebens, die nur noch auf wenigen andern deutschen Universitäten besteht, sind die sogenannten Hoftage, wie sie von den Corpsstudenten auf den nahe gelegenen Dörfern abgehalten zu werden pflegen. Hier wird ein Stück Mittelalter zur Erscheinung gebracht, so ursprünglich drollig, wie es darzustellen außer lebenslustigen Künstlern nur noch dem Bruder Studio möglich ist. Der auf diesen Hoftagen regierende Student wird von dem Convente des Corps mit Sorgfalt und unter Berücksichtigung gewisser Eigenschaften gewählt, zu denen nicht sowohl die Kunst des vielen Trinkens als vielmehr die Gabe, eine größere Gesellschaft überschäumender Elemente in Ordnung und Zucht zu erhalten und beständig mit neuen launigen Einfällen zu beschäftigen sowie ganz besonders eine glückliche Rednergabe gehört. Der Gewählte führt den Titel eines regierenden Herzogs oder Grafen und erhält einen kurzen einsilbigen Namen, der innerhalb desselben Corps immer derselbe bleibt, während die einzelnen Regenten durch die fortlaufende Nummer unterschieden werden, wie dies bei regierenden Fürsten der Fall zu sein pflegt. Der Gewählte behält seine Stellung ein Jahr oder doch ein Semester lang, und seine Macht und Würde ist keine geringe.

Auf seiner Burg, die der Burgvoigt gewöhnlich am Sonnabend für den Fürsten und sein Gefolge bereit hält, steht ihm der erhabene Thron, zu dessen Seiten die glänzenden Tafeln sich ausdehnen; hier nehmen die Ritter, Knappen und das titellose Gesindel der Füchse in demuthsvoller Ehrfurcht Platz. An einer besonderen Tafel zur Linken des regierenden Herrn thront bei sogenannten geschärften Hoftagen der geistliche Vorsteher dieses wunderlichen Staates, Seine Eminenz der Herr Erz- und Weihbischof, dem es obliegt, bei feierlichen Gelegenheiten, bei Ernennung der Knappen zu Rittern, bei Ordensverleihungen und ähnlichen Gnadenbezeigungen die Gunst des Fürsten durch besondere feierliche Rede in’s rechte Licht zu setzen. Das gewaltige, breite Schwert, dessen der Fürst bei diesen Hoftagen sich bedient, flößt allgemeinen Respect ein: mit demselben schlägt er auf das vor ihm stehende Pult, um den Burgfrieden zu gebieten, der hier die Stelle des Silentium vertritt, mit demselben werden aber auch die Knappen zu Rittern geschlagen, während sie, vor dem Throne knieend, die drei Gelübde ablegen, welche die alten Ordensritter bei ihrer Aufnahme in den Orden ablegen mußten. Diese Ritterschläge pflegen so kräftig zu sein, daß die Erinnerung daran so bald nicht verschwindet. – Vor diesem Throne läßt sich aber auch das zarte Geschlecht erblicken, und wenn es nur das Burgfräulein, des Burgvoigts ehrsames Töchterlein, wäre, das seine Ernennung zur „Burgprinzessin“ und einen für sie speciell gegründeten Orden mit erröthenden Wangen aus den Händen des gnädigen Fürsten in Empfang nehmen sollte. –

Bei der Krönung des neugewählten Fürsten findet in der Regel ein feierlicher Auszug statt, dessen Glanz durch die Theilnahme der übrigen Corpsverbindungen, die dazu Einladungen erhalten, noch vermehrt wird. So feierte im Sommer des Jahres 1852 das Corps „Guestphalia“ zu Jena das Krönungsfest des neu ernannten Popp durch einen solchen.

Der Zug wurde durch Vorreiter eröffnet, welchen ein eleganter sechsspänniger Wagen folgte, in dem Seine Erlaucht der regierende Graf Popp XXII. Platz genommen hatten. Der Fürst verfehlte nicht durch seine Erscheinung einen imponirenden Eindruck zu machen, denn sein Haupt zierte die prächtige Krone; der Hermelin umfloß seine breiten Schultern; auf seiner Brust glänzte der „große Sonnenorden“, dessen einziges Exemplar nur von dem regierenden Herrn getragen wurde, und das blanke Schwert in seiner Hand kündete die gewaltige Macht des erlauchten Herrschers. Zwei Edelknappen in festlichem Schmucke standen auf dem Rücktritt seines Wagens, bereit auf den leisesten Wink die Befehle ihres gnädigen Herrn zu vollführen. Diesem Wagen folgte ein zweiter Sechsspänner, in welchem Seine Eminenz der Herr Erz- und Weihbischof saßen. Auch das Bild, welches dieser geistliche Oberherr gewährte, war ein glänzendes. Der sternenbesäete weiße Ueberwurf, auf welchen ein gewaltiger Bart herabfloß, die Bischofsmütze und in der Hand der glänzende Krummstab, das Alles machte seine Erscheinung zu einer durchaus würdigen.

Auch auf dem Rücktritt seines Wagens standen die üblichen Edelknappen. Nun folgten die eingeladenen Gäste, voran Thuß, der regierende Herzog von Lichtenhain, der Vertreter des Corps „Thuringia“, sämmtlich in glänzenden vierspännigen Equipagen; hierauf eine lange Reihe Wagen, in welchen die Ritter mit Orden geschmückt und schließlich die Knappen und das titellose Gesindel saßen, während der Zug von einigen Einspännern geschlossen wurde, in denen die Hunde des Corps saßen, die ebenfalls nicht umhin konnten, an dem festlichen Tage eine gewisse Würde zur Schau zu tragen.

Als dieser lange Festzug vom Marktplatz zu Jena aus sich nach Winzerla, der damaligen Burg der Westfalen, in Bewegung gesetzt hatte und am Holzmarkt in Jena vorüberfuhr, erregten zwei dort haltende vierspännige Equipagen mit herzoglich altenburgischer Livrée die Aufmerksamkeit der vorüberfahrenden Studenten. Bald darauf, auf der Chaussee nach Winzerla, bemerkte man, daß diese beiden Equipagen dem Zuge nachgefahren kamen, und es wurde bekannt, daß in dem einen Wagen Seine Hoheit der regierende Herzog von Sachsen-Altenburg saß. Auf Veranlassung einiger Staatsangehörigen dieses Fürsten, die sich unter den Studenten befanden, traf der Anführer des Studentenzuges, der damals ein Sachse war, die nöthigen Anweisungen, um in Winzerla, bis wohin die nach Kahla fahrenden herzogliche Wagen dem Studentenzuge der außerordentlich schmalen Chaussee halber folgen mußten, dem Herzoge eine kleine Ovation zu bringen. In Winzerla an der festlich geschmückten Burg angekommen, vor der ein freier Platz sich befindet, ließ der regierende Popp die studentischen Wagen im Halbkreise auseinander fahren um ein Passiren für die herzoglichen Equiwagen zu ermöglichen. Als nun der Wagen mit dem regierenden Herzog von Altenburg an demjenigen des studentischen Oberhauptes vorüberfuhr, erhob sich dieses und sprach folgende weithin tönende Worte:

„Wir Popp XXII., regierender Graf von Henneberg, Wöllnitz, Winzerla, Herr aller Länder, So Uns gehören und nicht gehören, empfangen Unsern Vetter Liebden, Seine Hoheit den regierenden Herzog von Sachsen-Altenburg in Unsern Staaten mit einem dreimaligen Hurrah!“

Das Corps der Studenten ließ ein kräftiges Hurrah erschallen; die Musik fiel fröhlich ein; einige Böller öffneten ihren Mund, und die ganze Scene hatte eine gewisse Feierlichkeit trotz all des komischen studentischen Aufzugs. Der Herzog von Altenburg grüßte und dankte nach allen Seiten auf’s Freundlichste und schien von dem eigenthümlichen Empfange, trotz der neu entdeckten Vetterschaft, unter richtiger Würdigung der Umstände keineswegs unangenehm berührt.

Popp XXII. gehört längst zu den „Depossedirten“. Ob sein glücklicher „Vetter Liebden“ noch eine Erinnerung an den Scherz bewahren mag?

Dr. B… R…




Unsere Bilder. Der Leser findet heute der „Gartenlaube“, wenn er jetzt zurückblättert, ein Idyll und ein Stück Natur-Epos in Bildern beigegeben. Wir führen ihn zunächst mit dem Kindchen, dessen Puppe den Kopf verloren hat, „Vor die rechte Schmiede“ – (S. 319) und dann ohne Zwischenvorhang sogleich zu unsern „Schmugglern in Nöthen“. Mit der ärztlichen Praxis, welche das Kind dem freundlichen Schmiedemeister zumuthet, findet jeder Kinderfreund sich selbst ab. Ob der Puppe der lose Kopf festgenagelt oder angeleimt werden soll, ist noch nicht ermittelt. Wir müssen das lediglich der Betheiligten überlassen. – Die schöne Harmlosigkeit verläßt uns plötzlich, blicken wir auf die „Schmuggler in Nöthen“ (Abbildung S. 311). Wir stehen da vor einem Alpenbilde, für dessen schaurige Erscheinung die Natur des Hochgebirges noch Stoff liefert, wenn der Bewohner der Ebene schon lange unter blühenden Bäumen sich von der Frühlingssonne bescheinen läßt. Die Österreichischen Zollgrenzen bieten sowohl nach der Schweizerseite, wie nach Italien hin dem Maler oft genug die halsbrechendsten Gelegenheiten zur Beobachtung solcher Scenen, wo der Mensch mit gleichem Trotze gegen Gesetz und Natur kämpft. Wir haben früher einmal erzählt, mit welcher Beharrlichkeit im Wagniß die Tiroler das Salz, das Oesterreich, wohl vertragsmäßig den benachbarten Schweizercantonen zu einem billigeren Preis, als im eigenen Lande lieferte, in langen Pascherzügen wieder nach Tirol zurücktrugen; an den italienischen Grenzen ist besonders die Seide eine einträgliche Schwärzerwaare, und einem solchen Zuge begegnen wir in dem Bilde Albert Richter’s. Durch die scheinbare Holzbelastung der Saumthiere dürfen wir uns nicht täuschen lassen. Eine leichte Arbeit hat der Schmuggler im Gebirge nicht. Wenn die Bora schneetrunken über den schmalen Saumpfad zu rasen beginnt, wie sie den Schmuggelzug unseres Bildes überfallen hat, dann ist es gewöhnlich zu spät sein Testament zu machen!

  1. Vorlage: Johann Gottlieb Seume
  2. Vorlage: schmuckes
  3. Vorlage: allmein


Billige Futterstoffe. In Schottland wird der Mehlkörper des Hafers vielfach zum Backen verwendet, und es bleiben beim Mahlen des Korns große Mengen der Hülsen zurück, die jetzt nach Deutschland als Mehl importirt werden, um hier als Zusatz zum Viehfutter Verwendung zu finden. Was nun den Nährwerth dieser Hülsen betrifft, so ist er demjenigen der Sägespähne gleich zu erachten, denn die Proteinkörper darin betragen noch nicht einhalb Procent. Dieser Futterstoff ist überhaupt der Holzsubstanz sehr ähnlich; er enthält vorwiegend inkrustirende Materie und Zellstoff. Obgleich nun selbst von den Holzspähnen ein gewisser Procentsatz beim Durchgang durch den tierischen Organismus verdaut wird, so liegt es doch außer allem Zweifel, daß es sich beim Zusatz derartiger geringwertiger Substanzen zu einem guten, nahrhaften Futtermehl nur um eine Uebervortheilung der Abnehmer handeln kann. Ebenso sollen jetzt die Reishülsen in gemahlenem Zustande als Beimischung zu Viehfuttermehlsorten Verwendung finden, und stehen diese den Haferhülsen in ihrem Unwerth als Nahrungsmittel in keiner Weise nach; ja sie übertreffen dieselben vielleicht noch.

Man sieht, daß unsere Hausthiere in Bezug auf die Verfälschung ihrer Lebensmittel das gleiche Schicksal mit den Menschen theilen.

E.




Kleiner Briefkasten.

Emmy L. in L. Wir bedauern, Ihnen einen Rath nicht erteilen zu können, da wir den Werth der Bilder aus der Entfernung nicht zu beurtheilen vermögen. Probiren Sie es mit einer Annouce in der Kölnischen oder Augsburger Allgemeinen Zeitung!

C. D. vom Rhein. Die kürzlich in Leipzig unter dem Namen „Symposion“ gegründete Schriftstellergesellschaft hat vorläufig nur den rein gesellschaftlichen Zweck gegenseitiger Annäherung ihrer Mitglieder unter einander. Ihre Anfrage, mit Bezug auf die Pariser Versammlung erledigt sich somit einfach genug – natürlich: nein!

L. T. Gedichte! – H. M. in Berlin. Desgleichen. Wer so fragt, braucht nicht zu fürchten, daß er ein Dichter wird.

G. G. in Hannover. Zuschrift unverständlich, da Adressat von der ganzen Angelegenheit und besonders von einer angeblichen Behandlung derselben in der „Gartenlaube“ nichts weiß.


  1. Elise von der Recke.
  2. Neuerdings hat in Teplitz ein „Seume-Comité“ sich die Aufgabe gestellt, die Mittel zu einem Denkmal auf das Dichtergrab zu sammeln. Vielleicht macht es manchem Verehrer Seume’s Freude, hiermit zu erfahren, wohin er seine Beisteuer richten kann.
    D. Red.
  3. Das „Reise-Journal“ verzeichnet hier, charakteristisch genug, nur Orte und Meilendistancen ohne jede Bemerkung.

Anmerkungen (Wikisource)