Die Gartenlaube (1878)/Heft 18
Doctor Max Brunnow hatte aus dem Munde seines Freundes das Verbannungsurtheil des Hofraths Moser entgegengenommen, war aber leider wenig davon berührt worden.
„Ich wäre wahrhaftig wieder hingegangen,“ sagte er lachend. „Dieser vortreffliche Hofrath mit seiner bureaukratischen Majestät und der ewigen weißen Halsbinde ist eine kostbare Figur, und das junge Mädchen bedarf dringend einer vernünftigen ärztlichen Behandlung. Ich begreife es freilich, daß der ‚allergetreueste Unterthan seines allergnädigsten Souverains‘ den Sohn meines Vaters von seiner Schwelle bannt, aber es ist schade, daß meine Praxis hier in R. ein so schnelles Ende nimmt. Sie versprach, wenn auch nicht besonders einträglich, so doch amüsant zu werden.“ –
Es sollte sich indessen bald eine andere Praxis für den jungen Arzt finden, die zwar noch weniger einträglich zu werden versprach, ihm aber das vermißte „Amüsement“ in ganz ungeahntem Maße verschaffte. Georg hatte seinen Freund gebeten, die kranke Frau eines Copisten zu besuchen, der bisweilen Abschriften für den Assessor besorgte und dem dieser auch schon öfter Beschäftigung bei dem Regierungsbureau verschafft hatte. Die Frau litt bereits seit längerer Zeit an einer zehrenden Krankheit; der Arzt, den man herbeirief, war nur selten gekommen, hatte achselzuckend erklärt, daß da nicht viel mehr zu helfen sei, und schließlich die Besuche in der Familie aufgegeben, die in ärmlichen Verhältnissen lebte und nicht bezahlen konnte. Max war sofort bereit, der Aufforderung nachzukommen, und betrat schon am nächsten Tage das bezeichnete Häuschen, das in der Vorstadt dicht am Fuße des Schloßberges lag.
Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren öffnete dem jungen Arzte die Thür der ziemlich dürftig eingerichteten Wohnung, wo zwei jüngere Kinder den fremden Herrn mit großen Augen anstarrten, während die Mutter, von Kissen und Decken umhüllt, in einem alten Lehnstuhle saß. Max war in Begriff, näher zu treten, hielt aber überrascht inne, denn neben der Kranken bemerkte er ein junges Mädchen in nonnenhaft dunkler Kleidung, mit sehr blassem Gesicht und schlichtgescheiteltem Haar, das aus einem Buche vorlas, welches der Goldschnitt und das Kreuz auf dem Deckel unzweifelhaft als Gebetbuch kennzeichneten. Es war die Tochter des Hofraths Moser, die ihre Vorlesung abbrach und sich sehr verlegen erhob, als sie den Eintretenden erkannte.
„Guten Tag, mein Fräulein!“ sagte Max ruhig. „Verzeihen Sie, daß ich störe, aber ich komme als Arzt zu einer Kranken und bin diesmal wirklich der Erwartete, ohne jedes Mißverständniß.“
Das junge Mädchen wurde blutroth und zog sich einige Schritte zurück. Sie erwiderte nichts. Doctor Brunnow nannte sich jetzt der Kranken, die bereits auf sein Kommen vorbereitet war und ihn erwartete. Er begann sofort, ohne viele Umstände, seine Fragen zu stellen und den Krankheitszustand zu prüfen. Er that es nicht besonders verbindlich oder rücksichtsvoll; er ließ sich auf Tröstungen gar nicht ein, gab nicht einmal bestimmte Hoffnungen, aber die kurze, klare Entschiedenheit all seiner Bemerkungen und Anordnungen hatte etwas ungemein Beruhigendes.
Agnes Moser war inzwischen im Hintergrunde geblieben und hatte sich mit den Kindern beschäftigt. Sie schien nicht recht zu wissen, ob sie bleiben oder gehen sollte, entschied sich aber endlich für das Letztere. Sie setzte ihren Hut auf und verabschiedete sich von der Kranken, die sich in lebhaften Dankesäußerungen über die Güte des Fräuleins erging. Wenn Agnes aber glaubte, dadurch einem längeren Zusammensein mit dem Doctor Brunnow zu entgehen, so irrte sie sich; dieser empfahl nur noch in kurzen Worten die genaue Befolgung seiner Verordnungen, verhieß am nächsten Tage wiederzukommen und schloß sich dann mit der allergrößten Unbefangenheit dem jungen Mädchen an.
„Ich darf Sie also nicht mehr als meine Patientin betrachten, mein Fräulein,“ eröffnete er das Gespräch, als sie draußen im Freien waren. „Ihr Herr Vater scheint mir die Schuld an einem Mißverständniß beizumessen, zu dem ich doch wahrlich nicht den Anlaß gegeben habe. Er ließ mir in der unzweideutigsten Weise eröffnen, daß meine ferneren Besuche ihm nicht erwünscht seien.“
Agnes senkte in peinlicher Verlegenheit die Augen. „Ich bitte um Verzeihung, Herr Doctor,“ entgegnete sie. „Es war meine Schuld allein – ich hätte nach Ihrem Namen fragen sollen. Seien Sie überzeugt, daß es nicht Mißtrauen in Ihre ärztliche Kunst ist, die meinen Vater bestimmt, auf Ihren Rath zu verzichten! Gründe anderer Art –“
„Ich weiß, politische Gründe!“ fiel Max mit unverhehlter Ironie ein. „Der Herr Hofrath verabscheut den revolutionären Namen, den ich trage, und beharrt darauf, in mir einen staatsgefährlichen Demagogen zu sehen. Ich bin weit entfernt, ihm oder Ihnen meinen Rath aufzudringen, möchte mich aber doch
[292] nach dem Schicksal meines Receptes erkundigen. Sie haben es jedenfalls nicht benutzt?“
„Doch!“ erwiderte Agnes leise. „Ich habe die Arzenei genommen.“
„Mit irgend einem Erfolge?“
„Ja, ich befinde mich weit besser seitdem.“
„Das freut mich. Ist denn aber mein Herr College, der Sie jetzt behandelt, damit einverstanden, daß Sie den Verordnungen eines Anderen folgen?“
„Mich behandelt augenblicklich Niemand,“ gestand das junge Mädchen. „Herr Doctor Helm, der ursprünglich gerufen war, hat das Mißverständnis sehr übel genommen. Ich mag ihn wohl etwas verlegen und zweifelnd empfangen haben, denn er entfernte sich sofort, als er bereits ein Recept vorfand, und nahm auch die nachträgliche Entschuldigung meines Vaters sehr kühl auf. Da ich mich nun schon am nächsten Tage besser befand – – so meinte ich – nun, so bin ich vorläufig bei Ihren Verordnungen geblieben.“
„Bleiben Sie nur dabei!“ sagte Max trocken. „An der Arzneiflasche wenigstens haftet nichts Staatsgefährliches; das wird wohl auch der Herr Hofrath einsehen.“
Sie hatten jetzt den Schloßberg erreicht, und Agnes blieb stehen in der sicheren Voraussetzung, daß ihr Begleiter sich nun entfernen werde, er bemerkte aber nur: „Sie gehen wahrscheinlich durch die Anlagen des Schloßberges – das ist auch mein Weg,“ und blieb an ihrer Seite mit einer Miene, als sei dies die einfachste und natürlichste Sache von der Welt.
Das junge Mädchen sah ihn scheu und ängstlich an. Ihre Schüchternheit erlaubte ihr nicht, die Begleitung abzuschlagen; so ergab sie sich denn in das Unvermeidliche, und sie schritten zusammen vorwärts.
„Was meine gegenwärtige Patientin betrifft,“ nahm der Arzt wieder das Wort, „so ist ihr Zustand allerdings sehr bedenklich, aber nicht durchaus hoffnungslos. Vielleicht ist es mir möglich, sie ihrer Familie zu erhalten. Ich entnahm aus den Dankesworten der Frau, daß auch Sie sie schon öfter besucht haben.“
„Wir hörten von der bedrängten Lage der Familie,“ erklärte Agnes. „Mein Vater kennt den Mann, der bisweilen Arbeiten für die Kanzlei liefert, als fleißig und ehrlich, und so entschloß ich mich, die Kranke zu besuchen, um ihr wenigstens geistlichen Trost zu spenden.“
„Der geistliche Trost ist vorläufig ganz überflüssig,“ sagte Max in seiner rücksichtslosen Weise. „Kräftige Bouillon und stärkende Weine sind weit nothwendiger.“
Fräulein Agnes schien wieder in Begriff, eine ihrer Rückzugsbewegungen auszuführen, mit denen sie schon bei der ersten Begegnung ihr Entsetzen vor den gottlosen Aeußerungen des Doctors documentirte; diesmal besann sie sich aber und hielt Stand; ihre sanfte, leise Sprache gewann sogar eine Beimischung von Schärfe, als sie antwortete:
„Auch dafür habe ich die Mittel gebracht und werde es noch ferner thun, so weit es in meinen Kräften steht. Ich hielt es aber zugleich für dringend nothwendig, die Schwerkranke auf den Himmel vorzubereiten, der vielleicht bald ihrer wartet.“
„Das ist eine eigenthümliche Beschäftigung für junge Damen Ihres Alters,“ bemerkte Max. „In Ihren Jahren pflegt man sich noch vorzugsweise mit der Erde zu befassen und die himmlischen Freuden auf sich beruhen zu lassen.“
Agnes war offenbar beleidigt durch den Spott; sie ließ sogar ihre gewohnten Sanftmuth fahren und erwiderte in etwas gereiztem Tone:
„Ich habe der Welt bereits entsagt und bereite mich mit solchen frommen Diensten nur auf meinen künftigen Beruf vor. Ich werde in wenigen Monaten den Schleier nehmen.“
Max blieb stehen und sah seine Begleiterin mit dem Ausdruck der höchsten Betroffenheit an. „Das geht nicht,“ sagte er plötzlich.
„Herr Doctor, ich bitte Sie,“ mahnte das junge Mädchen, aber der Herr Doctor nahm gar keine Notiz von diesem Protest gegen seine unbefugte Einmischung.
„Ein für alle Mal: das geht nicht,“ wiederholte er mit Entschiedenheit. „Sie sind kränklich, sind überhaupt von sehr zarter Constitution und bedürfen der größten Schonung, wenn Sie dauernd genesen wollen. Das Klosterleben mit seinen strengen Vorschriften, seiner Abgeschlossenheit und den anstrengenden und aufregenden Bet- und Bußübungen ist für Sie ganz und gar nicht geeignet. Es bringt Ihnen ohne Frage ein Brustübel – die Schwindsucht – den Tod.“
Der junge Arzt warf das alles mit einer Unfehlbarkeit hin, als habe er in eigener Person das angedrohte Schicksal zu verhängen, und seine Worte verfehlten auch nicht ihre Wirkung. Agnes sah ihn ganz erschrocken mit ihren dunklen Augen an, dann aber neigte sie ergebungsvoll das Haupt und versetzte kaum hörbar:
„Ich habe nicht geglaubt, daß mein Leiden so ernster Natur sei.“
„Es ist gar nicht ernst, wenn Sie eine vernünftige und naturgemäße Lebensweise führen,“ rief Max im vollsten Aerger, „aber das Klosterleben ist der Gipfel aller Unnatur und Unvernunft, und Sie vollends werden schon in den ersten Jahren daran zu Grunde gehen.“
Agnes überlegte augenscheinlich, ob sie schleunigst diesen Doctor fliehen sollte, dessen Gottlosigkeit sich eben wieder so unzweideutig zeigte, aber sie zog es vor, sich einen noch tieferen Einblick in seine Verderbtheit zu verschaffen, und fragte nun ihrerseits:
„Sie hassen also die Klöster?“
„Es ist mein Beruf, allerlei Leiden und Plagen des Menschengeschlechtes zu bekämpfen,“ versetzte der junge Arzt mit malitiöser Aufrichtigkeit.
„Und Sie hassen auch die Religion?“
„Je nach dem – es kommt darauf an, was man so nennt – übrigens sind Kloster und Religion ganz verschiedene Dinge.“
Das war zu viel für die angehende Nonne; sie beschleunigte ihren Schritt, um aus dieser gefährlichen Nähe fortzukommen, aber das half ihr durchaus nichts. Max fiel augenblicklich in das gleiche Tempo, und sie blieben nach wie vor bei einander.
„Sie sind natürlich anderer Ansicht,“ fuhr er fort, da er keine Antwort erhielt. „Sie sind aber auch in ganz anderen Umgebungen und Anschauungen erzogen als ich. Was mich betrifft, so möchte ich alle Klöster –“
„Vom Erdboden vertilgen?“ fiel das junge Mädchen mit zitternder Stimme ein.
„Das gerade nicht,“ sagte der praktische Max. „Es wäre ja schade um die schönen Gebäude. Man könnte sie nutzbringend verwerthen, und auch für die Insassen würde sich irgend eine Bestimmung finden. Die Nonnen zum Beispiel könnte man verheirathen.“
„Ver–heirathen!“ wiederholte Agnes, den Sprechenden in starrem Entsetzen anblickend.
„Ja, warum nicht?“ fragte er in größter Seelenruhe. „Ich glaube nicht, daß man da auf allzu häufigen Widerspruch stoßen würde. Es wäre wirklich das Beste, sämmtliche Nonnen zu verheirathen.“
Fräulein Agnes mußte wohl eine dunkle Furcht hegen, das ihren künftigen Mitschwestern angedrohte Schicksal könne sich ganz urplötzlich an ihr vollziehen, denn sie fing förmlich an zu laufen, aber vergebens; denn Max lief mit.
„Die Sache ist gar nicht so schlimm, wie Sie sich vorstellen,“ sagte er. „Jeder vernünftige Mensch heirathet und die Meisten befinden sich sehr wohl dabei. Es ist wirklich unverzeihlich, einem jungen Mädchen eine solche Abneigung gegen Dinge einzuflößen die sich ganz von selbst verstehen und – ja, mein Fräulein, nun müssen wir aber ausruhen – ich bin zu Ende mit meinem Athem. Gott sei Dank! Ihre Lunge ist noch kerngesund, sonst hätten Sie diesen Sturmlauf nicht ausgehalten.“
Agnes blieb gleichfalls stehen, denn auch ihr versagte jetzt der Athem. Ihre sonst so blasser Wangen waren von der Anstrengung geröthet, und diese Röthe stand dem feinen Gesichtchen allerliebst. Doctor Brunnow sah das, aber es machte durchaus keinen mildernden Eindruck auf ihn; er griff vielmehr mit strafender Miene nach dem Puls des jungen Mädchens.
„Wozu nun wieder diese ganz unnöthige Erhitzung! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie sich schonen müssen. Sie werden jetzt im langsamsten Schritt nach Hause gehen, und ich [293] bitte mir aus, daß Sie künftig bei Ihren Spaziergängen eine wärmere Umhüllung wählen, als dieses leichte Mäntelchen. Die Arzenei, die ich Ihnen verschrieben habe, nehmen Sie fortgesetzt und im Uebrigen kann ich nur meine früheren Verordnungen wiederholen: Luft, Bewegung, Zerstreuung! Werden Sie das alles pünktlich befolgen?“
„Ja,“ versicherte Agnes, völlig eingeschüchtert durch den Commando-Ton des jungen Doctors, der sich trotz des hofräthlichen Verbotes nach wie vor als Hausarzt benahm und dabei immer noch ihre Hand festhielt.
„Ich verlasse mich darauf. Was meine Kranke betrifft, so können wir uns ja in die Behandlung theilen. Bereiten Sie die Frau in Gottes Namen auf den Himmel vor; ich werde mein Möglichstes thun, sie dem Himmel so lange wie möglich vorzuenthalten, und ich glaube, der Mann und die Kinder werden mir dankbar dafür sein. – Ich empfehle mich Ihnen, mein Fräulein.“
Damit zog er den Hut und schlug die Richtung nach der Stadt ein, während Agnes den Weg nach Hause fortsetzte. Sie hielt dabei gehorsam den vorgeschriebenen langsamen Schritt inne, innerlich aber war sie empört über den Doctor Brunnow. Er war jedenfalls ein ganz entsetzlicher Mensch, ohne Religion, ohne Grundsätze, voll Spott und Hohn über die heiligsten Dinge und dabei von einer unglaublichen Rücksichtslosigkeit. Freilich, was konnte man Anderes von dem Sohne eines Mannes erwarten, der den Staat und die Regierung hatte umstürzen wollen und seinen Kindern ähnliche verderbliche Neigungen einflößte! Der Hofrath hatte das seiner Tochter in den schwärzesten Farben ausgemalt, sie war vollkommen mit ihm einverstanden, daß die beiden Brunnows, der Vater wie der Sohn, zu verabscheuen seien – und im Uebrigen nahm sie sich vor, morgen wieder zu der Kranken zu gehen, denn es war selbstverständlich ihre Pflicht, dem Einflusse eines Arztes entgegenarbeiten, der seine Patienten vielleicht gesund machte, aber zugleich ihr Seelenheil gefährdete, indem er den geistlichen Trost für überflüssig erklärte.
In dem Zimmer der Baronin Harder hatte soeben eine längere Unterredung stattgefunden. Der Freiherr hatte seiner Schwägerin rückhaltlos eröffnet, in welchen Beziehungen Gabriele zu dem Assessor Winterfeld stand, und die Baronin war außer sich darüber. Sie hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung von dem Sachverhalte gehabt, es war ihr nie eingefallen, daß der junge, bürgerliche und vermögenslose Assessor die Augen zu ihrer Tochter erheben, oder daß diese eine solche Neigung erwidern könne. Gabrielens dereinstige Vermählung war in den Augen der Mutter stets mit dem Begriffe von Glanz und Reichthum verknüpft gewesen. Eine Verbindung, wie die in Rede stehende, schien ihr ebenso unmöglich wie lächerlich, und sie erging sich in den heftigsten Aeußerungen über den unverzeihlichen Leichtsinn ihrer Tochter und die „Tollheit des jungen Menschen“, der da glaubte, daß eine Baroneß Harder so ohne Weiteres für ihn erreichbar sei. Raven hörte finster und schweigend zu, endlich aber schnitt er der erzürnten Dame das Wort ab.
„Lassen Sie endlich diese Erörterungen, Mathilde, die an dem Geschehenen auch nicht ein Jota ändern! Sie haben am wenigsten Grund, so außer sich zu gerathen über Dinge, die sich unter Ihren eigenen Augen zutrugen. Daß es überhaupt bis zur Erklärung und zum Einverständnisse zwischen den Beiden kommen konnte, setzt doch mindestens eine grenzenlose Unaufmerksamkeit von Ihrer Seite voraus. Jedenfalls muß jetzt irgendetwas geschehen, und darüber wollte ich Rücksprache mit Ihnen nehmen.“
„O, ich bin froh, Sie zur Seite zu haben,“ rief die Baronin, welche die Ausfälle ihres Schwagers gegen ihre eigene Person stets grundsätzlich ignorirte. „Ich weiß es ja, daß ich Gabriele von jeher zu viel nachgegeben habe; jetzt glaubt sie sich mir gegenüber Alles erlauben zu dürfen. Sie haben zum Glück mehr Autorität. Greifen Sie mit voller Strenge ein, Arno! Ich bitte Sie selbst darum. Setzen Sie der Anmaßung dieses verwegenen jungen Meschen einen Damm entgegen! Ich werde es versuchen, meiner Tochter begreiflich zu machen, wie sehr sie sich und ihre Stellung vergaß, als sie solchen Anträgen Gehör schenkte.“
„Sie werden Gabrielen keine Vorwürfe machen,“ sagte der Freiherr mit Bestimmtheit. „Sie hat von mir bereits gehört, welchen Standpunkt Sie und ich zu der Sache einnehmen, und das ist genug. Vorwürfe und Quälereien würden sie nur mehr in den Trotz hineintreiben. Uebrigens ist ihre Neigung weder so lächerlich noch der junge Mann so unbedeutend, wie Sie annehmen; die Sache ist im Gegentheile sehr ernst und erfordert ein sofortiges energisches Eingreifen; hoffentlich ist es noch Zeit dazu.“
„Gewiß, gewiß,“ stimmte Frau von Harder bei. „Es ist ja unmöglich, daß meine kindische, flatterhafte Gabriele so tief und ernst gefesselt sein sollte. Sie hat sich von äußeren Eindrücken bestechen, von einer schwärmerischen Liebeserklärung blenden lassen. Junge Mädchen ihres Alters übersetzen ja so gerne die Romane, die sie lesen, in die Wirklichkeit. Sie wird zur Besinnung kommen und einsehen, zu welcher Thorheit sie sich hat fortreißen lassen.“
„Das hoffe ich,“ sagte Raven, „und darauf hin habe ich bereits meine Maßregeln genommen, um eine Begegnung der Beiden in Zukunft zu verhindern. Ihre Sache ist es, dafür zu sorgen, daß kein Briefwechsel stattfindet, und ich bin überzeugt, Mathilde, Sie werden etwaigen Bitten und Thränen unzugänglich sein und sich einzig von der Rücksicht auf die Zukunft Ihrer Tochter leiten lassen. Sie werden begreifen, daß meine testamentarischen Verfügungen nur dann in Kraft bleiben, wenn ich über Gabrielens Zukunft und Vermählung bestimme. Ich bin nicht geneigt, die offenbare Auflehnung gegen meinen Willen durch jene Verfügungen zu sanctioniren, und am allerwenigsten gesonnen, mit meinem Vermögen dereinst dem Herrn Assessor Winterfeld zu Reichthum und Ansehen zu verhelfen. Gabriele ist noch viel zu jung und unerfahren, um solchen Erwägungen überhaupt zugänglich zu sein. Sie überschauen die Verhältnisse, und ich darf daher wohl Ihrer Unterstützung gewiß sein.“
Der Freiherr wußte, was er that, als er diese ganz unzweideutige Drohung aussprach. Er kannte die unbeschränkte Macht Gabrielens über ihre Mutter und die Charakterlosigkeit der Baronin, die heute eine Sache in der heftigsten Weise verdammte und sich morgen von Trotz und Thränen zur Nachgiebigkeit bewegen ließ. Seine Drohung schob jeder etwaigen Schwäche einen Riegel vor und machte die Mutter zur aufmerksamsten Hüterin der Tochter. Frau von Harder war in der That ganz bleich geworden, als sie von Testamentsänderung hörte.
„Ich werde meine Mutterpflicht im vollsten Maße erfüllen,“ versicherte sie. „Seien Sie überzeugt, daß ich mich nicht zum zweiten Male täuschen lasse!“
Der Freiherr stand auf. „Und nun wünsche ich Gabriele zu sehen. Sie hat sich zwar seit unserer gestrigen Unterhaltung für krank erklärt, ich weiß aber, daß das nur ein Vorwand ist, um mir auszuweichen. Sagen Sie ihr, daß ich sie hier erwarte!“
Die Baronin kam dem Wunsche ihres Schwagers nach; sie ging und kehrte schon nach wenige Minuten in Begleitung ihrer Tochter zurück.
„Darf ich Sie bitten, uns zu verlassen, Mathilde?“ sagte Raven.
„Sie wünschen –?“
„Daß Sie mich und Gabriele auf eine Viertelstunde allein lassen. Ich ersuche Sie darum.“
Die Baronin vermochte kaum, ihre Empfindlichkeit zu verbergen. Sie hatte doch ohne Zweifel das nächste und erste Recht, der nun folgenden Gerichtsscene beizuwohnen, und jetzt sandte der Freiherr sie mit seiner gewohnten Rücksichtslosigkeit fort und behielt sich die entscheidende Unterredung allein vor, ohne ihre Mutterrechte im Geringsten zu respectiren. Hätte die Dame nicht eine so große Furcht vor ihrem Schwager gehegt, sie würde sich diesmal gegen seinen Willen aufgelehnt haben, aber sein Ton und seine Haltung zeigten ihr, daß er heute weniger als je Widerspruch vertrug, und so fügte sie sich denn oder vielmehr, wie ihre eigene Meinung lautete: sie wich mit tiefverletzten Gefühlen dieser unerhörten Tyrannei und verließ das Zimmer.
Der Freiherr war allein mit Gabriele, aber diese blieb im Hintergrunde des Gemaches stehen. Er erwartete vergebens eine Annäherung.
„Gabriele!“
Sie that einige Schritte ihm entgegen, hielt dann aber mit sichtbarer Scheu inne. Raven trat jetzt zu ihr.
[294] „Fürchtest Du Dich vor mir?“ fragte er.
Sie machte eine verneinende Bewegung.
„Nun, weshalb denn dieses scheue, stumme Abwenden? Bin ich so hart gegen Dich gewesen, daß Du nicht einmal wagtest, mir wieder vor Augen zu treten?“
„Mir ist wirklich nicht wohl gewesen,“ versetzte Gabriele leise.
Der Blick des Freiherrn streifte das jugendliche Antlitz, das in der That nicht so rosig und frisch wie sonst erschien. Es lag etwas darüber wie ein Schatten, wie ein Hauch von Schmerz oder Unruhe, der diesen heiteren, lächelnden Zügen sonst ganz fremd war.
Raven nahm die Hand des jungen Mädchens; er fühlte, wie diese Hand bebte und es versuchte, sich der seinigen zu entziehen. Er hielt sie trotzdem fest, aber ohne jeden Druck, und seine Stimme klang kalt und ruhig, als er sagte:
„Ich weiß, was Dich bei unserer letzten Unterredung so erschreckt hat, und alles Verhüllen wäre hier nutzlos, aber Du brauchst nichts mehr zu fürchten – es ist bereits vorüber. Ich verlange von Dir die Bekämpfung einer Jugendthorheit und muß Dir doch vor allen Dingen das Beispiel geben, wie man solche Aufwallungen niederkämpft. Ich konnte auf Augenblicke meine Jahre und die Deinigen vergessen. Du hast mich zur rechten Zeit daran erinnert, daß die Jugend einzig zu der Jugend gehört, und ich bin Dir dankbar für diese Erinnerung. Vergiß, was ein unbewachter Augenblick Dir enthüllte! Es soll Dich nicht wieder schrecken. Ich habe schon Ernsteres und Tieferes niedergezwungen, und ich bin es gewohnt, meine Empfindungen meinem Willen unterzuordnen. Der Traum ist zu Ende, denn – er soll zu Ende sein.“
Gabriele hatte schon, als er zu sprechen begann, das Auge zu ihm emporgehoben; es lag noch immer eine bange Frage darin, indeß erwiderte sie nichts, und ihre Hand glitt widerstandslos nieder, als er sie aus der seinigen ließ.
Wenn in unserer schnell lebenden Zeit das fünfzigjährige Jubiläum einer einzelnen hervorragenden Person schon zu den großen Seltenheiten gehört und mit gebührender Feierlichkeit begangen zu werden pflegt, um wie viel mehr wird man ein solches Fest begehen dürfen, wenn es von einer der größten und bedeutendsten wissenschaftlichen Gesellschaften gefeiert wird, zu deren Entwickelung die einflußreichsten wissenschaftlichen Größen nicht nur des Centralpunktes, sondern des gesammten großen Vaterlandes, ja im weiteren Sinne die Spitzen der internationalen Kräfte durch Generationen beigetragen haben! Deshalb darf denn auch die „Berliner Gesellschaft für Erdkunde,“ deren fünfzigjähriges Bestehen am 30. April und 1. Mai dieses Jahres gefeiert wird, nicht nur als die zweitälteste ihrer Art auf dem Erdenrund, sondern auch wegen der großen Erfolge, die sie während fünf Jahrzehnten errungen hat, sicher sein, daß der in ihrem Kreise gefeierte Triumph der Wissenschaft, welcher einen Sieg des Menschen über die Natur bezeichnet, seinen Wiederhall überall finden wird. Im Herzen der rings über die fünf Welttheile zerstreuten Deutschen, ja bei allen gebildeten Nationen, welche jemals der Erforschung der Oberfläche unseres Planeten sich gewidmet haben, wird das Interesse wach sein für das schöne Fest.
Wo wäre das Land, welches deutsche Geographen nicht bereist haben, wo flösse ein Meer, welches ein deutscher Kiel nicht durchfurcht hat, wo wären Einöden und Wüsten, Felsengebirge und Stromgebiete, zu deren Erforschung deutsche Forschungsreisende nicht ihren redlichen Beitrag im friedlichen Wettkampf der Nationen geliefert haben? So gestaltet sich die Jubelfeier der ältesten deutschen Gesellschaft für Erdkunde mit Recht zu einem deutschen Feste!
Wohl jede größere deutsche Stadt hat in ihren Mauern ein oder das andere Ehren- oder correspondirende Mitglied der Berliner geographischen Gesellschaft. Noch größer ist die Zahl derjenigen ordentlichen Mitglieder, welche als auswärts lebende Deutsche weithin in alle Lande zerstreut sind, und die in treuer Anhänglichkeit an die Gesellschaft sich die gedruckten Verhandlungen und die Zeitschrift des Vereins sogar bis nach Yedo, Yokohama, Tientsin und Peking, Batavia und Calcutta, Lahore und Teheran, nach Kairo, Palma in Westafrika, Rio de Janeiro und Valparaiso, nach Washington, New-York und anderen Orten nachsenden lassen. Und zu alledem kommt dann eine Zahl von gegen siebenthalbhundert ordentlichen, allein in Berlin ansässigen Mitgliedern, welche den bevorzugtesten Berufsclassen angehören. Man begreift auf den ersten Blick kaum, wie die ungeheure Zahl von Männern, allein in einer Stadt, und wäre es auch der Centralpunkt des deutschen Reiches, sich lediglich zu dem Zwecke zusammenfinden kann, um die großen Ziele und Aufgaben der Geographie, jener seit den Tagen eines Humboldt zur vollen Wissenschaft erhobenen Disciplin, fördern und erfüllen zu helfen. Aber wenn man die Mitgliederliste genauer studirt und jeden Einzelnen nach seiner gesellschaftlichen Stellung betrachtet, dann sieht man erst, wie tiefe Wurzeln die Geographie in allen denjenigen Kreisen geschlagen hat, denen es auf ernstes Studium und Belehrung ankommt und welche wirklich das Bestreben haben, stets auf der jeweilig erreichten Höhe zu stehen. In dieser Beziehung gleicht der Geographie keine andere Wissenschaft, selbst nicht einmal die neuerdings zu so ungeahnter Höhe der Entwickelung gelangte Anthropologie und Ethnologie.
Es giebt deshalb auch keine wissenschaftliche Gesellschaft, weder in Berlin, noch in ganz Deutschland, in welcher sich die Vertreter fast aller hervorragenden Kreise zu einem so glücklichen Ganzen vereinigt haben, wie in dieser. Die eine Hälfte der Gesellschaft wird vollständig vom Gelehrten- und höheren Beamtenstande eingenommen, welche beide sich ungefähr an Zahl das Gleichgewicht halten. Gehören zu den Gelehrten nicht nur viele Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, zahlreiche Universitätsprofessoren, Vertreter von Specialfächern, wie Astronomen, Botaniker, Geographen, Kartographen, Reisende und Privatgelehrte, Vorstände von Museen und Sammlungen, sondern auch zahlreiche eigentliche Lehrer von Gymnasien und Realschulen, so umfaßt der zweitgenannte Stand das hohe Beamtenthum durch alle Kategorien von der Excellenz abwärts, die vortragenden und Geheimräthe, Räthe jeder Art, namentlich viele Juristen, ferner Gesandte, Diplomaten, Politiker, Directoren, Consuln u. A. m. Diesen beiden Hauptsäulen der Gesellschaft, deren jede etwa hundertsiebenzig bis hundertachtzig Mitglieder umfaßt, schließen sich drei unter sich fast ganz gleich große Kategorien von je siebenzig bis achtzig Vertretern an, die Militärs nebst Mitgliedern der Marine, die Aerzte und die Kaufleute. Dann kommen die Verlagshändler, die Künstler und die besitzende Classe mit je etwa zwanzig Mitgliedern, und zuletzt – drei Schriftsteller – leider nur drei! Es giebt mehr als ein Beispiel, daß Mitglieder des Vereins demselben viele Jahre hindurch, während der Entwickelung ihrer ganzen gesellschaftlichen Stellung, treu geblieben sind.
So stand vor fünfzig Jahren der Hauptmann Baeyer an der Wiege der Gesellschaft und jetzt ist dieser einzig noch lebende Mitstifter der Präsident des königlich preußischen geodätischen Instituts und des Centralbureaus der europäischen Gradmessung, Generallieutenant z. D.; so wurden an einem und demselben Tage des Jahres 1830 Dr. Dove und Lieutenant von Roon zu Mitgliedern erwählt; heute ist der Erstere Ehrenpräsident, oder, wie der Titel eigentlich lautet, „Ehrendirector“ der Gesellschaft, Regierungsrath, Universitätsprofessor, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Vicekanzler des Ordens pour le mérite, Letzterer dagegen Ehrenmitglied der Gesellschaft und General-Feldmarschall. Derartige Beispiele ließen sich noch mehrere anführen.
Die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin ist aber nicht, wie Pallas Athene aus dem Haupte des Jupiter, fertig in die Welt getreten; es meldet uns vielmehr ein Trinkspruch von Dove bei Gelegenheit der fünfundzwanzigjährigen Feier im Jahre 1853
[295]Lichtenstein. | Bastian. | |||
Barth. | Ehrenberg. | Richthofen. | ||
Ritter. | Baeyer. | Dove. |
Nach Photographien auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.
[296] darüber Folgendes: „Bei der Feier der fünfzigjährigen Dienstzeit des durch seine große Karte von Deutschland bekannten Hauptmann Reymann sprach sich in der Gesellschaft, welche das Jubelfest beging, der Wunsch aus, zum Andenken an diesen Tag einen Verein von Freunden der Erdkunde in Berlin zu stiften. Zum vorbereitenden Ordner eines solchen Vereins wurde Prof. Wohlers gewählt, und es erschienen zwei Tage darauf, am 20. April 1828, in der Behausung desselben Major v. Rau, Director Klöden, Major v. Etzel, Prof. Zeune, Prof. Berghaus und Hauptmann Baeyer. In dieser vorbereitenden Sitzung einigte man sich über folgende Punkte: Der Zweck der Gesellschaft ist Beförderung der Erdkunde im weitesten Sinne des Worts durch mündliche oder schriftliche Mittheilung. Diesen Zweck können befördern helfen alle Einwohner Berlins, von denen bekannt ist, daß sie die ganze Erdkunde oder einen Zweig derselben zu ihrem wissenschaftlichen Studium gemacht haben, Künstler, die durch ihre rühmlichst bekannte Geschicklichkeit das Studium der Erdkunde erleichtern und fördern, alle welche durch Mittheilung von Materialien der Gesellschaft nützlich werden können. Die Gesellschaft vereinigt sich monatlich einmal, und zwar am ersten Sonnabend des Monats, Abends um 7 Uhr.“ Die erste wirkliche Sitzung erfolgte am 7. Juni. In ihr waren außer den bereits Genannten noch zwanzig andere Professoren anwesend, darunter v. Dechen, v. Ledebur, Ritter, Adalbert v. Chamisso, v. Falkenstein und Mädler. Zum „Director“ wurde Karl Ritter gewählt (sein Stellvertreter war v. Etzel), zu Secretären Prof. Stein und Director Klöden; Hauptmann Reymann wurde Ehrenmitglied der Gesellschaft.
Gerade zu jener Zeit hatte Alexander von Humboldt seine berühmten beiden Cyclen von öffentlichen Vorträgen in Berlin beendigt und in ihnen das in fast erdrückender Menge herbeigeströmte Publicum zu hellem Enthusiasmus hingerissen. Die Wogen der Begeisterung gingen damals so hoch, daß wir die Begründung der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin gradezu als ihren Ausfluß betrachten dürfen. Deshalb wohnte dem jungen Vereine von vorn herein eine so eminente Lebensfähigkeit bei, daß er es sogar wagen durfte, am 25. September 1828 die ein Jahr vorher gegründete Versammlung deutscher Naturforscher zu einer außerordentlichen Sitzung bei sich zu empfangen. Von Jahr zu Jahr wuchs die Zahl der Mitglieder, und schon im Mai 1839 wurden der Gesellschaft durch Cabinetsordre die Rechte einer juristischen Person ertheilt. In demselben Maßstabe, wie dieses Wachsthum vor sich ging und die Bedeutung stieg, konnte sie es auch wagen, ihre Ehrenmitgliedschaft Männern wie Humboldt, Bessel, Leopold v. Buch, Richardson, Sabine, Murchison, Rawlinson u. A. m. anzubieten; sie darf heute noch mit Stolz einen Samuel Baker, Bancroft, Cameron, Charles Darwin, Desor, Hayes, M’Clintock, Przewalski, Renan, de la Roncière, de Noury, Tyndall u. A. von den auswärtigen Gelehrten dazu rechnen, ja während ihr als ordentliche Mitglieder auch eine Anzahl von fürstlichen Personen angehörten und angehören, darunter die Prinzen Waldemar und Adalbert von Preußen, der Erbprinz von Sachsen-Meiningen, der Prinz Heinrich zu Schönaich-Carolath, hatte sie auch die Freude, daß der um die Wissenschaft hochverdiente König der Belgier, Leopold II., der die internationale Association zur Erforschung von Afrika in’s Leben gerufen hatte, 1876 ihre Ehrenmitgliedschaft annahm, ebenso wie dies der Erzherzog Ludwig Salvator von Toscana 1874 gethan hatte.
Es konnte natürlich nicht fehlen, daß während der Entwickelung der Gesellschaft, zu der im Laufe der Jahrzehnte so ziemlich Alles, was auf wissenschaftliche Stellung in einer der Zweigwissenschaften der Geographie sowie auf hohen gesellschaftlichen Rang Ansprüche machen konnte, beitrat, die Oberleitung Männern in die Hände gelegt wurde, welche nicht nur selbst eine hervorragende Stelle als Gelehrte, Forscher oder Reisende einnahmen, sondern die auch nach jeder andern Richtung hin diesen großen Kreis würdig zu repräsentiren verstanden. So haben viele Jahre hindurch, Mancher längere, Mancher kürzere Zeit, je nachdem dazwischentretende Reisen oder die Bestimmungen der Statuten das Amt unterbrachen, diejenigen Männer, deren Abbildungen wir auf dem nebenstehenden Tableau bringen, die Direction der Gesellschaft gehabt: Karl Ritter, Dove, Ehrenberg, Lichtenstein, Barth, der Baron von Richthofen und endlich Bastian, der rastlose Reisende, der alle Continente mit eigenen Augen geschaut und mehr als ein anderer Gelehrter „vieler Sterblichen Städte gesehen und Sinnesart erkundet hat.“ Die beiden letztgenannten ausgezeichneten Gelehrten, welche einen Weltruf besitzen, stehen noch heute an der Spitze der Gesellschaft und zwar in diesem Jahre von Richthofen als erster und Bastian als zweiter „Director“; der greise Nestor unserer Meteorologie, Dove, ist, wie schon gesagt, Ehrenpräsident. Das achte Portrait ist dasjenige des ältesten Mitgliedes, des hochverdienten General Baeyer, der mit der Gesellschaft zusammen sein fünfzigjähriges Jubiläum feiert. Leider gestattet es der uns knapp zugemessene Raum nicht, hier näher auf die persönlichen Verdienste der Genannten einzugehen.
Hand in Hand mit dem Wachsthume der „Gesellschaft für Erdkunde“ nach außen hin nahm auch ihr Besitzthum zu, welches in zwei Kategorien zerfiel, nämlich in baares Geld und in literarische Schätze. Die Vermehrung des klingenden Vermögens verdankt sie einer eigenthümlichen Einrichtung, dem gemeinschaftlichen Abendessen der Mitglieder nach jeder Sitzung. Durch den jährlichen Beitrag, welchen Jeder zahlt, wird gleichzeitig die Berechtigung zur Theilnahme an den üblichen Soupers erworben; für jedes am Essen nicht theilnehmende Mitglied aber zahlt die Gesellschaft den Betrag für das Couvert nicht an den Wirth, sondern sie wendet ihn ihrer Casse zu. Durch dieses „Abhungern und Abdarben“, wie sich Dove einmal scherzend ausgedrückt, hat sich die Gesellschaft nach und nach so viel Mittel erworben, daß sie nicht nur zu wiederholten Malen Reisende unterstützt, sondern auch in neuerer Zeit ihre durch Geschenke stark angewachsene Bibliothek so sehr completiren konnte, daß dieselbe gegenwärtig circa dreitausend Druckwerke und über zehntausend, meist aus älterer Zeit stammende Karten und Atlanten besitzt.
Seit fünfundzwanzig Jahren ist der treue Verwalter dieser Schätze Professor Koner, der bekannte Bibliothekar der Berliner Universitätsbibliothek. Derselbe gewissenhafte Beamte ist auch langjähriger Redacteur der „Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin“, welche gleichfalls in diesem Jahre und zwar am 1. Juli ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiern wird, da ihr erster Band im Jahre 1858 unter dem Titel „Zeitschrift für allgemeine Erdkunde“ in wesentlicher Erweiterung der bis dahin herausgegebenen Monatshefte erschien. Diese Zeitschrift bringt Jahr für Jahr eine tausende von Nummern umfassende Uebersicht über die auf dem Gebiete der Geographie neu erschienenen Werke, Aufsätze, Karten und Pläne, die gleichfalls von W. Koner, der auch Archivar der Gesellschaft ist, aufgestellt wird. Von anderen Mitgliedern des gegenwärtigen Vorstandes bleiben noch aufzuführen Professor Hartmann als zweiter stellvertretender Vorsitzender, von Boguslawski, Marthe und Kersten als Schriftführer und Bütow als Schatzmeister. Als wissenschaftlicher Beirath fungiren die Herren: Geheimer Bergrath Beyrich, Kammergerichtsrath Deegen, General von Etzel, der Director der Berliner Sternwarte, Professor Förster, der Afrikareisende G. Fritsch, Geheimerath Göring, der verdienstvolle und beliebte Ministerialdirector Greiff, der Director der Bergakademie und geologischen Landesanstalt Hauchecorne, Professor H. Kiepert, der allen Lesern der „Gartenlaube“ bekannte Vorstand der Plankammer des königlich preußischen statistischen Bureaus, Dr. Henry Lange, Geheimrath Professor Dr. Meitzen, der Präsident der Afrikanischen Gesellschaft Dr. Nachtigal, der Verlagsbuchhändler O. Reimer, der Führer der „Gazelle“ auf ihrer wissenschaftlichen Erdumsegelung, Capitain zur See Freiherr von Schleinitz, und der Präsident des Kammergerichts von Strampff. Seit fünf Jahren werden jetzt auch wieder die Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde herausgegeben und zeichnen dafür im Auftrage des Vorstandes von Boguslawski und der berühmte Reisende Dr. W. Reiß.
Die hohe Mitgliederzahl, welche die Gesellschaft gegenwärtig besitzt, ist dennoch zu zwei Drittheilen erst seit dem Beginn dieses Jahrzehnts eingetreten; ihr Procentsatz würde nicht so hoch sein, wenn nicht der Nekrolog fast allmonatlich die Nachricht von dem Dahinscheiden eines oder mehrerer der alten Mitglieder brächte. Noch halten sich indessen Viele von denen, die in den dreißiger bis fünfziger Jahren eingetreten sind, tapfer. Außer den bereits Genannten sind hier von Klöden, der 1838 eintrat, Professor Peters, der Director des Berliner zoologischen Museums, der seit 1843 Mitglied ist, dann Quincke, Herrig, [297] Jagor, Liebenow, Siemens und Andere mehr zu nennen. Die Gesellschaft ist nach außen hin beim Publicum sehr beliebt und populär, wozu nicht wenig die in den öffentlichen Blättern erscheinenden Berichte beitragen, namentlich aber diejenigen der „Vossischen Zeitung“, deren einer Besitzer, Stadtgerichtsrath Lessing, seit achtzehn Jahren treues Mitglied der Gesellschaft ist. Aus dem Schooße der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin ist die „Carl-Ritter-Stiftung“ zur Unterstützung von Reisenden, und durch die unermüdliche Thätigkeit des für alle geographischen und ethnographischen Forschungen begeisterten Bastian die „Afrikanische Gesellschaft“ hervorgegangen.
Nicht unwesentlich zur Ausdehnung der Gesellschaft hat die auf den ersten Blick unbedeutend und einflußlos erscheinende Sitte, pietätvoll durch volle fünfzig Jahre an dem ersten Sonnabend jeden Monats als Sitzungstag festzuhalten, beigetragen. Dieser Abend war und ist der feststehende Punkt, nach dem sich Jeder bis auf den heutigen Tag noch richtet. Man weiß, wo man am ersten Sonnabend im Monat seine Freunde trifft, und richtet sich darnach ein. Werthvolle Beziehungen werden an solchem Abende in der die Dauer der eigentlichen Sitzung oft um das Doppelte übertreffenden Nachsitzung der „kleinen Geographie“ angeknüpft und vieljährige liebe Bekanntschaften oft einzig und allein in diesen Sitzungen unterhalten und gefördert.
Es giebt kaum ein wechselvolleres Bild, als eine solche Gesammtsitzung, die Abends um sieben Uhr gegenwärtig im großen Saale des Architektenhauses zu Berlin beginnt. Während die vordere Reihe der Stühle und die Mitte des Saales sich mit den zuerst erscheinenden Mitgliedern füllen, stehen andere Angekommene gruppenweise in den Seitengängen oder vorn, wo die gewöhnlich zeitig erscheinenden Herren des Vorstandes sich befinden. Begrüßungen, Vorstellungen, Verabredungen, Bestellungen, Abmachungen vereinigen sich zu lebhaftem Tone der Unterhaltung; man bestellt sich Plätze für den Abendtisch beim Castellan, und der Saal füllt sich allmählich vollständig, bis die Glocke des Präsidenten das Zeichen zum Beginn der Sitzung giebt. Nach geschäftlichen Mittheilungen folgen die Vorträge, oft einer, oft zwei und drei im Laufe des Abends; spätestens um halb zehn wird die Sitzung als solche geschlossen. Die Redner haben es nicht leicht, denn es ist ihre Aufgabe, von einem nicht zu hohen Katheder herab sich dieser sehr zahlreichen Versammlung verständlich zu machen. Nach Schluß der Sitzung erhebt sich Alles von den Plätzen, während die bereitstehende Bedienung einen Theil der Stühle hinausschafft und die Speisetafeln aufschlägt. Es ist ein buntes Gewirr, das dann etwa eine Viertelstunde lang dauert, bis sich endlich die Gruppen und kleineren Gesellschaften vereinigen und ihre Plätze einnehmen. An der Vorstandstafel bemerkt man neben Richthofen gewöhnlich einen ausgezeichneten Gast des Abends, während vielleicht Bastian, der vielerfahrene, in allen Welttheilen heimische Reisende, einem anderen Gaste benachbart sitzt. Die übrigen Vorstandsmitglieder, mit Gästen, Freunden und hervorragenden Mitgliedern, wie Virchow, Förster, Jagor, Reiß und Andern, vereint, sitzen gleichfalls am „Vorstandstische“. Die sonstigen Tafeln enthalten meist einzelne Gruppen; so schaart des Astronomen Tietjens kräftig untersetzte Gestalt mit dem freundlich-wohlwollenden Antlitze um sich eine Anzahl von Solchen, die aus Beruf oder Neigung ein ähnliches Streben haben; des blondhaarigen Botanikers und Afrikareisenden Prof. Ascherson Fraction umfaßt die zur Göttin Flora Schwörenden; daneben findet man besondere medicinische Kreise, kleine Cirkel der Verlagshändler, hervorragender Militärs, der Marine-Officiere, Afrikareisender, wie Güßfeldt, Falkenstein, Hildebrandt, Fritsch, Gruppen von Directoren, Lehrern etc. Die gemeinsame, bescheidene Tafel dauert etwa eine Stunde, nur bei besonderen Gelegenheiten durch einen Toast unterbrochen.
Nachher begiebt sich ein großer Theil der Anwesenden noch in das zur ebenen Erde gelegene Restaurant des Architektenhauses und nimmt hier beim Glase Bier zur Nachsitzung Platz. Hier findet nun der weitere geistige Austausch statt; in lebhaftem Gespräch wird die Unterhaltung der Tafel bei Einzelnen fortgesetzt oder eine neue angeknüpft. Da man sicherlich darauf rechnen kann, daß man hier selbst um Mitternacht noch einen Kreis von Männern antrifft, die bei der Fülle dessen, was unsere wissenschaftlichen Beziehungen der Gegenwart mit sich bringen, immer noch in angenehmster Unterhaltung begriffen sind, so kommt nicht selten noch in spätester Abendstunde ein Nachschub von Freunden und Mitgliedern an, sei es aus Privatgesellschaften, sei es selbst aus der Soirée des Reichskanzlers. Aber schließlich endet denn auch diese Sitzung der „kleinen Geographie“ und mit ihr der wechselvolle Abend, welcher fast fünf Stunden lang dieses interessante Zusammensein andauern sieht. Wäre es möglich, alle die Erzählungen und Mittheilungen des einen Abends wiederzugeben, man würde Bände voll des kostbarsten Materials aus allen fünf Welttheilen und oft erst ein richtiges Bild von Land und Volk in ferner Gegend erhalten. Ein großer Theil dieser Männer, namentlich aber alle Reisende der Gesellschaft haben kaum eine Region der Erdoberfläche unbesucht gelassen. Sind dann liebe Gäste aus nah und fern in dem Kreise, aus Mittel-, Süd- oder Norddeutschland oder aus weit entlegenen Erdttheilen, so werden sie mit einer Feinheit und Liebenswürdigkeit empfangen, welche ein ausschließliches Eigenthum der guten Gesellschaft sind. Von den heimischen Mitgliedern aber rechnet der größte Theil die Sitzungen der „Geographischen Gesellschaft“ zu den liebsten Abendgenüssen.
Schon darum ist denn auch der Kreis Derjenigen, welche unmittelbar aus vollster Seele und Anhänglichkeit das fünfzigjährige Jubiläum der Gesellschaft begehen, ein sehr großer, er wird aber sicherlich bald wesentlich wachsen und zunehmen wegen der unbedingten Sympathien, die ihm nicht nur in der Hauptstadt selbst, sondern aus allen Theilen Deutschlands, aus allen Ländern Europas, ja aus allen Weltteilen entgegengetragen werden.
Verkauf der Kirchengüter – und Aufhebung der Klöster! Kein staatliches oder politisches Ereigniß hat wohl je in der Republik von Mexico größeres Aufsehen erregt, als dieses Gesetz, welches Juarez im Jahre 1861, kurz nach seiner Eroberung von Mexico erließ. Es lief wie ein Feuerbrand durch alle Parteien des Landes.
Benito Juarez, der als armer Indianerknabe in den Straßen Orangen verkaufte, hat sich zu einer so bedeutsamen geistigen Höhe emporgeschwungen, daß man von ihm keck behaupten kann: er hat von allen Präsidenten, welche bis zu der unglücklichen Kaiserkatastrophe das Staatsruder der Republik geführt, am entschiedensten gehandelt und am durchgreifendsten der Sache des Fortschritts genützt. Der Druck, welchen die größtentheils ungebildeten Priester auf das Volk ausübten, war geradezu lähmend für dasselbe, denn sie hatten sich nach und nach nicht nur eine Herrschaft über die Kirche angemaßt, die selbst über jedes katholische Recht hinausgriff, sie hatten auch in weltlicher Hinsicht, wie dies ja überall ihr planmäßiges Bestreben ist, für ihren steigenden Reichthum gesorgt und mindestens die halbe Republik in ihrem Besitz. Das Einkommen der Kirche war um die volle Hälfte größer, als die Gesammteinnahme des ganzen Staates. Alle die unglückseligen Verhältnisse, an denen das Land krankte, diese fortwährenden Regierungswechsel, waren größtentheils das Machwerk der Kirche, und das aufathmende Volk segnete die Hand des unerschrockenen Benito Juarez, welche zuerst den Muth hatte, den Strang so fest um den Hals des herrschsüchtigen Clerus zu ziehen, daß er stille halten mußte. Das gesammte Ausland blickte mit Spannung auf den kühnen Reformator.
Zuerst erschien das Gesetz: „Verkauf der Kirchengüter“, und es schleuderte seine Funken mit einer so aufregenden Heftigkeit in die Geschäftswelt, wie in das Priesterheer, daß fast wochenlang von nichts Anderem gesprochen wurde. Die vielen schönen Häuser in der Hauptstadt selbst (es waren über zweitausend!), [298] welche Eigenthum der Kirche und von derselben meist an vornehme Familien vermietet waren, die schon seit Generationen in diesen Häusern wohnten und sie fast wie ihr Eigenthum betrachteten, wurden nun ungefähr für den sechsten Theil des Werthes vom Staate zum Verkauf ausgeschrieben. Welche glänzenden Aussichten für speculative Köpfe! Allerdings riskirte man, über kurz oder lang, wenn die clericale Partei wieder am Ruder sein würde, das Gesetz beseitigt zu sehen. Trotzdem sprachen mehr Gründe für als gegen die Benutzung der Gelegenheit, und viele Fremde namentlich, welche richtig erwogen, daß die Zeit nicht zurückschreitet, selbst wenn sie es einmal mit einem kurzen Anlauf versucht, unternahmen die Geschäfte und hatten es später auch nicht zu bereuen.
Die Mexicaner selber waren zaghafter, und die offenen Anhänger der clericalen Partei mußten ja schon des Princips wegen von dem Ankaufe absehen. Die Gleichgültigen und Principlosen aber waren doch zu befangen in dem Glauben, es könne ein der Kirche „entwendetes“ Gut, wie die Clericalen es nannten, unmöglich Segen bringen. Auch sie beteten scheu und ängstlich ein Ave Maria, wenn der Gedanke an das vortheilhafte Geschäft einmal in ihrem Innern auftauchte – und unterließen es. Es waren also nur die Liberalen und die Fremden, welche öffentlich diesen in der That brillanten Handel machten. Dennoch entdeckte man schließlich, daß man durch eine überraschende List getäuscht worden war. Es stellte sich nämlich heraus, daß die Hauptkäufer die reich mit Geld versehenen Clericalen gewesen waren. Als diese schließlich sahen, wie die Sache ernsthaft wurde, versteckten sie sich hinter Agenten und gaben denselben unter Zuwendung eines kleinen Gewinnes das Geld.
Die Handlungsweise des klugen Benito Juarez ist kühn zu nennen, wenn man die Verhältnisse in Mexico und die Mittel und Wege genauer kennt, welche hier der Priesterpartei zu Gebote standen. Man fürchtete, daß Juarez eines Tages still bei Seite geschafft werden würde, denn der Clerus knirschte vor Wuth, und es war eine furchtbar aufgeregte Stimmung, die sich erst lange nachher beruhigte, als nun auch die Klostermauern zusammenstürzten und elegante Häuser aus diesem geheiligten Boden erwuchsen.
Bei allen diesen Aufregungen jedoch sah man Juarez mit seinem häßlichen, aber charaktervollen Indianergesicht ruhig in seiner einfache offenen Chaise durch die Straßen von Mexico fahren; er gab nicht in dem kleinsten Punkte nach und ging unbeirrt den Weg, welchen er sich vorgezeichnet hatte. Das Gesetz über „die Aufhebung der Klöster“ brütete lange in seinem Hirn, denn er verstieß damit nicht nur bei seinen Parteigängern, sondern fand bei Bewerkstelligung der Sache auch selber unzählige Schwierigkeiten. Selbst viele in dieser Beziehung ganz freidenkende Leute fanden es menschlicher, daß man die Klöster, wie sie einmal bestanden, mit allen den Menschen, deren Seelen mit diesen Instituten verwachsen waren, vorläufig dulden, das heißt, wie in andern Ländern, einfach aussterben lassen solle. Dagegen hatte man denjenigen Mönchen und Nonnen die volle Freiheit zu geben, welche dies wünschten. Bei dieser Gelegenheit trat deutlich zu Tage, daß es stark eigensinniges Indianerblut war, das in den Adern des tatkräftigen Juarez rollt. Vielleicht würde er, wenn er ein weicheres Empfindungsleben gehabt hätte, zum Nachtheile der Sache es nicht über sich vermocht haben, so viele Menschenseelen, namentlich unter den Frauen, in furchtbare innere und äußere Conflicte zu stürzen. So aufrichtig man auch die guten Eigenschaften von Juarez, namentlich seine Energie und Uneigennützigkeit, zu schätzen wußte, war man doch etwas gereizt gegen ihn, als zahlreiche Nonnen mit verhüllten Gesichtern durch die Straßen liefen, heimath- und obdachlos und doch bereit, lieber zu sterben, als ihr Gelübde zu brechen. Eine junge, reizende Nonne, welche ich erst einige Jahre früher hatte einkleiden sehen, die Tochter einer Marquise, flößte mir besonderes Mitleid ein. Ich dachte der Stunden, als man sie damals in aller Pracht ihrer Jugend und Schönheit, im Schmucke der Braut – nach Klosterbrauch – noch einmal der Welt präsentirte und sie dann einige Zeit später, als Schwester Brigitta, mit abgeschnittenem Haar, im grauen Nonnenkleide durch die Kirche führte – um sie für ewig in derselben zu begraben. Aber heute, als ich sie zufällig wieder, dicht verhüllt, in die Chaise steigen sah, welche sie vorläufig in eine abgeschiedene Kammer ihres Elternhauses bringen sollte, und als sie selbst die Theuersten – ihrem Gelübde treu, nicht sehen und sprechen wollte, that mir das Herz weh über all dem Elend, mit welchem sich die Menschen in ihrem Wahne martern. Erst nach Monaten hörte ich, daß Schwester Brigitta’s Bruder, ohne daß sie ihre Gelübde gebrochen, sie glücklich nach Rom begleitet habe und sie dort wieder im Hafen klösterlicher Ruhe sei.
Betrachtete man dagegen die Sache von der anderen Seite, so mußte man sich allerdings sagen, daß die Klöster nur mit einem tiefgreifenden und schmerzhaften Schnitt ausgemerzt werden können und daß uns ja die Geschichte genugsam darüber belehrt hat, wie einzelne Menschenleben nicht berücksichtigt werden können, wenn es sich um das Wohl und Wehe der Gesammtheit handelt. Zudem wollte Juarez das Beste und handelte nach seiner innersten und tiefsten Ueberzeugung – das wußten wir damals genau, da wir mit Leuten verkehrten, welche zu ihm in den nahesten Beziehungen standen. Selbst als er später das Todesurtheil an dem unglücklichen Maximilian vollziehen ließ, gab er ihm vorher genugsam Gelegenheit zu entfliehen(?); er beklagte den österreichischen Prinzen als Mensch, weil er ihn achtete und bemitleidete – aber von seinem politischen Standpunkte aus, als Präsident der Republik, betrachtete er ihn als Rebellen und glaubte nicht anders handeln zu dürfen.
Die Angelegenheit verursachte natürlich große Umwälzungen im ganze Lande, und wenn auch späterhin ein etwas milderes Gesetz manche Klöster wieder duldete, so änderte doch das für den Augenblick an der entstandenen Verwirrung nichts. Neugierig schritten nun Viele aus der Bevölkerung durch die großen, leeren Klostergebäude, in deren Innerem es so kahl und unheimlich aussah, daß man es nur dem Fanatismus und der Gewohnheit zuschreiben konnte, wenn Töchter aus den ersten Familien in diesen kleinen, öden Zellen ein zum Glück berechtigtes Menschendasein langsam abgetödtet hatten. Fast alle Klöster, welche ich damals durchwandert habe, boten dasselbe Bild. Jede Nonne hatte ihre eigene Zelle, so klein, wie nur möglich, mit getünchten Wänden, einem vergitterten kleinen Fester, einem Bett, einem Stuhl, einer Kiste. In jedem dieser Gemächer stand ein Kochherd mit einigem Geschirr, auf welchem sich die einsame Bewohnerin der Zelle, mochten ihre Hände noch so fein und verwöhnt sein, selbst das Mittagsmahl bereitete, welches sie auch allein zu verzehren hatte.
Inmitten des Hofes befand sich ein Garten, in dem die Nonnen zu gewissen Stunden spazieren gehen durften, ohne jedoch mit einander zu sprechen und zu verkehren. Unwillkürlich mußte ich der sehnsuchtsvollen Seufzer gedenken, die wohl aus der Brust so mancher junge Nonne aufgestiegen sein mochten, wenn sie hier, die Hände auf das heißklopfende Herz gepreßt, an weichen Abenden unter den prachtvollen Orangenbäumen stand, vielleicht den Mond betrachtend, wie er über der hohen Mauer, welche sie von der Welt trennte, so einsam emporstieg, und sie sich dann in der öden Gefangenschaft ein Leben träumte – schöner gewiß, als es die Wirklichkeit jemals bietet.
Schrecklich melancholisch sahen mich diese Mauern an, und es war mir, als könnte ich aus den morschen Quadern die traurigen Geschichten lesen, die sich hier abgespielt. Von diesen Geschichten redeten auch die Physiognomien der Nonnen, so viel ich deren gesehen habe; sie alle trugen denselben Ausdruck des Herben, der Verbitterung und Fühllosigkeit.
Anders war es mit den Mönchsklöstern. Es gab nur sehr wenige in Mexico, welche ganz von der Welt abgeschieden waren, und als man die Klostermauern niederriß, zeigten sich Spuren von dort verübten Verbrechen, die nur zu klar bewiesen, daß die Bewohner, trotz Abtödtung und Entsagung, allen weltlichen Lüsten gefröhnt hatten. Als das Kloster von San Francisco, eines der größten der Republik, niedergerissen wurde, fand man daselbst Frauen- und Kinderskelete in Menge, und der Zudrang zu der Stätte war so groß, daß man sich genöthigt sah, den Platz polizeilich absperren zu lassen. Ein besonders schrecklicher Fall trug sich bei derselben Gelegenheit in einer kleinen Provinzialstadt in der Nähe Toluccas zu. Als die Mönche, welche durchaus das dortige Kloster nicht räumen wollten, endlich vor der Gewalt die Flucht ergriffen, vernahm man beim Durchgehen der Räume eine wimmernde Menschenstimme. Nach langem Nachforschen entdeckte man endlich eine Fallthür in einer der Sacristeien, [299] von der man auf einer gut angelegten Treppe in einen unterirdischen Raum gelangte. Dort fand man auf einem Bette eine jammernde Frau, welche die Mönche bei der Flucht vergessen hatten und die nun dem Verhungern nahe war. Man versuchte sie zu beleben, aber erst nach mehreren Tagen gewann die Aermste einige Kraft zum Sprechen. Sie gab sich als die Frau eines Kaufmanns zu erkennen, welche seit sechszehn Jahren, nachdem sie eines Tages in die Beichte gegangen, spurlos verschwunden war. Der trostlose Mann und vier kleine Kinder mußten schließlich annehmen, daß sie verunglückt sei. Es war ein Glück, daß sie bald in den Armen ihres Sohnes sterben durfte und daß ihre Seele nicht die entsetzlichen Erinnerungen an durchlebte Scenen der Vergewaltigung und Schmach länger mit sich herumtragen mußte.
Wenn man das geistliche Leben und Treiben in der Republik von dieser Seite beleuchtet, dann kann man freilich die Verdienste eines Mannes, wie Benito Juarez, nicht hoch genug anschlagen, der das Alles that ohne den geringsten Vortheil für sich selbst. Wem die damaligen Verhältnisse in Mexico bekannt sind, wer es mit angesehen hat, wie hier die Clericalen wie überall, wo sie zu Gewalt und Herrschaft gelangen, das Volk unterjochten, jeden Aufschwung desselben unterdrückten und Bildung und Aufklärung nicht aufkommen ließen, der wird den Muth eines Staatslenkers doppelt bewundern, der einen so gewaltigen Schritt vorwärts that, wie vor ihm kein Einziger ihn zu versuchen gewagt hätte.
Die Stadt Mexico, welche fast in allen Straßen ein Kloster aufzuweisen hatte, in welchem eine Unzahl Menschenkräfte brach lag, nahm einen ganz anderen Charakter an, als diese Stätten des Müßiggangs, der Unsitte und Heuchelei dahinsanken und an ihrer Stelle freundliche und heitere Häuser aus der Erde wuchsen. Zahlreiche Arbeiter fanden dabei Beschäftigung, und die Republik hätte sicher durch diese Maßregel einen gewaltigen Aufschwung genommen, wenn nicht abermals die Kirche mit aller Macht ihre Parteien in’s Feld geführt und ein dreijähriger Bürgerkrieg jeden aufkeimenden Wohlstand vernichtet hätte. – Es war fast, als ob ein unseliger Stern über dem wunderschönen Lande leuchtete, welcher ihm trotz seines wolkenlosen Himmels und der überreichen Pracht seiner Erde ein ewiges Verderben geschworen.
Als endlich der Clerus geschlagen war und die Republik mit ihren Führern als Siegerin dastand, da suchte er Hülfe und Schutz bei Frankreich und kam mit der Bitte zur guten Stunde. Napoleon schickte seine Franzosen in das Land, fragte nicht, was daraus werden sollte, und opferte mehr, viel mehr Leute, als jemals bekannt wurde, allein durch das Fieber. Die republikanische Regierungsform wurde zerstört und dem edelsinnigen österreichischen Erzherzog die Dornenkaiserkrone auf das unglückliche Haupt gedrückt. Die leise rauschenden Meereswellen, welche sein schönes Schloß Miramar umspülten, mochten ihm wohl bis dahin nichts zugeflüstert haben, als süße Märchen von ewigem Glück und Frieden. Sie hatten ihm nichts erzählt von dem wüthenden Parteikampfe, dem priesterlichen Haß und der armen, unter jahrelangem Pfaffendrucke verkommenen Nation, deren Ruhm und Größe er so hochherzig zu gründen vermeinte. Es war ein wahrhafter Glückstraum, an dem er zu Grunde ging, wie Unzählige, welche einer Idee leben wollen und daran sterben müssen.
Juarez, der bekanntlich am 18. Juli 1872 in Folge eines Schlagflusses aus dem Leben geschieden, glaubte dem Kaiser Maximilian gegenüber nicht anders handeln zu dürfen, als er es gethan. Er selbst setzte Gut und Blut hundertmal ein, um das Volk von der zermalmenden Schwere der clericalen Partei zu befreien, und eine Genugthuung, wie ihm keine schönere werden konnte, mußte es ihm sein, daß Maximilian selbst eingestand: „es gehöre zur Grundbedingung der staatlichen Einheit Mexicos wie aller anderen Staaten und Länder, jede Ueberzeugung und Religionsübung zu schützen aber den Uebergriffen geistlicher Anmaßung und priesterlichen Hochmuths für immer die stärksten Riegel vorzuschieben.“
Borsig! – Labyrinthe von imposanten Fabrikanlagen und Werkstättburgen, Wälder von Schornsteinen, rastlos arbeitende Dampfmaschinen, flammende Puddelöfen, betäubend dröhnende Eisenhämmer, dazu ein Heer von Arbeitern: markige Cyklopengestalten, Schmiede, Schlosser, Bohrer, Dreher, Fräßer, Gießer, Zimmerer, Tischler; sodann eine Schaar von Zeichnern, welche die Gedanken des Meisters fixiren, – schnaubende Locomotiven, die mit unabsehbaren Wagenzügen über festgefugte Eisenbrücken rasseln; kolossale Pumpwerke, welche Seen auf Bergeshöhen heben, um sie von hier in tausendfachem Geäder in Wasserleitungen, Fontainen, Ueberrieselungen abströmen zu lassen, – eine fürstliche Wohnung mit blühenden Gärten, Treib- und Palmenhäusern, deren hochaufragende Eisensäulen mit dem Schaft schlanker Cedern wetteifern, mit Anlagen, wo der feine Geschmack des kunstverständigen Besitzers sich in jedem Blumenbeete, jeder Fontaine, jedem Pavillon, jeder Bank und tausend einzelnen Zierstücken stets auf’s Neue bethätigt – Vorstellungen von großen Bedürfnissen, großer Productivität, rapidem Wachsthum der sich an einander reihenden Erfolge, – alle diese Bilder und Anschauungen, sie steigen vor uns auf wie wechselnde, märchen- und feenhafte Zaubererscheinungen bei dem bloßen Klange des Namens – Borsig.
Zwei Träger dieses Namens sind die Zierden, der Ruhm und der Stolz deutscher Eisentechnik, deutschen Locomotiven- und Maschinenbaues: August Borsig, der Vater, „der alte Borsig“, und Albert Borsig, der Sohn, gewöhnlich „der junge Borsig“ genannnt. Beide, Vater und Sohn, sind in den besten Mannesjahren aus dem Leben geschieden. Der Vater, der Begründer der weltberühmten Fabrikanlagen, hatte, als er am 6. Juli 1854 sein Auge geschlossen, das fünfzigste Lebensjahr nur um wenige Tage überschritten; der Sohn, der Nachfolger und Erweiterer aller dieser Anstalten, hatte dieses Alter an seinem Todestage, den 9. April dieses Jahres, noch lange nicht erreicht.
Der vor kurzem erfolgte Heimgang Albert Borsig’s macht uns einen Rückblick auf sein Leben zur wehmuthsvollen Pflicht. Aber sein Leben, sein Schaffen und Wirken ist mit dem seines großen Vaters eng verbunden, wie Krone und Stamm eines und desselben Baumes. Man kann nicht vom Sohne reden, ohne auch zugleich des Vaters zu gedenken.
August Borsig, der Vater, ursprünglich Zimmergesell, kam 1824 nach Berlin, um sich hier im Gewerbe-Institut mehr, als es sonst gewöhnlich Handwerker zu thun pflegen, in der Baukunst auszubilden. Aber unglaublich: nach anderthalb Jahren wurde er aus der Schule ausgewiesen, weil ihm bei seiner einseitigen Vorliebe für das Studium der Mechanik das Verständniß für die Chemie fehlte. – Armer Zimmergeselle!
Auch für den Dienst des Königs wurde der mit einem wahrhaft athletischen Körperbau ausgestattete junge Mann nicht tauglich befunden „wegen seines zu dicken Halses,“ der für die vorschriftsmäßige Kragenbreite der Uniform zu kurz war.
So hart die Ausweisung aus der Schule für Borsig war, so ist ihm nachgerade von dem obersten Leiter derselben, von dem Geheimenrath Beuth, doch nichts Aergeres widerfahren, als Alexander von Humboldt von Schiller, als Fichte von Goethe. Schiller sagte von Humboldt: „er werde nie was Großes leisten, er habe für seinen Gegenstand ein viel zu grobes Organ und sei dabei ein viel zu beschränkter Verstandesmensch.“ – Goethe hatte als Weimarischer Minister Fichte von seiner Professur der Philosophie in Jena abgesetzt und gesagt: „aus Fichte wird nichts; Fichte ist für sich und die Welt verloren.“ – –
Nun, wir haben’s anders kommen sehen. Humboldt wurde nichts weniger als eben – Humboldt; der in Jena abgesetzte Professor Fichte ging nach Berlin und erhob hier seit 1801 mit in erster Linie das deutsche Volk gegen die Napoleonische Gewaltherrschaft, und Borsig wurde nichts weniger als eben – Borsig.
Die Eisenindustrie in Berlin war zu jener Zeit kaum aus dem Stadium der Kindheit herausgetreten Die königliche Eisengießerei, 1803 gegründet, hatte allerdings bereits 1821 in der [300] Ausführung des herrlichen statuarischen Werkes, des Siegesdenkmales auf dem Kreuzberge, ihre Leistungsfähigkeit bewiesen. Aber sie hatte die vielbeklagten Mängel jedes königlichen mercantilen Instituts, das, weil es für sein Bestehen nicht zu sorgen braucht, im Publicum keine neuen Bedürfnisse schafft und die vorhandenen, milde gesagt, nur mit gleichgültiger, vornehm thuender Gefälligkeit befriedigt. Königliche Beamte sind selten – man glaubt es wenigstens – gute, zuvorkommende Geschäftsleute. Das Geschäft scheint für sie da, nicht sie für das Geschäft.
Egells hatte in den zwanziger Jahren eine Maschinenbauanstalt und die „Neue Berliner Eisengießerei“ gegründet. Sie hatte vollauf zu thun, als Borsig im Herbste 1825 mit gründlichen Kenntnissen und flammender Begeisterung für den Maschinenbau als schlichter Maschinenbauer in dieselbe eintrat. Er erlernte von Grund auf den praktischen Maschinenbau, arbeitete in der Gießerei, zeichnete und projectirte viel, und nicht lange, so wurde er Monteur, Werkführer, Factor und endlich an dem Geschäfte interessirter Dirigent.
Um diese Zeit war der Bau von Eisenbahnen für Deutschland eine Lebensfrage geworden. Die Vortheile, welche England, Belgien, Frankreich aus ihnen gezogen hatten, drängten Borsig bei seinem Arbeitstrieb, seinem scharfen Verstande, seiner Auffassungs- und Combinationsgabe, unabhängig von jedem Einfluß Anderer seine eigene Maschinenbauanstalt am Oranienburger Thor mit einem erarbeiteten Vermögen, das kaum fünftausend Thaler übersteigen mochte, zu gründen.
In Bretterschuppen wurden die ersten Maschinen gebaut, die dazu nöthigen Dreh- und Bohrwerke durch ein Fußwerk getrieben; die Zahl aller Arbeiter betrug kaum fünfzig. Im nächsten Jahre war der Bau der Eisengießerei beendet und die erste Dampfmaschine zu deren Betrieb aufgestellt. Anfangs lieferte die Fabrik Eisengußwaare aller Art, vorzugsweise stehende Dampfmaschinen. Der deutsche Locomotivenbau hatte bei Borsig’s erster Thätigkeit die beschwerlichste Concurrenz mit dem Auslande zu bestehen, wo Erfahrungen, die reichsten pecuniären Hülfsmittel, die besten Materialien zu billigeren Preisen zur Verfügung standen, und wie gewöhnlich hatte das Ausland in unserer deutschen Heimath ein größeres Vertrauen. Bis zum Jahre 1846 waren auf deutschen Eisenbahnen, wenige vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, nur ausländische, namentlich englische und amerikanische Locomotiven in Gebrauch.
Unter solchen Umständen mußte das Unternehmen, den Locomotivenbau bei uns heimisch zu machen, allerdings als ein sehr gewagtes erscheinen. Es gehörte ein nicht gewöhnlicher Muth und Scharfblick, eine unbeugsame Ausdauer dazu. August Borsig besaß alle diese Eigenschaften in hohem Maße. Die erste Locomotive, zu deren Vollendung er ein Jahr brauchte, ging im Jahre 1841 aus der Anstalt, die hundertste 1846, die fünfhundertste 1854, also in seinem Todesjahre.
Der große Bedarf von Schmiedeeisen, welches in der nothwendigen Güte nur von England bezogen werden konnte, hatte bereits den „alten Borsig“ bestimmt, eigene Eisen-, Walz- und Hammerwerke in dem nahen Moabit anzulegen, auch die zeitherige Maschinenbauanstalt der Seehandlung daselbst, sowie weit ausgebreitete Eisen- und Kohlegruben in Schlesien zu erwerben.
So wurde der schlichte Zimmergeselle Borsig der Schöpfer einer neue Industrie. Er hat einen Samen gelegt, für den er den Boden erst fruchtbar gemacht, für dessen Pflege er die Kräfte erst wach gerufen und durch eigene Leistung und Beispiel gebildet.
Aber das Endziel seiner Thätigkeit war erreicht, und seine letzte Arbeitsstunde schlug unerwartet am 6. Juli 1854.
Kaum anderthalb Dutzend Jahre bedurfte Vater Borsig, um in Berlin, Moabit, Schlesien die Anstalten zu schaffen, die in seinem Todesjahre fast drittehalb tausend Arbeitern Beschäftigung und Brod gaben, und deren Arbeiten im letzten Jahre einen Werth von fast drei Millionen Thaler repräsentirten. – –
Albert Borsig war fünfundzwanzig Jahre alt, als er 1854 nach dem unerwarteten Tode des Vaters als einziges Kind die Erbschaft aller weit verzweigten industriellen Anlagen desselben antrat. In dem Gleichmaß seiner Anlagen und Fähigkeiten trat keine einzige besonders hervor; die Harmonie seiner Kenntnisse und Neigungen wurde durch keine Vorliebe für irgend eine specielle Besonderheit von Wirken und Schaffen gestört. Seine Erziehung und Bildung entsprach den reichen Vermögensverhältnissen, der tüchtigen Einsicht und dem arbeitsamen Bürgersinn des vortrefflichen Vaters; die Mutter, eine Frau von bescheidenster Einfachheit, Anspruchslosigkeit und Herzensgüte, hat den einzigen Liebling ihres Herzens nicht verwöhnt und verzärtelt.
Das Leben Stephenson’s, des Erfinders der Locomotive, zeigt rührende und erhebende Situationen, wie sich der Vater heranbildete an dem Unterricht des einzigen Söhnchens, wie der Mann schon in vorgerückten Jahren noch mit dem Knaben die Elemente formaler Bildung aufnahm, und wie der begabte Jüngling die fruchtreichen Ideen des Vaters in Wort und Zeichnung fixirte. Solche Situationen mögen wohl die stillen Stunden im Hause des alten Borsig nicht verschönt haben. Auch mögen die Erwartungen und Hoffnungen, die sich an den jungen Zweig des alten Stammes anrankten, nicht allzu üppig gewesen sein. Aber wir wissen ja, daß auch Linné’s Genie lange so verhüllt war, daß sein Vater ihn zu einem Schuhmacher in die Lehre bringen wollte – daß auch Newton aus gleichem Grunde von der Mutter aus der Schule genommen und für die Landwirthschaft bestimmt werden sollte – daß es auch im Kopfe Alexander von Humboldt’s „erst spät licht geworden“.
Albert Borsig hat die Hinterlassenschaft des Vaters mit Pietät angetreten, und weder aus Eitelkeit noch aus Anmaßung und Ueberhebung die Schöpfungen desselben reformatorisch angetastet. Alles blieb, wie es bisher gewesen; Alles ging in dem bisherigen Geleise unverändert und stetig vorwärts.
Trotz der unsicheren politische Verhältnisse wurden die Bedürfnisse immer größer; der vermehrte Eisenbahnverkehr führte den Maschinenbauanstalten aus dem Inlande und den Zollvereinsstaaten zahlreiche Aufträge zu. Namentlich galt es die Anlage vieler neuen Eisenbahnen und die reichere Ausrüstung schon bestehender. Hierzu kamen ferner die zahlreichen neuen Aufschlüsse von Kohle- und Eisensteingruben am Rhein, in Westfalen und Schlesien, die den Berliner Anstalten noch auf mehrere Jahre Bestellungen zuführten.
Inzwischen hatte die Leistungen des Maschinenbaues außerordentlich gewonnen. Die Durchbildung der Arbeiter, die Technik der Ausführung zeigte den musterhaftesten Fortschritt. Ganz enorm waren namentlich die Bedürfnisse der Eisenbahnen, die zur eigentlichen Specialität der Borsig’schen Werkstätten gehörten und noch gehören, namentlich der Locomotivenbau.
Der junge Borsig hat allein im Jahre 1855 hundertdreizehn, und 1857 gar hunderteinunddreißig Locomotiven fertig hergestellt. Die sechshundertste Locomotive erhielt auf der Pariser Weltausstellung (1855) die große goldene Medaille. Die tausendste ward am 21. August 1858 vollendet. Das großartige Industriefest, durch welches die Anstalt dieses Arbeitsziel feierte, ist im Jahrgange 1858 der „Gartenlaube“ (S. 541 f.) ausführlich geschildert. Nach kaum neun Jahren, am 2. März 1867, lief die zweitausendste, und am Todestage Albert Borsig’s waren etwa dreitausendsiebenhundert (nicht, wie es übertrieben in den Tagesblättern hieß: zehntausend) aus den Werkstätten hervorgegangen.
Doch sind es nicht Locomotiven allein, die in den Borsig’schen Anstalten gebaut werden. Auch Brücken, Dächer, Kuppeln, Maschinen und Geräthe von sinnigster Construction und sorgsamster Ausführung sind hier fort und fort in Arbeit.
Selbstverständlich mußte, um so Großes zu leisten, die Anstalten, die der „junge“ vom „alten Borsig“ übernommen, sehr wesentlich erweitert werden, in räumlicher Ausdehnung, in allen einzelnen Partien der ausführenden Technik, in der ganzen inneren Organisation ihres Zusammenhanges. Wir bescheiden uns, nur einer solchen Erweiterung zu gedenken, der Anlage und der Eröffnung des Walzwerkes zu Borsigfelde im Beuthner Kreise in Oberschlesien.
Bereits der „alte Borsig“ wollte die schlesischen Eisenerze besser verwerthen und die Industrie seiner arbeitsamen Landsleute fördern. Die Mehrzahl seiner Arbeiter in Moabit waren Schlesier. Noch kurz vor seinem Tode kaufte er bei Gleiwitz ein bedeutendes Territorium, um hier die Kohlen und Eisenerze auszubeuten. Der „junge Borsig“ setzte die Arbeit beharrlich fort, legte Hochöfen an, Hütten- und allerlei Werke und kurz eine weit ausgedehnte Arbeiterstadt, die Fabrikcolonie Borsigfelde. Er führte dieselbe nach eigenen Ideen und Plänen zu einer Zeit aus, als eine ganz außerordentliche Steigerung des [301] Grundwerths in Berlin und in deren Gefolge Wohnungsnoth eingetreten war. In Borsigfelde sollten die Eisenerze gleich zu Maschinentheilen verarbeitet und dann als Halbfabrikate den Anstalten in Berlin und Moabit zugeführt werden. Im October 1870 wurden vierhundert bis fünfhundert Arbeiter, darunter viele Familien aus Moabit nach Borsigfelde übersiedelt. Die Anlagen sind von sehr ausgedehnten Dimensionen und gedeihen vortrefflich. Alle Bedürfnisse der Arbeiter finden hier Befriedigung, wie kaum in einer größeren Stadt, denn ihnen ist alle Sorge gewidmet, und keine Einrichtung zum Wohl für Leib und Seele fehlt hier.
So kam es, daß selbst in getrübten Zeiten das Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer immer ein vertrauensvolles war, daß die Arbeiterbewegungen in Borsig’s Werkstätten keinen Eingang fanden. Wie der alte war auch der junge Borsig ein sorgsamer Vater, ein treuer Freund seiner Arbeiter. Auch zu der Zeit, als der große Krach die gesammte industrielle und finanzielle Welt in ihren Grundvesten erschütterte, blieb Borsig von der fast allgemeinen Misere verschont. Er blieb es deshalb, weil jene heillose Gründerwirthschaft, jenes moderne Raubritterthum, auch nicht einmal mit dem Schein einer Versuchung an ihn herantreten durfte, weil der Borsig’sche Credit ein so fest begründeter, die geschäftlichen Beziehungen derartig umfangreich und solide waren, daß sie von der Calamität nicht einmal berührt, geschweige denn in Mitleidenschaft gezogen wurden. – –
Beide Borsig, die scharfsinnigen Techniker, die Männer so anstrengender Arbeit waren auch große, sinnige und verständige Freunde der Natur und der Kunst. Mit den theuersten Opfern, mit fürstlichem Aufwande huldigten sie ihnen. Ihr Heim, wo es auch ist, macht den Eindruck des Soliden, des Schönen, des Praktischen. Alles hat den Reiz frischer, sinniger, verschönernder Thätigkeit.
Darum auch das erquickende Wohlgefühl, das freudige, theilnahmsvolle Wohlbehagen, das wir beim Besuch der Wohnstätten, der Gartenanlagen Borsig’s empfanden. Wir fühlen es instinctmäßig heraus, sie sind selbst ersonnene Schöpfungen, eigene Arbeiten, eigene Werke ehrlichen Bürgerfleißes. Hier stört keine impertinente Schaustellung, kein Geldprotzenthum, kein unpassendes Prunken des reichen Emporkömmlings, der Natur und Künstler seinen Launen dienstpflichtig macht, weil – „seine Mittel es ihm erlauben“.
Nur eines Prachtbaues Albert Borsig’s werde hier besonders gedacht. In Berlin, am althistorischen Wilhelmsplatze, wo die Helden der schlesischen Kriege in monumentaler Verherrlichung dastehen, wo die Ministerpaläste des deutschen Reiches und des Reichskanzlers sich erheben, eben da, inmitten dieser deutschen Monumentalwerke baute sich der schlesische Grande, Fürst von Pleß, in den ersten siebenziger Jahren nach dem letzten französischen Kriege einen Palast in dem zopfigen, französischen Rococostile Ludwig’s des Vierzehnten mit der Fürstenkrone und dem Namenszuge des Erbauers. Alles an diesem Baue, Plan, Arbeit aller Art, ist französisch, selbst das Rohmaterial ist aus Frankreich herbeigeschafft; alle Handwerker, Künstler und Decorateure waren Franzosen. Keiner deutschen Hand wurde hier Brod und Erwerb gegönnt. – Neben dieser fürstlichen verzwickten architektonischen Mißgestalt, nach Zeit und Art der Ausführung ein Denkmal aristokratischer, undeutscher Gesinnung, hat der bürgerliche Fabrikant Borsig einen stattlichen, breit gelagerten Palast im edelsten Renaissancestile erbaut. Statt der Fürstenkrone zieren es in den Nischen zwischen den Fenstern die mehr als lebensgroßen Statuen von Männern der Kunst und der Arbeit. Es sind vortreffliche Statuen von Archimedes, Leonardo da Vinci, James Watt, Robert Stephenson, Friedrich Schinkel, August Borsig, Wilhelm Beuth. Unzweifelhaft eine imponirende Huldigung des Genies, der Schildträger der Arbeit! – –
Schließlich noch ein flüchtiger Blick in die Arbeitsräume einiger Borsig’scher Werkstätten. Hier verwirklicht sich die alte dichterische Fabel von den Eingeweiden des Aetna, und die Feueressen, wo Vulcan die Donnerkeile Jupiter’s schmiedete, gehören fürder nicht mehr in das Reich poetischer Träume. Die dunklen Gestalten der von schmelzender Gluthhitze geschwärzten Männer, der krachende Fall der Riesenhämmer und ihre erschütternden Schläge, das dämonische Aechzen der brausenden Blasebälge, die Feuerströme flüssigen Metalls, die Milliarden Funken von den gehämmerten Amboßen – alle diese grandiosen Effecte fallen wie Blitzstrahlen in die Seele, geben ein Bild von den Vorstellungen, wie sie dem Dichter vom Tartarus vorschwebten und verwirren und erdrücken die Sinne des Zuschauers zu stummer Bewunderung.
„Die Werke klappern Nacht und Tag,
Im Tacte pocht der Hämmer Schlag,
Und bildsam von den mächt’gen Streichen
Muß selbst das Eisen sich erweichen.“
Mehr noch als die Schmelz-, Guß- und Schmiederäume frappiren die Localitäten, in denen die einzelnen Werkstücke zugerichtet werden. Hier wird gedreht, gehobelt, gebohrt, genietet, gestoßen; hier wird tausenderlei Arbeit vollführt, und alle hierzu erforderlichen dämonischen Kräfte werden nur von schwirrenden Rädern, von fliegenden Treibriemen verrathen, vom leisesten Fingerdrucke des Arbeiters geleitet und geregelt.
„Tausend fleiß’ge Hände regen,
Helfen sich im muntern Bund,
Und im feurigen Bewegen
Werden alle Kräfte kund.“
Die Bewunderung steigt, wohin man auch schreitet, sei es in die Montir- oder in andere Räume. Wer wollte hier alle die Vorgänge und Arbeiten, alle die Eindrücke und Empfindungen wiedergeben?[1]
Die Leistungen Albert Borsig’s haben die ursprünglichen Erwartungen weit übertroffen und ihm wohlverdiente Anerkennung erworben, aber darin ist er weniger glücklich als der Vater August Borsig, daß sein Erbe noch ein unmündiger elfjähriger Knabe ist.
Wie der „alte“, ist auch der „junge“ Borsig von Fürsten, vom Staate mit Titel und Orden, mit Ehren und Würden hoch ausgezeichnet worden. Volle Kränze von Immortellen, Stein- und Erzdenkmale schmücken die Stätten, wo beide im Leben gewirkt, wo sie jetzt im Tode ruhen. Doch Titel und Würden verhallen und werden vergessen; die reichsten Kränze verwelken und vermodern; Denkmale verwittern und zerfallen in Staub. Aber so lange deutsche Industrie, deutscher Fleiß in der Geschichte genannt werden, so lange werden alle Ehren des Fleißes, alle Titel des Genies, alle Würden der Arbeit verknüpft werden mit dem einfachen Namen Borsig.
- ↑ So weit es für die Anschauung des Laien möglich, ist dies in Bild und Wort im Jahrgang 1867 der „Gartenlaube“ geschehen wo wir unter der Rubrik „Deutschlands große Industrie-Werkstätten“ S. 554 Borsig’s Etablissement in Moabit bei Berlin, und S. 779 Borsig’s Eisengießerei und Locomotivenbauanstalt am Oranienburger Thor in Berlin zur Darstellung brachten. Wer aber vergleichen will, wie dieser Industrieriese als Kind aussah, dem giebt Jahrgang 1854, S. 289, die Gelegenheit dazu. D. Red.
Jahrhunderte lang haben unsere Ahnen ihre Wohnsitze in den Städten möglichst eng zusammengebaut, um durch feste Mauern, hohe Wälle und tiefe Gräben gegen äußere Feinde geschützt zu sein; und sie haben oft noch durch umgebende Sümpfe oder aufgestaute Gewässer diesen Schutz verstärkt. Selbst als die Noth feindlicher Ueberfälle nicht mehr zu fürchten war, blieben die Nachkommen in der altgewohnten Enge, als ob durch die geschlechterlange Entbehrung das Bedürfniß nach Luft und Licht abhanden gekommen wäre. Nun zog vielmehr das Aufblühen friedlichen Verkehrs und gewinnbringender Erwerbsthätigkeit immer mehr Menschen in den beschränkten Ring der Städte als in einen Mittel- und Knotenpunkt zusammen. Eine Folge davon war, daß die Häuser immer höher, die Gärten und Höfe immer enger wurden. Die Straßen, diese gemeinschaftlichen Luftadern, glichen engen Spalten, die Höfe tiefen Schachten, während selbst halb unterirdische Baulichkeiten und ganz unterirdische Keller zur Abhülfe der Wohnungsnoth herbeigezogen werden mußten.
Durch Abfall- und Auswurfstoffe von Jahrhunderten, für
[302] deren Entfernung wenig geschah, deren Zersetzungstoffe vielmehr meistens ungestört die Luft verpesteten und bei mangelndem Straßenpflaster auch durch Regen nicht weggespült, sondern höchstens zur Verderbniß der Brunnen in die Erde hinein ausgelaugt wurden, mußte der Grund und Boden unserer Städte mehr und mehr ein Herd für ungezählte Krankheiten werden, welche bald als langsames Siechthum, Wohlsein und Kräfte untergrabend, ihre Opfer frühem Alter und vorzeitigem Tode überlieferten, bald aber in furchtbaren, Massen mordenden Volksseuchen große Länderstrecken mit Schrecken und Entsetzen erfüllten. Nicht Juden haben die Brunnen vergiftet, wenn schwarzer Tod, bösartige Nervenfieber, Pest und Cholera die Städte entvölkerten, sondern unsere Vorfahren selbst haben solche verheerende Krankheiten durch langsame Vergiftung des Erdbodens, auf dem sie wohnten, verschuldet, und die Sünden der Väter sind heimgesucht worden an den Kindern und Kindeskindern.
Wohl haben schon vor Alters einzelne Aerzte und scharfsichtige Naturbeobachter ihren Mahnruf erschallen lassen, daß Schmutz und Unreinlichkeit jeder Art geeignet sind, Krankheiten hervorzurufen und zu begünstigen, und deshalb aus der Nähe unserer Wohnungen entfernt werden müßten; auch haben an vielen Orten Gesetze und Anordnungen nicht gefehlt, die durch Pflasterung der Straßen und Höfe, durch Abfuhr oder Fortspülen des Unraths, durch Ableiten oder Austrocknen stehender Gewässer und Sümpfe, durch Abtragung von Wällen und Mauern, durch Regelung der Neubauten, durch Anlegen und Bepflanzen von Plätzen und auf mancherlei andere Weise Wohlfahrt und Gesundheit der Bevölkerungen zu fördern bezwecktet. Aber erst in neuerer Zeit sehen wir, neben der nothgedrungenen Anhäufung großer Menschenmassen auf engem Raum und in kolossalen Häuserbauten, andererseits zugleich neue Ansiedelungen immer weiter hinaustreiben in die Felder, auf unbefleckten Boden, möglichst entfernt von den überfüllten Mittelpunkten des Geschäfts- und Erwerbslebens. Dabei führt ein instinctartig wirkendes Gefühl die Bewohner größerer Städte in früher nie geschauten Massen nach vollbrachtem Tagewerke, wie an Sonn- und Feiertagen hinaus „aus ihrer Mauern bedrückender Enge“. Es drängt sie, mit reiner Luft neue Kraft und frischen Muth einzufangen für den Kampf um’s Dasein, der freilich auch in früher niemals geahnter Anspannung alle Kräfte des Körpers wie des Geistes anstrengt und ausnutzt. Es ist dasselbe unbewußte, aber heilsame Gefühl, das alljährlich immer größere Schaaren der Städtebewohner in die Sommerfrischen zieht, in Wälder und Berge, wie an die Ufer der Meere. Man will sich stärken an der Natur, wie der Titane Antäus durch Berührung mit der Mutter Erde.
Betrachten wir einmal genauer, wie die Verderbniß des Bodens durch Vermittelung von Grundwasser und Grundluft schädlich auf das menschliche Leben wirkt!
Der Grund und Boden, auf welchem unsere Wohnstätten errichtet sind, besteht aus locker zusammengehäuften Mineralien verschiedener Consistenz, hauptsächlich aus kieselhaltigem Sand, Thonerde, Kalk u. dergl. m. Selbst wo auf festen Fels gebaut wird, sind Lücken, Spalten, Unebenheiten der Oberfläche mit solchen losen Massen angefüllt. Dieselben enthalten in ihren Zwischenräumen beträchtliche Mengen von Luft, die z. B. in ziemlich festem Kiesboden reichlich ein Drittheil seiner Masse ausmachen. Wenn Wasser in den Boden eindringt, so verdrängt es die Luft zum Theil oder auch gänzlich, sinkt aber allmählich immer tiefer, bis es auf eine undurchlässige Schicht Erde, etwa blauen Thon, oder Gestein, z. B. Granit, trifft, auf deren Fläche es abwärts weiter fließt, wenn es nicht durch undurchdringliche Seitenwände oder muldenförmige Gestaltung des Bodens aufgehalten wird. Regen- und anderes atmosphärisches Wasser, welches an der Oberfläche eindringt, kommt also an anderen tiefer liegenden Stellen in Quellen oder Brunnen wieder zu Tage.
Auf diesem Wege nimmt das Wasser von Allem, was ihm begegnet, mit, so viel es davon durch die Gewalt seiner Bewegung mitzuschwemmen oder aufzulösen und fortzutragen vermag, darunter dann namentlich organische Stoffe aus dem Hauskehricht und Küchenabfall, aus dem Wirthschaftswasser, aus menschlichen und thierischen Excrementen, die irgendwo auf der Oberfläche oder in für Wasser zugänglichen Vertiefungen lagern. Das lockere Erdreich hat aber die Eigenschaft, die in dem Wasser schwebenden oder aufgelösten Stoffe aufzufangen und mit Hülfe des Sauerstoffs der in seinen Poren befindlichen Luft langsam zu verbrennen. Die hierbei schließlich gebildeten luftförmigen Stoffe, wie Kohlensäure, Ammoniak oder Salpetergas, werden theilweise von dem tiefer in den Grund einsickernden Wasser mitgenommen, theilweise von den im Boden sich ausbreitenden Pflanzenwurzeln aufgesogen und zum Wachsthum der Pflanzen verwendet, der Rest aber gelangt vermittelst der die lockere Erde durchwehenden Luftströmungen wieder an die Oberfläche und somit auch in die Umgebung, wie in das Innere unserer Wohnungen.
Der Erdboden vermag auf diese Art sehr beträchtliche, allerdings nach seiner Beschaffenheit verschiedene Mengen von organischen Stoffen in ihre Bestandtheile und für uns unschädliche Verbindungen zu verwandeln, welche, in Quellen und Brunnen gelangt, dem Wasser z. B. sogar durch Kohlensäure und den vermittelst derselben aufgelösten kohlensauren Kalk eine gewisse Härte, erfrischender Geschmack und seine durstlöschende Eigenschaft verleihen. Werden aber dem Erdboden mehr organische Stoffe zugeführt, als er zu zersetzen vermag, so können durch die faulenden und verwesenden Stoffe ebensowohl die Wasseradern, wie auch die Grundluft verunreinigt und für die sie trinkenden oder einathmenden Menschen giftig gemacht werden. Wo zum Zweck der Fundamentirung größerer Banken, zur Anlegung oder Ausbesserung von Sielen, Wasser- und Gasleitungsröhren etc. in älteren Städten die Straßen ausgegraben werden, da findet man die Erdschichten oft bis zu bedeutender Tiefe schwarz moderig, mit organischen Ueberresten gesättigt und übele Gerüche aushauchend.
Wasser, welches auf solchen mit verwesenden Stoffen übersättigten Erdschichten zu größeren Wasseradern oder in Brunnen absickert, wird trübe, übelriechend und übelschmeckend; nur wenn noch andere, unvergiftete Erde es filtrirt, welche die ihm anhaftenden Verunreinigungen zurückhält oder in unschädliche Stoffe umwandelt, wird es schließlich rein und klar zusammenrinnen. Es ist leicht begreiflich, daß in älteren oder nicht besonders günstig gelegenen Großstädten mit durchweg übersättigtem Boden die Brunnen nur selten gutes Wasser liefern können, aber auch in kleineren Städten und Dörfern können aus Unrathanhäufungen, Dungstätten, Begräbnißplätzen, oder auf sumpfigem, moorigen Untergrunde, durch Uebersättigung des Bodens Brunnen vergiftet werden. Der Genuß solchen Trinkwassers ist nicht blos widerlich, sondern auch schädlich: Sumpfwasser z. B. erzeugt, wie allgemein bekannt, Durchfälle, Ruhren und ähnliche Krankheiten, aber auch Cholera und Typhus wüthen oft mit furchtbarer Heftigkeit in dem Bezirke schlechten Wassers.
Die Gefährlichkeit desselben wird durch Abkochen vermindert, weil durch die Siedehitze manche organische Stoffe zerstört, z. B. lebende Organismen getödtet, andere mit dem Dampf ausgestoßen, noch andere zu Boden gefällt werden. Aus diesem Grunde suchen ja die Bewohner von Sumpfgegenden, welche kein gutes Wasser haben, den Durst nicht mit kaltem Wasser, sondern mit heißbereiteten Aufgüssen aromatischer Kräuter oder mit Mischungen von heißem Wasser und Branntwein zu löschen, wobei vielleicht auch die Zusätze dazu dienen, um Bestandtheile des schlechten Wassers unschädlich zu machen.
Weniger bekannt oder anerkannt als die Schädlichkeit verunreinigten Trinkwassers sind die schädlichen Eigenschaften verunreinigter Grundluft, weil diese sich unseren Sinnen weniger bemerklich macht und erst durch längere Einwirkung ihren Einfluß ausübt, der dann meistens anderen Umständen, z. B. einer Erkältung oder einem Diätfehler zugeschrieben wird, und weil sie in Ursprung und Verbreitung weit schwieriger zu verfolgen ist, als das durch organische Reste verunreinigte Wasser. Indessen wird doch die giftige Wirkung der aus dem Boden sich erhebenden verdorbenen Grundluft durch hinreichend sichere Thatsachen dargethan.
Dahin gehört zunächst die mehrfach gemachte Beobachtung, daß aus undichten Gasleitungsröhren in den Erdboden ausgetretenes Leuchtgas seinen Weg in entfernte Wohnräume gefunden und sich dort durch den Geruch bemerklich gemacht, so wie auch schwere, ganz unverkennbare Leuchtgas-Vergiftungen hervorgerufen hat. Die gewöhnliche Grundluft kann nicht so auffallende Erscheinungen hervorbringen, weil sie in geringeren Mengen vordringt, auch nicht so frappant riecht, wiewohl sie von dem nicht daran Gewohnten häufig als eine Art moderigen oder stechenden Geruches wahrgenommen wird.
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[304] Eine fernere vollkommen zuverlässige Beobachtung, welche hierher gehört, ist die, daß in München und an anderen Orten mit dem Sinken des Grundwassers die Zahl der Typhuskranken zunimmt, und die andere Beobachtung, daß Cholera-Epidemien dem raschen Sinken des Grundwassers folgten. So weit nämlich die organischen Stoffe ganz von Wasser bedeckt sind, stocken die Umwandlungen, welche den Zutritt und die Mitwirkung des Sauerstoffes der atmosphärischen Luft verlangen. Sinkt aber das Wasser und läßt von oben Luft nachdringen, so geschehen, besonders wenn nun auch die Sonne ihre erwärmende Kraft auf den Erdboden geltend macht, die Zersetzungen in beschleunigtem und verstärktem Maße; die mit Zersetzungserzeugnissen durchtränkte, vielleicht auch von kleinsten Organismen bevölkerte Grundluft kann in größeren Mengen an die Oberfläche gelangen und an geeigneten Orten, sowie unter sonst günstigen Verhältnissen, ihre krankmachenden oder wenigstens die Entstehung von Krankheiten begünstigenden Wirkungen auf die sie einathmenden Menschen entfalten. – In beiden erwähnten Fällen ist freilich die in Folge des Grundwassersinkens entstehende Verderbniß der Grundluft und deren Ausdünstung nicht die alleinige Ursache der genannten Krankheiten, es liegt aber in diesen Umständen eine wesentliche Bedingung derselben, weil ohne ihr Vorhandensein beide Krankheiten wohl in einzelnen Fällen vorkommen können, sich aber nicht epidemisch, das heißt über einen beträchtlichen Theil der an dem Orte wohnenden Bevölkerung, ausbreiten.
Endlich ist es sehr wahrscheinlich, daß längere Zeit fortgesetzte Einathmung der verdorbenen Grundluft die Ursache der kränklichen Beschaffenheit ganzer Bevölkerungen von Orten oder Gegenden ist. Wir sehen in Oertlichkeiten, in denen man das reichliche Vorhandensein und mehr oder weniger beständige Einwirken einer durch Erzeugnisse, organischer Zersetzung verdorbenen Luft annehmen muß, die Einwohner bleich und schwach werden; sie erliegen zahlreichen Krankheiten, welche von anderen, unter günstigeren Verhältnissen lebenden Menschen glücklich überstanden werden, und leiden besonders häufig an gewissen Krankheiten, wie Bleichsucht, englischer Krankheit oder Zwiewuchs, Drüsenkrankheiten, bösartige Rheumatismen, Schwindsüchte u. a. m., die ebenfalls an Orten mit reiner Luft viel weniger häufig und nicht so verderblich aufzutreten pflegen.
An die Oberfläche wird die Grundluft durch verschiedene Kräfte getrieben. Schon in Folge ihrer Verwandlung in luftförmige Stoffe oder Gase nehmen die Erzeugnisse der im Erdboden vorgehenden Zersetzungen größeren Raum ein, als sie vorher in festem oder tropfbar flüssigem Zustande innehatte, und streben, vermöge einer allen Luftarten zukommenden Eigenschaft, dahin, sich nach allen Seiten in der Luft auszubreiten. Sodann ist aber auch der lockere Erdboden, so lange er trocken ist, für den Wind durchgängig und kann von demselben durchweht und ausgelüftet werden, was besonders geschieht, wenn er durch Hindernisse der geraden Fortbewegung an der Oberfläche, z. B. durch Mauern von Gebäuden, aufgestaut und so in seiner Druckkraft verstärkt wird. Ein sehr einfacher Versuch kann dies augenscheinlich machen. Füllt man ein festes Rohr, etwa eins von starkem Glase, mit Erde oder Kies, den man recht fest stampft, und bläst nun kräftig in die eine Oeffnung hinein, während die andere gegen eine Kerzenflamme gerichtet ist, so sieht man nach weniger Zeit, welche gebraucht wurde, um den Widerstand der engen Lufträume zu überwinden, die Flamme sich von dem Rohre abwenden, der durch das Rohr getriebene Luftstrom drängt sie fort. Dies gelingt nicht, sobald der Inhalt unseres Rohres mit Wasser durchtränkt ist, weil die Luft dann nicht mehr freie Zwischenräume findet, durch welche sie sich gleichsam hindurchwinden kann.
Auch wenn die in einem Gebäude befindliche Luft durch Erwärmung ausgedehnt wird, dringt die kältere und deshalb schwerere Außenluft nicht nur durch Fenster- und Thürspalten, sondern auch durch die Mauern und den Erdboden nach, nimmt die Grundluft mit oder treibt sie vor sich her in den erwärmten Raum. Wir fühlen diese Luftbewegung nur deshalb nicht, weil sie zu langsam ist; unsere Haut fühlt bewegte Luft erst, wenn sie mindestens einen Meter in der Secunde zurücklegt.
Im Freien vertheilt sich die aufsteigende Grundluft rasch in der Atmosphäre und wird meistens durch ihre große Verdünnung unschädlich. Anders in Wohnungen, wo sie um so dichter zusammenbleibt, je mehr durch festen Verschluß der Thüren und Fenster, sowie durch ungeeignete Beschaffenheit, Feuchtigkeit, dichtes Zusammengedrängtsein mehrerer Mauern u. dergl. m. der Zutritt der äußere Luft erschwert wird.
Jawohl, Türk schrieb er sich, T-ü-r-k obwohl er mit Pascha Midhat’s undankbarem Vaterlande Nichts zu thun hatte. Denn er war ein Engländer, wenn nicht von Geburt, so doch dem Stammbaum nach, ein richtiger „John Bull“. Er selbst war freilich niemals dahin zu bringen, sich über diesen Punkt auszusprechen, allein ich erfuhr es durch dritte Personen. In Middlesex sollten seine Altvordern ansässig gewesen sein. Er trug auch ganz den englischen Typus.
Aufrichtig gesagt: hübsch konnte man ihn nicht nennen. Von Gestalt war er zwar ausnehmend stattlich, gedrungen und muskulös gebaut. Seine Brust, breit und hochgewölbt, deutete auf kerngesunde innere Organe. Was aber seine äußere Erscheinung sehr beeinträchtigte, das war zunächst die strohgelbe Farbe seines Haares, welches außerdem stellenweise ein Bischen struppig war. Struppig und strohgelb läßt niemals besonders schön.
Noch mehr als sein Haar war die wirklich ungewöhnliche Form seiner Nase für meinen Freund bezeichnend. Es war gerade, als ob Jemand dieselbe mittelst eines Säbels in zwei separate Hälften gespalten hätte, von denen die eine mit der andern platterdings nichts mehr zu thun haben wollte. Unterhalb dieses merkwürdigen Riechapparates verunstaltete ihn eine entschiedene Hasenscharte, aus der gelegentlich zwei kräftige Zähne hervorblitzten.
Von Charakter war Freund Türk im Ganzen edel und gut. Ich entsinne mich nicht, daß während unserer dreijährigen Bekanntschaft und eines hierdurch bedingten tagtäglichen Beisammenseins jemals das leiseste Zerwürfniß zwischen uns obgewaltet hätte. Wir verstanden und achteten uns gegenseitig. Man mußte ihm in der That gut sein. Schon seine kleinen, unter buschigen Brauen blinzelnden grauen Augen hatten etwas Wohlwollendes und behäbig Gutmüthiges, gepaart mit dem Ausdruck von Selbstbewußtsein und Würde. Zuvorkommende, aufopfernde Gefälligkeit war einer der Haupt- und Grundzüge seines Wesens. Wenn ich auf der Heimkehr aus einem mit Türk gemeinschaftlich besuchten Local plötzlich bemerkte, daß ich in der Zerstreutheit ein Schnupftuch, eine Reitgerte, ein Cigarren-Etui dort zurückgelassen hatte, so genügte eine Andeutung – und wenige Minuten später überreichte mir mein Freund das Vermißte, vielleicht keuchend vom eiligen Laufe, jedenfalls aber in verbindlicher Form. Allerdings konnte er auch Momente haben, wo er schrecklich war und sich selbst nicht kannte. Aber dann war er entweder von Unberufenen in seinen unveräußerlichen Interessen gekränkt worden, oder … er hatte Champagner getrunken.
Jawohl, Champagner war seine Schwäche. Hier war die Stelle, wo er sterblich war. Alle Marken dieses schäumenden Fabrikats waren ihm recht, aber wenn er sie haben konnte, gab er einer Flasche Carte noire den Vorzug. Wie oft hab’ ich ihm wegen dieser Leidenschaft die bittersten Vorwürfe gemacht! Vergebens. Ich glaube, um einer Flasche Carte noire willen wäre er einer unedlen Handlung, wäre er eines Verbrechens fähig gewesen.
Wir waren dazumal Beide noch jung; wir wohnten zusammen; wir aßen und tranken zusammen; wir schliefen zusammen. Wir waren mit einem Wort unzertrennlich. Früh Morgens, wenn ich noch im Bett lag, weckte er mich. Sobald wir gemeinschaftlich unser frugales Frühstück eingenommen und das Vormittags-Colleg in Folge Katzenjammers glücklich verschwänzt hatten, begleitete er mich zum Frühschoppen. Seine Schnauze …
„…Seine Schnauze?…“
„Gewiß, meine Gnädigste; seine Schnauze also …“
„Aber mein Gott, Doctor, von wem sprechen Sie eigentlich?“
„Von wem ich spreche, Madame? Ich begreife Sie nicht. Natürlich spreche ich von Türk, meiner englischen Dogge. Aeußerlich angesehen war er nur ein Hund, und zwar ein Hund, der in meinen Diensten stand; in Wirklichkeit war er mein Freund. Sie lachen mich aus, aber ich werde Ihnen eine Scene aus der Zeit meines Zusammenseins mit ihm vorzeichnen, und Sie werden aufhören, jenen Ausdruck lächerlich zu finden. Schließen Sie die Augen, gnädige Frau! Nehmen Sie wie Traumbilder auf, was ich Ihnen erzähle! Das Feuer prasselt, und die Funken knistern im Kamin, und draußen pfeift der Aprilsturm. Was können Sie Besseres thun in diesem Augenblick als träumen?“
Zu einer richtigen Heerstraße gehören Etappen, wie die Oasen zur Wüste, und solcher Oasen gab es in meiner Studienzeit auch auf der großen Studentenheerstraße, welche von Heidelberg über Gießen und Marburg gen Göttingen oder auch umgekehrt führte. Nicht der geringsten eine war der ‚Löwe‘ zu Kassel. Ja, und der Papa Lehnert im ‚Löwen‘ kannte sie alle, seine deutschen Corpsburschen, die Grünen und die Schwarzen, die Blauen wie die Rothen. Aber er kannte sie nicht blos: er liebte sie auch. Er beherbergte die Müden; er speiste die Hungerigen; er tränkte die Durstigen. Die letzte Kategorie war die zahlreichste. Als Aequivalent genügte ihm eine kurze, aber vollständige Adresse. Nie im
[305] Leben, weder vorher, noch nachher, ist mir eine Autographensammlung begegnet, die sich an Reichhaltigkeit mit dem ‚Löwen-Album‘ entfernt hätte messen können. –
Die Thurmuhr zu St. Martini in Kassel verkündet dröhnend die letzte Stunde und aus einer der auf den Marktplatz einmündenden Straßen hervor sprengt in kurzem Galopp ein jugendlicher Reiter. Dem braunen Walach hart auf der Ferse trabt mit lechzender Zunge eine mächtige Dogge. Vor dem Portal des ‚Löwen‘ macht die kleine Cavalcade Halt. Der junge Mann – schon hat das Hôtelpersonal in ihm einen Göttinger und zwar einen von den beliebten Blauen erkannt – schwingt sich vom Pferde, wirft dem diensteifrig herzustürzenden Hausknecht die Zügel zu und betritt, die Dogge hinter sich, mit klingenden Sporen den zu ebener Erde gelegenen Speisesaal. Reitgerte, Handschuhe und Cereviskappe fliegen auf den nächsten Tisch; der Göttinger macht sich’s auf dem dahinter stehenden Sopha bequem, und der Engländer placirt sich keuchend an der linken Seite seines Gebieters.
‚Jean, ein wenig kaltes Frühstück und ein Glas Bier!‘
‚Zu Befehl! Wünschen der Herr Münchener oder Culmbacher?‘
‚Lagerbier, Jean. Die Zeiten sind schlecht und man muß sich einschränken.‘
‚Bedauere unendlich, aber hier im Speisesaal wird nur Wein oder Baierisch Bier im Pokal verabreicht.‘
‚Gut, Jean, dann bringen Sie mir zur kalten Küche ein Glas Culmbacher!‘
Ein wenig naserümpfend entfernt sich der Herr Oberkellner und servirt nach fünf Minuten das Gewünschte. Schnobernd richtet sich die Dogge empor, legt eine ihre wuchtigen Pranken auf das Knie ihres Herrn und blickt ihm forschend in’s Auge.
‚Nun, Türk, mein Junge, wie ist’s? Hast Du Hunger?‘
Das mächtige Thier rührt kein Glied.
‚Oder vielleicht Durst?‘
Der Rüde fletscht wie besessen das unheimliche Gebiß, beleckt mit der Zunge eifrig sämmtliche Ränder seiner Schnauze und setzt den kurzen Schweif in wirbelnde Bewegung.
‚Aha, also Durst. – Jean!‘
‚Zu Befehl!‘
‚Bringen Sie für meinen Hund eine Flasche Cliquot und ein flaches Gefäß!‘
In der Meinung, man beliebe zu scherzen, producirt Jean pflichtschuldigst ein beifällig albernes Lächeln.
‚Sind Sie schwerhörig, Jean?‘
‚Keineswegs, aber ...‘
‚Ich wünsche für meinen Hund eine Flasche Cliquot und ein flaches Gefäß.‘
Der Herr Oberkellner macht ein ziemlich verdutztes Gesicht und trollt sich kopfschüttelnd. Kurz darauf erscheint er mit einer weitbauchigen Flasche mit silberigem Kopf und einer irdenen Schüssel von erklecklichem Umfange.
Inzwischen hat der Bruder Studio sich in die ausliegenden Zeitungen vertieft; das Local bevölkert sich mit einigen Stammgästen, Verehrern von ‚etwas Caviar nebst einem Special Madeira‘ zum Frühstücke. Sie verfolgen die an unserm Tische sich abspielenden kleinen Ereignisse mit dem lebhaftesten Interesse. Als der Pfropfen knallend zur Decke fliegt, Türk das übliche kurze Geheul zum Besten giebt und innerhalb der nächsten zwei Minuten die Schüssel ihres kostbaren Inhaltes gründlich entledigt hat, schlagen die ‚Herren Philister‘ die Hände über dem Kopfe zusammen. Die Dogge aber liegt schon längst wieder in der majestätischen Stellung einer ägyptischen Sphinx zu Füßen ihres Herrn und Meisters und mustert die Anwesenden mit gleichgültig überlegenen Blicken. –
Die Sonne schießt senkrechte Strahlen, und die dumpfe Schwüle des Julitages wird allgemach wirklich fast unerträglich. Ihre Wirkung ist eine entschieden einschläfernde, zumal nach dem anstrengenden Ritte von heute früh. Wenn man ein Mittagsschläfchen riskiren könnte! Nur so ein ganz kurzes von höchstens einem Viertelstündchen! Vorsichtig sondirt Bruder Studio das Terrain. Der größte Theil der Frühstücksgäste hat sich glücklicher Weise schon wieder empfohlen; nur dort drüben in der Fensternische pflegen zwei ältere Herren bei einem Schoppen Moselblümchen gedämpfte Zwiesprach. Ei was – wozu sich für die paar Minuten erst auf ein Fremdenzimmer zurückziehen? Gedacht, gethan! Geräuschlos lehnt sich der Göttinger in die schwellenden Polster der Sophaecke zurück – unmerklich entsinkt das Zeitungsblatt seiner Hand – er entschlummert.
Die Dogge, welche die Bewegungen ihres Herrn aufmerksam verfolgt hat, weiß, daß ihr Dienst beginnt. Würdevoll postirt sie sich zu Häupten ihres Gebieters. Wider menschliches Erwarten wird aus dem projectirten ‚Nicken‘ unseres Bruder Studio ein solider Schlaf des Gerechten. Furchtlos und treu hält der Engländer die Fahnenwacht. –
Mittlerweile brummen die Kirchthürme zwei Uhr Mittags, und die schrille Hôtelglocke wird krampfhaft geläutet: das Zeichen für den Beginn der Table d’hôte. Die Fremdenzimmer des ‚Löwen‘ entsenden ihr Tagescontingent an Damen und Herren in den untadelhaftesten Toiletten in den Speisesaal. Aus der Stadt finden sich die ‚Abonnenten‘ ein, als da sind der Herr Obertribunalsrath X., der Herr Major Y., der Herr Hofopernsänger Z. und ähnliche Herrschaften von Distinction. Mißbilligende Blicke streifen den harmlosen Schläfer in der Ecke. Zuletzt betritt Papa Lehnert die ‚prangende Halle‘, um mit dem Anstande eines castilianischen Granden dem aufreibenden Amte des Präsidenten seiner Mittagstafel vorzustehen. Gemessen, aber wohlwollend gleitet sein Feldherrnblick über den weiten Saal. ‚Sieh’ da, einer von unsern braven Göttingern!‘ Aber schon im nächsten Momente verfinstern sich seine Züge, und seine Stirn legt sich in drohende Falten. ‚Ich glaube gar, der junge Herr schläft? – Bei Gott, er schläft. Hier, in meinem Speisesaale – während der Table d’hôte. Nein, da hört doch Verschiedenes auf. Jean!‘
‚Herr Lehnert?‘
‚Wecken Sie sofort den Herrn dort auf dem Sopha!‘
Gehorsam tänzelt der Herr Oberkellner, die Serviette unter dem Arme, auf den Schläfer zu. Als er sich ihm bis aus fünf Schritte genähert hat, richtet sich die Dogge drohend empor. Wie das Grollen des fernen Donners rollt es durch die geschlossenen Zähne:
‚Rrrrrrr ...‘
Erschrocken taumelt der Herr Oberkellner zurück, unschlüssig bald seinen Principal, bald den Hund anglotzend.
‚Schämen Sie sich, Jean! Sie sind ein Feigling. Ich muß also wohl selbst ...‘
‚Rrrrrrr ...‘
Auch der ‚Hessische Löwe‘ hält es für gerathen sich vor Alt-Englands offenbarer Uebermacht vorsichtig nach rückwärts zu concentriren. Aber auf seiner Stirn wird eine feine, röthlich schimmernde Ader sichtbar. ‚Scandalös!‘ zischt er halblaut durch die Zähne. ‚Vor meinen sämmtlichen Gästen! ... Scheren Sie sich hinaus, Jean! Im Hofe oder im Stalle wird Christian zu finden sein, er soll hereinkommen, auf der Stelle.‘
Der Hausknecht erscheint.
‚Christian, dort drüben aus dem Sopha ist ein Herr eingeschlafen, ein Student. Wecke ihn sofort!‘
Christian wischt sich die rothen Fäuste an einer fast ebenso rothen Hausknechtsschürze ab und steuert ziemlich beherzt auf den ominösen Tisch los.
‚Rrrrrrr,‘ sagt die Dogge, der offenbar das Ding mit der Zeit langweilig wird. Ihre funkelnden Augen spielen ins Grünliche; sie schreitet dem unberufenen Attentäter, der den Schlaf ihres Gebieters morden will, schlachtenmuthig ein paar Schritte entgegen. Das riesige Thier scheint in der That einige Vorkenntnisse von Kriegskunst zu besitzen. Es weiß, daß man unter Umständen die Vertheidigung eines Platzes durch Offensivstöße führt, und ist offenbar entschlossen, nunmehr seinerseits zum Angriff überzugehen.
‚Nein,‘ meint der verständige Knecht des Hauses, indem er, den Hund scharf im Auge behaltend, vorsichtig zurücktritt, ‚nein, hier ist Nichts zu machen. Ich kenne das. Es ist ein richtiger Engländer. Nein, hier ist absolutemang Nichts zu machen.‘
Inzwischen bilden sämmtliche Tischgäste, Herren wie Damen, in respectvoller Entfernung vom Kriegsschauplatze eine in zwei Parteien gespaltene Corona. Die Einen ärgern sich wüthend; die Andern schütteln sich vor Lachen. An der Spitze der Letzteren steht der Obertribunalsrath, ein jovialer alter Herr. Papa Lehnert knirscht vor Grimm mit den Zähnen und läuft in gelinder Verzweiflung auf und nieder.
‚Herr Lehnert,‘ docirt der wackere Christian fortfahrend, ‚ich sage Ihnen, ich kenne das. Als ich bei den Husaren stand, in Fulda, da hatte unser Rittmeister auch so eine Bestie. Nur daß diese hier noch ein hübsch Theil größer und stärker ist. Die Sorte geht auf den Mann, mir nichts, dir nichts. – Ja woll, Sie haben ganz recht, ich bin hier der Hausknecht, und Sie sind der Herre. Wenn Sie mir ’was befehlen, so muß ich gehorchen, denn so steht’s in unserm Contract. Aber davon, daß ich mir auf Ihren Befehl die Gurgel muß abreißen lassen, – hören Sie, – davon schreibt Paulus Nichts an die Corinther. Na, Nichts für ungut, ich gehe wieder in den Stall und will den Pferden aufschütten. Allerseits wohl zu speisen, meine Herrschaften!‘ – –
Die Sonne steht schon ziemlich tief; an die Stelle der tropischen Mittagsgluth ist eine verhältnißmäßige Kühle getreten. Es ist fünf Uhr Nachmittags. Bruder Studio erwacht aus seinem vierstündigen Schlaf sichtlich erquickt – er orientirt sich. Die Table d’hôte ist natürlich lange vorüber, aber an der weißgedeckten Tafel sitzt hinter einer weitbauchigen Terrine von grünem Glas ein halbes Dutzend älterer und jüngerer Herren in lebhafter Unterhaltung, Jünger Mercur’s, Geschäftsreisende in Wein und Rohtabak. Was sie trinken, ist Ananasbowle; was sie sich erzählen, sind Anekdoten von mehr oder weniger gemeinplätzlicher Färbung. Es wird wirklich die höchste Zeit, aufzubrechen. Langsam erhebt sich der Göttinger und verläßt, von der Dogge begleitet, die gastliche Halle. Im Hofe hält Christian den Braunen gesattelt und gezäumt in Bereitschaft, nimmt grinsend ein reichlich bemessenes Trinkgeld (die einzige baare Auslage, die der ‚Löwe‘ erfordert) in Empfang, und zwei Minuten später sind Roß, Hund und Reiter in der gegenüberliegenden Straße verschwunden.
Wie von drückendem Alp befreit, athmet das gesammte Hôtelpersonal auf. ‚Gottlob, daß sie fort sind! ’s war wirklich geradezu lebensgefährlich. Hol’ ihn der Geier, den infamen Köter. ....‘
Eine reichliche Viertelstunde mag verstrichen sein, als plötzlich in der Hausflur des ‚Löwen‘ ein schreckhafter Lärm hörbar wird. Man läuft; man schreit:
‚Jean, George, Gertrud, Christian! Geschwind, geschwind! Da kommt sie schon wieder, die verwünschte Dogge, da ... dort drüben.... Die Hausthür zu, um Himmelswillen!‘
Mit vereinten Kräften wird die massive Thür in’s Schloß geworfen und zu vermehrter Sicherheit mit dem nächsten besten Hausgeräth verbarricadirt. Halb neugierig, halb erschrocken stürzen die Herren Weinreisenden an die Fenster, um dieselben mit dem Instinct drohender Gefahr schon in der nächsten Secunde hermetisch zu verschließen.
Denn sie ist es wirklich.
Quer über den weiten Platz galoppirt in mächtigen Sätzen die Dogge und steuert geradewegs auf das Portal des ‚Löwen‘ los. Zwei wuchtige Pranken fallen dröhnend gegen die Hausthür. Sie giebt nicht nach; sie ist offenbar verschlossen. Fatal, sehr fatal! Ein kurzer Augenblick der Ueberlegung. Aber schon im nächsten Moment stürzt das Thier, rasch entschlossen, auf den freien Platz zurück, markirt durch Augenmaß eine Distance von etwa fünfzehn Schritt, nimmt einen gewaltigen Anlauf und saust, wenn nicht mit der Grazie, so doch mit der Bravour einer [306] Circusheldin, die durch papierbeklebte Reifen springt, durch das verschlossene Fenster in den wohlbekannten Saal. Klirrend fallen links und rechts die zerbrochenen Glasscheiben zur Erde. Bestürzt stieben die Herren von der Ananasbowle aus einander.
Von Kopf und Schnauze des Engländers rieselt in Bächen das rothe Blut, aber er achtet dessen nicht, stürzt auf das bewußte Sopha zu und wühlt und kratzt emsig mit den Vordertatzen in den Polstern. Hier liegt nichts. Eine Idee scheint ihm zu kommen: vielleicht unter dem Kanapee? Mit Mühe zwängt er den dicken Schädel in den schmalen Spalt ... richtig, da liegt sie. Triumph, Triumph des Scharfsinns! Schnappend packt er die wohlbekannte Reitpeitsche seines Herrn mit den Zähnen; ein Blick stolzer Befriedigung ob des glücklich Vollbrachten streift die sich scheu in den Hintergrund drückenden Herrschaften; abermals ein tüchtiger Anlauf – und Türk stürmt, die Ohren einkneifend, durch das nächste verschlossene Fenster in’s Freie. Klirrend fallen links und rechts die zerbrochenen Glasscheiben zur Erde. Nur allmählich gewinnen die Herren von der Ananasbowle ihre Fassung wieder. –
Auf der nächsten Rechnung, die der ‚Löwe‘ dem Herrn Studiosus hochachtungsvollst überreichte, figurirte ein extraordinärer, dem Empfänger nicht sofort erklärlicher Posten von sechs Thalern fünfzehn Silbergroschen.
‚Ausgelegt für den Glaser,‘ lächelte Jean verständnißinnig.
Vergangenen Herbst, auf der Rückkehr aus dem Seebade, führte mein Weg mich über Kassel, das ich seit sechszehn Jahren nicht gesehen hatte. Natürlich suchte ich vor Allem den ‚Hessischen Löwen‘ auf. Zwar, das Gebäude selbst stand noch, aber es diente anderweiten Zwecken. Irgend eine Behörde, wenn ich nicht irre, war darin untergebracht. Verstimmt ließ ich mich in einer unweit gelegenen Weinstube nieder. Ich erkundigte mich nach dem Papa Lehnert.
‚Todt, lange todt!‘ hieß es.
Der ‚Hessische Löwe‘ zu Kassel gehört heute zu den verwehten Stätten deutscher Studentenlust. Wehmüthig ein „Sic transit“ recitirend, verließ ich noch selbigen Tags die ehemalige kurfürstliche Haupt- und Residenzstadt.“
„Und Türk?“
„O Madame, auch Türk ist längst todt und begraben. Er starb etwa ein Jahr nach der eben erzählten kleinen Begebenheit. Sein Ende war ein tragisches.“
„Sie erschrecken mich. Doch nicht Selbstmord?“
„Fürchten Sie Nichts, meine Gnädigste! Türk hat sich nicht so weit vergessen, Tatze an sich zu legen. Dazu besaß er zu viel Sittlichkeit des Charakters. Nichtsdestoweniger war sein Ende ein unnatürliches. Er fiel im Zweikampf.“
„Im Zweikampf?“
„Ja, Madame. Studentische Duelle, oder richtiger ausgedrückt, Mensuren waren damals bei uns an der Tagesordnung. Die Herren Corpshunde verfehlten nie, die edlen Waffenspiele durch ihre Gegenwart zu verherrlichen. Es war ein herbstlich-klarer Octobermorgen, und wieder einmal kreuzten sich die akademischen Klingen in heißem Kampf. Wir Blauen fochten mit Erbitterung auf Schläger und krumme Säbel gegen die verhaßten Schwarzen. Türk saß auf seinem gewöhnlichen Platz auf dem Fenstersims, bald auf die belebte Straße behäbig hinausblinzelnd, bald die Kampfspiele im Saale mit Kennermiene beobachtend. Schon waren drei ‚Suiten‘ mehr oder weniger blutig ausgefochten, und die Reihe kam an mich.
‚Silentium für einen Gang Schläger bis zur Abfuhr!‘
‚Bindet die Klingen!‘
‚Sind gebunden!‘
‚Los!‘
Hageldicht fallen die Hiebe. Schon ‚sitzen‘ hüben wie drüben ein paar ‚Blutige‘, als plötzlich die helle Stimme des gegnerischen Secundanten kurz und präcis durch den Saal schallt:
‚Halt!‘
‚Warum halt?‘
‚Klinge gesprungen!‘
In der That fehlt der Klinge meines Gegners die Spitze in der Länge von zwei bis drei Zoll. Man forscht nach dem abgesprungenen Stück. Es ist nirgends zu entdecken. Während eine frische Klinge eingezogen wird, wende ich von ungefähr den Blick nach dem Fenster. Ich bemerke, wie Türk von dem Sims langsam zur Erde niedergleitet. Wir eilen auf ihn zu, aber schon legt sich das mächtige Thier auf die Seite. Auf seiner breiten weißen Brust wird ein einziger rother Tropfen sichtbar. Einmal noch schaut der Engländer mir voll in’s Auge, wie um von mir Abschied zu nehmen; dann streckt er die Glieder – er ist todt. Die abgesprungene Klinge war ihm in’s Herz gedrungen. –
Ganz Göttingen beklagte Türk und sein jähes Ende. Ich selbst war nahezu untröstlich. Sein Begräbniß war einfach, aber würdig. Zwei gekreuzte Schlägen legten wir auf seinen Sarg.“
Vor der Charlottenburger Schloßwache. (Mit Abbildung S. 303.) Was „ein strammer Dienst“ für den ein-, zwei- oder dreijährigen Vaterlandsvertheidiger bedeutet, das weiß Jeder, der in dem ersten Militärstaate der Welt des Königs und Kaisers Rock getragen, das ahnt selbst, wer nur einmal einen verstaubten, müde schlendernden Zug Soldaten von halbtägiger Uebung heimkehren sah. Dafür pflegt auch nächtliche Schlaflosigkeit nicht eben dasjenige Uebel zu sein, an dem ein Soldat im Dienste häufig leidet; wie Hunger der beste Koch ist, so ist ihm Uebermüdung die beste Amme. Und wie behaglich, wenn ein Tag kommt, den er in leichtem Dienst oder in gänzlicher Freiheit bequem verdehnen oder sonst nach Herzenswunsch ausfüllen darf! Wer will es ihm verdenken, wenn er etwa mit einiger Schadenfreude weniger glückliche Cameraden, das Roß zwischen den Schenkeln oder mit dem „Kuhfuß“ nebst „Affen“ belastet, bei sich vorüberziehen sieht! Harmlos genug ist diese Schadenfreude, denn er weiß nur zu gut, daß er vielleicht anderen Tags schon die umgekehrte Rolle spielen dürfte.
Etwas von jenem Behagen empfindet sicher das vierblätterige Gardekürassier-Kleeblatt auf unserem Bilde, das seitab von der uniformenüberfüllten aufregenden Hauptstadt in dem idyllischen Charlottenburg zum Dienste in der Schloßwache commandirt ist. Hier wird selbst der „Dienst“ idyllisch, und in voller Gemüthlichkeit, auf das Erscheinen alarmirender Epauletten sichtlich sehr wenig vorbereitet, ergötzen die breiten behäbigen Gardereiter sich im kindlichen Spiele mit einem muthmaßlich alten Bekannten aus dem Hundegeschlechte, der, wie es scheint, zur Nachbarschaft gehört. Wohliger Schatten streckt sich kühlend von der Wache her über die Gesellschaft, während im Hintergrunde über den hier nie fehlenden Spaziergängern die Sonnengluth brütet. Das hübsche „militärische Idyll“ ist die Arbeit eines Schülers Paul Thumann’s, von dessen schönem Talente wir schon früher Gelegenheit hatten, unseren Lesern Proben zu bringen.
Der größte Meister der idealen Landschaft ist todt! Die deutsche Kunst hat abermals Trauer anzulegen, und Weimar warf einen neuen Hügel auf bei den Gräbern seiner großen Todten. Friedrich Preller, der Vater, ist am 23. April, zwei Tage vor seinem vierundsiebenzigsten Geburtstage, in der Stadt seines siebenundvierzigjährigen Wirkens, gestorben.
Die „Gartenlaube“ hat dem Künstler das verdiente Denkmal schon im Leben gesetzt, als sie die Vollendung seines berühmtesten Werkes feierte, in dessen Aufbewahrung Leipzig und Weimar sich theilen: der „Odyssee-Landschaften“, die, in Wachsfarben auf Drahtgitterrahmen ausgeführt, das neue Museum in Weimar schmücken, während die sechszehn Cartons derselben zu den werthvollsten Zierden des städtischen Museums in Leipzig gehören. Vierzehn Jahre sind verflossen, seitdem wir diesen „Zögling Karl August’s“ in Bild und Wort unseren Lesern vorstellten, aber die Würdigung des „ersten deutschen Malers der historischen Landschaft“ war eine so vollständige, daß wir sie noch heute als ein Ehrenblatt auf das Grab des Meisters niederlegen können. Zu einer nochmaligen Besprechung dieses Musterwerkes der von dem großen Josef Anton Koch in Rom wiedererweckten idealen Richtung der Landschaftsmalerei veranlaßte uns das Erscheinen der A. Dürr’schen Prachtausgabe der Odyssee mit Preller’s Illustrationen in dem Artikel „Altgriechische Poesie in deutscher Kunst“.
Mit diesen Hinweisungen auf die Jahrgänge 1864 und 1871 der „Gartenlaube“ schließen wir uns der Trauer um den Todten und dem Preise seines Namens an, den Wunsch hinzufügend, daß es seinem Sohne, Friedrich Preller dem Jüngeren, gelingen möge, die hohe Stelle in der Kunst auszufüllen, die sein Vater verlassen hat.
Vermißt! Zum Sängerfeste nach Regensburg zog am 10. August des vorigen Jahres von Nürnberg auch der junge Conrad Maisch mit aus, ein Goldarbeiter, damals siebenzehneinhalb Jahre alt. Er wird als ein schlanker, aber kräftiger Bursche geschildert, mit dunkelbraunem Haare, ovalem Gesichte und braunen Augen. Er trug einen schwarzen Rock, dunkle Hosen und Weste, Strohhut mit Flor, am kleinen Finger einen goldenen Ring. Der junge Mensch ist bis heute von jener Sängerfestfahrt nicht zurückgekehrt; die arme Mutter, eine Wittwe, die eben erst ihren ältesten Sohn, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, zu Grabe geleiten mußte, lebt in banger Sorge um das Leben dieses zweiten Sohnes. Polizeiliche Nachforschungen sind bis jetzt erfolglos gewesen. Wir bitten unsere Leser an jenen Donaugestaden, der unglücklichen Mutter zu gedenken und uns von etwa auftauchenden Spuren des jungen Maisch schleunigst Mittheilung zu machen.
Beispiel zur Nachahmung. Unser Artikel über das „Germanische Nationalmuseum“ in Nürnberg (Jahrgang 1877, Seite 654.) hat einen Kreis unserer Leser zu San Jose in der Republik Costa-Rica zu dem Entschlusse bewogen, dieser patriotischen Gründung des alten Aufseß auf fünf Jahre eine jährliche Beisteuer von hundertfünfundzwanzig Mark zuzusichern. Die erste Sendung ist bereits eingetroffen und veranlaßt uns, den braven Landsleuten in Centralamerika unsern Dank und Gruß dafür zuzurufen.
A. M. in Sch. Der kürzeste Seeweg von Deutschland nach dem skandinavischen Norden führt von Rostock nach Nykjöbing auf Falster. Das äußerst bequem eingerichtete Schraubendampfschiff „Rostock“ macht die angedeutete Tour bis zum 3. Juni wöchentlich dreimal, von da ab bis 31. August täglich, mit Ausnahme der Sonntage. Es werden durchgehende Billets von Berlin, Hamburg und Rostock nach Kopenhagen und zurück ausgegeben. Die Linie Rostock-Nykjöping ist für das reisende Publicum jedem anderen Communicationswege nach dem Norden aus Gründen der Bequemlichkeit, wie der Oekonomie ohne Frage vorzuziehen.