Die Gartenlaube (1876)/Heft 44
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No. 44. | 1876. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
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„Wir wollen das lieber nicht erörtern“ sagte Nordeck resignirt. „Es mag ja eine innere, eine Naturnothwendigkeit sein, die Ihren Vater und Leo in den Streit getrieben hat, aber die gleiche Nothwendigkeit treibt mich zum Widerstande. Mein Bruder hat es freilich leichter als ich. Ihm haben Geburt und Familientradition von jeher nur einen Weg gezeigt, und er ist ihn gegangen, ohne Wahl, ohne Zwiespalt – mir ist beides nicht erspart geblieben. Ich vermag es nun einmal nicht, zwischen zwei feindlichen Parteien hin und her zu schwanken und beiden oder keiner anzugehören; ich muß einer Sache Freund oder Feind sein. Was mich die Wahl gekostet hat, danach fragt Niemand. Gleichviel, ich habe gewählt, und wo ich einmal stehe, da bleibe ich stehen. Leo wirft sich mit glühender Begeisterung in den Kampf für seine höchsten Ideale, getragen von der Liebe und Bewunderung der Seinigen; er weiß, daß sie täglich für sein Leben zittern, und für ihn ist die Gefahr nur ein Reiz mehr bei dem Kampfe – ich stehe allein auf meinem Posten, der mir vielleicht den Tod durch Meuchelmord und sicher den Haß einträgt, den Haß von ganz Wilicza, von Mutter und Bruder und auch von Ihnen, Wanda. Die Rollen sind doch wohl ungleich vertheilt zwischen uns Brüdern. Aber ich bin ja nie durch Liebe und Zuneigung verwöhnt worden. Ich werde das auch jetzt ertragen. Also hassen Sie mich immerhin, Wanda! Vielleicht ist es das Beste für uns Beide.“
Er hatte inzwischen die bezeichnete Richtung eingeschlagen und hielt jetzt kurz vor dem Eingange des Dorfes, das wie ausgestorben dalag. Sich von seinem Sitze schwingend, wollte er der jungen Gräfin die Hand zum Aussteigen bieten, aber sie lehnte schweigend ab und verließ allein den Schlitten. Ueber ihre festgeschlossenen Lippen kam auch nicht ein einziges Wort des Abschiedes. Sie neigte nur stumm das Haupt zum Gruße.
Waldemar war zurückgetreten. In seinem Antlitze erschien wieder der Zug finsteren Schmerzes, und seine Hand, welche die Zügel hielt, ballte sich krampfhaft – die Abweisung verletzte ihn augenscheinlich auf das Tiefste.
„Ich werde das Gefährt morgen zurücksenden,“ sagte er kalt und fremd, „mit meinem Danke – wenn Sie ihn nicht etwa auch ablehnen, wie eben diesen leichten Dienst.“
Wanda schien mit sich zu kämpfen; sie hob bereits den Fuß zum Gehen, zögerte aber noch einen Augenblick.
„Herr Nordeck.“
„Sie befehlen, Gräfin Morynska?“
„Ich – Sie müssen mir versprechen, die Gefahr nicht wieder so herauszufordern, wie Sie es heute thun wollten. Sie haben Recht – der Haß von ganz Wilicza gilt jetzt Ihnen; machen Sie es ihm nicht so leicht, Sie zu treffen – ich bitte Sie darum.“
Eine flammende Röthe schlug in dem Gesichte Waldemar’s bei diesen Worten auf. Er warf einen Blick auf das ihrige, nur einen einzigen, aber alle Bitterkeit schwand davor.
„Ich werde vorsichtiger sein,“ entgegnete er leise.
„So leben Sie wohl!“
Sie wandte sich um und schlug den Weg nach dem Dorfe ein. Nordeck blickte ihr nach, bis sie hinter einem der nächsten Gehöfte verschwand, dann schwang er sich wieder in den Schlitten und jagte in der Richtung nach Wilicza hin, die ihn bald wieder in den Wald führte. Er hatte die Waffe aus der Brusttasche genommen und neben sich gelegt, und während er mit gewohnter Sicherheit die Zügel führte, spähte sein Auge scharf zwischen den Bäumen umher. Der trotzige unbeugsame Mann, der keine Furcht kannte, war auf einmal so besonnen und vorsichtig geworden – er hatte es ja versprochen und er wußte, daß es ein Wesen gab, das jetzt auch für sein Leben zitterte.
Rakowicz, der Wohnsitz des Grafen Morynski, konnte sich in keiner Weise mit Wilicza messen. Ganz abgesehen davon, daß die Herrschaft fast um das Zehnfache größer war und allein drei oder vier Pachtgüter von dem Umfange der Morynski’schen Besitzung einschloß, fehlten dieser letzteren auch die Waldungen und das prachtvolle Schloß mit seiner Parkumgebung. Rakowicz lag nur eine Stunde von L. entfernt in offener Gegend und unterschied sich wenig oder gar nicht von den übrigen kleineren Edelsitzen der Provinz.
Seit der Abreise ihres Vaters lebte Gräfin Wanda allein auf dem Gute. So selbstverständlich unter anderen Umständen ihre Uebersiedelung nach Wilicza gewesen wäre, so natürlich erschien es jetzt, daß die Tochter des Grafen Morynski das Schloß mied, dessen Herr eine solche Stellung zu den Ihrigen einnahm, wie Nordeck es that. Schon das Bleiben der Fürstin gab Anlaß genug zur Verwunderung. Diese kam, wie schon erwähnt, sehr oft nach Rakowicz, um ihre Nichte zu sehen und war auch jetzt auf einige Tage Gast derselben. Das Zusammentreffen Wanda’s mit Waldemar blieb ihr vorläufig noch verschwiegen, da sie erst am Abende nach der Rückkehr von jener Fahrt angekommen war.
[732] Am zweiten Tage nach ihrer Ankunft, in den Vormittagsstunden, saßen die beiden Damen in dem Zimmer der jungen Gräfin. Sie hatten soeben Nachrichten von den Ihrigen empfangen und hielten die Briefe geöffnet in der Hand, aber diese schienen wenig Erfreuliches zu bringen, denn Wanda sah sehr ernst aus, und die Miene der Fürstin war finster und sorgenvoll, als sie endlich die Zuschriften ihres Bruders und Leo’s aus der Hand legte.
„Wieder zurückgeworfen!“ sagte sie mit unterdrückter Bewegung. „Sie waren schon bis an das Herz des Landes vorgedrungen, und nun stehen sie wieder an der Grenze. Noch immer keine Entscheidung, kein nennenswerther Erfolg! Man möchte verzweifeln.
Wanda ließ gleichfalls das Blatt sinken, das sie in der Hand hielt. „Der Vater schreibt in sehr düsterem Tone,“ entgegnete sie. „Er reibt sich fast auf in dem ewigen Kampfe mit all den widerstreitenden Elementen, die er vergebens zusammenzuhalten sucht. Alles will befehlen, Niemand gehorchen; die Uneinigkeit wächst unter den Führern – was soll noch daraus werden!“
„Dein Vater läßt sich allzu sehr von dem düsteren Zuge beherrschen, der nun einmal in seinem Charakter liegt,“ beruhigte die Fürstin. „Es ist doch am Ende natürlich, daß ein Heer von Freiwilligen, das auf den ersten Ruf zu den Waffen eilt, nicht die Ordnung und Disciplin einer wohlgeschulten Armee haben kann. Das will gelernt und geübt sein.“
Wanda schüttelte trübe das Haupt. „Der Kampf währt nun schon drei Monate und auf jedes glückliche Gefecht haben wir drei Niederlagen zu verzeichnen. Jetzt verstehe ich erst die schmerzliche Bewegung des Vaters beim Abschiede; sie galt nicht der Trennung allein. Er ging schon damals ohne die rechte Hoffnung des Sieges.“
„Bronislaw hat von jeher Alles im Leben zu schwer genommen,“ beharrte die Fürstin. „Ich hoffte mehr von Leo’s steter Gegenwart und seinem Einfluß auf den Oheim. Er hat noch die volle Spannkraft und Begeisterung der Jugend; ihm heißt jeder Zweifel an dem Siege unserer Sache Verrath. Ich wollte, er konnte seine unerschütterliche Siegeszuversicht auch den Anderen mittheilen – es thut ihnen Noth.“
Sie zog den Brief ihres Sohnes wieder hervor und sah nochmals hinein. „Leo wird trotz alledem glücklich sein,“ fuhr sie fort. „Mein Bruder hat endlich seinen Bitten nachgegeben und ihm ein selbstständiges Commando anvertraut. Er steht mit seiner Schaar nur zwei Stunden von der Grenze entfernt – und die Mutter und die Braut dürfen ihn nicht auf eine einzige Minute sehen.“
„Um Gotteswillen, bringe Leo nicht auf solche Gedanken!“ fiel Wanda ein. „Er wäre im Stande, das Unsinnigste, Tollkühnste zu begehen, um ein Wiedersehen möglich zu machen.“
„Das wird er nicht,“ versetzte die Fürstin ernst. „Er hat strengen Befehl, nicht von seinem Posten zu weichen, und also bleibt er. Aber was schreibt er Dir denn eigentlich? Der Brief an mich ist sehr kurz und flüchtig; der Deinige scheint desto mehr zu enthalten.“
„Er enthält sehr wenig,“ erklärte die junge Gräfin mit sichtbarem Unmuthe. „Kaum das Nothwendigste von dem, was uns, die wir unthätig auf die Entscheidung harren müssen, das Wichtigste ist. Leo zieht es vor, mir seitenlang über seine Liebe zu schreiben, und findet mitten im Toben des Krieges noch Zeit genug, sich und mich mit seiner Eifersucht zu quälen.“
„Ein seltsamer Vorwurf in dem Munde einer Braut!“ bemerkte die Fürstin mit leisem Spotte. „Eine Andere würde stolz und glücklich sein, wenn sie selbst in solchen Zeiten noch alle Gedanken ihres Verlobten beherrscht.“
„Es handelt sich um einen Kampf auf Leben und Tod, und da verlange ich Thaten vom Manne – nicht Liebesschwüre,“ sagte Wanda energisch.
Die Stirn der Fürstin runzelte sich. „Er wird es an Thaten nicht fehlen lassen jetzt, wo ihm endlich die Gelegenheit dazu geboten wird – oder meinst Du, daß dazu nothwendig die Kälte und Schweigsamkeit gehört?“
Wanda erhob sich und trat an das Fenster; sie wußte, wohin die Worte zielten, aber sie konnte und wollte nicht fortwährend jenen durchdringenden Augen Rede stehen, die stets mit so unerbittlichem Forschen auf ihrem Antlitze ruhten, als wollten sie die geheimsten Regungen des Inneren an das Licht ziehen. Die Fürstin hielt auch ihrer Nichte gegenüber an dem Grundsatze fest, den sie bei Waldemar beobachtete. Sie hatte sich einmal ausgesprochen, und damit ließ sie es genug sein. Wiederholungen waren in ihren Augen ebenso nutzlos wie gefährlich. Seit jenem Abende, wo sie es für nothwendig hielt, der jungen Gräfin „die Augen zu öffnen“, war kein Wort zwischen ihnen über diesen Gegenstand gefallen, aber Wanda wußte nur zu gut, daß sie seitdem eine unermüdliche Beobachterin hatte, daß jedes ihrer Worte, ja jeder ihrer Blicke vor Gericht gestellt wurde, und das raubte ihr oft genug alle Sicherheit im Verkehre mit ihrer Tante.
Diese hatte inzwischen die Briefe ihres Bruders und Sohnes zusammengefaltet. „Aller Wahrscheinlichkeit nach haben wir also in den nächsten Tagen Gefechte unmittelbar an der Grenze zu erwarten, begann sie wieder. „Was könnte uns dabei Wilicza sein, und was ist es uns jetzt!“
Die junge Gräfin wandte sich wieder um und richtete die dunklen Augen auf die Sprechende. „Wilicza?“ wiederholte sie. „Tante, ich begreife ja die Nothwendigkeit, die Dich dort festhält, aber ich wäre der Aufgabe nicht gewachsen. Ich könnte jedes Opfer bringen, nur das eine nicht, Tag für Tag einem Menschen so gegenüber zu stehen, wie Du jetzt Deinem Sohne.“
„Das hält auch so leicht kein Anderer aus, als wir Beide,“ sagte die Fürstin mit bitterer Ironie. „Ich gebe Dir das Zeugniß, Wanda, daß Du Recht hattest mit Deinem Urtheile über Waldemar. Ich habe mir den Kampf mit ihm leichter gedacht. Anstatt ihn zu ermatten, bin ich jetzt nahe daran, zu weichen. Er ist mir mehr als gewachsen.“
„Er ist Dein Sohn,“ warf Wanda ein. „Das vergißt Du immer wieder.“
Die Fürstin stützte finster den Kopf in die Hand. „Er sorgt schon dafür, daß ich es nicht vergesse, zeigt er mir doch täglich, was diese vier Jahre aus ihm gemacht haben. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß er sich mit einer so unglaublichen Kraft aus der Rohheit und Verwilderung seiner Jungend emporarbeiten würde. Er hat sich selbst bezwingen gelernt; darum zwingt er auch alles Andere, trotz Haß und Widerstand. Wird es mir doch schon schwer, meinen Befehlen die alte Geltung zu verschaffen, sobald sein Wille sich dagegen setzt, und doch sind die Leute mir unwandelbar ergeben. Aber sie haben ihn fürchten gelernt; er imponirt ihnen mit seiner unbeugsamen Energie, mit seinem Gebietertone. Sie scheuen sein Auge mehr, als sie je das meinige gefürchtet haben. – Ich wollte, Nordeck hätte mir den Knaben gelassen – ich hätte ihn für uns erzogen, und er wäre uns vielleicht mehr geworden, als nur der Herr von Wilicza. Jetzt gehört er einzig dem Volke an, dem sein Vater entstammte, und er wird nicht weichen aus jenen Reihen – darauf kenne ich ihn – zeigte man ihm auch das Höchste auf unserer Seite. Es war ein Unglück, daß ich ihm nie habe Mutter sein können. Das rächt sich jetzt an uns Beiden.“
Es lag etwas von einer Selbstanklage in diesen Worten; sie hatten einen beinahe schmerzlichen Klang. Der Ton war ganz neu in dem Munde der Fürstin, wenn sie von ihrem ältesten Sohne sprach. All die weicheren Regungen, die bei ihr so selten die Oberhand gewannen, galten sonst ausschließlich ihrem Jüngsten. Auch jetzt schien sie diese Regungen gewaltsam von sich zu stoßen, denn sie erhob sich plötzlich und sagte abbrechend mit herbem Ausdrucke:
„Gleichviel, wir sind nun einmal Feinde und werden es bleiben. Das muß ertragen werden, wie so vieles Andere.“
Sie wurden unterbrochen; ein Diener trat ein mit der Meldung, der Haushofmeister von Wilicza sei soeben angelangt und begehre dringend seine Herrin zu sprechen. Die Fürstin sah auf.
„Pawlick? Dann ist etwas vorgefallen. Er soll eintreten, sogleich.“
Schon im der nächsten Minute trat Pawlick ein, der Diener des verstorbenen Fürsten Baratowski, der die fürstliche Familie in die Verbannung begleitet hatte, und jetzt den Posten eines Haushofmeisters in Wilicza versah. Der alte Mann schien erregt und eilig zu sein; dennoch versäumte er keine der gewöhnlichen Ehrfurchtsbezeigungen, als er sich seiner Gebieterin näherte.
„Laß nur, laß!“ wehrte diese ungeduldig ab. „Was bringst Du? Was ist vorgefallen in Wilicza?“
[733] „In Wilicza selbst nichts,“ berichtete Pawlick. „Aber auf der Grenzförsterei –“
„Nun?“
„Es hat dort wieder Plänkeleien mit dem Militär gegeben, wie schon öfter in der letzten Zeit. Der Förster und seine Leute haben den Patrouillen alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt, sie schließlich insultirt – es wäre beinahe zum offenen Kampfe gekommen.“
Ein Ausruf des heftigsten Unwillens entfuhr den Lippen der Fürstin. „Daß der Unverstand dieser Untergebenen doch immer und ewig unsere Pläne durchkreuzen muß! Gerade jetzt, wo Alles daran liegt, die Aufmerksamkeit von der Försterei abzuwenden, fordern sie die Beobachtung förmlich heraus. Habe ich Osiecki nicht befohlen, sich ruhig zu verhalten und auch seine Leute im Zaume zu halten? Es soll sofort ein Bote hinüber und ihm den Befehl nochmals mit aller Strenge einschärfen.“
Wanda war gleichfalls näher getreten. Die Grenzförsterei, die allgemein so genannt wurde, weil sie die letzte auf den Nordeck’schen Gütern war und kaum eine halbe Stunde von der Grenze entfernt lag, schien auch sie lebhaft zu interessiren.
„Herr Nordeck ist uns leider schon zuvorgekommen,“ fuhr Pawlick zögernd fort. „Er hat den Förster schon zweimal warnen und ihm Strafe androhen lassen; auf diesen neuen Vorfall hin schickte er ihm die Weisung, mit seinem ganzen Personale das Forsthaus zu räumen und nach dem von Wilicza überzusiedeln. Vorläufig soll einer der deutschen Inspectoren des Administrators an die Grenze, bis erst Ersatz geschafft ist –“
„Und was that Osiecki?“ unterbrach ihn die Fürstin hastig.
„Er weigerte sich geradezu zu gehorchen und ließ dem Herrn sagen, er sei auf der Grenzförsterei angestellt, und da werde er bleiben – wer ihn daraus vertreiben wolle, der möge es versuchen.“
Die Tragweite des eben berichteten Vorfalls mußte wohl größer sein als es den Anschein hatte. Das verrieth das Gesicht der Fürstin, in dem sich ein unverkennbarer Schrecken ausprägte. Es vergingen einige Secunden, bevor sie antwortete.
„Und was hat mein Sohn beschlossen?“
„Herr Nordeck erklärte, er werde heute Nachmittag selbst hinüberreiten.“
„Allein?“ fiel Wanda ein.
Pawlick zuckte die Achseln. „Der Herr reitet ja stets allein.“
Die Fürstin schien die letzten Worte kaum zu hören – sie fuhr aus ihrem Nachsinnen empor.
„Sorge dafür, Pawlick, daß man sofort anspannt! Du begleitest mich nach Wilicza zurück. Ich muß zur Stelle sein, wenn sich da irgend etwas vorbereitet. Geh!“
Pawlick gehorchte. Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, als auch schon Gräfin Morynska an der Seite ihrer Tante stand.
„Hast Du es gehört, Tante? Er will nach der Grenzförsterei.“
„Nun ja,“ erwiderte die Fürstin kalt. „Was weiter?“
„Was weiter? Meinst Du, daß Osiecki sich fügen wird?“
„Nein! Er darf es auch unter keiner Bedingung. Seine Försterei ist augenblicklich das Wichtigste für uns, doppelt wichtig für das, was in den nächsten Tagen bevorsteht. Wir müssen dort zuverlässige Leute haben. Die Unsinnigen, uns gerade jetzt diesen Posten zu gefährden!“
„Sie haben ihn uns verloren!“ rief Wanda hastig. „Waldemar wird sich den Gehorsam erzwingen.“
„Das wird er in diesem einen Falle wohl nicht thun,“ versetzte die Fürstin. „Er vermeidet jeden Gewaltact. Ich weiß, daß der Präsident ihn eigens darum gebeten und daß er sein Versprechen gegeben hat. Man fürchtet in L. nichts so sehr als eine Revolte auf diesseitigem Gebiet. Osiecki aber wird und darf nur der Gewalt weichen, und dazu schreitet Waldemar nicht. Du hörst es ja, er will allein hinüber.“
„Was Du doch nicht zugeben wirst?“ fiel die junge Gräfin ein. „Du willst doch nach Wilicza, um ihn zu warnen, ihn zurückzuhalten?“
Die Fürstin sah ihre Nichte groß an. „Was fällt Dir ein? Eine Warnung aus meinem Munde würde Waldemar ja Alles verrathen und ihm sofort die Ueberzeugung geben, daß man auf der Försterei mir gehorcht und nicht ihm. Er würde dann unerbittlich auf der Entfernung Osiecki’s bestehen, die jetzt vielleicht noch zu verhindern ist und die überhaupt verhindert werden muß, koste es was es wolle.“
„Und Du glaubst, Dein Sohn werde es dulden, daß man ihm offen den Gehorsam verweigert? Es ist das erste Mal, daß dergleichen in Wilicza geschieht. Tante, Du weißt es, dieser wilde Mensch, dieser Osiecki ist zu Allem fähig, und seine Leute sind nicht besser als er.“
„Auch Waldemar weiß das,“ versetzte die Fürstin mit vollkommener Ruhe, „und deshalb wird er sich hüten, sie zu reizen. Er hat die Besonnenheit ja jetzt so trefflich gelernt; er läßt sich nie mehr fortreißen, wo er sich wirklich beherrschen will, und seinen Untergebenen gegenüber will er das immer.“ „Sie hassen ihn,“ sagte Wanda mit bebenden Lippen. „Auf dem Wege nach der Grenzförsterei hat ihn schon einmal eine Kugel gefehlt. Die zweite könnte besser treffen.“
Die Fürstin stutzte. „Woher weißt Du das?“
„Einer von unseren Leuten brachte es von Wilicza mit herüber,“ entgegnete Wanda schnell gefaßt.
„Ein Märchen!“ meinte die Fürstin verächtlich. „Wahrscheinlich von dem ängstlichen Doctor Fabian erfunden. Er wird einen harmlosen Schuß im Walde, der irgend einem Wilde galt, für einen Mordanfall auf seinen geliebten Zögling gehalten haben. Er zittert so fortwährend für ihn. Waldemar ist mein Sohn, und das schützt ihn vor jedem Angriff.“
„Wenn die Leidenschaften erst einmal gereizt sind, schützt es ihn nicht mehr,“ rief Wanda, die sich wieder unvorsichtig genug fortreißen ließ. „Du hattest dem Förster auch befohlen, sich ruhig zu verhalten. Du siehst, wie das respectirt wird.“
Die Fürstin richtete das Auge drohend auf ihre Nichte.
„Wäre es nicht besser, Du spartest diese übertriebene Sorge für die Unsrigen auf? Ich dächte, da wäre sie eher am Platze. Du scheinst ganz zu vergessen, daß Leo sich täglich solchen Gefahren aussetzt.“
„Und wenn wir das wüßten, und es läge in unserer Macht, ihn zu retten, wir würden nicht einen Augenblick zögern, an seine Seite zu eilen,“ brach die junge Gräfin leidenschaftlich aus. „Und Leo ist, wo er auch sein mag, immer an der Spitze der Seinigen. Waldemar steht allein gegen jene wilde zügellose Bande, die Du selbst zum Haß gegen ihn gereizt hast und die sich nicht bedenken wird, die Waffen gegen ihren eigenen Herrn zu kehren, wenn er sie herausfordert.“
„Ganz recht, wenn er sie herausfordert. Er wird aber vernünftig genug sein, das nicht zu thun, denn er kennt die Gefahr, und in Zeiten wie die jetzigen spielt man nicht damit. Thut er es dennoch, wagt er trotz alledem einen Gewaltstreich, nun gut – auf sein Haupt die Folgen!“
Wanda bebte leise zusammen vor dem Blicke, der diese Worte begleitete. „Das sagt eine Mutter?“
„Das sagt eine tiefbeleidigte Mutter, die der Sohn auf’s Aeußerste getrieben hat. Zwischen Waldemar und mir giebt es nun einmal keinen Frieden, so lange wir beide auf dem gleichen Boden stehen. Wo ich nur den Fuß hinsetze, da finde ich ihn auf meinem Wege; wo ich einzugreifen versuche, da steht er und wehrt mir. Welche Pläne hat er uns schon durchkreuzt! Was haben wir schon opfern und aufgeben müssen um seinetwillen! Er hat es dahin gebracht, daß wir uns gegenüber stehen wie zwei Todfeinde, er allein – so mag er allein tragen, was diese Feindschaft auf ihn herabzieht.“
Ihre Stimme hatte einen eisigen Klang. Es war auch nicht ein Hauch mehr von Muttergefühl darin, von jener Weichheit, die sich vorhin einen Moment lang geregt hatte. Jetzt sprach nur die Fürstin Baratowska, die nie eine Beleidigung verzieh oder vergaß und die man nicht tödtlicher beleidigen konnte, als wenn man ihr die Herrschaft aus den Händen wand. Waldemar hatte sich dessen schuldig gemacht, und ihm vergab das die Mutter am wenigsten.
Sie war im Begriffe zu gehen, um sich für die Abreise fertig zu machen, als ihr Blick auf Wanda fiel. Diese hatte keine einzige Silbe geantwortet. Sie stand regungslos da, aber ihr Auge begegnete mit so düsterer Entschlossenheit dem der Fürstin, daß die letztere inne hielt.
„Eins möchte ich Dir doch noch in’s Gedächtniß rufen, ehe ich gehe,“ sagte sie, und ihre Hand legte sich schwer auf den Arm ihrer Nichte. „Wenn ich Waldemar nicht warne, so darf es [734] überhaupt Niemand thun – es wäre Verrath an unserer Sache. Was schrickst Du so zusammen vor dem Worte? Wie würdest Du es denn nennen, wenn dem Herrn von Wilicza schriftlich oder mündlich, durch die dritte oder vierte Hand, eine Nachricht zukäme, die ihm unsere Geheimnisse preisgiebt? Er würde vielleicht mit Bedeckung gehen, gehen aber würde er jedenfalls, um vor allen Dingen zu untersuchen, was die Warnung sagen will, sein eigenes Forsthaus nicht zu betreten, mit seinem Förster nicht zu sprechen, den er jetzt wegen eines Conflictes mit den Patrouillen zur Rede stellen will. Das würde uns die Grenzförsterei kosten. Wanda, die Morynski haben es bisher noch nicht zu bereuen gehabt, wenn sie die Frauen ihres Hauses zu Vertrauten ihrer Pläne machten. Noch hat sich keine Verrätherin unter diesen gefunden.“
„Tante!“ rief Wanda mit einem solchen Tone des Entsetzens, daß die Fürstin langsam ihre Hand von ihrem Arme zurückzog.
„Ich wollte Dir nur klar machen, was hier auf dem Spiele steht,“ fuhr sie fort. „Ich denke, Du wirst doch Deinem Vater in’s Auge sehen wollen, wenn er zurückkehrt. Wie Du Leo’s Blick Stand halten willst mit dieser Todesangst, die Dich jetzt verzehrt, und die Du vergebens zu verbergen suchst, das mußt Du mit ihm selber abmachen. Aber,“ hier brach die furchtbare innere Bewegung der stolzen Frau durch die erzwungene Kälte, „aber hätte ich je geahnt, daß meinem Sohne dieser Schlag droht, daß er ihm von Waldemar droht, ich hätte Leo’s unselige Liebe zu Dir aus allen Kräften bekämpft, statt sie zu begünstigen. Jetzt ist es zu spät für ihn – und auch für Dich; das hat mir diese Stunde gezeigt.“ –
Die Antwort blieb der jungen Gräfin erspart, denn jetzt kam Pawlick mit der Nachricht zurück, daß angespannt sei. Die Fürstin bedurfte nicht viel Zeit zu den Vorbereitungen. In zehn Minuten war sie reisefertig und bestieg den harrenden Schlitten. Der Abschied von ihrer Nichte war kurz und flüchtig; er fand in Gegenwart der Diener statt, und das vorhergehende Gespräch wurde nicht wieder berührt, aber Wanda verstand den Abschiedsblick, der dem ihrigen begegnete. Sie legte schweigend ihre feuchte, eiskalte Hand in die ihrer Tante, und die Fürstin schien zufrieden mit dem wortlosen Versprechen.
Gräfin Morynska war in das Zimmer zurückgekehrt. Sie hatte sich eingeschlossen, um einmal wieder frei aufzuathmen, aber es athmete sich nicht leicht mit dieser Bergeslast auf der Brust. Sie war endlich allein mit sich selber, aber auch mit ihrer Angst, die ihr ahnungsvoll die Gefahr zeigte, an welche die Mutter nicht glauben wollte. Freilich, der Instinct der Liebe gehörte dazu, und den hatte die Fürstin für ihren ältesten Sohn nie gehabt; der regte sich nur, wenn es sich um Leo handelte. Und hätte sie gewußt, daß jener Gang Waldemar’s Leben bedrohte, sie hätte ihn auch nicht mit einem Worte davon zurückgehalten, denn dieses Wort konnte ja ihre Parteiinteressen gefährden.
Wanda stand am Schreibtische, auf dem noch die Briefe ihres Vaters und Leo’s lagen. Eine kurze Warnung, nur ein paar Zeilen, auf das Papier geworfen und nach Wilicza gesendet, konnten Alles abwenden. Waldemar würde der Warnung folgen. Gleichviel, ob er es errieth oder nicht, von wem sie kam, er hatte ja versprochen, vorsichtiger zu sein, und kannte hinreichend die Stimmung auf seinen Gütern. Wenn er überhaupt noch ging, nahm er wenigstens hinreichende Begleitung mit sich, und dann wagte man sich nicht an ihn. Es konnte ihm ja nicht schwer werden, den Gehorsam zu erzwingen, sobald er sich nur entschloß, die Gewalt zu Hülfe zu rufen. Was da auf dem Gebiete der Grenzförsterei vorgegangen war, das streifte nahe an Rebellion. Es kostete dem Gutsherrn nur ein Wort, den Förster verhaften und das Forsthaus militärisch besetzen zu lassen, dann hatte er Ruhe.
„Und dann –?“ Die Fürstin hatte es klar genug überschaut und ausgesprochen, was hierauf folgte. Sie hatte dafür gesorgt, daß ihre Nichte über dieses „Und dann“ nicht hinauskam. Wanda war hinlänglich in die Pläne der Ihrigen eingeweiht, um zu wissen, daß die Grenzförsterei jetzt die Rolle spielte, die man früher dem Schlosse zugedacht. Alles, was Waldemar hier so streng verbannt hatte, geschah jetzt dort drüben, nur mit größerer Vorsicht und in größerer Heimlichkeit. Dort lagerte noch ein Theil des Waffenvorrathes; dort war die Verbindung, der Mittelpunkt für alle Nachrichten und Botschaften, und eben deshalb lag so viel an dem Bleiben des dortigen Försters, auf dessen Treue und Verschwiegenheit man unbedingt rechnen konnte. Seine Entfernung war gleichbedeutend mit dem Verluste des ganzen Postens. Das wußte er so gut wie seine Herrin, und deshalb waren sie entschlossen, es auf das Aeußerste ankommen zu lassen.
Nordeck selbst kam nur selten nach dem einsamen abgelegenen Forsthause. Er hatte zu viel mit Wilicza zu thun, um jenem eine besondere Aufmerksamkeit widmen zu können. Auch jetzt wollte er offenbar nur hinüber, um durch sein persönliches Erscheinen einen Widerstand zu brechen, wie er ihm öfter entgegentrat, und dem er keine besondere Wichtigkeit beilegte. Entdeckte er aber, daß man auf der Försterei seinen Befehlen offen Hohn sprach, daß hier systematisch der Widerstand gegen ihn organisirt wurde, so ging er schonungslos vor und entriß seiner Mutter auch diesen letzten Posten, wo sie Fuß gefaßt hatte, und die Entdeckung konnte nicht ausbleiben, sobald man ihm verrieth, daß ihm von dorther eine Gefahr drohe.
Das alles stand mit unerbittlicher Klarheit vor der Seele Wanda’s, aber eben so klar stand dort auch die Gefahr Waldemar’s. Sie hatte die unumstößliche Ueberzeugung, daß jene Kugel, die ihn kürzlich bedrohte, aus der Büchse des Försters gekommen war, daß der Mann, dessen fanatischer Haß sich bis zum Meuchelmorde verstieg, sich auch nicht bedenken werde, seinen Herrn niederzuschlagen, wenn dieser allein vor ihm stand, und sie mußte den Bedrohten gehen lassen, ungewarnt, vielleicht in den Tod gehen lassen. Verrath! Vor diesem furchtbaren Worte sank all ihre Willenskraft machtlos zusammen. Sie war von jeher die Vertraute ihres Vaters gewesen; er baute unbedingt auf seine Tochter und hätte mit Entrüstung den Gedanken von sich gewiesen, daß sie auch nur ein Wort von seinen Geheimnissen preisgeben könne, preisgeben, um einen Feind zu retten. Sie selbst hatte Leo mit ihrer Verachtung gedroht, als er in einer Aufwallung der Eifersucht zögerte, seiner Pflicht zu folgen; jetzt befahl ihr diese Pflicht, die ihn nur von der Seite der Geliebten in den Kampf riß, das Schwerste, schweigend und unthätig zuzusehen, wie die Gefahr hereinbrach, die sie mit einem Federzuge abwenden konnte, und diesen Federzug nicht zu thun.
All diese Gedanken stürmten in wildem Wechsel auf die junge Gräfin ein, die ihnen fast zu erliegen drohte. Sie suchte vergebens nach einem Auswege, einer Rettung. Immer wieder stand dieses furchtbare „Entweder – oder“ vor ihr. Wenn sie wirklich noch nicht gewußt hätte, wie es in ihrem Innern aussah, diese Stunde würde es ihr enthüllt haben. Seit Monaten wußte sie Leo in der Gefahr und hatte um ihn gebangt, wie um einen theuren Verwandten, wohl mit Angst, aber doch mit der gleichen Fassung und dem gleichen Heldenmuthe, wie die Mutter, jetzt aber galt es Waldemar, und jetzt war es vorbei mit der Fassung und dem Heldenmuthe – sie flohen vor der Todesangst, die Wanda bei dem Gedanken an seine Gefahr durchschauerte.
Aber es giebt einen Punkt, wo auch das wildeste, qualvollste Leiden der Betäubung weicht, auf Augenblicke wenigstens, weil die Kraft zum Leiden völlig erschöpft ist. Mehr als eine Stunde war vergangen, seit Wanda sich eingeschlossen hatte, und ihr Antlitz gab Zeugniß davon, was sie in dieser Stunde durchlebt hatte. Jetzt trat auch für sie einer jener Momente ein, wo sie nicht mehr kämpfen und verzweifeln, wo sie nicht einmal mehr denken konnte. Wie todesmatt warf sie sich in einen Sessel, lehnte das Haupt zurück und schloß die Augen.
Da tauchte leise wieder das alte Traumbild auf, das sich einst aus Sonnenglanz und Meeresrauschen gewoben und mit seinem Zauber die beiden jugendlichen Herzen umponnen hatte, die damals noch nicht ahnten, was es ihnen bedeutete. Seit jenem Herbstabende am Waldsee war es so oft wieder emporgestiegen und wollte sich mit aller Willenskraft nicht bannen und nicht verscheuchen lassen. War es doch auch vorgestern mit den Beiden gewesen auf der einsamen Fahrt durch die winterliche Landschaft. Es flog mit ihnen über das weite Schneegefilde; es dämmerte aus dem Nebel der Ferne und schwebte in dem düstern Wolkenzuge, der sich so tief herabsenkte – keine Oede, kein Eishauch hinderte sein Erscheinen. Auch jetzt stand es urplötzlich wieder
[735][736] da, wie von Geisterhand hervorgerufen, mit seinem goldig verklärenden Scheine. Und doch hatte Wanda mit der ganzen Leidenschaft und Energie ihres Charakters dagegen gekämpft. Sie hatte Trennung und Entfernung zwischen sich und den Mann gestellt, den sie hassen wollte, weil er nicht der Freund ihres Volkes war, hatte in dem jetzt wieder so wild aufflammenden Streite der beiden feindlichen Nationen ihre Rettung gesucht – was nützte all’ das verzweiflungsvolle Kämpfen, der Sieg war ja doch nicht errungen worden. Jetzt, galt es keinen Traum und keine Selbsttäuschung mehr. Sie wußte jetzt, welch ein Zauber es gewesen war, der sie damals auf dem Buchenholm umfangen, dessen halb zerrissene Fäden jene Stunde am Waldsee auf’s Neue und diesmal unzerreißbar geknüpft hatte – sie kannte endlich die Schätze, welche ihr die alte Wunderstadt gezeigt, nur auf flüchtige Minuten, um sie dann wieder mit sich hinabzunehmen in die Tiefe. Nur in Einem hatte die Sage wahr gesprochen: die Erinnerung wollte nicht verlöschen, das Sehnen nicht schweigen, und mitten hinein in Haß und Streit, in Kampf und Widerstand klang es süß und geheimnißvoll wie der Glockenklang Vinetas aus dem Meeresgrunde. – – –
Wanda erhob sich langsam. Der furchtbare Widerstreit in ihrem Innern, der Kampf zwischen Pflicht und Liebe war zu Ende. Die letzten Minuten hatten ihn entschieden. Sie eilte nicht zum Schreibtische, und die Feder blieb unberührt. Es galt keine Nachricht und keine Warnung mehr, sie schob nur den Riegel von der Thür zurück, und in der nächsten Minute rief der helle, scharfe Laut der Klingel den Diener herbei. Gräfin Morynska stützte sich auf den Tisch, an dem sie stand – ihre Hand zitterte, aber ihr Antlitz trug die Ruhe eines unabänderlichen Entschlusses.
„Und wenn es wirklich zum Aeußersten kommt, so werfe ich mich dazwischen,“ sagte sie mit zuckenden Lippen. „Seine Mutter läßt ihn kalt und gleichgültig der Gefahr entgegengehen – ich werde ihn retten.“
Im Atelier des großen Landschaftsmalers Hummel zu Weimar stand ich in Betrachtung eines prachtvollen Alpensees, den sein Pinsel auf die Leinwand gezaubert hatte. Das glänzende Grün der stillen Wasserfläche und ringsum die seltsam geformten, wunderbar zerrissenen kahlen Gebirge über der üppigen, frischen Vegetation der See-Ufer erschienen so eigenartig, so fremd und doch wieder so treu und wahr, daß ich, von dem Anblicke gefesselt, mich schwer wieder losreißen konnte. Es war, wie der Meister mir verrieth, der Raibler See und seine Dolomiten in Kärnthen, und mit diesem einen Worte war es entschieden, daß der lang geplante Ausflug nach dem schönen Oesterreich, zur Donau, nach Pest, Wien, Steiermark, und Kärnthen nunmehr zur Ausführung gebracht wurde. Der gute Meister Hummel selbst gab uns die nützlichsten Reisewinke auf den Weg, und wer anders könnte über die malerisch-schönsten Punkte, über die heimlich-stillen Plätzchen, über Land und Leute und die erquicklichsten Quellen des edeln Rebensaftes so sichere Auskunft und Reisewinke geben, wie ein Landschaftsmaler?
Alles traf später ein und wurde mit vollen Zügen von uns genossen.
Wie in Pest und Ofen hatten wir in Wien und Umgegend uns sowohl der Natur und Kunst wie auch des frischen, frohen Volkslebens erfreut. Mit besonderem Behagen hatten wir in Graz und dessen romantischer Umgebung verweilt. Jetzt aber zog es uns, auf raschem Dampfroß an steilen Alpenabhängen hin, an Schlössern, Klosterruinen und Capellen vorüber durch das schöne Drauthal und Miesthal nach den Dolomit-Gebirgen zu eilen. Bald winkten uns von fern jene bekannten himmelanstrebenden, grauweißen, kahlen und schroffen Gebirgsmassen mit den zerrissenen Zinnen, Zacken und Spitzen. Ihren magnesiahaltigen Kalkstein hatte einst, in den Jahren 1789 und 1790, der berühmte Geolog und Mineralog, dessen Namen sie tragen, der Malteser Dolomieu, auf seinen Fußwanderungen durch Italien, Tirol und Graubündten, den Hammer in der Hand, den Sack auf dem Rücken, durchforscht und untersucht. In Villach endlich standen wir ihnen gegenüber. Es war die Gebirgskette, welche das Drauthal vom Thale der Gail scheidet. Als wir von dem alten Ritterhause aus, welches jetzt das Gasthaus zur Post bildet, durch die hübsche, reinliche Bergstadt, die am Fuße des Dobracz sich ausbreitet, an der Statue vorbei, welche dem talentvollen Bildhauer Gasser gesetzt worden, hinauf nach St. Martin gewandert, waren wir von dem mächtigen Alpenpanorama, das sich dort den Blicken bietet, wahrhaft überwältigt. Ringsum diese Gebirgskolosse, zum Theil in den frappantesten, phantastischen, grotesken Gestalten, und der Beschauer wie im Mittelpunkte einer Riesenburg.
Von Villach führt die durch kühn überwundene technische Schwierigkeiten äußerst interessante Villach-Laibacher Bahn an dem höchst malerisch gelegenen Arnoldstein mit seinem ehemaligen Benedictinerkloster vorüber; jetzt erschallt der grelle Pfiff der Locomotive; wir halten hoch und frei im Gebirge vor dem Bahnhofe von Tarvis. Wir steigen in den Ort hinunter und wandern hinein in das schöne Thal nach Raibl zu. Wie lustig rauscht der Gebirgsfluß uns zur Seite, wie köstlich duften die rothen Alpenveilchen im dunkeln Grün am Wege, wie frisch weht uns die reine Alpenluft an! Rasch ist ein duftiger Veilchenstrauß den Damen gepflückt, und scherzend und singend ziehen wir weiter.
Mit jedem Schritte wird das Thal romantischer und schöner. Der Fluß bricht sich durch Steinblöcke, welche sein Bett versperren, wildbrausend und schäumend Bahn. Weidende Kühe mit ihrem harmonischen Geläute beleben die Gegend, und kühn empor, in mächtigen Formen, ragen die Alpen. Plötzlich bietet sich dem Auge der gewaltigste Anblick dar: der schroffe, riesige Mangart (über achttausend Fuß hoch), mit seinen fünf zerrissenen Spitzen, zu seinen Füßen das Oertchen Raibl. Nach kurzer Rast wandern wir zum See und stehen nach kaum einer halben Stunde an seinem Ufer. Der kleine Raiblersee kann sich zwar nicht mit seinen größeren und berühmten, schweizerischen und italienischen Brüdern messen, auch nicht mit dem Königsee, der Perle aller deutschen Seen. Es ist nur ein kleines, schmales Wasserbecken, hoch in den Alpen gelegen, aber über diesem kleinen See und seiner Umgebung ruht ein poetischer Hauch, wie ich ihn bei fast keinem andern See, auch nicht am Königsee, nicht einmal am wonnigen Comersee gleich schön und ansprechend gefunden habe. Aehnlich nur dem reizenden Gosausee im Salzkammergute, liegt, von saftigem Grün umrahmt, der Raiblersee hellgrün und still in der kolossalen Umgebung der Alpen. Wie beim Gosausee die Eis- und Schneefelder des Dachsteins und die zahlreichen hohen Zacken der Donnerkogeln, so bildet hier die riesige schroffe Wand des Mangart mit dem vielgespaltenen Gipfel den großartigen Hintergrund, und darüber ruht ein Friede, eine heimliche Stille, als ob die Natur schlafe. Wer jemals dieses Bild gesehen, es wird ihm nie wieder aus seinem Gedächtnisse schwinden können, wird ihm immer eine wohlthuende, beglückende Erinnerung bleiben. Der Meister Hummel hat der schönen Natur hier die schönsten Züge abgelauscht, um sie in seinem großen Landschaftsbilde in meisterhafter Gruppirung und Durchführung wiederzugeben. Als Gruß und Dank sandten wir ihm vom Raiblersee ein Sträußchen Edelweiß. Aber hatte er in seinen Reisewinken nicht auch von einem Ruhetage im reizenden Lienz, hatte er nicht auch von der Großartigkeit des Ampezzothales gesprochen und das Wörtchen „großartig“ in den gesandten Notizen sogar doppelt unterstrichen? Zurück denn nach Villach, auf nach Lienz, auf nach Ampezzo!
Nicht mehr der langsame, ermüdende Post- oder Stellwagen, sondern ein rasch dahinfliegender Zug der neuen Alpenbahn führt uns von Villach durch das obere Drauthal nach Tirols östlicher Grenzstadt Lienz. Die Dolomitgebirge, welche sich bis sechstausend, ja über achttausend Fuß hoch über die freundliche Stadt majestätisch erheben, vor allem der Spitzkofl [737] und der Rauhkofl mit ihren wild und phantastisch zerrissenen Zacken, ihren scharfen Kanten und dem aus ihren Rissen und Schluchten noch im Hochsommer blitzenden Schnee, machen die Lage der Stadt zu einer überaus reizenden; doppelt schön wird sie durch das am Einflusse der Isl in die Drau sich romantisch erhebende Schloß Bruck. Und über all den landschaftlichen Reizen lachte der reinste, tiefblaue Himmel. Schuß auf Schuß erkrachte und hallte von den Bergwänden in vielfachem Echo wieder. Ueber die Brücke zog aus der Kirche, den Geistlichen an der Spitze, ein Zug von Jung und Alt. Ein Maidli in Tiroler Tracht, mit spitzem Hute, ähnlich den Zillerthalern, gab uns die Auskunft, daß es „Kaisers Geburtstag“ war. Interessanter aber als die hübsche Pfarrkirche, war uns eine andere, dem Mittelalter entstammende Kirche, die mit ihren uralten Grabsteinen und anderen Denkmalen an den Wänden selbst einem historischen Denkmale der Stadt Lienz gleicht. Die Männer und Frauen, welche hier ruhen, und deren Namen uns die steinernen Grabmale melden, sie waren es wohl, welche einst, in längstvergangenen Tagen, die Hallen des Schlosses Bruck belebten.
Damals, im dreizehnten Jahrhunderte, der kampf-, minne- und trinklustigen Ritterzeit des Mittelalters, wohnten dort die Grafen Görz; später wurde aus dem Grafenschloß ein Damenstift; jetzt ist es – eine Brauerei. Aber Eines ist durch all die Jahrhunderte sich gleich geblieben: die prächtige Aussicht in das romantische Thal. Mag man oben im Saale an eines der Fenster treten oder unten im Schloßgärtchen sich niederlassen – immer hat man das liebliche Thal vor sich, links drüben am Berge ein schönes Kirchlein und einen silbern blitzenden, herabrauschenden Waldbach, rechts die riesigen schroffen Dolomiten mit ihren phantastischen Formen, und dazwischen im Thalgrunde die freundliche Grenzstadt Tirols.
Von Lienz wendet man sich in das Pusterthal, das sofort mit seinem rauschenden Flusse, seinen grotesken Felsenpartien, seinen malerisch gelegenen Capellen eine Fülle landschaftlicher Reize bietet. Von jeher war dieses Thal die Hauptstraße von Kärnthen nach Tirol, und von ihm aus führte südlich durch das Ampezzothal die Straße nach Venedig. Nachdem die Brennerbahn im August 1867 eröffnet worden, ist die Communication und der Handel Tirols mit Italien natürlich ihren Geleisen gefolgt. Aber hat sich auch sonst im Ampezzothale der rege Handelsverkehr, der lebhafte Gütertransport gemindert, so führt andererseits die neue von Villach nach Franzensfeste am Brenner sich erstreckende Alpenbahn dem Ampezzothale von Tag zu Tag mehr Freunde großartiger Alpennatur zu.
Wir genießen einen prächtigen Rückblick auf die Lienzer Dolomiten, indem wir an schönen Ruinen und Capellen, an schroffen zum Theile schneebedeckten Alpen durch das Pusterthal dahin fliegen, und halten nach kaum zwei Stunden, in einer Höhe von dreittausendsechshundert Fuß, vor dem Bahnhofe Toblach. Hier ist die Wasserscheide im Pusterthale; das hohe Kreuz an der Straße bezeichnet sie; nach Osten fließt die Drau der Donau und dem schwarzen Meere, nach Westen die Rienz dem Eisack und dem adriatischen Meere zu. Hier auf dem Toblacher Felde grüßt uns schon der Eingang des Ampezzothales, welches hier von Süden her in das Pusterthal mündet, wie ein gewaltiges Riesenthor. Wir verlassen die Bahn. Welch Getümmel von Fremden in und vor dem Bahnhofe! Kutscher auf Kutscher bieten ihre Dienste an; ein buntbebänderter Italiener fordert für seinen Wagen nach Cortina aufdringlich fünfundzwanzig Gulden, um sofort auf fünfzehn zu fallen etc., doch wir ziehen es vor, uns dem biedern Posthalter anzuvertrauen, und in wenigen Minuten ladet ein schmucker deutscher „Bua“ zum Einsteigen ein.
Schon der erste Eindruck des Ampezzo-Thales ist in der That ein großartiger. Die Straße tritt in das sogenannte Höhlensteiner oder Höllensteiner Thal, eine romantische Schlucht, welche die Rienz durchströmt, und führt an einem kleinen finstern See, dem Toblacher See, vorüber. Mit jedem Schritte vorwärts verengt sich das Thal, düster und schaurig; Straße und Bach nehmen die ganze Thalsohle ein und finden kaum neben einander Platz. Die Felsen und Gebirgsmassen werden immer mächtiger, wilder und höher, und hoch über sie hinweg ragen in schroffen, grotesken Formen die drei Zinken (Zinnen) in das Blau des Himmels. Kaum haben wir das Post- und Gasthaus Landro oder Höhlenstein passirt, als schon ein neues gewaltiges Bild Auge und Sinn fesselt. Während nämlich die Rienz hier ihren Lauf wohl eine halbe Stunde unterirdisch fortsetzt und sich den Blicken entzieht, zeigt sich im Thale der kleine hellgrüne Dürrensee (der gewöhnlich im Herbst eintrocknet und erst im Frühling sich wieder füllt), rings um ihn her dichte, dunkle Tannenwaldung und darüber als kolossaler Hintergrund der riesige, über zehntausend Fuß sich erhebende Monte Cristallo mit weiten blitzenden Schneefeldern und Eismassen.
Hier, am Eingange des Val Popena, nimmt uns das romantisch schön gelegene und behaglich eingerichtete Gasthaus Schluderhach („Monte Cristallo“) mit freundlicher Bewirthung auf. Mit herzlicher Biederkeit empfangen uns Herr Ploner, der alte Jäger, welcher das Gasthaus erbaut und neuerdings erweitert hat, und seine wackere Ehehälfte, und bald liefert, bei frischem, goldhellem Grazer Naß, die treffliche Küche den schlagenden Beweis, daß der weitverbreitete, auch von Bädeker willig anerkannte Ruhm von der ausgezeichneten Kochkunst unserer freundlichen Wirthin ein vollkommen begründeter ist. Diese musterhafte Verpflegung im Verein mit der frischen, reinen Alpenluft, der unvergleichlich schönen Lage des Hauses und der Mannigfaltigkeit der schönsten Ausflüge ist es, was das gemüthliche Gasthaus zum Standquartier zahlreicher Touristen gemacht hat. Laut der schätzenswerthen Mittheilungen von Kurtz (Führer durch die Dolomit-Gruppen, ein empfehlenswertes Buch aus dem Verlag des alten Alpen-Amthor in Gera) liegt Schluderbach auf einer Höhe von gegen fünfthalbtausend Fuß über dem Meere, also über tausend Fuß höher als der Brocken und nur etwa vierhundert Fuß niedriger als die Schneekoppe des Riesengebirgs; selbst in den Hundstagen steigt hier die Mittagshitze im Schatten sehr selten über achtzehn Grad. Der Monte Cristallo, der vielzackige Cristallino, die hohe trotzige Porphyrmasse der Croda Rossa und der Monte Piano bilden die Umgebung, und wohin man den Schritt wendet, überall bietet sich ein Reichthum der mannigfaltigsten und schönsten Gebirgspartien, wie man sie anderwärts äußerst selten findet überall volle, echte, großartige Alpennatur, und immer ist der bergkundige und vielerfahrene Ploner mit Rath und That zur Hand. Dabei die reine, erquickende Gebirgsluft, dabei endlich die reiche Alpenflora; an einzelnen Stellen bedarf es kaum eines halbstündigen Steigens, um den Standort vom Edelweiß zu erreichen. O welch’ ein Jubel, als das Töchterlein den ersten silberweiß-wolligen Stern von Edelweiß selbst fand und pflückte und im Triumph den Hut des Bruders schmückte!
Schluderbach ist zugleich die Sprachgrenze. Südlich von ihm herrscht italiener Leben und italiener Sprache. Zwischen Felsen und Bergwänden und mit dem Blick auf noch höhere, herüberragende Dolomitberge steigt allmählich die Straße. Bald haben wir Ospetale – einst Herberge für arme Pilger, jetzt Gasthaus – erreicht, bald auch den schauerlichen Paß, in welchem ehemals die Feste Peutelstein (Castello di Poitestagno), ursprünglich von den Venetianern erbaut, später das Thal und seinen Verkehr gegen Venedig schützte. Im Kriege vom Jahre 1859 ist sie in einen Steinhaufen verwandelt worden.
Wir sind auf der Höhe angelangt, und abwärts geht es nun, an Abgründen hin, in das liebliche eigentlich sogenannte Ampezzanerthal, welches die jugendlich muntere Alpentochter, die Boita, durchrauscht. Da tritt rechts der kolossale Dolomit Monte Tofana, dessen drei Gipfel, mit Schnee bedeckt, über zehntausend Fuß in das Blau des Himmels hinaufragen, vor uns der fast gleich hohe Pelmo und der Mezzodi, westlich der gewaltige Antelao (von dessen Gipfel aus bei heiterem Himmel Venedig sichtbar sein soll) und die Sorapiß, die höchste Spitze der Croda Malcora, hervor. Im Zickzack geht es schnell, aber sicher den Berg hinunter; wir sind in Cortina d’Ampezzo, das von 770–1576 zur Republik Venedig gehörte, später an Oesterreich abgetreten wurde und jetzt die letzte Station in Tirol bildet.
Im Hôtel „Aquila Nera“ nehmen wir trotz der hier hausenden englischen Colonie Quartier und geben in behaglichem Schlendern durch die Straßen und die Umgebung uns den Eindrücken hin, welche Cortina, seine Bewohner und seine Gebirgslage auf uns machen. Hier war es, wo eine uralte, sittenstrenge Gemeindeverfassung jeder Braut gebot, nur in Begleitung einer alten Frau (genannt brontola, das ist: Brummbärin) auszugehen, und jeden [738] einem Mädchen geraubten Kuß mit zehn Gulden bestrafte. Die Stattlichkeit der schmucken Häuser, das behäbige Aussehen der Bewohner, die trefflichen gemeinnützigen Einrichtungen (Elementarschulen, Zeichen-, Musik- und Industrieschule) bekunden sofort, daß wir uns im Hauptorte des Thales, in dem wohlhabenden Mittelpunkte lebhaften Handels befinden – soll doch diese Gemeinde die reichste in ganz Tirol sein – aber eben jene Häuser mit ihrer südlichen Bauart, der freistehende, dem Thurme von Sanct Marco in Venedig nachgebildete Glockenthurm, die Gestalt, die Gesichtszüge, die Tracht und die italienische Sprache der Einwohner erinnern zugleich daran, daß wir in der südlichen Grenzstadt Tirols weilen und schon unweit des nahen Dorfes Acquabuona die italienische Grenze sich hinzieht. Um Rundschau zu halten, wandeln wir nach dem prächtigen Aussichtspunkte Monte Crepa, dem „Ampezzatter Belvedere“, und steigen, zurückgekehrt, in dem Glockenturme die zweihundertfünfunddreißig Stufen hinauf. Wir stehen dort wie hier von dem aller Beschreibung spottenden, zauberhaften Anblick gefesselt: vor uns das saubere, wohlhäbige Cortina mit seinen südlichflachen Dachungen, feinen Holzgalerien der Häuser, seinem regen Straßenleben, in saftiggrünem Thalgrunde, an der rauschenden, blinkenden Boika, ringsum im Kreise aber in harmonischer Gruppirung die Gebirgsriesen, die weißen Wände, die scharfkantigen in den wunderlichsten Formen himmelanstarrenden Dolomiten und sie alle aufgethürmt wie ein kolossaler Wall! Tausende auf Tausende von Jahren sind darüber hingezogen, und der gigantische Wall steht noch immer fest und unerschüttert. Zwar hat auch er der allmächtigen Zeit seinen Tribut zu zollen der magnesiahaltige Kalkstein, aus welchem diese Dolomiten bestehen, unterliegt unter dem Einflusse von Luft und Wasser, von Regen und Frost der allmählichen Verwitterung und Zerbröckelung. Abgelöste Gebirgsmassen sind von fetten Felsenriesen, insbesondere dem Monte Antelao, in die Tiefe gestürzt und haben schon ganze Dörfer begraben, ja selbst Cortina bedroht. Aber was sind dergleichen einzelne Ablösungen gegen die Gesammtheit dieser Kolosse! Tausende von Jahren werden die Wände der Riesenburg um Cortina noch in derselben hehren Majestät sehen, wie wir sie sahen von der Galerie des Campanile aus.
An einem schönen frischen Morgen fuhren wir nach Toblach zurück. Als wir langsam die Paßhöhe Peutelstein zu gewinnen suchten, kam auch für unsern Rosselenker endlich die ersehnte Gelegenheit, eine wißbegierige Frage an uns zu thun. Er wollte gern Gewißheit darüber haben, ob wir Protestanten denn auch getauft seien – hatten ihn doch die Pfaffen gelehrt, daß alle Ketzer, den Heiden gleich, ohne Taufe aufwüchsen, und uns, die wir sein Wohlgefallen erregt hatten, mochte er doch dergleichen nicht zutrauen. Wie freute sich der Gute, als er von uns Ketzern erfuhr, daß seine Pfaffen ihn falsch berichtet hatten!
In Schluderbach, dem gemüthlichen Gasthause, wurde noch einmal eingesprochen. Mit wahrer Herzlichkeit schüttelte uns der biedere alte Ploner die Hand und schenkte uns zum Abschiede seltene Alpenblumen. Möge ihm, der ein warmer Freund der „Gartenlaube“, dieses Blatt unsern Erinnerungsgruß bringen!
Durch das prächtige Pusterthal flogen wir auf Flügeln des Dampfes über Franzensfeste nach Bozen. Schon am Abende des nächsten Tages standen wir dort auf der Brücke und begrüßten von Neuem eine alte Freundin, die den östlichen Hintergrund des reizenden Thales bildende lange Gebirgskette, und sie verstand unsere Verehrung und erwiderte unsern Gruß – in prachtvollstem Purpurroth erglühten die hochaufragenden Dolomiten.
Ein Dichterlebensbild von Friedrich Hofmann.
Wer ist der kühne Reiter? Sprengt die Wiese am Waldrande daher ein etwa zehnjähriger Dorfjunge auf einer Kuh! Dieser Ritt scheint, wenigstens für die Kuh, kein Vergnügen zu sein, denn sie gebraucht plötzlich eine Kriegslist, um ihre Last los zu werden: sie trabt so hart an den Baumstämmen hin, daß der Junge, um sein bedrohtes Bein zu retten, es hinaufziehen muß, und so verliert er den Halt und wird vom Kuhrücken gleichsam heruntergeschält.
In der That ist der Ritt eine Strafe für die Kuh gewesen. Der junge Hirt, des Schulmeisters Heinrich, hatte die Gewohnheit, aus dem bescheidenen Vorrathe des Vaters immer einige Bücher im Brodsack mit auf die Weide zu nehmen, um seine Lern- und Lesebegier zu stillen. Sobald aber die Kuh den Heinrich in seine Bücher vertieft sah, schlich sie sich von dannen, um auf eigene Faust im Walde spazieren zu gehen. Weil die Uebelthäterin den Strafritt vereitelte, band Heinrich sie fortan an einem langen Strick sich am Beine fest, und wenn nun der Knabe in seinen Büchern oder auf den Flügeln seiner Phantasie so selig schwärmte, daß ihm die Augen leuchteten, stand die böse Kuh daneben und machte ihr verdrießlichstes Gesicht dazu.
Das ist ein Bildchen aus dem Lebensaufgang eines Dichters, der innerhalb der kurzen Spanne eines sogenannten Menschenalters in der Erforschung und Darstellung des Völkchens, dem er angehörte, von der Pike auf gedient und durch fünf Werke sich einen Platz in der Reihe der besten Volksschriftsteller errungen hat. Leider dürfen wir ihn ganz laut loben, denn er ist todt und der Alpenschnee fällt zum dritten Male auf seinen Grabhügel. Dieser Schriftsteller ist Heinrich Schaumberger, und die fünf Werke heißen „Vater und Sohn“, „Im Hirtenhaus“, „Fritz Reinhardt, Erlebnisse und Erfahrungen eines Schullehrers“, „Zu spät“ und „Bergheimer Musikantengeschichten“.
Ein besonderer Werth dieser Dichtungen, zu welchen aus dem Nachlaß des so jung Heimgegangenen noch eine Anzahl Volkssittenschilderungen, Erzählungen, kleinerer Aufsätze und Poesien gekommen ist[1], gründet sich auf die meisterhafte Charakteristik seiner Heimath-Landbevölkerung, die, den Herzogtümern Coburg und Meiningen angehörig, durch ihre fränkisch-thüringische Mischung eine mit hervorstechenden Eigenthümlichkeiten in Leben, Sitten, Gewohnheiten und Sprache ausgestattete Uebergangsgruppe am Südabhang des Thüringer- und Frankenwaldes bildet. Eine solche Volksthümlichkeit kann nicht studirt, sondern muß eingelebt werden, und daß Heinrich Schaumberger darin aufwuchs, mit dem Herzen immer darin blieb, aber mit dem Kopfe darüber emporragte und dieselbe durch seinen Beruf verstehen, schätzen, für die Darstellung endlich beherrschen lernte und sein ungewöhnliches Erzählertalent ihr ganz widmete, das hat ihn zu dem Dichter erhoben, als welchen wir ihn lieben und ehren.
Schaumberger’s Geburtsort ist das Städtchen Neustadt, zwischen Coburg und Sonneberg, jetzt an der beide Städte verbindenden Eisenbahn liegend. Dasselbe treibt die Hauptbeschäftigung beider Nachbarn, die Spielwaarenfabrikation Sonnebergs und die Bierbrauerei Coburgs im einem Maße, daß es zu beiden eine Stellung wie etwa Fürth zu Nürnberg einnimmt. Spielwaaren und Bier lassen auf ein rühriges und heiteres Völkchen schließen, und so ist das Neustädter in der That, Heinrich Schaumberger aber war das richtige Kind dieser Stadt. Eines seiner nachgelassenen Werke aus früherer Zeit, die „Bergheimer Musikantengeschichten“, liefern wahre Cabinetsstücke des gesundesten Humors, der ihm selbst dann nicht ganz ungetreu wurde, als das Schicksal dafür sorgte, den Ernst in ihm zur Vorherrschaft zu bringen.
Die ersten Schatten fielen im Elternhause auf sein Leben. Seine Mutter, an der er, wie es ja so deutsche Dichterweise ist, mit zärtlichster Liebe hing, war immer krank. Als der Knabe sechs Jahre alt war (er ist am 15. December 1843 geboren), wurde sein Vater als Lehrer in das schöne, große Pfarrdorf Weißenbrunn vor dem Walde versetzt, wo die Eltern seiner Mutter wohnten. – Großeltern! – Welchem Kinde lacht nicht das Herz schon bei dem Worte? Aber schon nach vier Jahren verlor er hier seine Mutter; sie erlag dem Lungen- und Kehlkopfsleiden, von dem sie den Keim als schreckliche Erbschaft ihrem armen Sohne hinterließ. Heinrich’s Vater war ein offenbar durch die Lasten und Sorgen seines Berufes verstimmter Mann; er hatte [739] den Sohn wohl lieb, aber das Mahnwort: „Geh’ fleißig um mit Deinem Kinde!“ war ihm fremd. Er ließ ihn mit den anderen Bauernkindern in der Schule sitzen, außerdem aber frei aufwachsen. Im Herbste hatte er des Vaters und der Großeltern Kühe auf die Weide zu treiben. Dort sind wir ihm bei seinem Kuhritt zuerst begegnet.
Für eine Dichtererziehung muß diese Kindheit eine glückliche genannt werden, und Schaumberger hat sie mit frischen, offenen Dichteraugen durchlebt. Das beweisen die Kinderscenen in allen seinen Dichtungen. Namentlich das „Hirtenhaus“ giebt von Leid und Lust des Kindesherzens ergreifende Bilder; sie schmücken goldene Seiten dieses Prachtbuchs. Er selbst hat später oft erzählt, daß er viele schöne Stunden besonders in seinem freien Hirtenleben genossen und in der wundervollen Natur auch Manches für den Geist gewonnen habe. Seine farbenreichen Naturschilderungen sind offenbar eine Frucht dieser Zeit. Im Selbststudium war er unermüdlich. Selbst Clavier- und Orgelspielen lernte er für sich, bei nur sehr geringer väterlicher Unterweisung. Diesem Allen drohte mit Heinrich’s Confirmation und dem Ende der Schulzeit ebenfalls ein Ende. Ohne jede Vorsorge für die Weiterbildung des begabten Knaben ließ sein Vater ihn von da an gewöhnliche Knechtsdienste leisten; er mußte jeden Morgen um zwei Uhr an die Arbeit, im Sommer Gras mähen, im Winter dreschen u. dgl. Für Lesen, Schreiben und Musik blieben ihm nur gestohlene Minuten, und doch fallen in diese harte Zeit seine ersten poetischen Versuche in Liedern und Erzählungen. So hatte er das siebenzehnte Jahr erreicht, als man endlich seinem flehenden Drängen nachgab, ihn das Schullehrer-Seminar in Coburg besuchen zu lassen. Er kam dahin mit keinen anderen Kenntnissen und Fertigkeiten, als die er sich selbst heimlich erworben; er konnte nicht einmal orthographisch schreiben. Da galt’s arbeiten. Seine Mitschüler von damals bewundern noch heute seinen Fleiß; seine Staatsprüfung fiel glänzend aus. Jetzt erfüllte ihn die Sehnsucht: wenigstens ein Jahr noch in Jena philosophischen Studien obliegen zu dürfen. Sein heller Geist hatte schon damals den wahren Werth „der unseligen Lehrer-Seminare“ erkannt, „dieser Amphibien unter den Lehranstalten“, wie er sie in seinem „Fritz Reinhardt“ nennt. Er hatte, in der Hoffnung auf die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, schon mit einigen seiner Seminargenossen Wohnung in Jena bestellt. Aber vergeblich – all’ sein Bitten half nichts: er sollte und mußte fortan selbst sein Brod verdienen, und er that es.
Diesem Dichter durfte aber auch von den Lebensprüfungen keine erspart bleiben. Ostern 1864 erhielt er eine untere Lehrerstelle in Einberg, einem großen Dorfe, das an einem Hügel liegt, welcher das schöne Thal der berühmten „Rosenau“ begrenzt: ein rechter Poetenwinkel. Dennoch war er damals noch mit Leib und Seele nur Lehrer, und das Steckenpferd, das jeder begabte Mensch haben muß, war für ihn die Geographie; er suchte nach einer möglichst nützlichen Unterrichtsweise derselben und wurde dabei sogar ein geschickter Kartenzeichner. Mitten in diese Studien trat ein bildschönes Mädchen, die Tochter eines Lehrers von einem Nachbardorfe. Da kam die Liebe über ihn und machte ihn zum Helden eines kurzen, wonne- und thränenreichen Romans.
Im Juli 1866 sicherte sich Heinrich den Besitz seiner Clara durch die Verlobung. Beide Brautleute waren noch blutjung; sie wollten mit der Hochzeit warten, bis eine bessere Stelle ihnen die Gründung eines Haushalts erleichterte. Es war rührend: so viel kalte Vernunft bei so heißer Liebe! Bald aber kam der Mißwille dazwischen; Clara sollte sich nach einer reichen Partie umsehen und den armen Lehrer laufen lassen. Aber die erst siebenzehnjährige Braut hielt Lieb’ und Treue heilig, ja sie wollte sogar, um den Quälereien der Ihrigen zu entgehen und ihr Treuwort zu retten, einen Dienst auswärts suchen. Das griff dem jungen Bräutigam an’s Herz. Trotz der zweihundertfünfzig Gulden Besoldung mußte es gewagt werden: noch im September desselben Jahres feierte das Paar seine Hochzeit. Sie hielten Flitterwochen der Armuth und waren doch so glücklich. Sie mußten sehr sparsam leben, aber sie waren zufrieden. Schon im folgenden Jahre erhielt Schaumberger eine bessere Lehrerstelle, und im Februar 1868 schenkte Clara ihm ein Söhnchen. Hiermit schloß das Glück. Elf Tage später stand der weinende junge Vater zwischen dem Sarge der Gattin und der Wiege des Kindes.
In hartem Arbeiten und Kämpfen, in Entbehrung und Sorge verging ihm ein Jahr; da starb Ostern 1869 sein Vater, und diesmal führte das Schicksal ihn durch die Trauer zu neuem und zu seinem letzten und schönsten kurzen Glücke. Er ward der Nachfolger seines Vaters in der Schule zu Weißenbrunn, wo sein uraltes Großmütterchen noch lebte und sich noch des Urenkels freuen konnte; als sein Pfarrherr aber begrüßte ihn ein Mann, der den geistigen Werth seines Schullehrers ebenso rasch und klar erkannte, als dieser in seinem Pfarrer den edlen, freisinnigen und humanen Geistlichen, Denker und Dichter verehren lernte. Welche Bedeutung dies für ihn hatte, kann nur ermessen, wer da weiß, daß Schaumberger früher gegen orthodoxe Eingriffe in seine Schulführung schwer zu kämpfen und den Stoff zu seinem „Fritz Reinhardt“ zum Theil selbst erlebt hatte.
Der Pfarrer Oskar Bagge hatte als „Josias Nordheim“ die Volkskreise bereits mit einer Reihe kerngesunder Erzählungen erfreut. Da lag es nahe, daß der jüngere dem ältern Freund auch Proben seiner früheren poetischen Versuche mittheilte und daß er von diesem die herzlichste Aufmunterung zum Weiterschaffen erhielt. So entstanden zuerst die „Bergheimer Musikantengeschichten“, die für uns auch dadurch von besonderem Werthe sind, daß Heinrich Schaumberger mit ihnen zugleich dasjenige Gebiet fand, in dessen Darstellung er eine geradezu klassische Größe erreichte. Den vollen Beweis dafür lieferte gleich seine erste ernste Erzählung „Vater und Sohn“. Am Schluß derselben legt er den Grundgedanken, der ihn fortan bei seinem dichterischen Schaffen leitete, der erquickendsten seiner Gestalten in den Mund, die in allen seinen Werken wieder erscheint: dem „Schulbauer“, in welchem er einen Lehrer, der durch eine glückliche Heirath Landgutsbesitzer geworden ist und, gleich ihm, „mit dem Herzen im Volk und mit dem Kopf darüber“ steht, als ein Mannes-Ideal hinstellt. Dieser sagt am versöhnenden Schluß jenes erhebenden Lebensbildes: „Ja, solche Thaten müssen geschehen, damit die Welt erfährt, was es auch im Bauernstand für tüchtige Menschen giebt, und – das ist am Ende die Hauptsache.“ –
Noch in dem für ihn so hoffnungsgrünen Jahre 1869, als die rauheren Winde des Spätherbstes von den Thüringer Bergen herabwehten, regte sich der mütterliche Todeskeim in der Brust des armen Sohnes. Der Zwang, daß Schaumberger in so jungen Jahren die anstrengende Lehrerthätigkeit beginnen mußte, anstatt erst in Jena Leib und Seele zu kräftigen, die furchtbaren Aufregungen jeder Art und all die allzu frühzeitigen Erfahrungen, die ihn so bald geistig zum gereiften Manne machten, trugen nun ihre Früchte. Das erste Bluthusten stellte sich ein. Er hat es wohl verschwiegen, denn er setzte seine Thätigkeit in der Schule noch ein ganzes Jahr lang fort. Das rächte sich schwer. Als der Winter von 1870 hereinbrach, warfen drei Lungenblutungen ihn auf’s Krankenlager; er mußte einen Vicar für seine Schule halten. Die dadurch gewonnene Ruhe that ihm wohl; er überwand den harten Anfall; desto fleißiger saß er am Schreibtisch, und das Labsal des poetischen Schaffens weckte mit dem nahenden Frühling neue Lebenshoffnung in ihm auf, während im Pfarrhause ihm leise, und immer beseligender der Himmel der Liebe aufging. Er beschloß, gründliche Heilung in Davos zu suchen; vor der Abreise feierte er die Verlobung mit seines Pfarrers und Freundes Tochter Magdalene. – Wer kennt nicht den schönsten Segen protestantischer Pfarrhäuser! Wenn der rechte, vom reinen Hauch der Wissenschaft und Bildung veredelte Luthergeist in ihnen waltete, waren sie stets auch die Schulen der besten Hausfrauen, und Magdalenens Elternhaus „war als eine Stätte nie getrübter Familieneintracht mit tausend Freuden geschmückt“.
Die herrliche Luft von Davos that Wunder. Schaumberger verlebte einen guten Sommer, Herbst und Winter dort, und als der Frühling, besonders nach seiner Heimkehr, wieder neue Leiden brachte, beschloß er die vollständige Uebersiedelung nach Davos. Nachdem er im Mai 1872 Hochzeit gehalten und dann den Umzug vorbereitet hatte, vollbrachte er ihn im August desselben Jahres. Aber die Luft von Davos that nun keine Wunder mehr. – Nur noch ein Jahr und sieben Monate widerstand die Jugendkraft den immer heftigeren und qualvolleren Angriffen der Lungen- und Halskrankheit, die später noch mit Rippenfellentzündungen abwechselten; in dieser ganzen Zeit konnte der Arme kein lautes Wort mehr sprechen und zuletzt [740] nur noch flüstern und lispeln. Und dennoch brachte er jede schmerzlosere Minute am Arbeitstische zu, denn die Noth pochte an’s Fenster und preßte ihn auf’s Herz. Hatte doch ihn und die Seinen noch das Schwerste getroffen: sein Schwiegervater war am letzten März 1873 plötzlich gestorben. So war auch die letzte Stütze seiner Lieben gebrochen, und er mußte allein für ihre Zukunft sorgen. Heldenmüthiger, als er, hat noch Niemand sein letztes und größtes Werk geschaffen: seinen „Fritz Reinhardt“, das größte Epos des deutschen Lehrerlebens.
Auf dem Schmerzenslager, noch unter den Nachwehen eines furchtbaren Krankheitsanfalles leidend, schrieb er mir am 16. December 1873 mit Bleistift eine Schilderung dieses seines letzten Heldenkampfes, die es werth ist, so laut und weit wie möglich verbreitet und dem deutschen Volke an’s Herz gelegt zu werden. Möge Niemand, der durch die Schicksale des Mannes nun zur Theilnahme für ihn erwärmt ist, diesen im letzten Band seiner gesammelten Werke abgedruckten Brief ungelesen lassen. – Als endlich seine Arbeitskraft der Krankheit und der Anstrengung völlig erlag, war es die in unserem Volke, und namentlich in den vermögenden Kreisen viel zu wenig gewürdigte und unterstützte Schillerstiftung, welche Noth und Sorgen von seinem Sterbebette zu bannen und ihn selbst für die Zukunft der Seinen zu beruhigen suchte. Auch die Besprechung seiner Schriften in der „Gartenlaube“ gehörte zu seinen letzten Freuden; die Erinnerung daran verwebte sich noch mit seinem letzten Traum. Als er am 16. März 1874 früh erwachte, sagte er zu seiner Gattin: „Heute oder morgen werde ich sterben – ich weiß es ganz gewiß: ich habe heute im Traume meine Todesanzeige in der ,Gartenlaube‘ gelesen.“ Wenige Stunden darauf war er entschlafen. Der Friedhof zu Davos birgt das einsame Grab des Dichters; möge wohlverdiente Liebe und Verehrung es bewahren, pflegen und schmücken! – Heinrich Schaumberger’s Wittwe lebt mit dem Söhnchen Karl in Coburg.
Wenn die Werke dieses Dichters noch nicht die Verbreitung gefunden haben, die ihnen gebührt, so trägt nicht die Kritik die Schuld. Die Presse hat mit einer Einstimmigkeit, wie sie nur den bevorzugtesten Schöpfungen zu Theil wird, sich über den hohen Werth von Schaumberger’s Dichtungen ausgesprochen. Organe wie die „Neue Freie Presse“, die „Blätter für literarische Unterhaltung“, der „Bildungsverein“ (Centralblatt für das freie Fortbildungswesen in Deutschland) und viele andere Zeitschriften haben ihn mit unseren besten Volksschriftstellern, mit Heinrich Zschokke, Franz Ziegler, Berthold Auerbach, Fritz Reuter und Jeremias Gotthelf verglichen und neben ihnen nicht zu leicht befunden. „Neben Heinrich Zschokke,“ sagt die „Neue Freie Presse“, „ihm, dem mit Unrecht zurückgesetzten, unerreichten Meister der novellistischen Composition, besitzt unsere Literatur kaum einen zweiten Erzähler, der wie Heinrich Schaumberger so durch und durch gesund, so erfrischend, so herzaufregend, so lebenskundig, so gemüthsvoll und so versöhnend gedichtet hat.“ Und die „Blätter für literarische Unterhaltung“ stellen Schaumberger’s „Charaktertypen“ hinsichtlich der „plastischen Kraft der Lebenswahrheit“ noch über die so berühmt gewordenen Figuren der Auerbach’schen Dorfgeschichten.
Auffallender Weise hat man gerade einen Dichter von der nächsten geistigen Verwandtschaft mit Schaumberger unerwähnt gelassen: Otto Ludwig von (dem nur wenige Stunden von Schaumberger’s Heimathsdorfe Weißenbrunn, dem „Bergheim“ seiner Erzählungen, entfernten) Eisfeld. Wem die Gestalten in der „Heiterethei“, „Zwischen Himmel und Erde“ und im „Erbförster“ vor Augen treten, der wird sofort erkennen, daß beide Dichter auf einem Heimathboden stehen und daß es Volksgenossen sind, die beide in ihrer Urwüchsigkeit vor uns hinstellen, beide mit der strengen und unerbittlichen Consequenz der Ursachen und Folgen und beide in der richtigen, echten, poesievollen und bilderreichen Volkssprache. Nur Eines scheidet sie. Während Ludwig’s Dichtungen (namentlich die dramatischen) zum Theil einen unversöhnenden, ja oft fast unerquicklichen Eindruck hinterlassen, legen wir jedes Buch Schaumberger’s mit dem wohlthuenden Gefühle sittlich erhebender Herzensbefriedigung aus der Hand.
Bei den „Bergheimer Musikantengeschichten“, deren köstlicher Humor an die lieblichsten Volksidyllen Jean Paul’s (ohne deren Gelehrsamkeitsballast) erinnert, versteht sich der versöhnende Schluß von selbst. – Großartig wirkt, er in „Vater und Sohn“, der Darstellung eines Eheunfriedens, der durch die unerschütterliche Bravheit des „Sohnes“ nach furchtbaren Stürmen besiegt wird. – Weit schwerer hatte sich selbst den versöhnenden Schluß der Dichter in der Erzählung „Zu spät“ gemacht, in welcher er den Uebermuth eines reichen Bauernsohnes gegen ein von ihm wahrhaft geliebtes, armes, aber charaktervolles Mädchen bis zur Vereinsamung seines ganzen Lebens büßen läßt. In dieser Erzählung geht er aus dem Rahmen der Heimath heraus und führt uns mit demselben Gestaltungsgeschick auch nach Amerika. – Seine umfangreichste Arbeit, der dreibändige Roman „Fritz Reinhardt“, verließ ebenfalls diesen Rahmen insofern er das Leben „der „Hauptstadt“ (Coburg) mit in seine Kreise zieht. Ludwig Würkert, der vielerfahrene Kämpfer auf dem Gebiete der Kirche und Schule, nennt denselben „eine seltene Perle“, ein „Bild der Wahrheit voll Reichthum und Tiefe“, ein Muth- und Trostbuch, das er jedem deutschen Lehrer an’s Herz legt, und wie alle Beurtheiler beklagte auch dieser Greis das allzu frühe Ende eines solchen hoffnungsreichen Lebens. – Als die herrlichste, poesievollste von allen Schöpfungen Schaumberger’s gilt uns seine Erzählung „Im Hirtenhaus“, die den Sieg einer sittlich reinen Familie im tiefsten menschlichen Elend schildert und als illustrirtes Volksbuch, wie Marlitt’s „Goldelse“ und Auerbach’s „Barfüßele“, in Aller Hände kommen sollte. Es genüge hier der Hinweis auf das Urtheil in Rudolf Gottschall’s „Blättern für literarische Unterhaltung“, welches lautet: „Schaumberger’s ,Im Hirtenhaus‘ ist eine Volkserzählung ersten Ranges, welche die höchste Beachtung des Publicums aller Bildungsstufen als eine seltene Gabe verdient.“
Wir dürfen nun wohl hier wiederholen: Wenn die Werke eines solchen Dichters noch nicht die Verbreitung gefunden haben, die ihnen gebührt, so trägt nicht die Kritik, nicht die Presse die Schuld, sondern das Publicum. Wir klagen die Leihbibliotheken-Wirthschaft an, die dem Reichsten gestattet, für Groschen zu genießen, was seinen Bücherschrank schmücken sollte; wir klagen die Roman-Colportage-Wirthschaft an, die dem Volke entsittlichenden Schund für Summen aufhängt, für deren Hälfte es das Edelste, erwerben könnte. Und wenn der blasirten Vornehmheit so reine und gesunde Kost, wie Heinrich Schaumberger’s Schriften sie darbieten, zu gewöhnlich ist, so mögen die Volksbibliotheken an ihre Pflicht gemahnt sein, dem Verherrlicher des Volkslebens eine warme Stätte in dem Herzens des Volkes zu sichern: das würde sein schönstes Denkmal sein.
Von Moritz Busch.
Warum begleitet unsere kirchliche Trauungen ein Ringwechsel des sich verehelichenden Paares? Und warum sollen die Ringe nach altem Herkommen (nicht blos im größten Theile Deutschlands, sondern auch anderwärts, z. B. in England) an den vierten Finger der linken Hand gesteckt werden, die doch sonst nicht als die vornehmere angesehen wird?
Die zweite Frage wurde früher mit der Meinung beantwortet, daß von jenem Finger eine Blutader bis zum Herzen reiche, verständiger aber erklärt sich die Sitte daraus, daß mit der linken Hand und deren letzten Fingern weniger, als mit den übrigen Greifwerkzeugen des Menschen gearbeitet und so der Ring weniger der Gefahr ausgesetzt, wird, beschädigt zu werden. Die erste Frage wird mit der Erklärung, der Ring bedeute, da er kein Ende habe, die Ewigkeit, der Wechsel die Austauschung von Liebe und Gegenliebe, nicht vollständig erledigt. Diese Erklärung ist sinnreich, erbaulich und der christlichen Auffassung der Ehe sehr angemessen, aber geschichtlich nicht zu begründen. Der Trauring oder vielmehr der Verlobungsring – denn mit der [741] Verlobung wurde im Alterthume und noch zu Luther’s Zeit die Ehe geschlossen – ist älter als das Christenthum. Nach Kalidasa’s „Sakuntala“ war er schon den alten Indern bekannt. Der Ring, den man austauschte oder den nur der Bräutigam der Braut gab, scheint in heidnischer Zeit ein Amulet gegen bösen Zauber gewesen zu sein. Andere wollen wissen, daß er ein Unterthanenverhältniß bedeutet habe, sodaß der Bräutigam (nur dieser gab ursprünglich einen Ring) seiner Braut damit bemerklich gemacht hätte, sie stehe fortan unter ihm, habe ihm zu gehorchen und zu dienen. Wieder Andere sagen, er sei das Zeichen des Abschlusses eines Vertrages gewesen und habe den dauernden Charakter desselben symbolisch dargestellt.
Sicher ist von alledem nichts. Doch spricht für die zuletzt erwähnte Ansicht die Sitte der Römer, Verträge durch Uebergabe eines Ringes für bindend zu erklären und sich bei Verlobungen einen gewöhnlich eisernen Ring „Pronubum“ genannt, zu überreichen. Später war derselbe, nach dem Zeugnisse Tertullian’s, von Gold, und bisweilen hatte er eine Inschrift, z. B.: „Mögest Du lange leben“, oder: „Ich bringe Dir Glück“. Bisweilen war ein Stein eingelassen, auf dem eine Hand an einem Ohrläppchen zupfte. Darüber standen die Worte: „Gedenke mein!“. Nicht unwahrscheinlich ist, daß gewisse antike Ringe von Erz, die einen kleinen Schlüssel an sich haben, Eheringe sind. Mit dem Eheringe übergab der Mann der Frau die Schlüssel des Hauses, und bei Photius sagt Theosebius zu seiner jungen Gattin: „Früher gab ich Dir den Ring der Verbindung; jetzt gebe ich Dir den der Wachsamkeit, damit er Dir bei geziemender Bewahrung des Hauses helfe“ – eine Rede, die wieder an ein Zaubermittel anklingt.
Unter den alten Skandinaviern bildete der Ringwechsel nach den uns überlieferten Sagen und Gesetzen weder in der heidnischen noch in der christlichen Zeit ein wesentliches Zubehör zu den Verlobungs- oder Hochzeitsfeierlichkeiten. Zwar ist bisweilen von einem solchen Austausche die Rede, der Ring hat dann aber gewöhnlich keine höhere Bedeutung als die eines Andenkens. In der Hervarar-Saga allein knüpft sich mehr daran; denn hier sagt die Fürstin Ingborg, die Verlobte Hialmar’s, zu diesem, als er in die Schlacht geht: „Ich schwöre bei Varra“ – damit überreicht sie ihm einen Ring –, „daß, wem auch Uller den Sieg verleihen mag, ich nur eines Mannes Braut sein will.“ In Island wurden alle Abkommen und Verpflichtungen mit Hülfe eines großen Ringes ratificirt, der bald von Knochen, bald von Stein, bisweilen auch von Silber oder Gold war. Mitunter war er so groß, daß man die ganze Hand hindurchstecken konnte. Beim Abschlusse einer Verlobung fuhr der Bräutigam mit vier Fingern und dem Handteller durch den Ring und empfing auf diese Weise die Hand seiner Braut. Manchmal wurden diese Geräthe zur Bestätigung gegenseitiger Verträge auch auf den Altar gelegt und dort gebraucht. Vielleicht läßt sich auf diese Gewohnheit die einstige Form der Trauung auf den Orkneys zurückführen, wo die Brautleute sich durch ein rundes Loch oder einen Ring an einem Steinpfeiler die Hände geben.
Bei den Angelsachsen wurde die Verlobung dadurch vollzogen, daß man sich die Hände reichte, worauf Braut und Bräutigam einander beschenkten. Unter den Gaben des Letzteren befand sich ein Ring, welcher, nachdem ihn der Priester gesegnet, der Braut an einen Finger der rechten Hand gesteckt wurde, wo er bis zur Heirath verbleiben mußte. Bei dieser zog ihn der Bräutigam ab, ließ ihn noch einmal vom Priester segnen und steckte ihn darauf der Braut an den Zeigefinger der linken Hand. Vor Einführung des „Commonprayerbooks“, welches einfach bestimmt, daß der Trauring an den vierten Finger der linken Hand der Braut gehört, steckte der Bräutigam ihn derselben zunächst mit den Worten: „Im Namen des Vaters“ auf die Spitze des Daumens, dann, indem er „und des Sohnes“ fortfuhr, an den Zeigefinger, darauf weitersprechend „und des heiligen Geistes“ auf den Mittelfinger, endlich mit dem Schlußworte „Amen“ auf den vierten, wo er verblieb.
Nach dem Ritual der morgenländischen orthodoxen Kirche hat der Trauring seinen Platz an der rechten Hand. Die Ringe werden hier dreimal gewechselt. Der Bräutigam steckt der Braut zuerst ihren Ring an, dann versetzt der Priester den des Bräutigams an die Hand der Braut; zuletzt bringen Priester und Bräutigam gemeinschaftlich den Ring an die Stelle, wo er bleiben soll. Möglich ist, daß damit ebenfalls an die Dreieinigkeit erinnert werden soll. Vielleicht ist das aber nur eine Umdeutung der Eigenthümlichkeit aller russischen Sagen und Mythen, daß in ihnen die Dreizahl fast allenthalben eine Rolle spielt. Die Väter haben hier nie mehr und nie weniger als drei Söhne. Die Helden reiten auf ihren Fahrten durch dreimal neun Länder, und die Tapfersten unter ihnen sind dreiunddreißig Jahre alt. Sie erreichen endlich ihren Zweck gewöhnlich erst beim dritten Versuche.
Bei den Neugriechen werden bei der Verlobung zwei Ringe, einer von Gold und einer von Silber, ausgetauscht, und die Ceremonie wird auf folgende Weise vollzogen. Der Pope, der sich im Allerheiligsten hinter der mit Heiligenbildern geschmückten Wand befindet, welche jenes vom Schiff der Kirche scheidet, übergiebt den zu Verlobenden angezündete Kerzen und kehrt dann zu ihnen in das Schiff zurück. Hier bringt man ihm die Ringe, die inzwischen auf dem Altar geweiht und gesegnet worden sind, und nachdem er noch ein Gebet über ihnen gesprochen, überreicht er dem Manne den goldenen und der Frau den silbernen, und wiederholt dreimal die Formel: „Der Knecht Gottes N. N. heirathet die Magd Gottes X. im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes für jetzt und fernerhin und alle Zeiten. Amen.“
Bei den Armeniern werden sehr häufig Kinder von drei Jahren, ja noch jüngere mit einander verlobt. Wenn zwei Mütter übereingekommen sind, daß ihre Kinder sich heirathen sollen, so theilen sie die Sache ihren Männern mit, welche die Wahl ihrer Frauen stets gutheißen. Die Mutter des Knaben geht dann mit zwei alten Weibern und einem Priester zu den Eltern des Mädchens und schenkt dem Kinde einen Ring im Namen seines zukünftigen Gatten. Dann wird der Knabe hereingebracht, und der Priester liest eine Stelle aus der Bibel vor und segnet die Verlobten, von denen der kleine Bräutigam der kleinen Braut hierauf bis zu ihrer Verheirathung jedes Jahr ein neues Kleid zu übersenden hat.
Im Abendlande kam früher Aehnliches vor, besonders unter fürstlichen Personen. Vielleicht der kleinste aller Ringe war derjenige, welcher bei den „fiançailles“ der Prinzeß Mary, der Tochter Heinrich’s des Achten, mit dem Dauphin von Frankreich, dem Sohne König Franz’ des Ersten, eine Rolle spielte. Der Bräutigam wurde dabei von dem Admiral Bonnivet, dem französischen Gesandten in London, vertreten. Die Ceremonie fand mit großem Pomp in Greenwich statt, und zwar am 5. October 1518, wo der Dauphin etwa acht Monate und die kleine Prinzeß zwei Jahre alt war. Der König stand vor seinem Throne; neben ihm hatten auf der einen Seite seine Gemahlin und Marie von Frankreich und vor jener die in Goldbrocat gekleidete und von Juwelen strahlende Braut Platz genommen. Auf der andern Seite befanden sich die beiden Legaten des Papstes, Wolsey und Campeggio. Nach einer Rede des Bischofs Tunstal wurde die Prinzeß auf den Arm genommen und die Einwilligung von König und Königin erbeten, worauf Wolsey sich mit einem für die junge Dame passenden winzigen Ringe näherte, in dem sich ein werthvoller Diamant befand. Bonnivet als Vertreter des Prinzen steckte ihr denselben an, worauf sie den Segen empfing und Wolsey im Beisein des Königs und des gesammten Hofes die Messe celebrirte.
Allenthalben knüpfen sich an Trauringe abergläubische Meinungen und Gebräuche, die zum Theil über ganz Europa verbreitet sind. Nicht blos im deutschen Liede heißt es: „Sie hat die Treue gebrochen; das Ringlein sprang entzwei.“ Auch in einer russischen Ballade sagt die Braut: „Wenn ich je an eine andere Liebe denke, so soll sich das Goldringlein von einander thun, und solltest du einem andern Mädchen folgen, so wird der Diamant aus dem Ringe fallen.“ Nicht blos in Tirol und in Hessen glaubt man, daß beim Zerbrechen eines Trauringes bald eins von den betreffenden Eheleuten stirbt, und ebenso ist die Ansicht, daß es eine unglückliche Ehe giebt, wenn der Braut bei der Trauung ihr Ring herabfällt, viel weiter als blos in Norddeutschland verbreitet. Das Zerbrechen eines Eheringes wird von den Frauen in gewissen Gegenden Englands noch jetzt als sicheres Zeichen betrachtet, daß die Gattin in Kurzem eine Wittwe sein werde. In Essex wurde vor einigen Jahren ein Mann ermordet, und seine Wittwe sagte: „Ich dachte mir’s [742] doch, daß ich ihn bald verlieren würde; denn neulich zerbrach mir mein Trauring, und meine Schwester kam um ihren Mann, als es ihr ebenso gegangen war. Es ist ein untrügliches Anzeichen.“
In Rußland treffen wir den Gebrauch, daß man den während eines Gewitters fallenden Regen in einem Becken auffängt, auf dessen Boden man einen Trauring gelegt hat. Im Gouvernement Rjäsan glaubt man, daß Wasser, durch einen solchen Ring gegossen, gewisse medicinische Kräfte habe, und nach einer kleinrussischen Sitte muß die Braut dem Bräutigam aus einem Becher Wein zu trinken geben, in den sie ihren Ring gelegt hat. Ein großrussisches Lied, welches offenbar aus mythischen Zeiten stammt und auf den vielleicht durch die Waräger in das Land gekommenen halbgöttlichen Kunstschmied Wieland anzuspielen scheint, lautet: „Da kommt ein Schmied von der Schmiede. Der Schmied, der trägt drei Hämmer. Schmied, Schmied, schmiede mir eine Krone, schmiede mir eine Krone von Gold und neu! Schmiede mir von dem, was übrig bleibt, einen goldenen Ring, und von dem Abfall eine goldene Nadel! Mit jener Krone will ich mich trauen lassen. Mit jenem Ringe will ich mich vermählen. Mit jener Nadel will ich meinen Hochzeitsmantel zustecken.“
In gewissen Gegenden Deutschlands und ebenso in England und Frankreich gilt es für das beste Mittel zur Vertreibung eines Gerstenkornes am Auge, wenn man dasselbe mit einem goldenen Trauringe reibt, doch muß dies in Deutschland drei Mal, in England neun Mal, und zwar schweigend geschehen. Wenn in Deutschland Leute zu arm sind, um sich Trauringe von Gold zu kaufen, so thun es silberne auch, ja zur Noth können ein paar gewechselte Geldstücke die Ringe vertreten. Dagegen herrscht unter den irischen Bauern vielfach der Glaube, eine Trauung, bei der kein Goldring gebraucht worden, habe keine Gültigkeit. Es giebt daher Leute, welche ihnen solche Ringe gegen eine kleine Erkenntlichkeit leihen, und an manchen Orten hat die Gemeinde einen Trauring angeschafft, der bei jeder Trauungsceremonie verwendet, vom Priester verwahrt und jedes Mal, wo man seiner bedarf, mitgebracht wird.
In ganz England nicht blos, sondern auch in Amerika spielt der Hochzeitskuchen bei Verheirathungen eine wichtige Rolle, und hier wie dort knüpfen sich an ihn, in Verbindung mit dem Trauringe, allerlei abergläubische Gewohnheiten. Im Norden Englands wie in gewissen Landstrichen am Mississippi und Ohio herrscht die Sitte, jenen Kuchen zu einem Orakel zu verwenden. Man schneidet ihn in schmale Stücke, zieht diese neun Mal durch den Trauring hindurch und giebt sie den unverheiratheten Hochzeitsgästen, die sie sich dann des Nachts unter ihr Kopfkissen legen, da sie auf diese Weise von ihrem Liebhaber oder ihrem zukünftigen Manne zu träumen hoffen.
Ferner wird am 6. October, dem Tage der heiligen Fides, in den nördlichen Grafschaften Englands vielfach noch folgender Zauber getrieben. Drei Mädchen thun sich zusammen, um einen Kuchen von Mehl, Quellwasser, Zucker und Salz zu bereiten. Derselbe wird dann in einem Ofen gebacken, wobei die Drei strenges Stillschweigen zu bewahren haben und den Kuchen dreimal umwenden müssen. Ist er gehörig durchgebacken, so zerschneidet man ihn in drei gleich große Theile, und jedes Mädchen muß ihr Stück wieder in neun Streifen zerschneiden und jeden derselben durch einen Trauring schieben, welchen sie sich von einer sieben Jahre verheiratheten Frau geborgt hat. Dann hat sie ihre Kuchenschnitte, während sie sich auskleidet, zu essen und dazu einen Spruch herzusagen, der in deutscher Uebersetzung lautet: „O gute Sanct Fides, sei freundlich heut’ Abend und bring’ mir meinen Herzensschatz her! Laß mich meinen zukünftigen Mann sehen und meine Traumbilder keusch und rein sein!“ Alle Drei müssen sich dann in ein und dasselbe Bett legen, nachdem sie den Ring darüber aufgehangen haben. Sie sehen dann ganz sicher ihren Zukünftigen. Selbst der Finger, an dem man einen Trauring getragen hat oder einmal tragen kann, besitzt, nach der Meinung des Landvolks in Somersetshire, heilende Kraft. Während eine Berührung von Wunden mit den anderen Fingern dieselben „vergiften“ würde, werden sie, mit diesem bestrichen, in kurzer Zeit sich schließen und vernarben.
Alte Legenden behaupten, daß der heilige Joseph und die Jungfrau Maria bei ihrer Eheschließung sich eines Ringes von Onyx oder Amethyst bedient hätten. Diese Entdeckung wird in das Jahr 996 n. Chr. verlegt, wo ein Juwelier aus Jerusalem einen solchen einem Edelsteinhändler zu Clusium überbracht und letzterer seinen Ursprung herausgefunden haben soll. Bald wurde man, wie die Sage weiter berichtet, auch gewahr, daß der Ring wunderthätige Eigenschaften besaß, und man brachte ihn in eine Kirche, wo er allerhand erstaunliche Heilungen bewirkte, die jedoch immerhin noch nicht so erstaunlich waren, wie die fernere Gabe des Ringes, sich zu vervielfältigen. Nicht lange dauerte es, so hatten ein halbes Hundert Kirchen ähnliche Ringe; alle waren echt, und allen erwies man dieselbe fromme Verehrung – eine Thatsache, die indeß nicht zu sehr angestaunt werden darf, da der echten Stücke vom Kreuze Christi wenigstens noch zehnmal mehr waren und noch sind, sodaß man von ihnen „ein Linienschiff bauen“ könnte. Einer von jenen Trauringen Maria’s oder des Pflegevaters Jesu wird im Dome von Perugia verwahrt, aber jedes Jahr nur einmal, nämlich am Tage Sanct Joseph’s, gezeigt. Er ist ein einfacher Goldreif, aber sechsmal so dick, wie ein gewöhnlicher Trauring, sodaß Joseph ein sehr großer Herr gewesen sein muß.
Die Juden bedientet sich im sechszehnten Jahrhundert (vielleicht auch schon früher) und noch später bei ihren Trauungen ungemein großer und reichverzierter Ringe, von denen uns eine Anzahl in Abbildungen vorliegen. Dieselben haben die Gestalt von Trommeln ohne Fell, zeigen auf der einen Seite eine erhaben gearbeitete, über anderthalb Zoll hohe Darstellung eines Hauses, dessen Dach bei einigen wie bei einen Zelte bis auf den Boden reicht, oder eines Kuppeltempels mit Seitenthürmen und enthalten gewöhnlich eine hebräische Inschrift, die mit „Viel Gutes wünsche ich“ zu übersetzen ist. Das Haus oder der Tempel hat Thürchen, die sich in kleinen Angeln drehen, und enthielt aller Wahrscheinlichkeit nach ein Amulet. Diese Ringe wurden selbstverständlich nicht im gewöhnlichen Leben, ja überhaupt wohl nur während der Trauungsceremonie getragen und nach derselben durch einfachere ersetzt. Gegenwärtig sind dergleichen unbehülfliche Kleinode nicht mehr in Gebrauch, wenigstens nicht in Deutschland.
Wir schließen mit einigen kleinen Fabeln und Geschichten, die sich an Trauringe knüpfen.
Im Jahre 1058 hatte sich ein junger Mann von vornehmer Geburt zu Rom verheirathet, und während die Hochzeitsfestlichkeit mit ihrem Schmause noch fortdauerte, ging er mit seinen Freunden in den Garten des Hauses, um Ball zu schlagen. Um dabei nicht behindert zu sein, steckte er seinen Trauring einer Statue der Venus, die sich dort befand, an den Finger. Nachdem er das Spiel beendigt hatte, ging er, um sich den Ring wiederzuholen. Aber wie erstaunt war er, als er fand, daß der Finger, an den er ihn gesteckt, sich krumm gebogen und fest an die innere Handfläche der Statue gelegt hatte. Umsonst versuchte er ihn los zu machen oder zu zerbrechen. Er verbarg die Sache seinen Gefährten und kehrte in der Nacht mit einem Diener zurück, aber siehe da, der Finger war jetzt wieder gestreckt und der Ring verschwunden. Er ließ sich von dem Verluste nichts merken und ging zu seiner Frau zurück. Aber jedesmal, wo er sie umarmen wollte, fand er sich durch ein dunkles und greifbares Etwas daran verhindert, welches dazwischen trat, und er hörte, wie eine Stimme sagte: „Umarme mich; denn ich bin Venus, der Du Dich heute vermählt hast, und ich werde Dir Deinen Ring nicht wiedergeben.“ Da diese Worte ihm fortwährend wiederholt wurden, besprach er sich endlich mit seiner Verwandten, und diese nahmen ihre Zuflucht zu dem in allerlei Zauberkünsten erfahrenen Priester Palumbus. Dieser gebot dem jungen Manne, zu einer gewisser Stunde an eine Stelle zwischen den Trümmerstätten des alten Rom zu gehen, wo vier Straßen sich kreuzten, und hier schweigend zu warten, bis ein Zug vorbeikomme. An dessen Ende werde ein majestätisches Wesen in einem Wagen daher fahren, dem solle er einen Brief überreichen, welchen er, der Zauberer, ihm jetzt mitgab. Der junge Mann that, wie ihm geheißen, und sah eine große Schaar Menschen von aller Altern, Geschlechtern und Ständen, einige zu Fuß, einige zu Roß, andere zu Wagen an sich vorbeiziehen. Manche waren lustig, manche traurig. Unter ihnen befand sich ein frech blickendes Weibsbild, das auf einem Maulthiere ritt. Bei ihrer durchsichtigen Kleidung sah sie wie nackt aus. Ihr langes Haar, das ihr über Schultern und Rücken herabwallte,
[743]wurde von einer goldenen Spange zusammengehalten, und mit einer goldenen Gerte trieb sie ihr Reitthier an. Zuletzt erschien eine hohe majestätische Gestalt in einem mit Smaragden und Perlen geschmückten Triumphwagen, welche den jungen Mann zornig fragte, was er hier zu suchen habe. Schweigend überreichte ihm dieser seinen Brief, welchen der Dämon nicht zurückzuweisen wagte. Sobald er ihn gelesen, hob er seine Hände gen Himmel und rief aus: „Allmächtiger Gott, wie lange willst Du die Ruchlosigkeit des Zauberers Palumbus noch dulden?“ Darauf schickte er sofort zwei seiner Begleiter ab, welche dem Frauenzimmer [744] mit den langen Haaren den Ring des jungen Mannes mit Gewalt abnahmen und ihn seinem Eigenthümer überbrachten, dessen Verbindung mit der höllischen Welt auf diese Weise gelöst wurde.
Häufig geschah es im Mittelalter, daß man „unserer lieben Frau“ einen Ring verehrte. Monstrelet erzählt, daß Ludwig von Luxemburg bei seiner Hinrichtung unter Ludwig dem Elften von seinem Finger einen mit Diamanten besetzten Ring nahm und ihn seinem Beichtvater mit dem Begehren übergab, er wolle ihn dem Gnadenbilde der Jungfrau Maria an den Finger stecken, was jener zusagte.
Cäsarius von Heisterbach berichtet eine Geschichte ähnlichen Charakters wie die römische Venussage. Ein gewisser Priester, Philipp mit Namen, war ein arger Zauberer. Eines Tages nahm er mehrere schwäbische und baierische Jünglinge mit sich nach einem einsamen Orte auf dem Felde draußen, wo er auf ihr Verlangen sich dazu verstand, durch Beschwörungen Geister zu citiren. Zunächst zog er den Degen und machte damit einen Kreis um sie, wobei er ihnen streng verbot, aus demselben hinaus zu treten. Dann ging er ein wenig abseits von ihnen und begann seine Beschwörungsformeln herzusagen. Darauf erschienen plötzlich vor dem Kreise, in welchen die Jünglinge standen, zahlreiche wild aussehende Männer, welche Waffen schwangen und sie zum Kampfe herausforderten. Als es den bösen Geistern nicht gelang, sie auf diese Weise aus ihrem Zauberkreise heraus zu locken, verschwanden sie, um einer Schaar schöner Mädchen Platz zu machen, welche den Ring des Zauberers umtanzten und durch ihre Stellungen und Geberden die Jünglinge an sich zu ziehen bemüht waren. Eine von ihnen namentlich, die alle anderen an Schönheit und anmuthiger Geberde übertraf, hatte es auf einen bestimmten jungen Mann abgesehen, den sie dadurch an sich zu locken suchte, daß sie auf ihn zutanzte und ihm einen goldenen Ring hinhielt, ihm schmachtende Blicke zuwarf und auf jede Weise seine Leidenschaft zu entzünden strebte. Endlich streckte der junge Mann, nicht mehr im Stande zu widerstehen, seinen Finger über den Zauberkreis hinaus, um den Ring in Empfang zu nehmen, und augenblicklich ergriff ihn das Gespenst, riß ihn an sich und verschwand mit ihm.
Wat ick vertell’n will, is keen Bild van ünnen,
Keen Bild, wie et up Eerden wol ward sehn;
En Bild van baben is et, jensiets der Sünnen –
En Droombild. wie et süht nicht Jedereen.
An sienen Dodesdage wöör’t; de Nacht sünk all heraf;
Fritz Reuter’s Liew der Eerd wöör öwergewen –
Da, Afscheed nehmend van dat dustre Graw,
Steeg siene helle Seele up tum Hewen.[3]
De Reis duur ook nich lang – et stiggt geswinder
So’n Dichterseel as ann’rer Minschenkinder
Tum Himmel up, – den Weg kennt se all lang,
All often dröög se upwarts ehr Gesang.
As Fritz nu ankummt an de Himmelsdöhr,
– He wundert sick, – steiht Petrus nich davör;
En junger Engel is’t, so’n recht Gröönsnabel,
De kuum noch drägen kunn Petrus sien Sabel.
Doch patzig keek he – he wöör keen Gemeen,
Nä, as Eenjährger af sien Jahr he deen’,
Denn’t Himmels-Miletär – wat sick erklärt –
Ward ook ganz Preußisch exerceert.
Petrus to sien Spazeergang weg wöör gahn,
Un diß Jungkeerl müß vör em Posten stahn.
„Gu’n Abend!“ – sprickt Reuter – „na, wo is de Ohl?“
Un dabi wies’t he fragend up den Stohl,
Den grooten Lehnstohl an’r Döhr, wovan he weet,
Dat Petrus drup gewönnlick seet.
„Wat hult em af? – Geiht he villicht spazeern?
Dann sluut Du up! Ick laat mi nich upholen geern,
Ook mutt ick stracks tum Herrn der Welt;
Per Telegramm vun güstern bün ick herbestellt.“
Alleen, de Schildwach-Engel starrt em an un swiggt;
Sien Lewdag harr he hört so’n Spraak noch nicht.
Wat schull he dohn? – He winkt Een’ her van sien Collegen,
Bedütt em gau tum Herrgott hintoflegen,
To melden, dat vör’n Himmelsdohr Een stünn,
Deß Spraak Keen van jüm all verstahen künn. –
De leewe Gott, de Allens weet, däh längst et weten,
Fritz Reuter wöör et, de sien letzte Reis’ antreden.
„Nich Een, de Plattdütsch kann von all mien Engels?!“
Sprickt Gott – „Herrje! Wat sünd dat doch vör dumme Bengels!
Da leernt se Fransch und Spansch un annern solken Snack,
Un nicks verstaht se von de schönste Spraak,
De mien troohartig noorddütsch Volk dar sprickt,
Wat globensvull noch up tum Himmel blickt.“
Gott süht sick üm, dann winkt he in de Feern;
En Engel flüggt[4] heran – et wöör en junge Deern
Mit blaue Oogen, geel kruus Lockenhaar,
En Mecklenbörgisch Kind – dat seeg man apenbar.
Bi’n leewen Gott is’t nu nich Mohd, veel Wöörd to maken;
He süht; he winkt, un so vollendet sick de Saken.
Gott winkt ehr denn, dat’s fleegen schull stracks foort –
En Landsmann luur’[5] dar an’r Himmelspoort.
Hin flöög de Engelsdeern – kuum däh se sehn,
Wer dorten stünn – mit Jubelschreen
Rööp[6] se: „Leew Vader, büst Du et? – Kumm mit, geswind!“ –
Wer wöör et, de so rööp? – Fritz Reuter’s Geisteskind,
Lütt Pudel[7] wöör’t, dem ewig Lewen
Fritz Reuter sien Gedicht hett gewen.
Ick bün to End’ – un fragt Ji, wat de Lehr
Van disset Droombild uut’n Jensiets wöör?
De Lehr is, dat et, siet Fritz Reuter schriwwt,
In’n Himmel ook plattdütsche Engels giwwt.
Die junge Frau drunten fuhr zusammen, blieb stehen und hob den Kopf. Aber konnte dies wirklich Monika sein? Dieses blasse, fast weiße Gesicht, das jede Fülle verloren hatte, diese träge Bewegung stimmte so gar nicht zu dem Bilde, das in Valentinens Gedächtniß lebte. Und doch, sie hatte sich nicht getäuscht. Nachdem die junge Frau zu ihr aufgeschaut, ging mit einem Mal ein Erkennen in diesem Gesichte auf, das ihm etwas von seinem natürlichen Ausdrucke zurückgab. Der stets bereite Gedanke an den Krieg und seine Opfer durchblitzte Valentinens Kopf. Weshalb war Monika hier? Sollte sie Wittwe geworden sein? In diese verstörten Züge war ein frischer, noch in voller Herbe wühlender Kummer allzu leserlich eingeschrieben. Mit jenem unwiderstehlichen Tone, der innigen Gemüthern zu Gebote steht, rief sie ihr zu: „Kommen Sie doch herauf, bitte! Erst seit einer Stunde bin ich hier –“
Monika zögerte einen Augenblick, dann wandte sie sich um und ging dem Hauseingange zu. Valentine empfing sie mit herzlichem Worte:
„Welche Ueberraschung, Sie hier zu treffen, Frau Huber! Sind Sie zu Besuch beim Vater? Vielleicht in Folge des Brandes, der Ihnen die eigene Heimath zerstört hat? Ihr Mann, Ihr Kind sind gesund?“
Die junge Frau, welche stumm vor ihr stand und sie mit [745] den größer gewordenen, tief umschatteten Augen nur immer ansah, zuckte bei dieser Frage zusammen.
Valentine ergriff ihre beiden Hände und zog sie neben sich auf einen Sitz. „Was ist Ihnen widerfahren, mein Kind?“ fragte sie leise.
Monika sah die unverfälschte Theilnahme, die sich in jedem Zuge des Gesichtes aussprach, welches sich ihr entgegenbeugte; ihre Seele zerschmolz vor diesen milden Augen. Sie warf sich mit ungestümer Bewegung auf die Kniee und drückte ihren Kopf in des Fräuleins Schooß.
„Mein Fritzel ist todt, Fräulein. Ueberfahren ist er worden, auf der Bahn. Sein eigener Vater – sein Vater legte selbst den Wechsel um, der den Zug vor Schaden bewahrte, und das Kind –“
„Das seid Ihr gewesen?“ rief Valentine erbebend; „mein Gott, das habe ich mir nicht träumen lassen. Wir hörten vor einigen Wochen davon erzählen; die heroische That des Bahnwärters ging ja wohl durch alle Zeitungen. Als ich davon erfuhr, wurde kein Name bezeichnet, und ich selbst nehme selten eine Zeitung in die Hand. Arme, ärmste Monika! Und unser braver Huber – kaum faß’ ich noch so Schreckliches! Wo blieb Ihr Mann? Er ist wohl schon zum Felddienst eingezogen?“
Monika sah auf. „Mein Mann – ja, der ist eingezogen, der ist im Kriege. Ich hab’s gestern erfahren. Der Bahnmeister hat mir das Geld für unsern Hausrath geschickt, den sie dort verkauft haben. Dabei schreibt er, daß der Huber zu seinem Regimente ist.“
„Sie waren also schon zuvor hier?“ fragte Valentine mit leisem Befremden. „Freilich kann ich mir denken, daß es Ihnen schwer fiel dort auszuhalten. Huber sah es wohl selbst gern, daß Sie für eine Weile nach Hause gingen – wer konnte voraus wissen, was geschehen würde! Wie hart nun aber für Sie! All den Jammer allein tragen, auch noch Angst um den Mann auf der Seele, ihn selbst so trostlos in der Fremde zu wissen – arme, gute Monika, wie fühle ich all Ihr Leid mit! Nicht einmal Abschied durften Sie nehmen vor solcher Trennung auf Leben und Tod.“
Monika stand auf. „Wir haben schon von einander Abschied genommen, Fräulein,“ sagte sie in verändertem Tone und strich sich das wirre Haar von der Stirn zurück. „Ich bin von ihm fortgegangen, und wäre weggeblieben auch ohne den Krieg.“
„Ich verstehe Sie nicht.“
„Sie verstehen das nicht? Fräulein, wenn Ihr Liebstes auf der Welt todt und kalt vor Ihnen läge, elend verstümmelt – und Sie wüßten Einen, der schuld daran ist, könnten Sie mit Dem zusammen bleiben, oder gar ihn noch – noch – gern haben?“
„Monika, welche Gedanken!“ rief Valentine erschrocken. „Ist es möglich, daß Sie Ihrem braven Mann sein grenzenloses Unglück zum Vorwurfe machen! Jeder, der von seiner That hörte, hat seine Opferwilligkeit, seine großartige Geistesgegenwart bewundert –“
„Das ist’s,“ sagte die junge Frau herbe. „In dem Augenblick hätte ihm die Geistesgegenwart ausbleiben müssen, da hätte ihm höchstens der Gedanke kommen dürfen: Gottlob, daß mein Kind in Sicherheit ist. So wär’ einem Vater zu Muthe gewesen, der ein Herz im Leibe hat. Er hat sich aber besonnen und hat seine Wahl getroffen, und mit Geistesgegenwart, wie Sie eben sagten, hat er an die Fremden gedacht, und nicht an uns.“
„An seine Pflicht hat er gedacht,“ sagte Valentine ernst und legte beide Hände auf Monika’s Schultern, indem sie ihr eindringlich in die Augen sah. „Tief in uns giebt es doppelten Willen, den eigenen und den Gottes – diesen nennen wir Pflicht. Wem sie einmal innerliche Richtschnur geworden, der besinnt sich nicht erst, der schaut ihr nicht erst prüfend in’s Gesicht; er hört den deutlichen Ruf und gehorcht.“
Monika schüttelte finster den Kopf. „Sie haben kein Kind, Fräulein. Sie wissen nicht, was das heißt.“ Valentinens Augen standen voll Thränen. „Ich weiß wenigstens, daß Sie unglücklich sind, und daß mein Herz von Antheil für Sie voll ist bis zum Rande. Und noch Eins weiß ich, Monika – und weiß es gut – daß Bitterkeit gegen Einen, den man fast lieber gehabt, als die ganze Welt, weher thut, als jedes Unglück. Denken Sie an die Tage, als wir uns zuletzt sahen, wo Ihr Wilhelm Eins und Alles für Sie war, und denken Sie, daß er jetzt jede Minute von Ihnen genommen werden kann – nicht nach Ihrem Willen, der Sie von ihm fortgehen ließ, der sich dann aber nimmer wenden könnte, um zu ihm heimzukehren.“
Die junge Frau zuckte heftig zusammen. „Ich kann an nichts Anderes denken, als an meinen Fritzel,“ sagte sie in beinahe scheuem Tone. „Ich sehe ihn, immer – immer. Aber Sie sind gut zu mir, Fräulein, gut wie ein Engel – vergelt’s Ihnen Gott! Es ist mir eine Wohlthat gewesen, Ihr Gesicht wieder zu sehen und mit Ihnen zu reden. Bis heute hab’ ich mit keinem Menschen davon reden können, auch nicht mit meinem Vater. Ehe ich hergekommen bin, hab’ ich meinen Leuten sagen lassen, was passirt ist und daß ich heim wollte; daß ich im Unfrieden von Wilhelm fort bin, weiß aber Keiner. Wissen Sie, Fräulein, ich hab’ gedacht, ich wollt’ in’s Kloster – da hab’ ich ja schon als Kind hinkommen sollen. Jetzt wird’s mir dort nicht mehr zu still sein; ich bin froh, wenn ich von der ganzen Welt nichts sehen und hören muß. Dann ist mir aber eingefallen, daß ich dazu dem Wilhelm seine Erlaubniß nöthig hab’, und schreiben hab’ ich nicht mögen, und jetzt ist er ja im Kriege. Da muß ich noch warten und weiß nicht, wie ich die Zeit herumbringen soll. Mein Bruder hat inzwischen geheirathet, da giebt’s daheim für mich wenig Arbeit, und wenn ich hinsitze und nähe, mein’ ich, der Kopf zerspringt mir vor Angst.“
„Kommen Sie alle Tage ein paar Stunden zu mir, Monika! Ich bleibe wahrscheinlich lange hier, und wir wollen dann zusammen arbeiten für die armen Verwundeten, für die sich jetzt alle Hände rühren müssen, den es fehlt aller Orten an Verbandzeug. Wollen Sie?“
Ein milderer Ausdruck löste die Spannung, welche alle Züge der jungen Frau gleichsam in Gefangenschaft hielt. Sie beugte sich und küßte Valentinens Hand. „Sie sind gut,“ wiederholte sie.
Schon begannen sich die Bäume herbstlich zu färben. In diesen Jahre lichtete sich das Laub ungewöhnlich früh, denn anhaltende Regenzeit war dem heißen Hochsommer gefolgt. Auch die Zahl der Gäste auf Frauenwörth hatte sich wesentlich gelichtet; nur Wenige hielten trotz der Ungunst des Wetters bis Ende September dort aus.
Heute war einer jener sonnigen, seltenen Tage, die zuweilen den grauen Regenschleier plötzlich von sich werfen, wie eine lächelnde Schönheit dunkle Maskenhüllen. Die Luft war von magischer Durchsichtigkeit; jede fernste Linie erschimmerte. Noch war das Vergehen der Natur so voll Anmuth, daß es den Genuß des Augenblickes steigerte. Obgleich Valentine, welche in ziemlich früher Morgenstunde durch den Klosterhof in den „Frauengang“ gewandert, tief in Gedanken schien, wurde sie doch gerade dort von dem lieblichen Lebewohl zwischen Herbst und Erde eigenthümlich berührt. Zwischen der alten Klostermauer, welche sich der einen Seite des Pfades entlang zieht, und den seltsam gestalteten Uferweiden, durch deren Lücken das bläuliche Schilf hereinnickte, war es wundersam still. Der dichte Rasen war noch immer maiengrün; an der grauen Steinwand kletterte Epheu empor; aus jeder Ritze drängten sich Mauerblümchen, und aus dem verborgenen Klostergarten drang der strenge Duft der reifenden Quitten. Kein Bienchen summte, keine Grille zirpte, und doch war in all der Stille nichts von Trauer, denn durch jede Lichtung lachte der sonnbeglänzte See herein.
In einer dieser kleinen Buchten, ganz in der Nähe einer schmalen Bank, welche dicht am Uferrande unter tiefhängenden Zweigen eines uralten Stammes halb verschwand, saß Bernardin im Grase bei der Arbeit. Doch war er nicht so vertieft, um den bekannten Schritt zu überhören, so leise auch Valentinens Fuß auf dem Rasen klang; er hob den Kopf und nickte der Freundin zu, ohne sich stören zu lassen.
„Pünktlich beim Rendez-vous!“ sagte sie lächelnd; „wir haben aber Zeit.“
Sie blieb hinter ihm stehen und folgte mit dem Blicke seiner Hand. Das Wunder künstlerischen Schaffens übte unbeschreiblichen Reiz auf sie; dennoch gestattete sie sich höchst selten eine [746] Freiheit, welche ihr zugestanden war, durch deren Gebrauch sie aber stets fürchtete, den Genius zu verscheuchen. Vielleicht war es diese an ihr gewohnte Zurückhaltung, welche den Künstler nach einiger Zeit zu ihr umschauen ließ, obgleich sie ihn nicht durch die leiseste Bewegung an sich erinnerte.
„Ich störe Sie – Vergebung!“ sagte Valentine, und zog sich, trotz seines ermuthigenden Kopfschüttelns, zurück nach der nahen Bank. Obgleich sie dort eine leichte Näherei zur Hand nahm, wanderte doch ihr Auge oft von der Arbeit fort und hing an Himmel und See. Die Abtei der Herreninsel stand in vollem Sonnenglanze. Harmonische Ruhe erfüllte das einfache und doch so großartige Bild, welches sich hier von dem stillsten aller Plätzchen aus darbot. Sie mochte zuletzt über dem Sinnen und Schauen Zeit und Ort ganz vergessen haben, denn die Arbeit ruhte müßig in ihrem Schoße, und sie schrak leicht zusammen als nach geraumer Pause Bernardin’s Stimme sich dicht an ihrem Ohr vernehmen ließ: „Fertig! – Ich hatte Sie kaum so früh erwartet.“
Das Fräulein rückte auf der Bank ein wenig weiter, um dem Freunde neben sich Platz zu machen: „Und nun, was haben Sie mir zu berichten? Wissen Sie wohl, daß es Ihnen geglückt ist, mich neugierig zu machen? Gestern Abend bleiben Sie nach Ihrer Ankunft stundenlang in meiner Gesellschaft, erzählen, wie es einem Reisenden geziemt, von Allem, was sich binnen einer Woche unserer ereignißvollen Zeit erleben läßt, und sagen mir dann an der Hausthür mit stillem Theaterflüstern, daß Sie mich heute zu sprechen wünschen – das hat Großes zu bedeuten.“
Bernardin erwiderte ihr Lächeln, ohne doch auf ihr Scherzwort einzugehen. „Ich habe Ihnen in der That etwas zu sagen, Valentine.“ Sein tiefes Auge verweilte einen Moment mit eigenthümlichem Ausdruck auf ihrem Gesicht, dann lehnte er sich gegen den Weidenstamm zurück, verschränkte die Arme und fuhr fort, ohne sie anzusehen: „Gleich am ersten Tage, als ich nach München kam, hatte ich Veranlassung, Herrn von Rother zu besuchen. Man forderte mich auf, den Abend über zu bleiben, und es fanden sich noch einige Personen ein, darunter ein mir Unbekannter, welcher mir als kürzlich berufener Professor der Münchner Universität bezeichnet wurde. Dieser noch junge Mann interessirte mich sogleich durch seine bedeutende Persönlichkeit, und wir unterhielten uns viel mit einander. Im Verlaufe des Abends fragte mich Frau von Rother über den Tisch hinweg nach Ihrem Ergehen. Völlig unbefangen, wie ich war, konnte ich trotzdem nicht übersehen, daß Professor Hartung, mit dem ich eben sprach, als diese Frage an mich gerichtet wurde, jäh die Farbe wechselte. Ja, Valentine – Dieser ist es, über welchen ich mit Ihnen zu sprechen habe,“ sagte er mit festen Blick in seiner Gefährtin ernstes Gesicht. „Erlauben Sie mir, fortzufahren?“
Valentine nickte nur.
„Ich weiß kaum, wie es zuging,“ fuhr Bernardin fort, „aber in demselben Moment schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich hier den Mann vor mir sähe, von dem Sie mir einst gesprochen, ohne ihn mir zu nennen. Während ich die Frage der Dame eingehender beantwortete, als es sonst wohl geschehen wäre, beobachtete ich meinen Nachbar. Da der kleine Kreis meist aus Ihren Bekannten bestand, bewegte sich das Gespräch eine Zeit lang um Sie und Ihren Vater; der Professor verhielt sich dabei wie ein Fremder und blieb auch von diesem Augenblicke an einsilbig, als man aber auseinander ging, fragte er bei mir an, ob er mich im Atelier aufsuchen dürfe. Schon am folgenden Morgen fand er sich dort ein, und ich leugne nicht, daß seine Persönlichkeit großen Reiz auf mich übte, trotz des Vorurtheils, welches meine Vermuthung mich gegen ihn hatte fassen lassen. Wir sahen uns während der Woche meines Dortseins täglich, bald Abends am dritten Orte, bald im Hôtel bei Tische, woran sich meist ein gemeinsamer Spaziergang schloß. Er suchte unverkennbar meine Gesellschaft, und ich ließ mich finden. Gestern nun kam er des Morgens zu mir in das Atelier; er wußte, daß ich Nachmittags hierher zurückkehren würde, und begrüßte mich sogleich mit dem Worte, daß er sich nicht nur verabschieden, sondern mich um eine Gefälligkeit ersuchen wollte. Ganz gelassen sagte er mir dann, daß er in früherer Zeit die Ehre genossen, Ihrem Hause näher zu stehen, daß ein Zerwürfniß, dessen Schuld einzig auf seiner Seite gelegen, ihn dieses Vorzugs beraubt habe und daß ihm nun der Gedanke peinlich sei, Ihnen, vielleicht wider Ihren Wunsch, zu begegnen, nachdem er ohne sein Zuthun die gleiche Stadt mit Ihnen bewohnen und sich in gleichen Kreisen bewegen würde. Er habe sich deshalb erlaubt, einige Zeiten an Sie zu richten, wodurch er sich, wenn nicht Ihre Vergebung, doch eine Richtschnur für sein Verhalten erbitten wolle, und wünschte dieselben durch eine Ihnen befreundete Hand an Sie zu übergeben, da er befürchten müßte, einen Brief durch die Post uneröffnet zurück zu erhalten.“
„Was antworteten Sie?“ fragte Valentine nach einer Pause, kaum hörbar.
„Natürlich konnte es mir nicht in den Sinn kommen, ein Vertrauen, welches Sie mir einst gönnten, auch nur durch eine Andeutung zu berühren; um so weniger, als meine Vermuthung zwar bestärkt, aber doch nicht unbedingt bestätigt worden war. Wie Sie gegenwärtig denken, Valentine, weiß ich nicht. Nach Ihrem Wunsch ist jenes Thema nicht wieder zwischen uns berührt worden. Ein im Grunde einfaches Ersuchen, das mir in ruhiger, würdiger Form ausgesprochen war, zurückzuweisen, hatte ich weder Ursache noch Recht; ich stimmte also zu ohne jede Bemerkung über die erhaltene Mittheilung, und hier übergebe ich Ihnen, was mir anvertraut worden.“ Er nahm einen versiegelten Brief aus seiner Brusttasche und legte ihn auf das Tischbrettchen vor Valentine nieder.
Sie blickte wortlos auf die festen, charakteristischen Schriftzüge der Adresse, ohne den Brief zu berühren. Feines Roth stieg ihr langsam bis zu den Haarwurzeln; in ihrem Auge ging ein wunderbares Glänzen auf. Bernardin warf einen schnellen Blick auf sie und machte dann eine Bewegung, um aufzustehen und sie allein zu lassen, doch hielt sie ihn durch leise Berührung seines Armes neben sich zurück:
„Bleiben Sie noch, lieber Freund! Ich möchte Ihnen Manches sagen. Dies kam überraschend – was ich Ihnen aussprechen möchte, ist aber allmählich gekommen. Es bedarf dazu nicht erst einsamen Besinnens. So wissen Sie denn vor Allem: Sie haben mir tiefe Freude, Sie haben mir eine Wohlthat gebracht.“
Bernardin blickte überrascht in ihr belebtes Gesicht.
„Was dieser Brief auch enthalten mag, jedenfalls bringt er mir das, was ich als einzige persönliche Gabe in jüngster Zeit oft vom Schicksale erfleht hatte, ohne doch auf Gewährung hoffen zu können; jedenfalls ist er die Brücke zur inneren Harmonie, die mir abhanden gekommen war. Oft schon war ich in Versuchung, mit Ihnen hierüber zu sprechen und doch wollte es so schwer über die Lippen – manches, was man klar empfindet, wird so anders, wenn es sich in Worte übersetzen soll.“ Sie hielt inne und schlug dann das seelenvolle Auge frei zum Freunde auf. „Es in Ihnen doch wohl befremdlich erschienen, daß Hartung voraussetzte, ein Brief an mich könnte uneröffnet an ihn zurückgehen? Nach so langer Zeit! Dies beruht auf einem Vorfall, worüber ich gegen Sie schwieg. Vor einigen Jahren, kurz nachdem ich Ihnen von Hartung gesprochen, führte uns ein Zufall auf der Reise mit ihm in das gleiche Hôtel. Ich wußte davon nichts, er hatte uns aber anfahren sehen und sandte mir seine Karte mit der Anfrage, ob ihm ein Besuch gestattet sei. Ich ließ einfach zurücksagen, wir seien im Begriff weiter zu reisen. Er verstand, und blieb unsichtbar. Ich glaubte damals recht zu handeln. Ich wollte, konnte ihm nicht wieder begegnen. Was sollte uns ein Wiedersehen frommen? Dennoch hatte die Erinnerung seitdem einen Stachel mehr. Ungesprochene Worte lasten schwerer auf der Seele, als Alles, was gesagt werden kann. Stets hielt ich aber die Ueberzeugung aufrecht, daß ich es meiner Frauenwürde, meiner Ruhe schuldig gewesen, sie nicht auf das gewagte Spiel einer Stunde zu setzen, die mit Schwäche und Niederlage enden konnte. Ich bin keine Heldin, Bernardin, und weiß das gut. So vergingen wieder Jahre –“
„Und nun?“
„Nun!“ sagte Valentine lebhafter, „nun ist mir in diesen letzten Wochen gleichsam das Herz im Leibe gewendet worden, und regt sich und ruft und sehnt sich Tag und Nacht nur nach dem einen letzten Lebensziele, einem Worte der Versöhnung. – Wie sage ich Ihnen das nur? Sie wissen ja von Monika Huber, von der armen mir so lieben Frau, und daß ich es mir zur Aufgabe gemacht, sie aus ihrer Herzensbitterniß zur rechten Anschauung zu leiten. Ich habe auch Hoffnung des Gelingens. [747] Wenn es sehr dunkel um uns ist, tasten wir ja aus unaussprechlicher Bangigkeit umher nach irgend einem Halt in all der Noth und Wirrniß. So hat sich das arme Weib an mich geklammert, denn selbst ihr Kinderglaube an einen Gott des Erbarmens ist erschüttert. Gerade ihr wahrhaftiges, feuriges Naturell, das die unmittelbarsten Begriffe stark erfaßt, ist für ein complicirtes Geschick nicht erschaffen, nur mühsam ringt sie sich zu einem weiteren Blicke, zum Erkennen durch – doch jetzt schon fühle ich, es wird nicht ausbleiben. Indem es aber mein tägliches Sinnen geworden, ihr den scharfen Stachel aus dem Herzen zu ziehen, das zarte Pflänzchen Liebe in ihr zu pflegen, dessen Blüthe jetzt zertreten, dessen Wurzel aber hoffentlich unbeschädigt ist – da, Freund, kam das Erkennen über mich selbst. Da kam das Vergleichen, was sie nach ihrem Bewußtsein zu vergeben hätte, was ich? Mutterliebe dort, Selbstliebe hier – oder wie nenne ich es sonst, das mich hieß die Hand, welche sich nach mir ausstreckte, nicht zu berühren? ‚Unrecht hast Du gethan, an ihm, an Dir,‘ so ruft es in mir laut und lauter – mit heißen Thränen sehnte ich tausendmal die versöhnende Stunde zurück, wo die einzige Dissonanz meines Lebens sich in Harmonie hätte lösen können, wenn ich nicht feige, wenn ich nicht selbstisch gewesen wäre. Jetzt sie herbeizwingen, wäre in der That mit weiblichem Zartgefühl kaum vereinbar gewesen; so empfand ich sie denn als unwiederbringlich verloren. – Nun wissen Sie, was dieser Brief mir giebt. Ruhe, Friede mit mir selbst für alle Zeit, denn, was er auch bringen mag, es gilt Versöhnung.“
„Es gilt wohl mehr, Valentine,“ sagte Bernardin ernst. „Die alte Schuld ist verbüßt; Sie Beide sind frei, und – ich glaube, dieser Mann ist Ihrer werth. Seit Jahren erwartete ich solchen Ausgang. Nun ist er gekommen.“ Er faßte ihre Hand mit starkem Drucke, ließ sie sogleich wieder los und erhob sich. „Auf Wiedersehen!“ sagte er mit der tiefen, ruhigen Stimme, die ihm eigen war. Während er sich von ihr entfernte, ging er langsamer und stand, ehe er den Pfad zum Kirchhofe hinauf einschlug, einen Moment am Strande, das schwermüthige Auge den Bergen zugewendet. Kein Mensch wird so alt, daß er nicht noch durch das Herz leiden könnte.
Valentine war allein. Alle ihre Pulse fieberten. Noch hielt sie den Brief unerbrochen in der Hand. Ihr Blick wurzelte auf der Adresse. Wie viel Tage und Jahre waren vergangen, seit sie diese Schriftzüge zuletzt erblickt! Nachdem der Bruch ihrer Verlobung vollzogen war, hatten sie Beide einander alle Briefe zurückgegeben, die sie in glücklicheren Tagen getauscht. Von allzu heißem Weh getrieben, übergab Valentine damals den Flammen jedes Blättchen, jedes welke Reis, das ihr aus der geliebten Hand gekommen. Da fand sie einst, als sie gelegentlich eigene Aufzeichnungen durchblätterte, zwischen den Heften ein Gedicht, welches Hartung für sie aufgeschrieben. Es war nicht von ihm selbst. Er brachte es ihr nur, weil es ihm sehr gefiel. Jetzt, in diesem Augenblicke, wo Valentinens ganze Seele zagend und sehnsüchtig durch die Hülle drang, welche sie noch von Wohl oder Wehe schied, stand seltsamer Weise jedes Wort jener kurzen Strophen plötzlich vor ihrem Geiste, ihren Augen:
„Im Traume hab’ ich oft geschaut
Dein Bild im himmlischen Gewand.
Jetzt, da ich Dich auf Erden fand,
Bist Du mir innig schon vertraut.
Verschwunden ist mir alle Zeit –
Ich habe Dich von Anbeginn
Und weiß, daß ich Dein eigen bin
In alle künft’ge Ewigkeit.“
„In alle künft’ge Ewigkeit!“ Valentinens Gesicht wurde rosig wie eine Abendwolke. Sie löste das Siegel. Das Blatt, welches in ihrer Hand bebte, enthielt nur wenige Zeilen:
„Tiefste Ueberzeugung sagt mir, daß Sie nicht vergessen haben, Valentine. Ob Sie vergeben können, ob ich Sie wiedersehen darf, weiß ich nicht. Mag Ihr Wille mich nun auch künftig von Ihnen fern halten, oder nicht, Eines muß ich Ihnen sagen, ehe wir uns wieder begegnen: Jene Tage, die uns verbanden, sind und bleiben der Inhalt meines Lebens.Valentine senkte ihre Stirn auf das Blatt nieder. Sie weinte, wie es dem Menschen selten beschieden ist zu weinen. Sie weinte aus Glück.
Blätter und Blüthen.
Der Exkriegssecretär General Belknap vor dem Gerichtshof zu Washington. Der Zweck dieser Zeilen ist nicht, auf den Inhalt der Anklage Belknap’s nochmals einzugehen. Die Natur des Verbrechens des Kriegsministers ist den Lesern aus dem in Nr. 21 und 23 erschienenen Artikel über das amerikanische Beamtenthum hinlänglich bekannt. Es ist vielmehr nur der Ausgang des Processes, die Freisprechung des der gemeinsten Bestechlichkeit vollständig überwiesenen Exministers durch seine Parteigenossen, wofür wir diesmal einen kleinen Raum in der „Gartenlaube“ beanspruchen möchten.
Bei einer Anklage, in welcher Beamte der Republik vor den Schranken des Senates, des höchsten Gerichtshofes, als Beschuldigte erscheinen, übernimmt das Repräsentantenhaus die Rolle des öffentlichen Anklägers. Nachdem dasselbe die gegen einen Beamten erhobenen Beschuldigungen geprüft und hinreichend erwiesen befunden hat, ernennt es ein Comité, welches als Ankläger vor dem Senate erscheint und denselben auffordert, den Verklagten vor seine Schranken zu fordern. Dieser erste Schritt war in dem vorliegenden Falle gethan worden; der Senat hatte die Anklage zugelassen. Jetzt erhoben die Vertheidiger Belknap’s zunächst Einwand gegen die Competenz des Senates, den Exminister zu richten, weil das Gesetz eine Anklage nur in dem Falle gestatte, wenn der Angeklagte ein Beamter der Republik sei, Belknap habe aber sein Amt niedergelegt und seine Abdankung sei vom Präsidenten angenommen worden, ehe er eines Verbrechens angeklagt wurde; folglich sei er kein Beamter mehr, könne also nicht vor den Senat, sondern nur vor die gewöhnlichen Gerichte gefordert werden. Dieses von seinem Hauptvertheidiger, Exsenator Carpenter, auf’s Geschickteste ausgebeutete Beweismittel fand indeß eine gründliche Widerlegung durch die ausgezeichneten Rechtsgelehrten des Senats, welche nachwiesen, daß ein Beamter auch nach seiner Abdankung für alle während seiner Amtszeit begangenen Verbrechen vor die Schranken des Senats gebracht und gerichtet werden könne. Der Senat entschied denn auch die Competenzfrage mit einer bedeutenden Majorität zu Gunsten der Anklage und forderte den Exminister auf, vor seinen Schranken zu erscheinen.
Die Zeugenvernehmung begann. Dem Hauptzeugen Marsh war Straflosigkeit zugesichert worden, wenn er aus Canada zurückkehren und sich dem Gerichte zur Verfügung stellen würde. Er kam und legte den Sachverhalt auf’s Umfassendste dar, wie ihn die Leser aus jenem früheren Artikel schon kennen. Durch sämmtliche Zeugenverhöre wurde eigentlich gar Nichts zu Tage gefördert, was das Publicum nicht schon vor Beginn des Processes, theils durch die Selbstbekenntnisse Belknap’s, gewußt hätte. Die Vertheidigung hatte auch nie die geringste Hoffnung oder Absicht gehabt, ihren Clienten durch Widerlegung oder Beschönigung seiner Verbrechen zu retten; sie wußte wohl, daß dies verlorene Arbeit sein würde. Sie suchte ihr einziges Heil in dem Versuche, durch alle möglichen Winkelzüge in Bezug auf Formfragen und durch eine freche Sophistik den Parteigenossen wenigstens vom Zuchthause zu retten.
Nachdem der Versuch, den Proceß durch die Competenzfrage zu erdrücken, mißlungen war, deutete Carpenter in seinen Reden den Weg an, der jetzt eingeschlagen werden müsse, indem er den Satz aufstellte: kein Senator, der gegen die Competenz des Senates gestimmt habe, könne für die Verurtheilung Belknap’s stimmen, weil ihm die Berechtigung dazu nach seiner eigenen Ansicht fehle. Da nun mehr als ein Drittel aller Senatoren gegen die Competenz gestimmt hatten, zu einer Verurtheilung aber zwei Drittel aller Stimmen erforderlich sind, so ergab dies, wenn seine Sophistik durchschlug, für den Senat die Unmöglichkeit, den Angeklagten zu verurtheilen; er mußte dann freigesprochen werden.
Der schlaue Vertheidiger hatte zwei Punkte, die seine ganze Beweisführung über den Haufen warfen, geschickt genug zu verdecken gesucht. Erstens: Die Competenzfrage war durch den Senat, der dabei in seiner Eigenschaft als Richter gehandelt hatte, schon endgültig entschieden; die Minorität hatte sich diesem Entscheide gefügt und durch ihre Theilnahme an den nun folgenden Proceßverhandlungen es deutlich und klar ausgesprochen, daß sie sich als Mitglieder des Gerichtshofes ansähen und als solche das durch die Majorität festgestellte Recht, den Angeklagten zu richten, beanspruchten. Seit dem Beginn der Zeugenvernehmung saß der Senat in seiner zweiten Eigenschaft zu Gericht, hatte mit der von ihm als Richter entschiedenen Competenzfrage gar nichts mehr zu thun, sondern einzig und allein die Thatsachen des Falles zu beurtheilen und seinen Wahrspruch in Bezug auf diese Thatsachen abzugeben. Zweitens schienen Carpenter und die Belknap günstigen Senatoren den Umstand ganz vergessen zu haben, daß, wenn die Herren den Senat nicht für competent hielten, als Gerichtshof zu fungiren, und eben deshalb glaubten, unter keinen Umständen ein „Schuldig“ aussprechen zu dürfen, sie sich doch ebenso wenig für berechtigt halten konnten, einen Wahrspruch auf „Nichtschuldig“ zu geben. Das Eine fiel mit dem Andern, und es blieb ihnen nichts übrig, als sich der Abstimmung gänzlich zu enthalten. Die Sophistik Carpenter’s war so kläglich grob, daß Jedermann sie leicht genug durchschauen konnte; im Allgemeinen zweifelte man darum auch daran, daß die Freunde des Exministers sich eine solche Blöße geben würden, an den ihnen vom Vertheidiger hingehaltenen plumpen Köder anzubeißen.
Der Tag der Abstimmung kam heran. Die Bestrafung eines der [748] ehrlosesten Verbrecher, der einen der höchsten Ehrenposten der Republik bekleidet hatte und dessen Schuld durch Zeugen und Selbstbekenntniß in allen Details so klar bewiesen worden war, daß auch die geschickteste Vertheidigung nichts davon hatte wegdisputiren oder auch nur mildern können, war in die Hände der Senatoren eines großen Volkes gelegt worden, das so oft schon den stolzen Vergleich zwischen diesem seinem Senate und dem des alten weltbeherrschenden Roms gezogen hatte. Die Augen des ganzen Volkes waren auf die feierliche Scene im Capitol zu Washington gerichtet; es hoffte, wenn auch zweifelnd, auf einen gerechten Spruch zur Warnung Aller, denen ein Amt anvertraut und die, durch das böse Beispiel ihrer Vorgesetzten verleitet, oft nur zu geneigt waren, ihre amtliche Stellung zu mißbrauchen. Zweiundsechszig Senatoren waren anwesend, folglich zweiundvierzig zur Verurtheilung erforderlich. Von diesen Zweiundsechszig erhoben sich fünfundzwanzig, sämmtlich der republikanischen Partei angehörig, und erklärten den Exminister für „Nicht schuldig“, wobei die Meisten zu ihrer Rechtfertigung die Bemerkung hinzufügten, sie gäben diesen Wahrspruch nicht weil sie den Angeklagten für unschuldig hielten – sie seien im Gegentheil von seiner Schuld in ihrem ganzen Umfange überzeugt –, sondern nur weil sie sich überhaupt nicht für competent hielten, ihn zu richten. Carpenter’s Sophistik hatte willige Ohren gefunden. Wie hatten es diese Männer auch wagen dürfen, einen so hochgestellten Parteigenossen dem Zuchthause zu überantworten! So etwas durfte um der Partei willen nimmermehr zugelassen werden. Ob dabei der Gerechtigkeit Gewalt angethan wurde, was kümmerte es diese Menschen, in denen die niedrigste Selbstsucht und die ungezügelte Gier nach Parteiherrschaft längst jedes Rechtsgefühl und jeden Funken von wahrem Patriotismus erstickt hatte!
So endete diese zweimonatliche Farçe mit der völligen Freisprechung Belknap’s, dessen Vorladung vor ein anderes Gericht zu erwarten steht. Die fünfundzwanzig Senatoren, welche sich angesichts des ganzen Volks nicht entblödeten, der hier zu Lande so vielfach verhöhnten Gerechtigkeit einen so frechen Faustschlag in’s Gesicht zu versetzen, stehen zwar vor dem ehrenhafteren Theile des Volkes gebrandmarkt da, wie viele aber der Tonangebenden und Einflußreichen, namentlich in der politischen Gesellschaft, gehören zu denen, die der Wahrheit durch Wort und That die Ehre geben! So wird auch Belknap’s Schuld bald verblassen, und der überführte, aber dennoch freigesprochene Verbrecher, der wenigstens für immer aus der Oeffentlichkeit verschwinden sollte, wird seiner Zeit wieder in den Kreisen glänzen können, in denen er Anstands halber für den Augenblick vielleicht noch nicht zu erscheinen wagt. Heißt es doch, daß er schon begonnen hat, sich an dem gegenwärtigen Präsidentschaftswahlkampfe durch politische Reden zu Gunsten des republikanischen Candidaten Stayes zu betheiligen, aus Dankbarkeit natürlich gegen die Freunde, die ihn vom Zuchthause gerettet. Einer dieser Freunde aber, einer der fünfundzwanzig Senatoren, die Belknap freigesprochen, erklärte kürzlich in einer politischen Versammlung, welcher der Schreiber dieses beiwohnte, daß die Republik seit ihrem Bestehen keine so ehrliche, fleckenlose und glorreiche Regierung gehabt habe, wie die der letzten acht Jahre unter der Präsidentschaft Grant’s und der absoluten Herrschaft der republikanischen Partei. Solche Thatsachen sind charakteristisch für die Zustände, in denen wir leben und unter denen wir leiden. Wo solche Worte gesprochen und von einer großen, intelligenten Versammlung mit donnerndem Beifall aufgenommen werden können, da scheinen Reformen noch in weite Ferne gerückt und wenig Hoffnung auf Besserung vorhanden zu sein. Wer kann es da dem unparteiischen Bürger, dem das Wohl des Landes am Herzen liegt, verdenken, wenn ihm bange um die Zukunft wird?
Noch einmal die Farbenblindheit. Unsere Leser werden sich des Artikels: „Die Farbenblindheit, eine Gefahr für das öffentliche Leben“ in Nr. 4 dieses Jahrgangs, S. 65, erinnern. In Folge desselben sind von verschiedenen Eisenbahndirectionen Untersuchungen über diesen Gegenstand veranlaßt worden und uns mannigfache Berichte über deren Resultate zugegangen. Als eine besonders interessante Illustration zu diesem Thema lassen wir heute nachstehende Mittheilung aus Upsala hier folgen.
Bereits vor einigen Wochen hat Professor Fr. Holmgren im hiesigen physiologischen Laboratorium eine Reihe von Versuchen mit farbenblinden Personen angestellt, die in keiner Beziehung zum Eisenbahndienste standen und deshalb keinerlei Interesse hatten, ihr Gebrechen zu verheimlichen, sondern sich nur aus Eifer für die Sache zur Disposition Holmgren’s stellten. Diese Untersuchungen, deren Resultate den mit normalem Farbensinn Begabten mit Erstaunen erfüllen, wurden in Gegenwart eines höheren Bahnbeamten angestellt, und bei denjenigen am 13. October war unter Anderen auch der Generaldirector Troilius anwesend.
Eine der interessantesten Wahrnehmungen war die, wie es roth- und grünblinde Personen verstehen, die rothe und grüne Farbe auf Eisenbahnflaggen zu unterscheiden. Zuerst wurde z. B. eine grüne Flagge gezeigt. Der zu Untersuchende, um die Farbe derselben gefragt, antwortete wahrheitsgemäß, daß er dieselbe nicht kenne; er rieth z. B. auf „roth“, bei einer vorgezeigten rothen dagegen auf „grün“. Beide Flaggen wurden nun gleichzeitig vorgezeigt und der Name der verschiedenen Farben genannt. So lange das Gedächtniß ihn nicht im Stiche ließ und Gelegenheit zur Vergleichung vorhanden war, konnte der Farbenblinde diese unterscheiden: er hatte sich nämlich gemerkt, daß die „dunkle“ Flagge die grüne, die „helle“ aber die rothe ist. Nach einem auf solche Weise glücklich ausgefallenen Examen würde der Farbenblinde leicht eine Anstellung als Locomotivführer, Conducteur oder Stationsdiener erhalten, aber künftighin soll dies nicht so bleiben. Der Versuch wird wiederholt, nun aber mit einer ausgebleichten grünen und mit einer schmutzigen rothen Flagge; die Unterscheidung von „dunkel“ und „hell“ hilft nichts mehr; der Befund ist der entgegengesetzte: dem Auge des Farbenblinden ist die grüne Flagge jetzt die helle, die rothe die dunkle. Gleiches wurde bei grünen und rothen Lichtsignalen festgestellt; dunkel (bei dieser Probe gleich roth) und hell (gleich grün) kann der Farbenblinde für eine Weile sehr wohl unterscheiden, aber sobald eine Vergleichung beider gegen einander nicht mehr möglich, ist er völlig außer Stande zu unterscheiden, ob ihm im Bahndienste „vorsichtig fahren“ oder „stillgehalten“ signalisirt wird. Genau dasselbe Resultat ergiebt sich hierbei wie bei der Flaggenprobe; eine Laterne mit etwas dünnerem rothem Glase gabt ihm einen helleren, eine solche mit dickerem, schmutzigerem grünem einen „dunkleren“ Schein, und ihnen gegenüber steht er rathlos, weil ihm der Anhaltspunkt zur Beurtheilung der Farben fehlt.
Eine andere Eigenthümlichkeit ist die, daß von zwei Farbenblinden, welche nur auf Grund der Lichtstärke einer Laterne oder einer Flagge die verschiedenen Farben von einander zu trennen vermögen, der eine „hell“ nennt, was dem anderen „dunkel“ erscheint, und umgekehrt.
Auf dem Tische, auf dem viele verschiedenfarbige Wollepartien liegen, begegnen dem Farbenblinden die schwersten und ergötzlichsten Irrthümer. Komisch ist anzusehen, wie der Grünblinde lacht über die Anordnung der Wolleproben seitens des Rothblinden, und wie der Rothblinde in Verwunderung geräth über die Täuschungen des Grünblinden. Aber am interessantesten ist es doch zu sehen, wie auch der hartgesottenste Zweifler an der Existenz der Farbenblindheit zu Kreuze kriecht, wenn er die Ergebnisse dieser Untersuchungen gesehen hat. –
Bei Professor Holmgren’s Untersuchung des Farbensinnes beim Dienstpersonale der Upsala-Gefle-Eisenbahn hat sich ergeben, daß unter zweihundertsechsundsechszig Untersuchten, dem ganzen Betriebspersonale genannter Bahn, nicht weniger als zwölf oder 4,5 Procent in geringerem oder stärkerem Maße farbenblind waren, und zwar: ein Stationsinspector, ein Locomotivführer, zwei Conducteure, ein Bahnmeister, ein Extrabahnmeister, ein Stationsdienervormann, ein Stationsdiener, zwei Bahnwärter, ein Bote und ein Maschinenarbeiter.
Man darf wohl annehmen, daß nach solchen Ergebnissen die Bahnverwaltungen auf das Schleunigste Untersuchungen bezüglich des Farbensinnes ihres Personals anstellen lassen werden; die Fahrgäste haben, zu ihrer Sicherstellung das Recht, dies zu fordern.
Bei der Eisenbahn Fröri-Ludvika wurde neulich vom Betriebschef Taube eine Untersuchung über Farbenblindheit mit dem Dienstpersonale angestellt, welche das überraschende Resultat ergab, daß zehn Procent desselben – sage: jeder zehnte Mann – des normalen Farbensinnes in so hohem Grade ermangelten, daß sie roth, grün und weiß von einander zu unterscheiden außer Stande waren. Sämmtliche haben im Dienste Farbensignalen zu gehorchen.
Als die Farbenblinden behufs nochmaliger Untersuchung dem Arzte überwiesen wurden, wurde das Resultat in allen Fällen bestätigt.
Die Probe wurde auf folgende einfache Weise ausgeführt: zwölf Nachtsignale, abwechselnd roth, grün und weiß, wurden in einer Reihe im Abstande von zweihundert Fuß vom Personale angeordnet; Mann für Mann wurde aufgefordert, die Farben in der Reihenfolge von links nach rechts und umgekehrt zu nennen.
Außer den ganz Farbenblinden fand sich auch ein Theil solcher, welche, obwohl in gewissem Sinne ebenfalls farbenblind, doch die Signalfarben der Bahn zu unterscheiden vermochten.
Die „Eisenbahnzeitung“ theilt weiter mit: „Die Direction der Staatsbahnen hat die Intendanten aufgefordert, die Aufmerksamkeit der Bahnärzte darauf zu richten, daß das Unvermögen, die verschiedenen Grundfarben zu unterscheiden, ein Hinderniß für die Annahme zum Eisenbahndienst abgiebt und daß deshalb bei der Untersuchung von Anstellung Suchenden geprüft werden muß, ob und in wie weit der Suchende an einer solchen Beschränkung des Sehvermögens leidet.“
Franz Ziegler, einer der „Vier in einer Woche“, deren Todtenkreuze wir in Nr. 41 zusammengestellt haben, wird in der „Wage“, dem bekannten „Wochenblatt für Politik und Literatur“ von Guido Weiß, in einem kleinen, aber treffenden Bilde von geschickter Hand nach dem Leben skizzirt. Wir erfahren daraus, daß das von uns angeführte Wort: „Die Disciplin ist die Mutter des Siegs“, das er nicht in der Paulskirche, sondern im Berliner Abgeordnetenhause gesprochen, damals von Waldeck hart angefochten worden sei. Beide Männer erkannten sich jedoch bald ihrem wahren Werthe nach und blieben Freunde bis zum Tode. Ziegler’s zweites Wort: „Das Herz der Demokratie ist da, wo die preußischen Fahnen weh’n“, hat der „altpreußische Demokrat“ in hinreißender Rede 1866 zu Breslau ausgerufen. Seine Rede gegen Mühler gehört dem Jahre 1869 an. Die Lebensskizze in der „Wage“ ist durch die Besprechung von Franz Ziegler’s „Gesammelten Novellen und Briefen aus Italien“ veranlaßt worden, von welchen Fr. Duncker eine neue Auflage in drei Bänden vorbereitet.
Die drei letzten Hausgenossen. (Mit Abbildung S. 743.) Ihr guten Alten, da sitzt Ihr nun in der Einsamkeit des leeren Nestes, in welchem es in den Jahren Eurer Jugend und Kraft so fröhlich wimmelte, bis das junge Volk zu groß und das Nest zu klein wurde und Eines um das Andere, mit Euren Sorgen, Mühen und Opfern flügge geworden, ausflog, um sich selber anzubauen. Wie viel Tausende solcher betagter Elternpaare sitzen einsam, wie Ihr, vor der Thür des einst so lebensvollen Hauses und blicken wehmüthig in die Vergangenheit, aus der ihnen nichts treu geblieben ist, als ein paar Hausthiere, welche einst die Spielgenossen ihrer Kinder waren und nun die der Alten sind. Unser Bild von Walther Shirlaw erfreut ganz besonders durch den wohlthuenden Zug, mit welchem es die stille Zufriedenheit der beiden Alten verräth: wer noch spielt und lächelt, dem ist wohl.
N. P. in Wz. Allerdings zahlen anständige Uebersetzer ein Honorar für die der „Gartenlaube“ entnommenen Artikel. Sie nicht?