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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[345]

No. 21.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Zwei Diener.[1]
Eine Hofgeschichte aus der Patriarchalzeit.
1.


Das Morgengewitter, das sich über der souveränen Reichsgrafschaft Schwalbenstein in wenigen dumpfen Schlägen und mit einem sanften, aber ausgiebigen Regen entladen hatte, war vorübergegangen, ohne die von aller Welt gewünschte erquickliche Abkühlung zu bringen. Im Gegentheile, es war danach erst eine rechte drückende Schwüle eingetreten. Zwischen der gräflichen Residenz und dem nahen Waldgebirge hing trotz des matten Sonnenscheins, der namentlich das hochragende alte Schloß in gelbrothe Farbentöne tauchte, ein heißer, nebeliger Dunstschleier. Er war wohl die Ursache, daß die gerundeten Kuppen der blau-grünen Berge da drüben sich in welligen Schwingungen zu bewegen und selbst die geraden Linien der Dächer und Schornsteine in der Stadt vor innerer Gluth zu zittern schienen.

Diese dunstig brütende Hitze drang in die bestverwahrten Räume und lastete auf Menschen und Thieren mit gleicher Wucht. Der alte schläfrige Schloßportier, der sonst zu allen Jahreszeiten über den grimmigen Zug in der Thorwölbung klagte, seufzte heute nur deshalb, weil jeder Windhauch erstorben schien. Und doch ging es ihm noch besser als den armen Schreiberlein der gräflichen Kammer in ihren hoch oben unter dem glühenden Schieferdache des Schlosses gelegenen Kanzleizimmern. In der geräumigen Hofküche vollends, auf deren breiten Herden die lodernden gelbrothen Flammen zur rauchigen Decke emporzüngelten, herrschte heute eine so wahrhaft höllische Gluth, daß der beleibte Küchenmeister darin schier zerfloß. Diesmal hatte er keinen zärtlichen Blick für alle die drallen Dienstmädchen aus der Stadt, die, dem patriarchalen Herkommen gemäß, die Häringe für ihre Herrschaften unentgeltlich aus der gräflichen Hofküche holten. In blinder Verzweiflung stach er mit der Riesengabel in die Tonne hinein und reichte dann der garstigen Magd des Kanzlisten drei gewaltige Fische, während dem schmucken Dienstmädchen des Herrn Justizamtmanns zu ihrer äußersten Entrüstung nur ein einziger Häring und gewiß der windigste und magerste im ganzen Fasse zu Theil wurde.

Selbst die bärtigen Grenadiere der gräflichen Garde, so sehr sie sonst gewöhnt waren, sich die müßige Zeit zu jeder Tagesstunde durch süßen Schlummer zu vertreiben, vermochten heute auf ihren Pritschen weder gründlich zu schlafen, noch sich recht munter zu erhalten, und der Wachtposten unter den Fenstern des Grafen Max Theodor hatte sogar ganz ordonnanzwidrig die hohe Bärenmütze abgelegt und sich in eine Ecke des Schilderhauses in bedenklich bequemer Stellung zurückgelehnt. Warum auch nicht? Der Hauptmann von Felsewitz kam jetzt sicher nicht, um die Wachen zu revidiren. Er ruhte noch wie die übrigen Cavaliere des kleinen Hofes von den Mühen des heutigen Morgenrittes aus, nach welchem die Herren todmüde und gründlich durchweicht nach Hause zurückgekehrt waren. Am besten wußte sich noch Tyras, der stärkste Hund der ganzen Grafschaft und des regierenden Herrn besonderer Liebling, zu helfen. Er hatte sich dicht unter der moosigen Fontaine des Schloßhofes das schattigste Plätzchen ausgesucht, dasselbe durch Aufgraben des Rasens noch etwas kühler gemacht und schnarchte nun so tief, daß man die Athemzüge des gewaltigen Thieres weithin deutlich vernahm.

Nur wenige belebte Wesen machten Ausnahmen von der allgemeinen Regel der Ermattung und des Schlafs, und zu ihnen gehörte vor Allen der arme Wilddieb, den die gräflichen Forstwärter am vorhergehenden Tage beim Ausweiden eines Wildes betroffen und gefangen hatten. Der Unglückliche wurde soeben von dem Herrn Kammerpräsidenten selbst über seine unerhörten Frevelthaten vernommen, da in der souveränen Grafschaft alle Attentate gegen Hirsche, Rehe, Wildschweine und sonstige jagdbare Thiere als schwerste Verbrechen nach dem Hochverrathe galten und deshalb ihre Aburtheilung dem ordentlichen Richter entzogen und der gräflichen Kammer überwiesen war. Wehe, dreimal Wehe jedoch dem Unglücklichen, bei dem der Kammerpräsident von Straff selbst aus besonderen Gründen das Amt eines Inquisitors zu übernehmen für gut befand!

Auch jetzt sorgte der Gestrenge gewissenhaft dafür, daß den argen Verbrecher nicht etwa eine schläfrige Stimmung überkam. Dicht neben dem Wilderer und wohlbedächtig an seiner linken Seite stand der breitschulterige Büttel und ertheilte ihm, sobald er nur die mindeste Neigung zu Umschweifen oder gar zum Leugnen verrieth, auf einen leisen Wink des Präsidenten mittelst eines fingerstarken Haselstockes so schmerzhaft fühlbare Mahnungen zur Wahrheit und Wachsamkeit, daß man sein Jammergeschrei bis zum Markte hinab hören mußte.

Ebenso munter war Frau Nachtigall in den buschigen Umgebungen des Schlosses. Bald hüben, bald drüben, bald von [346] oben, bald von unten ertönte der ängstliche Lockton der kleinen befiederten Mutter. Wie schwer hält es doch, solch eine zahlreiche, unbesonnene, kaum dem Neste entwichene Nachkommenschaft vor den tausend drohenden Gefahren zu warnen und all’ das ungeschickt umherflatternde Gesindlein in dem dichteren Gebüsche des Wildgartens in bessere Sicherheit zu bringen!

„Was hat nur die Nachtigall?“ sagte der Jagdjunker Kurt von Holderbusch zu der jungen Dame, die neben ihm auf dem grasbewachsenen und feuchten Fußpfade dahinschritt. „Ist etwa eine Katze oder ein Iltis in der Nähe?“

„Es wird doch kein Lauscher sein, Kurt?“ entgegnete das Mädchen in ängstlich besorgtem Tone. „Ich wäre des Todes, wenn meine Tante erführe, daß ich ohne ihr Wissen mit Ihnen zusammengetroffen bin. Sie hat strenge Ansichten.“

„Wer sollte jetzt und an diesem stillen Orte lauschen und vor Allem, wer sollte uns überraschen, Fräulein Hartmann?“ entgegnete Kurt mit einem munteren und ermuthigenden Lächeln. „Sie wissen ja, daß hoch über uns eine ganz specielle Vorsehung in Gestalt unseres treuen Christian Blümchen wacht. Uebrigens darf auch Ihrer Tante unser Verhältniß nicht allzulange mehr verhohlen bleiben. Ich bin so wenig ein Freund der Heimlichkeit wie Sie und ersehne herzlich den Tag, wo alle Welt wissen darf, wie wir zu einander stehen.“

„Wird dieser Tag jemals kommen?“

„Zweifelst Du – – zweifeln Sie daran noch, liebe Anna? Es giebt keinen Widerstand für einen festen Willen. Ihr Vater namentlich ist ein viel zu aufgeklärter Mann, als daß eitle Hirngespinnste ihn hindern sollten, unser Glück allen etwaigen Ränken zum Trotze zu begründen. Er wird uns auch treu zur Seite stehen, wenn er nur selbst an meinen Willen und meine Kraft ein wenig glaubt.“

„Sie wissen, daß er dies thut und daß er Sie ganz besonders hochschätzt, Kurt.“

„Was aber könnten wir zu fürchten haben, wenn ein Mann wie der Domänenrath Hartmann auf unserer Seite steht?“

„Sie vergessen Ihre Mutter, Kurt.“

Der junge Mann schüttelte leise lächelnd seinen hübschen Lockenkopf.

„Meinen Vater erwähnen Sie gar nicht,“ bemerkte er dann mit seinem muntersten Lächeln. „Ei, ei, wenn er das erführe!“

„Ich habe nun einmal keine Furcht vor dem Herrn Oberlandjägermeister,“ entgegnete das Mädchen gleichfalls mit dem leisen Anfluge eines Lächelns. „Ihr Herr Vater hat an so viele wunderbare Dinge zu denken, daß ihm für solche Kleinigkeiten wahrlich keine Zeit bleibt.“

„Sie haben ganz Recht, der Widerstand droht in unserem Hause nur von meiner Mutter,“ bestätigte der Junker. „Sie hat allerdings ihr gut gemessenes Theil von jenem Adelsstolze erhalten, der in unseren Tagen leicht eine komische Färbung erhält, aber ich bin glücklicher Weise ihr einziger Sohn, und sie liebt mich sehr. Auch sie wird, ja, sie muß nachgeben, wenn sie mich so fest entschlossen sieht, mein Glück nicht ihren Vorurtheilen zu opfern. Sie kennt mich und meinen ernsthaften Willen.“

„Aber Sie haben mir selbst gesagt, daß wir an Ihrem Hofe auch noch andere feindliche Strömungen zu besiegen haben,“ wandte das Mädchen ein. „Herr Präsident von Straff zum Beispiel wird mir die Ablehnung seiner Werbung niemals verzeihen, und er ist hier allmächtig.“

„Ja, leider, aber es giebt eine Macht, welche die Bäume nicht in den Himmel wachsen läßt.“

„Um Gotteswillen, Kurt! wenn man Sie hörte!“

„So käme vielleicht etwas früher der Tag, wo ich dem glänzenden Elende eines gräflichen Jagdjunkers entränne. Oder glauben Sie nicht, liebe Anna, daß ich Kraft und Muth genug in mir fühle, um auch ohne meinen Gehalt von dreihundert blanken Thalern Sie und mich über den Wassern zu erhalten?“

Das Mädchen antwortete auf die Frage nur durch einen vertrauensvollen Blick in die feurig blitzenden Augen des Junkers.

„Sie sprachen früher auch von einer ungünstigen Stimmung, die in den höchsten Regionen gegen meinen Vater herrschte,“ sagte sie dann. „Womit kann mein Vater diese Ungunst verdient haben? Der Graf und seine Schwester, die Comtesse Charlotte, sollen so herzensgut sein und mein Vater ist, wie Sie wissen, eine so gerade, brave Natur, daß ich eine solche Abneigung im tiefsten Grunde verwandter Seelen durchaus nicht begreife.“

„Niemand geht genau den Weg durch’s Leben, den er sich vorzeichnet,“ entgegnete der Junker. „Am wenigsten vermögen dies unsere Fürsten. Sie messen ihre Kräfte zu wenig an Gleichgestellten, um sie zu kennen, und werden deshalb geschoben, wo sie zu schieben glauben. Unser Graf ist wirklich ein gutherziger Mensch, aber leider um fünfzig Jahre zu spät geboren. Er möchte sein Land nicht wie ein wahrer Fürst, sondern etwa wie ein großer Gutsbesitzer, der nebenbei ein wenig den Vater seiner Knechte und Tagelöhner spielt, regieren und verwalten und läßt sich doch selbst wie ein Kind am Gängelbande seiner blinden Leidenschaften vom Präsidenten lenken und leiten, insbesondere gegen Ihren Vater, dessen Fluren und Forsten recht unbequem zwischen den gräflichen Jagdrevieren liegen. Auch die Comtesse hat etwas von diesen patriarchalen Neigungen. ‚Immer gerade aus‘, ist ihr eigenes Motto, und deshalb bildet sich ihr erlauchter Stolz ein, unserem Hofe jede Intrigue fern halten zu können. Aber ich langweile Sie. Nicht wahr?“

„Durchaus nicht,“ versicherte die junge Dame. „Mir ist nur in diesen engen Laubgängen so seltsam beklommen zu Muthe. Hören Sie, wie ängstlich die Nachtigall von Neuem lockt? Ich fühle, es ist etwas Feindliches in der Nähe.“

„Ruhig, meine Theure! So lange wir nicht den Ruf des Kukuks hören – –“

„Aber mein Gott, er hat schon zweimal gerufen und, hören Sie? da kommt er wieder.“

„Dann allerdings wittert unser treuer Christian einen Feind. Zum Glücke sind wir unserer alten Walltreppe gerade gegenüber und mein Schlüssel steckt noch daran. Geschwind hinter den Holunderstrauch. Dort finden wir unsern alten Weg zur Pforte wieder.“

Hat der Leser jemals den Meister Reineke beobachtet, wenn er in der Abenddämmerung auf der Spur eines weidwunden Rehs oder eines jungen Hasen das Vorholz durchstreift? Die feine Nase an den Boden gesenkt, trabt der Schlaue bedächtig und vorsichtig daher und hebt nur manchmal den spitzen Kopf, um aus seinen schrägen Augen links und rechts rasche Seitenblicke in das Gebüsch nach einem niedrigen Vogelneste oder nach irgend einer Gelegenheitsbeute zu werfen.

Dem Bilde dieses schleichenden Räubers glich Johann Schnabel, der Diener des gräflichen Kammerpräsidenten, soweit wie nur irgend ein Mensch einem Thiere ähnlich sehen kann. Auch er kam mit leisen, kaum hörbaren Schritten auf dem schmalen und gewundenen Pfade daher, welchen das junge Paar vor wenigen Augenblicken verlassen hatte; auch sein in den unteren Theilen vorgezogenes und zugespitztes Gesicht war dem Boden zugekehrt, und auch seine schrägen, aber klugen Augen schauten vorsichtig bald rechts, bald links in das Gesträuch hinein.

Johann schien indessen mit den Erfolgen seines heutigen Spürganges nicht besonders zufrieden zu sein. Sein Schritt wurde immer langsamer und bedächtiger, jemehr er sich dem Ende des Gebüsches näherte, und als er endlich dort anlangte, blieb er kopfschüttelnd stehen.

„Da bin ich nun am Ende,“ murmelte er zwischen den spitzen Zähnen hervor. „Die Spuren kehren hier genau so um wie am anderen Ende des Gebüsches. Was also habe ich bis jetzt erlangt, als nasse Füße, die mir Zahnschmerzen oder einen Rheumatismus versprechen? Sonst weiß ich nur, daß sie allerliebste kleine Füßchen hat und daß an seinen Reiterstiefeln der linke Sporn etwas verbogen ist. Sie sind auch erst nach dem Regen hier gewesen – das beweisen diese Spuren deutlich. So weit also paßt Alles zu den Mittheilungen meiner braven Muhme. Aber wohin zum Kukuk sind sie von hier aus gegangen? Die alte Walltreppe ist seit vielen Jahren geschlossen und dem, der den letzten Schlüssel dazu gehabt hat, thut wohl längst kein Zahn mehr weh. Also wohin? Die Flügel der Liebe sollen über Berg und Thal tragen, aber ich habe dennoch niemals gehört, daß Verliebte über Mauern und Gräben geflattert wären.“

Johann liebte die offenen Wege nicht. Er verließ also, nachdem er noch einen letzten bedauernden Blick auf die geheimnißvoll in sich selbst zurückkehrenden Spuren geworfen hatte, den Pfad, auf dem er herangekommen war, um dicht an den feuchten [347] Grundquadern des Schlosses entlang und mitten unter dem wüsten Gestrüpp der hier üppig wuchernden Disteln, Gelbwurzeln und Brennnesseln möglichst ungesehen nach dem Schloßportale hin zu schleichen. „Nun sage mir Einer, daß alle Verliebten unvorsichtig und thöricht seien!“ fuhr er in seinem leisen Selbstgespräche fort. „Kann ich denn nur behaupten, daß wirklich der Junker und sein Liebchen hier ein Rendezvous gehabt haben? Kleine Füße hat manches hübsche Zöfchen, und jeder Reitknecht trägt solche bespornte Stiefeln. Ich muß hier also schon lügen. Freilich wiegt eine Lüge nicht weniger als eine Wahrheit, wenn sie nur ebenso geglaubt wird. Aber mein Herr ist mißtrauisch und klug und, wenn er mich ertappt, auch noch brutal. Ich muß wahrlich nachher auf jede Gefahr hin zum alten Christian hinaufsteigen, um mich über den schiefgetretenen Sporn näher zu informiren. Vielleicht wirft er mich nicht die Treppe hinunter, wenn ich ganz besonders höflich bin. Liebe besänftigt die Bestien und Höflichkeit die Grobiane. Also –“ Johann ließ den Satz unvollendet und prallte erschrocken einige Schritte zurück, denn er hatte in der Nähe die ihm nur zu wohl bekannte tiefe und vollklingende Baßstimme des Grafen selbst vernommen.

„Nun lebe wohl, Lottchen,“ sagte der regierende Herr zu seiner Schwester, die ihn nach alter Gewohnheit aus ihren Zimmern bis unter das Portal begleitet hatte. „Hab’ Dank für Deine Begleitung!“

„Du schickst mich schon zurück, Max?“ fragte die Comtesse mit dem Tone eines leisen Vorwurfes in ihrer weichen Stimme. „Ist Dir so wenig an meiner Gesellschaft gelegen?“

„An Deiner Gesundheit liegt mir das Meiste auf dieser Welt,“ entgegnete der Graf. „Der Weg ist feucht und Ihr Frauenzimmerchen tragt bekanntlich eine so verteufelte Sorte von Schuhzeug, daß Einem angst und bange wird, wenn Ihr Euch nur um eine Fußbreite vom Parquet entfernt. Dort allein gehört Ihr hin.“

„So rauchst Du wenigstens heute Nachmittag Dein Pfeifchen in meinem Garten?“

„Nein, Lottchen, das wird leider nicht gehen. Ich habe schon einen Ritt nach dem Hirschsprunge angeordnet.“

„Noch einmal ausreiten? Ist denn Deine Kraft niemals zu ermüden?“ fragte die Comtesse mit einem komischen Seufzer.

„Nun freilich, allzuleicht ist das nicht möglich,“ entgegnete der Graf, indem er mit wohlgefälligem Lächeln an seinem kräftigen Körper über den graugrünen Jagdrock bis zu den hirschledernen Beinkleidern hinab sah.

„Schade, ich hätte noch mancherlei auf dem Herzen, was ich Dir sagen möchte.“

„Wird hoffentlich nicht so eilig sein Lottchen. Nicht wahr? Kann mir auch ohngefähr denken, was Dir wieder auf dem Herzen liegt. Du findest es zum Beispiel unbegreiflich, daß jetzt unsere Gelder so knapp sind, möchtest wieder einmal diese und jene Einschränkung empfehlen, etwa Abschaffung meiner Garde und dergleichen. Nicht wahr? Dir steckt noch immer ein einfacher Hofstaat, etwa wie der des Ulysses von Ithaka, mit dem mich mein Hofmeister einst gründlich gelangweilt hat, im Kopfe. Du meinst, wir könnten wohl auch wie jener hochselige Herr mit den höchsten Chargen eines Kuh-, Ziegen- und – mit Erlaubniß zu sagen! – Schweinehirten auskommen und Du selbst etwa mit einer Schaffnerin Eurykleia oder wie das würdige Frauenzimmer sonst hieß. Nicht wahr?“

„Du spottest.“

„Nein, ich amüsire mich nur bei dem Gedanken, welche Gesichter Deine steifleinene Frau Oberlandjägermeisterin von Holderbusch, geborene Freiin von Moosgrund, oder Dein noch hochmüthigeres Fräulein Hulda von Straff bei dem Vorschlage einer solchen Rangerniedrigung machen würden. Dem Volke kommt es ja nur auf den leeren Rauch der Titel an. Aber man muß die Treppen nicht von unten nach oben kehren, sondern von oben nach unten. Man darf nicht mit den armen Kerlen von Gardisten die Ersparung anfangen, sondern umgekehrt, Lottchen, ja, umgekehrt.“

„Das seltsame Vergnügen Deiner Garde gönnte ich Dir wahrlich von Herzen, wenn man nur nicht an den Nachbarhöfen darüber lachte, daß wir einen Oberst, einen Major und zwei Hauptleute für zwei so schwache Compagnien haben.“

„Laß’ sie lachen, Lottchen! Mag darum wahrlich den alten, ehrlichen Knasterbärten ihr kümmerliches Brod nicht kürzen.“

„Das war es auch nicht, wovon ich rede wollte,“ erklärte die Comtesse zögernd, „wiewohl ich die ewige Geldklemme bei dem Reichthume unserer Quellen wahrlich nicht begreife. Aber Du theiltest mir einige auf unseren Junker von Holderbusch bezügliche Thatsachen mit, welche Du vom Kammerpräsidenten erfahren hast und die mir Bedenken erregen. Ich möchte Dich überhaupt vor den Mittheilungen des Präsidenten warnen und –“

„Aha, aha,“ unterbrach sie der Graf etwas rasch und ungeduldig. „Weiß schon, daß Du den alten, rauhen Burschen nicht leiden magst, und weiß auch leider warum. Ich sage Dir aber, Charlotte, in dieser harten Schale liegt ein vortrefflicher Kern. Der Kammerpräsident ist treu wie Gold und dabei ganz uneigennützig. Er lebt trotz seiner hohen Stellung schlicht wie ein Bürger und Meister der Stadt und ist vor Allem ganz unbestechlich. Der Mann, das merke Dir wohl, steht felsenfest in meiner Gunst, und seine Stellung ist durch keine Intrigue zu erschüttern.“

„Was denkst Du?“ entgegnete die Comtesse, durch die letzten Worte des Bruders sichtlich ein wenig gereizt. „Kannst Du glauben, daß ich Intrigue spinnen werde?“

„Nicht böse sein, Lottchen!“ bat nun der Graf. „War nicht so schlimm gemeint. Weiß wohl, daß Du Dich selbst für eine Todfeindin aller Intriguen hältst.“

„Hältst?“

„Oder, daß Du es wirklich bist, obwohl Du im Grunde – auch ein Frauenzimmer bist. Lebe wohl, Lottchen!“

Der Graf pfiff seinem Tyras und ging dann im Geleite des treuen Thieres mit festen, sporenklingenden Schritten aus dem Portale des Schlosses in das Freie hinaus. So gewann der schlaue Lauscher draußen, dem kaum ein Wort von der Unterhaltung der gräflichen Geschwister entgangen war, genügende Zeit, sich vorsichtig vom Eingange zurückzuziehen und hinter einen nahen Pfeiler zu schlüpfen. Ein solcher Rückzug aber war dem Grafen gegenüber in solchen Fällen dringend räthlich. Der hohe Herr trug nicht vergeblich das massive Rohr in der Hand, sondern wußte auch, wenn er erzürnt wurde, davon höchst-eigenhändig kräftigen Gebrauch zu machen.

Erst als Max Theodor hinter den nahen Gebüschen verschwunden und der letzte Schall seines markigen Trittes verhallt war, wagte sich der schlaue Johann wieder in’s Freie.

„Das wäre schon etwas mehr,“ dachte er. „Jetzt läßt sich wenigstens hoffen, daß hier etwas vorgeht und daß man durch vorsichtiges Warten und Aufpassen auch etwas erfährt. Hat mein Herr den Junker angeschwärzt, so wird die Comtesse den jungen Herrn darüber hören wollen; denn sie traut dem Präsidenten nicht, hat auch allen Grund dazu. Vielleicht erfährt man so wenigstens, ob der Junker sich den linken Sporn schief getreten hat; denn dafür läßt mein alter Knauser schon einen Thaler springen. Also warten wir ein wenig! Die Luft ist ja rein, und dieses Murmelthier von Portier hat zum Glück seinen Winterschlaf schon im Sommer angetreten.“

Die Erwartung Johann’s sollte nicht getäuscht und seine Geduld auf keine allzu harte Probe gestellt werden. Er hatte die Tiefe des Portals kaum zwei Mal mit den leisesten Schritten durchmessen, als auch schon aus den Zimmern der Comtesse der silberne Klang einer Schelle zu ihm herüber drang.

Die Kammerfrau Weiß eilte auf dieses Zeichen in das Zimmer ihrer Gebieterin.

„Erlauchte Comtesse befehlen?“

„Ist Wilke zur Hand?“

„Zu dienen, Erlaucht! Wilke ist im Vorzimmer. Soll ich ihn rufen?“

„Ja. Ich kann dem Alten einen Weg nicht ersparen, der ihm bei seinem Alter und bei dieser Hitze gewiß recht sauer wird. Er soll zum Jagdjunker von Holderbusch hinaufsteigen und ihn bitten, rasch einmal zu mir zu kommen. Der Junker soll nicht erst große Toilette machen, sondern Wilke soll ihn hierher führen, wie er ihn eben findet.“

„Das klingt ja fast wie ‚lebend oder todt‘, Erlaucht,“ scherzte die behäbige Kammerfrau, während sie hinauseilte, um den Befehl zu vollziehen.

„Ich habe wichtige Dinge mit dem Junker zu reden,“ fuhr die Comtesse in ernstem Tone fort, sobald Frau Weiß zurückgekehrt [348] war. „Unser Herr Kammerpräsident braut einmal wieder nach seiner Art ein Ungewitter fertig, das sich über dem Kopfe des jungen Mannes entladen soll. Er hat meinem Bruder recht üble Dinge in den Kopf gesetzt. Der Junker soll ein Freund von Neuerungen im Jagd- und Forstwesen sein, wohl gar noch freiheitliche Ideen hegen, die er auf der Akademie eingesogen hat. Er soll auch zum Schaden unserer Kammer in näheren Beziehungen zum Domänenrath Hartmann stehen, den mein Bruder jetzt seltsamer Weise für einen Feind und Gegner hält.“

„Aha, ich merke, wohin diese Schliche des Herrn Präsidenten führen,“ warf die kleine, kugelrunde Kammerfrau mit listigem Augenblinzeln ein.

„Was merken Sie?“

„Ich meine nur, daß er sich einen Nebenbuhler vom Halse schaffen will.“

„Sie glauben doch nicht, daß der Junker nach der Stelle des Präsidenten trachtet?“ fragte die Comtesse mit einem Blicke, der zugleich Verwunderung und Besorgniß ausdrückte.

„Ei bewahre! Fällt dem Junker, mit unterthänigstem Verlaub zu reden, nicht im Traume ein. Nein, er kreuzt auf andere Weise die stillen Wege unseres wackeren Herrn von Straff.“

„Wie versteh’ ich das, Frau Weiß?“

„Ei nun, es ist ja ein offenes Geheimniß, daß sich unser Herr Präsident bei der schönen und reichen Tochter des Herrn Domänenraths einen Korb geholt hat, während unser hübscher Junker der begünstigte Liebhaber ist.“

„Also dort wäre Kurt von Holderbusch schon gebunden?“ sagte die Comtesse. „Ich glaubte wirklich eine Zeitlang, daß er in nähere Beziehungen zur Tochter des Präsidenten treten könne. Bei unseren letzten Soiréen habe ich das hübsche Paar mehrmals recht lebhaft plaudern sehen.“

„Das hat meine scharfsinnige Comtesse nicht im Ernste gedacht,“ entgegnete Frau Weiß. „Freilich kann Fräulein Hulda recht geistreich sprechen, wenn es ihr darauf ankommt, und sie ist auch durchaus nicht häßlich, aber zu unserem offenherzigen und munteren Junker paßt die steife, vorurtheilsvolle Dame doch wie Wasser zum Feuer.“

„Und Sie meinen auch, dieser alte Sünder von Präsident denke daran sich nochmals zu verheirathen?“ fuhr die hohe Dame fort. „Wissen Sie das sicher, Frau Weiß?“

„Meine Nachrichten sind stets zuverlässig, Erlaucht,“ entgegnete die Kammerfrau fast ein wenig durch den Zweifel gekränkt. „Ich weiß zur Genüge, daß meine erlauchte Comtesse lügenhafte Klatschereien nicht liebt. Der alte Christian Blümchen von Oberlandjägermeisters selbst hat mir die Nachrichten mitgetheilt.“

„Das ist allerdings ein zuverlässiger Gewährsmann,“ bemerkte die Comtesse gedankenvoll.

„Ja, und heute hat der Herr Präsident, bevor er zu unserem gnädigsten Herrn gegangen ist, droben bei der Frau Oberlandjägermeisterin eine Visite gemacht. Da hat er gewiß bei der stolzen Frau, die selbst ihre Schnupftücher stets so trägt, daß man das freiherrlich von Moosgrund’sche Familienwappen nothwendig sehen muß, nach besten Kräften gehetzt und geschürt.“

Comtesse Charlotte ging einige Mal schweigend mit raschen Schritten im Zimmer auf und ab, und ihr sonst so gütiges und anmuthiges Gesicht nahm dabei einen immer ernsteren, entschlosseneren Ausdruck an.

„Diese Ränke müssen durchkreuzt werden – ich bin entschlossen,“ sagte sie endlich mit ungewohnter Schärfe. „Der böse Mensch soll nicht noch ein Lebensglück vernichten, wie er einst das meine zertrümmert hat.“

Frau Weiß rieb sich still vergnügt die rundlichen, weißen Hände.

„Gott sei Dank, das giebt endlich eine kleine Intrigue,“ lispelte sie kaum hörbar. „Man stirbt ja sonst auf diesem höchst ehrbaren Schlosse vor Langeweile.“

Aber die feinen Ohren der Comtesse hatten die Worte dennoch aufgefangen. Sie trat plötzlich fast drohend an die kleine Kammerfrau heran.

„Keine Intriguen! Das bitte ich mir nochmals aus, Frau Weiß,“ sagte sie sehr entschieden. „Mein Weg ist stets der gerade, und so Gott will, halte ich auch ferner unseren Hof wie bisher von Kabalen frei.“

In den klugen Augen der Kammerfrau leuchtete es eigenthümlich auf. Es war fast, als wolle sie entgegnen, daß dieses ehrliche Streben ihrer hohen Herrin bisher nichts weniger als vom Glücke begünstigt gewesen sei. Aber sie bezwang glücklicher Weise ihr leicht bewegliches Zünglein.

„Ich fürchte nur, auf geradem Wege richten wir diesmal nichts gegen den sehr verschmitzten Präsidenten aus,“ bemerkte sie resignirt. „Er steht allzufest in der Gunst unseres gnädigsten Herrn und scheut kein Mittel, um seine Zwecke zu erreichen.“

Die Comtesse schwieg, in Erinnerung an die heutige Aeußerung ihres Bruders gedankenvoll, und fast mit dem Ausdrucke einer leichten Entmuthigung.

„Bedenken Erlaucht gnädigst auch, wie dieser Herr von Straff uns selbst betrogen hat!“ fuhr Frau Weiß, welche diese allzustarke Wirkung ihrer Worte nur ungern bemerkte, entschlossen fort. „Es sind seitdem zwanzig Jahre in’s Land gegangen, aber mir ist es noch, als wäre es heute geschehen. Wie er uns und diesen Herrn Hartmann, den hübschesten und bravsten jungen Mann in der Christenheit, wenn er auch nicht ebenbürtig und nicht einmal Cavalier war, erst durch mancherlei kleine Dienste und Winke sicher machte, daß wir wahrlich glaubten, er begünstige das Verhältniß, und wie er uns dann so schändlich an den allergnädigsten Herrn Papa verrieth. Wäre er nicht gewesen, so geböte jetzt unsere geliebte Comtesse auf den reichen Gütern des Domänenraths und dieses Schicksal wäre wahrlich nicht zu verachten. Ich werde diese Verrätherei dem Präsidenten niemals vergessen, mag das allzumilde Herz Euer Erlaucht darüber urtheilen wie es will.“

Die Comtesse stampfte zornig mit dem kleinen Fuße.

„Sie haben Recht; es war eine schändliche Verrätherei,“ rief sie dann. „Aber so Gott will, soll dieser Herr von Straff wenigstens jetzt kein neues Unheil säen. Ich will der Tochter des Mannes, der mir einst nahe, ja recht nahe gestanden hat, eine treue Freundin und Helferin sein, wenn das Paar meine Hülfe nicht verschmäht.“

„Verschmähen? Ei, du mein lieber Himmel!“ rief die Kammerfrau. „Mit beiden Händen wird das arme, junge Volk nach der gnädigen Hand fassen.“

„Meinen Sie? Aber bevor ich eingreife, möchte ich das Mädchen, Hartmann’s Tochter, wohl einmal sehen und sprechen. Können Sie das geschickt zu Wege bringen?“

„Nichts leichter, als das, Erlaucht. Sie ja heute in der Stadt bei der Tante, wie ich von Oberlandjägermeisters Christian weiß. Da nun unser gnädigster Herr heute nicht in den Garten kommt, so – –“

„Ja, ja, so geht es,“ rief die Comtesse mit aufleuchtenden Augen. „Ich werde mit dem Junker darüber reden und hoffe mein Ziel zu erreichen. Doch nur auf geradem Wege und ohne Intrigue, Frau Weiß.“

„Herr Jagdjunker von Holderbusch!“ meldete der alte Diener.

„Er ist willkommen.“

Frau Weiß huschte in das Nebenzimmer, ehe der Junker eintrat.

„Keine Intriguen?“ murmelte sie lächelnd. „Als ob nicht schon jetzt eine der besten Intriguen meines Lebens begonnen hätte.“

(Fortsetzung folgt.)
[349]

„Landschaftliche Studien.“
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen Alb. Conrad in Berlin.

[350]

Plaudereien aus Rom.
Von Hermann Oelschläger.
I.

Die Bedrängniß der katholischen Kirche. – Das Osterfest. – Der Papst in der Gefangenschaft. – Die Palmenweihe in St. Peter. – Ein galanter Monsignore. – Ein Spitzname aus dem Vatican. – Pariser Friseure und Pariser Tonsuren. – Zurückgetretener Scharlach. – Die Massenaudienzen bei Pio Nono. – Das „Gefängniß“. – Carricaturen auf den Papst. – Il grande Bismarck. – Die Witzblätter mit König, Papst und Garibaldi. – Der Einzug Garibaldi’s. – Sein Project der Tiberregulirung. – Garibaldi’s „Giuro“. – Das bürgerliche Auftreten der Königsfamilie.


Es ist wahr: wer von einem längeren Aufenthalte in Rom nichts Anderes und nichts Besseres mit nach Hause zu bringen wüßte, als römische „Plaudereien“, unterhaltende Causerien, schwatzhafte Feuilletons, wie sie das liebe Publicum daheim allwöchentlich wenigstens einmal in seinen Zeitungen zu finden liebt und wie sie aus den europäischen Hauptstädten Paris, Berlin, Wien, London allwöchentlich auch leicht genug in die Welt gesandt werden, um den wäre es schlecht genug bestellt. Ueber Rom, die Stadt der Städte, die Königin der Welt, über das Rom der alten Imperatoren, über das Rom der Päpste und der Renaissance, über das Rom der Gegenwart, das nun – ein unerhörtes Schauspiel in der Geschichte – zum dritten Male seiner Auferstehung und Verjüngung entgegen geht, wäre leicht besser zu berichten, als in „Plaudereien“, und Jeden, der den unwiderstehlichen, reinigenden und belebenden Zauber eines römischen Aufenthaltes an sich erfahren hat, wird es auch gewiß treiben, hierüber vor Allem ernsthaft zu berichten und so auf würdige Weise den Versuch zu machen, die in ihm ruhende Begeisterung auch auf Andere zu übertragen.

Und dennoch ist es um die nachfolgenden „Plaudereien“ nicht gar so schlimm bestellt, als es den Anschein hat. Hat doch neben der antiken Gemme oder neben dem antiken Marmorkopf, den Einem eine glückliche Fügung als kostbaren Besitz zugeführt hat, auch die Photographie des heutigen Tages ihre Berechtigung – warum nicht die „Plauderei“, wenn sie die Bilder, die Erscheinungen des heutigen Lebens zu fixiren und das Rom der Gegenwart zu schildern unternimmt, das von dem Rom Goethe’s und wie unsere Väter es kannten, schon so sehr verschieden ist und das sich täglich mehr von ihm entfernt?

Die Romfahrer der „heiligen Woche“ – um nur Eines hier gleich hervorzuheben – haben dies schmerzlich genug erfahren müssen. In hellen Haufen kamen sie nach Rom gewandert, Ostern festlich zu begehen, aber die alte Herrlichkeit der Kirche ist im Untergehen begriffen, und es ist wenig mehr von ihr zu sehen. Die frommen „Pilger“ sind da, wie früher – aber der Papst ist fort – in Gefangenschaft, sagen sie in Deutschland; er „will nur nicht kommen“, sagen sie in Rom. Die berühmten Musikaufführungen in der Sixtinischen Capelle sind sistirt, und am Ende – wie bei allem Unglücke immer noch ein Glück ist – kommt es nur den zierlichen Malereien Michel Angelo’s, auf deren Zerstörung man mit all’ dem heiligen Weihrauche und all’ dem heiligen Kerzendunste seit Jahrhunderten geradezu sündhaft losgearbeitet hat, ganz allein zu gute, daß in der Sixtinischen Capelle kein Gottesdienst mehr gefeiert und die Luft in ihr nunmehr frei und rein gehalten wird. Mit Noth und Mühe bekommt der Gläubige noch ein paar Reliquien zu schauen, auf die er sich schon das ganze Jahr gefreut hat, z. B. die Nägel und die Anschlagetafel des heiligen Kreuzes, die Säule, an der die Geißelung Christi vollzogen wurde, die wahrhaftige Abendmahlstafel, die Köpfe von Peter und Paul etc., und da auch die „heiligen Gräber“, was ihre Ausstattung anlangt, unter der allgemeinen Bedrängniß der Kirche bedenklich zu leiden scheinen, so kann man das hohe Fest der Charwoche und der Ostern in einer deutschen gut katholischen Stadt leicht mit größerem Prunke begangen sehen, als beim päpstlichen Stuhle. Zum Beispiel in München.

Ja, der Papst! Es ist ganz unglaublich, mit welcher Hartnäckigkeit er den Anblick seiner geheiligten Gestalt der Menge entzieht und mit welcher bewundernswerthen Ausdauer er die Rolle eines Gefangenen im Vatican spielt. Jedermann, der Rom in früheren Tagen kannte, weiß von den glänzenden Aufzügen zu erzählen, in denen der Papst ehedem in goldener, mit sechs Rappen bespannter Staatscarosse, von seinen Schweizern begleitet, die eine oder andere der Kirchen Roms besuchte, wie es eben der Festtag mit sich brachte. Die Straßen, durch die er, in dem Glaswagen Jedermann sichtbar und beständig nach links und rechts segnend, fuhr, waren mit frischem Sande bestreut und von den Thürmen der Kirchen hallte feierlich das Geläute der Glocken. Seit aber Victor Emanuel an jenem denkwürdigen 20. September durch die Porta Pia in Rom seinen Einzug hielt, hat Pius der Neunte den Vatican nicht mehr verlassen; ja selbst den Monte Pincio, der noch heute mit seinen unvergleichlichen Anlagen in den Abendstunden der Sammelpunkt der vornehmen römischen Welt ist und den der Papst in seiner leutseligen Weise früher so gern besuchte, hat er nicht wieder betreten. Da aber das Sprüchwort „Wie der Herr, so der Diener“ auch in Rom gilt, so sind auch die bekannten Cardinalscarossen von der Erde verschwunden, jene schweren, vergoldeten, wappengezierten Kutschen, in denen die „Eminentissimi“ früher durch die Straßen Roms fuhren, zwei derbe, meist schwarze Pferde voran, hintenauf drei reichgalonnirte Diener im Dreispitz, von denen einer den bekannten unvermeidlichen rothen Regenschirm trug.

In dem herrlichen St. Peter ist der Hochaltar verwaist, denn der Papst liest hier keine Messe und hält kein Hochamt mehr; die Loge, von welcher er früher über das zu Tausenden lautlos versammelte Volk auf dem weiten Peters-Platze mit gehobener Stimme den Ostersegen sprach – urbi et orbi – hat sich seit Jahren nicht mehr geöffnet, und – so ist es am Ende nur erfreulich, zu sehen, daß die Welt auch ohne den Papst in ihrem Laufe bleibt und daß sie seinem Grolle zum Trotze sich in ganz tüchtiger Weise fortentwickelt – auch ohne den Ostersegen.

Bei jenen einzelnen kirchlichen Functionen in der Peterskirche, die nicht ganz und gar unterlassen werden können, ist der Papst gegenwärtig durch einen seiner Monsignori vertreten, wie denn am Palmsonntage Monsignore Ricci, Maestro di Camera, die Vertheilung der von ihm gesegneten, benetzten und schließlich noch beräucherten Palmen an die versammelten Prälaten im Namen Sr. Heiligkeit vornahm. In weißen oder grauen, mit violetter Seide ausgeschlagenen Pelzkragen nahten sich die frommen Herren einzeln, knieten vor dem Monsignore Ricci nieder, küßten die dargebotene Palme zweimal und nahmen dann dieselbe mit gebührender Ehrfurcht in Empfang. Die in großen Körben herbeigeschleppten Palmen waren nach drei Rangclassen gebunden und geschmückt, die der ersten am größten und kostbarsten, die der letzten sehr klein und sehr unansehnlich. Das gemeine Volk, das Laienpublicum wurde mit gemeinen Olivenzweigen abgespeist, die der Monsignore Ricci mit sehr verdrießlichem Gesichte gleichfalls persönlich vertheilte und um die sich die allezeit in erster Linie stehenden Engländerinnen trotzdem förmlich gerissen haben. Die ganze unendliche Ceremonie hat für den unbetheiligten Zuschauer wenig Erhebendes; sie wird sogar, wenn man die Komödie im Ganzen betrachtet, welche hier erwachsene Leute unter allerlei Ceremonien-Firlefanz vor dem gaffenden Volke aufführen, peinlich und erinnerte mich im besten Falle an meine Knabenzeit und an die am Schlusse jedes Jahres übliche Preisvertheilung.

Trotzdem ist es ganz unglaublich, mit welcher Demuth diese hohen Würdenträger der Kirche die Palmen empfingen und davontrugen. Aber man muß sich dadurch nicht täuschen lassen. Einen dieser Monsignori hatte ich einmal in einer Gesellschaft kennen zu lernen die Ehre gehabt und schon damals hatte er mir durch sein überaus weltliches, eitles und geckenhaftes Benehmen große Freude bereitet. Seine tiefschwarzen Haare glänzten und dufteten von den feinsten Oelen; seine Füße staken in den denkbar zierlichsten Schuhen; seine schmalen weißen Finger funkelten von den kostbarsten Ringen, und Alles, was er that, ob er nun stets auf’s Neue das Lorgnon zu den Augen führte oder ob er mit einer Dame sich unter tausend eleganten Verbeugungen unterhielt,

[351] Alles zeigte einzig und allein sein Streben, zu gefallen. Sein größter Stolz war sein kleiner Mund, und wenn er je die Augen niederschlug, so geschah es ganz gewiß nur, um in der Tiefe seines Herzens die allerdings gleichfalls auffallende Kleinheit seiner Füße zu bewundern. Sein Appartamento, seine Wohnung, war fürstlich. Seine Gewohnheiten waren die eines hohen Herrn. Im Vatican hatte man ihm seines ganzen weibischen Wesens halber einen Spitznamen beigelegt, dort, in der Umgebung des Papstes, hieß er allgemein nach der bekannten Heiligen Santa – aber ich will nicht indiscret sein, und es genügt mir, mit diesen Andeutungen zu constatiren, wie wenig noch in der allgemeinen Christenverfolgung der Gegenwart den Herren beim päpstlichen Stuhle der Humor ausgegangen ist und wie sehr sie ihn sogar an sich selbst und ihren Heiligen zu üben vermögen. Wie erfreulich ist das doch!

Diesem Herrn nun begegnete ich bei der Palmenweihe jüngst in Sanct Peter wieder, und ich muß gestehen, daß es mein hohes Interesse erregte, ihn im unmittelbaren Dienste der Kirche zu sehen. Bei der Procession, die der Palmenvertheilung folgt, und bei welcher früher der Papst mit der Mitra auf dem Haupte und der Palme in der Linken durch die Kirche getragen wurde, mußte er unmittelbar an mir vorüber gehen. Seine Haltung war musterhaft. Sein Haar zwar duftete wie immer; seine Füße streckten sich selbst unter dem Priestergewande coquett hervor wie immer; seine Verbeugungen vor dem Altare zeigten auch hier eine gewisse weltmännische Eleganz, und wenn er seine Kappe abnahm, mußte man die Geschicklichkeit bewundern, mit welcher ihm der Pariser Friseur die untadelhafte Perrücke mit einer ebenso untadelhaften Tonsur auszustatten gewußt hatte – aber er hielt den Kopf sanft zur Seite gebeugt, die Hände auf der Brust gefaltet, und die kleinen Augen waren wie voll Inbrunst nach oben gerichtet. Ich hätte meinen Monsignore von neulich kaum wiedererkannt, der heute so ganz alles irdischen Wesens entkleidet schien. Trotzdem war’s mir, als ob auf seinem sonst so sorgenglatten, freundlich heiteren Antlitze eine leichte Wolke des Unmuths lagere. Ich machte meinen Freund darauf aufmerksam. „Wissen Sie nicht, daß Monsignore krank ist?“ fragte dieser entgegen. „Das erste Wort, das ich davon höre. Was fehlt ihm?“ „Er hoffte bestimmt, bei der letzten Creirung der Cardinäle mit dem Purpur geschmückt zu werden. Der Cardinalswagen war schon bereit. Aber der gute Monsignore ist zu seinem unsäglichen Verdrusse durchgefallen, nicht zum ersten Male, und leidet seit der Zeit wieder – am zurückgetretenen Scharlach.“

Die Frage, warum eigentlich der Papst sich in seinem Vatican so eingesponnen habe, liegt nahe genug und wird denn auch oft genug aufgeworfen. Denn Niemand hindert doch den Papst, in Sanct Peter die Messe zu lesen; Niemand hindert ihn, über das Volk den Segen zu sprechen, und noch weniger denkt Jemand daran, dem alten Manne bei seinen Spazierfahrten etwas in den Weg zu legen. Die Antwort darauf, die man in Rom fast durchgängig erhält, ist die, daß er von der Jesuitenpartei völlig willenlos gemacht worden und dieser zum Werkzeuge auch nach dieser Seite hin dienen müsse, theils um außerhalb Roms den Anschein wirklicher Gefangenschaft zu erregen, theils um innerhalb Roms stete Unzufriedenheit wachzuhalten über den Wegfall aller jener hohen kirchlichen Feste, deren pompöses Schauspiel bisher das Entzücken jedes echten Römers und noch mehr jeder echten Römerin gewesen war.

Ueber die Sittlichkeit oder Unsittlichkeit eines solchen Motivs will ich hier nicht streiten, aber andererseits drängt sich Einem doch ganz unwillkürlich die Frage auf, was wohl von einem Hohenpriesteramt zu halten sei, dessen Träger auf alle Werke, auf jede Thätigkeit des Friedens, des Segens, der Versöhnung schlecht gelaunt verzichtet und der seinen einzigen Priesterberuf darin sieht, von sicherer, unnahbarer Wohnung aus zu schelten und zu toben, zu verdammen und zu verfluchen und die Völker lediglich zum Unfrieden gegen einander und zur Unbotmäßigkeit gegen ihre Obrigkeit aufzustacheln? Dieser Wirkungskreis ist offenbar nicht vom Guten, und wenn der Papst, wie man in Rom, wie man in der Peterskirche täglich sieht, auf den anderen, den besseren Wirkungskreis frei- und böswillig verzichtet, warum und wozu ist der Papst dann überhaupt noch da?

Trotz der großen Beharrlichkeit indessen, mit welcher Pio Nono sich im Vatican eingeschlossen hält, ist die Schande, „in Rom gewesen zu sein und den Papst nicht gesehen zu haben“, für Jeden, der nur will, noch immer leicht genug zu vermeiden. Zu den großen Massenaudienzen, in denen der Papst Jedem, der ein Verlangen danach hat, seinen apostolischen Segen ertheilt, ist ohne Schwierigkeit zu gelangen, und ein schwarzes Kleid, ein schwarzer Schleier machen wie Frack und weiße Binde nach geschehener Anmeldung sofort audienzfähig. Da dies die einzige Gelegenheit ist, den Stellvertreter Gottes auf Erden leibhaftig vor Augen zu sehen, so wird dieselbe von Gläubigen und Ungläubigen jeder Art und aller Nationen reichlichst ausgebeutet, und die katholischen Blätter lassen es sich auch nicht entgehen, diesen Andrang der Schaaren für ihre Zwecke zu benutzen.

Es ist doch etwas recht Erbärmliches um die Neugierde, wenn sie, wie hier, bis zum Kniefalle führt und zur demüthigenden Beugung des Hauptes unter einem Segen, den man innerlich verspottet. Würden die Männer in der Umgebung des Papstes, die auch hier ihren rücksichtslosen Einfluß auf ihn geltend machen – denn Pio Nono persönlich soll an diesen Massenaudienzen, zu denen er förmlich geschleppt wird und bei denen er denn auch seine verdrießliche Stimmung oft durchaus nicht verhehlt, am allerwenigsten Gefallen finden – die Spott- und Lästerreden über den Papst hören, die unter dem schallenden Gelächter der Zuhörer an den Wirthstafeln Roms gerade am meisten von denen zum Besten gegeben werden, die Vormittags sich im Vatican den apostolischen Segen geholt haben, so würden sie die Person des Papstes vermuthlich mit größerer Vorsicht und mit mehr Würde zur Schaustellung bringen. Freilich, das Eine gebe ich ohne Weiteres zu: die eigentliche Charakterlosigkeit liegt auf Seite der neugierigen, heuchlerischen Spötter. Daß Pio Nono bei solchen Audienzen sich auffallend gern und freundlich mit jungen schönen Mädchen unterhält, sei hier nur nebenbei bemerkt, und ist dem alten Herrn, der an seinem gegenwärtigen Leben wenig Freude findet, wahrhaftig zu gönnen.

Wie sehr sich übrigens die Römer selbst über die eingebildete Gefangenschaft des heiligen Vaters lustig machen, beweist eine Carricatur, die neulich in allen Schaufenstern hing und die den Titel führt: „Ein Tag in der Gefangenschaft“. Schlafend, essend, trinkend, Audienzen ertheilend, spazieren gehend und wieder essend und wieder schlafend wird uns der heilige Vater, stets von der bekannten Lieblingskatze begleitet, in sechs heiteren Bildern mit entsprechendem Texte vorgeführt, und Jedermann, der von den Loggien Rafael’s aus die unvergleichliche Lage des Vaticans mit seiner entzückenden Fernsicht über ganz Rom und über die im blauen Dufte verschwimmende Campagna bis zu den Sabiner- und Albaner-Bergen schon bewundert hat, wird dieses „Gefängniß“, das mit seinen kostbaren Galerien, mit seinen in der Welt einzig dastehenden Museen, mit seinen marmorstrahlenden Palästen, Prachtsälen, Gemächern, Zimmern und Capellen, deren Zahl insgesammt auf etwa elftausend angegeben wird, mit seinen zwanzig geräumigen Höfen, mit seinen ausgedehnten Gärten und Parkanlagen eine ganze Stadt für sich bildet, immerhin anständig und erträglich gefunden haben.

Die Carricatur, von der ich eben gesprochen habe, hat viel Beifall gefunden und wurde in wenigen Tagen verkauft, wie der Römer und der Italiener überhaupt auch sonst viel Sinn und Geschmack für Carricaturen und Witzblätter hat. Nicht allein die römischen, sondern auch die aus Turin, aus Bologna und anderen italienischen Städten werden in Rom schwunghaft vertrieben und lassen kein bedeutendes Ereigniß des Tages vorübergehen, ohne es in den Bereich ihrer schonungslosen Satire zu ziehen. Die Richtung dieser Blätter ist eine durchaus liberale und das Herz des Deutschen mag namentlich darin ein besonderes Vergnügen finden, zu sehen, mit welcher bewundernden Aufmerksamkeit der Kampf des deutschen Reiches gegen das Papstthum verfolgt und in seiner Weise hier illustrirt wird. Bismarck spielt natürlich dabei die Hauptrolle, und es ist eine wahre Freude zu sehen, wie er in fast jeder Nummer eines jeden Blattes gefeiert und verherrlicht wird. „Il grande Bismarck“, „der große Bismarck“, kann man in Rom hundertfach lesen, und wie er dann einmal als Gefängnißwärter der Bischöfe mit Peitsche und Schlüsselbund, das andere Mal als Figaro, der die Bischöfe und Erzbischöfe über den Löffel barbirt, dann wieder als Dirigent des europäischen Völkerconcerts etc. dargestellt und [352] dem italienischen Publicum vorgeführt wird, ist äußerst ergötzlich anzusehen. Das Neueste in dieser Art hat der „Papagallo von Bologna geliefert, der Bismarck in Kolossalfigur bringt, über zwei Seiten reichend, die fast so groß sind, wie die der Leipziger „Illustrirten Zeitung“, und überdies in ganz vorzüglichem Farbendrucke ausgeführt. Bismarck ist darauf gar martialisch in voller Kürassieruniform dargestellt. als „il gran velocimano“, der große Tausendkünstler“. Nach Art der Taschenspieler, die in immer rascherer Bewegung vier, fünf, sechs Bälle zu gleicher Zeit aus einer Hand in die andere zu werfen und immer gleich geschickt wieder aufzufangen verstehen, spielt Bismarck hier mit Cardinälen und Bischöfen. Zwei fliegen eben angstschreiend durch die Luft, zwei andere zappeln ihm furchterfüllt auf den Händen, bereit, mit dem nächsten Augenblicke den gefürchteten Stoß zu empfangen und gleichfalls in die Luft zu gehen.

Ein anderes, ernsthafteres, aber vorzüglich gezeichnetes Bild in der neuesten Nummer des Turiner „Pasquino“ illustrirt die deutschen Kaiser, wie sie ehemals über die Alpen stiegen, „einen Fuß zu küssen, die Sclavin Italia hinter sich“, während sie jetzt kommen, „eine Hand zu drücken und um die Freundschaft Italiens zu werben“. Die Illustration ist, wie gesagt, so trefflich gedacht, wie ausgeführt; ihr Autor ist Teja selbst, der bekannte hochbegabte Director des „Pasquino“.

Daß bei den Carricaturen Roms neben dem König Victor Emanuel, dessen ganze Erscheinung für ein Witzblatt geradezu erfunden scheint, auch Garibaldi nicht zu kurz kommt, versteht sich von selbst. Am meisten Anklang und Verbreitung fand das Bild, welches der „Don Pirloncino“ an dem denkwürdigen Tage verkaufte, da Garibaldi seinen berühmten Einzug in Rom hielt. Es zeigt mit der Ueberschrift: „Rom 24. Januar 1875“ auf gleichfalls großem Format den König, den Papst und Garibaldi einträchtig vereint, Arm in Arm, Victor Emanuel in der Mitte und die beiden Andern, auf ihre Krückenstöcke gestützt, zu seiner Rechten und Linken. Im Hintergrund liegt Rom. Vom Capitol weht die italienische Fahne. Unter dem Bilde stehen die Worte: „Omne trinum est perfectum“ und in der That lag in diesem Zusammensein der drei Personen, welche bis dahin – ein Jeder für sich – als die hervorragenden Repräsentanten einer besonderen sich gegenseitig bitter befehdenden Richtung angesehen wurden, Etwas, was die Satire leicht genug herausforderte. Pius der Neunte, Victor Emanuel und Garibaldi!

War doch selbst noch am Tage des Einzugs die Regierung ihrer Sache oder vielmehr Garibaldis so wenig sicher, daß sie insgeheim die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln traf, die Garnison vermehrte und über den Tag und die Stunde der Ankunft Garibaldi’s von Caprera das Volk im Ungewissen zu halten suchte.

Um so feuriger und enthusiastischer war denn der Empfang, den die Römer ihrem ehemaligen Dictator, der an diesem Tage die Tiberstadt seit dem verhängnisvollen Jahre 1849 zum ersten Male wieder betrat, bereitete. Halb Rom war ihm entgegengeströmt, und vom wolkenlosen, blauen Himmel lachte die Sonne freundlich nieder auf das schöne Schauspiel. Die Pferde hatte man unter wahnsinnigem Beifallstosen ausgespannt und die nächststehenden vier-, fünfhundert Menschen schienen mit leidenschaftlich erhitzten Gesichtern einen Kampf beginnen zu wollen um die Ehre, an dem Wagen, der den General vom Bahnhof in die Stadt bringen sollte, mitzuziehen. Garibaldi saß ganz allein im Fond des Wagens, vorn standen sein Schwiegersohn Bedeschini und sein Sohn Menotti, um mit erhobener Hand die wie Sturmwogen andrängende und vom Taumel der Begeisterung hingerissene Menge zu beruhigen und vom Wagen fern zu halten. Vieltausendfältiges „Evviva!“ und unerhörtes Händeklatschen umhallte den greisen Helden, und von den Fenstern und Dächern wehten die weißen Tücher der Frauen.

Freilich wie ganz anders hatte ich mir den Löwen von Caprera gedacht! Aufrecht, aber ruhig und wie wenn ihn der ganze aufregende Vorgang Nichts angehe, saß Garibaldi in seiner bekannten rothen Blouse und im weißen Mantel im Wagen; fast theilnahmlos glitt sein müder Blick über die wild tobende, leidenschaftliche tausendköpfige Menge hin; sein bleiches, vom weißen Vollbart umrahmtes Gesicht verrieth nicht die leiseste Erregung; nach keiner Seite hin rührte er die Hand zum Danke, und so hatte diese Bewegungslosigkeit des Gefeierten mitten in der zügellosen Begeisterung, die seine Erscheinung hervorrief, fast etwas Unheimliches.

Garibaldi war leidend; seine Verehrer hatten beabsichtigt, die flatternden Fahnen und die blasenden Musikbanden voraus, ihn in solchem festlichen Zuge durch die Stadt zu führen. Aber am Hôtel Constanzi, das noch ziemlich nahe am Bahnhof liegt, angekommen, bestand Garibaldi darauf, den Wagen verlassen zu dürfen; die Erschöpfung der Reise, die Aufregung des tumultuösen Empfanges hatten ihn überwältigt. Seine Freunde trugen ihn in den Gasthof, von dessen Fenstern aus er dann die Menge noch aufforderte, auseinanderzugehen und vor Allem Ordnung und Ruhe zu halten.

Abends – die Dunkelheit war schon eingebrochen – begegnete ich zufällig noch einmal in der Nähe des Corso dem Wagen, in dem Garibaldi nun von dem Hôtel in die Wohnung seines Sohnes oder Schwiegersohnes gebracht werden sollte. Abermals waren die Pferde ausgespannt. Jungen mit leuchtenden Fackeln liefen brüllend und tobend neben dem rollenden Wagen her, auf dem Bock aber saß ein Mann, der eine große Fahne mit den italienischen Farben trug und sie unter dem grüßenden Beifallsruf der Begegnenden beständig nach allen Seiten hin flatternd schwenkte.

Garibaldi ist durch sein rheumatisches Leiden vor der Zeit alt geworden – körperlich; denn wie sehr er sich die geistige Frische zu bewahren wußte, beweist die Energie, mit welcher er sein Project der Tiberregulirung rastlos verfolgt. Dasselbe geht bekanntlich dahin, den Tiber oberhalb der Aniomündung abzuleiten und ihn, den Mons Sacer zur Linken lassend, in einem neuen Bett durch die Thäler des Anio, der Maranella und des Almone zu führen. Das neue Bett des Tiber würde das gegenwärtige ein wenig oberhalb von St. Paul schneiden und von da aus in geradem Canal nach Fiumicino führen, wo ein großer Seehafen angelegt werden soll, mit welchem Rom auf diese Weise direct verbunden wäre. Indem die neue Tiberleitung an der Ostseite der Stadt vorbei geführt wird, soll zugleich eine Berieselung und Bewässerung der römischen Campagna herbeigeführt werden, von welcher man sich für die rationelle Ausbeutung des ohnehin schon trefflichen Bodens das Beste verspricht. Das Project, dessen Ausführung etwa 80 Millionen Franken verlangen würde, hat so viele enthusiastische Freunde, als skeptische Anzweifler gefunden. Garibaldi, um die letzteren unbekümmert, arbeitet rüstig und voll muthigen Vertrauens weiter; die Pläne, die Risse, die Zeichnungen, die jetzt seinen Tisch bedecken, dienen nicht mehr den Schrecken des Krieges, sondern dem edleren Zwecke der Humanität, und so ist denn nur zu wünschen, daß es dem Helden von Caprera, dessen Name in der Befreiungs- und Einheitsgeschichte Italiens stets mit leuchtendem Ruhme fortleben wird, vergönnt sein möge, dieses segensreiche Werk des Friedens auch wirklich zu erfolgreichem Ende zu führen. Ob die radicale Partei, die doch eigentlich allein Garibaldi in das italienische Parlament brachte, von diesem nicht eine Thätigkeit ganz anderer Art erwartete, habe ich hier nicht zu erörtern. Thatsache ist, daß der General, indem er unter einem unerhörten Beifallsjubel der Kammer den Eid auf die Verfassung ablegte, seinen Frieden mit dem König machte und daß er gerade wegen dieses Actes, der eine hohe politische Einsicht in sich schloß, von allen Besonnenen und wahren Freunden des jungen Königreichs gepriesen und beglückwünscht wurde.

Den König habe ich wiederholt gesehen, wenn er von seiner Villa vor der Porta Pia nach dem Quirinal fuhr. Würde man ihn nicht aus den vielen Bildern kennen, die beim besten Willen keine Verwechselung zulassen, so würde gewiß Niemand auf den Gedanken kommen, daß es der König von Italien sei, der eben vorüberfahre – so einfach und schlicht bürgerlich ist das Auftreten Victor Emanuel’s. Dasselbe gilt vom Kronprinzen Humbert, dem man oft genug auf dem Monte Pincio begegnen kann und der von seinem Vater zwar nicht die gedrungene, kräftige Figur, wohl aber den ungeheueren Schnurrbart geerbt hat, hinter welchem fast sein ganzes kleines Gesicht verschwindet. Nur die Kronprinzessin Marghuerite erlaubt sich den Luxus zweier in brennendes Roth gekleideter Bedienten, die hinten auf dem Wagen sitzen und denselben schon von Weitem kenntlich machen.

An sich ist dieses bescheidene, bürgerliche Auftreten der [353] königlichen Familie gewiß nur lobenswerth. Es fragt sich aber doch, ob es gerade den Römern gegenüber gut angewandt ist, die selbst für ihre eigene Person den Prunk so sehr lieben und auch die Prachtentfaltung Anderer so gern bewundern. Durch Nichts leichter als durch Luxus vermag man dem stark auf das Sinnliche gerichteten Römer zu imponiren, und so wäre es vielleicht nur eine Sache der Klugheit, wenn die königliche Familie der besonderen Neigung und den besonderen Liebhabereien ihrer ohnedies noch nicht ganz gewonnenen und immer noch mehr oder minder mit demokratischen oder gar päpstlichen Elementen versetzten Unterthanen etwas mehr entgegen kommen und dem Papste zugleich zeigen würde, daß er auch hierin zu ersetzen sei.




Ein Collegium practicum.[2]


Es war im Sommer 1848 unter den Eichen des Leipziger Rosenthals, im Café Bonorand. Wir saßen an einem großen runden Tische zusammen, Studenten, Schriftsteller und Künstler, und debattirten über die Errichtungen des neuen deutschen Reichs, das damals in der Paulskirche zu Frankfurt am Main geschaffen werden sollte. Auf allen Gebieten des Staatslebens vollzogen sich die kühnsten Umwälzungen, natürlich zunächst nur in unseren Köpfen. Die Mehrzahl der Gesellschaft bestand aus jungen Juristen, von denen die meisten kaum das Pandectensemester hinter sich hatten, was bei mir selbst der Fall war, ein Umstand, der uns indessen nicht abhielt, die einschneidendsten Reformen auf dem Gebiete der Rechtspflege zu beschließen.

„Ja, das ist Alles recht schön und gut,“ warf da einer der Anwesenden, ein Journalist, im Vormärz viel genannt, ein, „aber was hilft das Alles? Brummen wird man auch in Eurem Zukunftsstaate müssen, und das ist eine höchst unangenehme Einrichtung auf dieser bestmöglichsten aller Welten. So ein Richter hat gar keinen Begriff davon, was es heißt, eingesperrt zu werden. Ich habe herzensgute Menschen unter den Criminalrichtern gekannt, die den Bissen Brod mit ihren Nebenmenschen theilten, aber mit der größten Gemüthsruhe mich, der ich ihr Dutzbruder war, wegen eines Zeitungsartikels zu ein paar Monaten Gefängniß verurtheilten. Das ist schauderhaft, Kinder, wirklich schauderhaft.“

Einige lachten über die Geberde des Abscheus, mit welcher der Journalist die letzten Worte begleitete.

„Die Sache ist nicht lächerlich,“ fuhr dieser fort; „wer noch nie gefangen war, hat keinen Begriff, wie peinlich und schmerzhaft das Gefühl für einen Menschen ist, der bis dahin Herr seiner selbst war, hinter einer verschlossenen Thür zu sitzen, nicht nach Belieben gehen oder bleiben zu dürfen, mit einem Worte, seiner Freiheit beraubt zu sein. Ich bin überzeugt, wenn die Gesetzgeber und Richter dieses Gefühl aus eigener Erfahrung kennten, sie würden bei vielen Vergehen, zumal bei solchen, die auf einer Meinungsverschiedenheit über staatliche Dinge beruhen, also bei politischen und Preßvergehen, viel gelindere Strafen festsetzen.“

„Dann wäre es zweckmäßig,“ warf ich schüchtern ein, „wenn jeder Jurist ein Collegium practicum im Brummen durchmachte.

Die Gesellschaft lachte über den Einfall. Die Meisten von uns hatten keine Ahnung, daß ihnen dieses Collegium practicum sehr nahe war. Die Maiereignisse von 1849 hatten zahllose politische Untersuchungen in Sachsen zur Folge, und auch von den Mitgliedern jener Nachmittagsgesellschaft im Café Bonorand wurden viele darein verwickelt. Mich hatte ebenfalls das Geschick erreicht, und wegen Aufreizung zum Kriege gegen die deutschen Fürsten, Versuch des Hochverraths etc. wurde mir ein Proceß gemacht, der sich ziemlich lange hinauszog und erst nach Beendigung meiner Studien und meiner juristische Prüfung im Jahre 1852 mit einer Verurtheilung zu achtzehn Monaten Gefängniß schloß.

Als Aufenthaltsort für diese achtzehn Monate wurde mir Schloß Hubertusburg bestimmt. Der Ort ist bekannt und berühmt durch den Friedensschluß, der hier den siebenjährigen Krieg beendete. Das Schloß liegt im Kreisdirectionsbezirke Leipzig, vielleicht zwei Stunden von der Station Luppe-Dahlen an der Leipzig-Dresdener Eisenbahn. Am Himmelfahrtsmorgen 1852 trat ich, von einem Beamten des Leipziger Criminalgerichts und ein paar Freunden begleitet, denen die Stunde meiner Abreise in meine Sommerfrische bekannt war, früh sechs Uhr vom Dresdener Bahnhofe in Leipzig aus meine Fahrt nach Schloß Hubertusburg an.

Mein officieller Begleiter war ein höflicher Mann, der sich zwar in denselben Waggon, aber in ein anderes Coupé setzte, so daß wir ungestört plaudern konnten. In Luppe-Dahlen klangen noch einmal die Gläser zum Abschied aneinander, dann trennten wir uns. Meine Freunde reisten nach Leipzig zurück; ich bestieg mit dem Beamten eine Postkutsche, die uns nach vielleicht anderthalbstündiger Fahrt nach Wermsdorf brachte, dem nächsten größeren Dorfe, das kaum zehn Minuten von Hubertusburg entfernt liegt.

Eine Pappelallee führte hinauf zum Schlosse. Das Schloß und die Umgegend betrachtend, ging ich mit meinem Begleiter dem Orte zu, in welchem ich eine Zeitlang mich aufhalten sollte.

„Sie werden sich in Hubertusburg bald eingewöhnen. Ueberdies treffen Sie viel Gesellschaft dort,“ meinte der Beamte, „es sind nicht drei Zellen leer.“

Wir standen vor dem Thore des ehemaligen Jagdschlosses, über welchem ein kupferner Hirsch, der früher vergoldet war, prangte. Das Thor öffnete sich. Der Beamte gab seine Papiere und mich an einen anderen Beamten ab. Ich gab ihm die Hand.

„Adieu, Herr Wachtmeister! Reisen Sie glücklich nach Leipzig und behalten Sie mich in gutem Andenken!“ Wir schüttelten uns die Hände, und im nächsten Augenblicke stand ich vor dem Manne, der für die nächsten achtzehn Monate über die Art und Weise meines Lebens zu entscheiden hatte, dessen Willen ich mich unbedingt zu fügen hatte. Es war der Director der Anstalt, ein Hauptmann von der Armee, Herr Rudolph von Bünau. Herr von Bünau war ein Mann in den vierziger Jahren; er trug die Uniform der nicht activen sächsischen Officiere. Den Arm auf den Schleppsäbel gestützt, stand er an seinem Pulte und empfing mich mit einer Anrede, die in ernster, aber theilnehmender Weise sein Bedauern ausdrückte, daß sich ein so junger Mensch, statt sich nur seinem Berufe zu widmen, in solche gefährliche und verwerfliche politische Unternehmungen eingelassen. Darnach frug er mich, in welcher Weise ich mich hier beschäftigen wolle. Die Frage hing eng mit der Unterhaltsfrage zusammen, da Gefangene, die sich nicht selbst verpflegen können, von Seiten der Anstalt beschäftigt wurden. Ich erklärte ihm, daß ich meinen Unterhalt aus eigenen Mitteln bestreiten würde.

„Ah so! dann können Sie Ihre Studien nach Belieben treiben.“ Darauf verabschiedete sich der Hauptmann-Director, und ich wurde von einem der Aufseher mit meinem Gepäck in eine Zelle geführt, die am Tage vorher ein Maigefangener, dessen Haft abgelaufen – es war der Advocat und Landtagsabgeordnete Bürgermeister Tzschucke aus Meißen – verlassen hatte. Der Aufseher gab mir eine kurze Darlegung der Hausordnung in Schloß Hubertusburg, stellte einen Krug frischen Wassers auf den Tisch und ließ mich dann allein, hinter mir zuschließend. Ich hatte die äußerste Zelle im sogenannten Flora-Pavillon inne. Abgesehen von einer unerträglichen Wärme, welche durch die Sonne und durch die große Küchenesse, die ihren Weg durch meine Zelle nahm, erzeugt wurde, war meine neue Wohnung ganz leidlich. In einem vor der Zelle befindlichen Alkoven stand das Bett. Das Fenster der Zelle ging auf den Garten des Schlosses, hinter welchem sich eine hügelige Landschaft ausdehnte. Ich rückte meinen Sessel an das vergitterte Fenster und betrachtete

[354] die Gegend und etwas, was jeden Gefangenen interessirt, den Flug der Vögel.

Eine lateinisch geführte Unterhaltung meiner Zellennachbarn störte mich in meiner Beobachtung der Schwalben, Tauben und Sperlinge. Die Unterhaltung galt dem neuen Nachbar, also mir. Meine Nachbarn, die mich noch nicht gesehen, sondern nur die Einquartierung des Ankömmlings gehört hatten, tauschten ihre Vermuthung über die Natur des Vergehens, dessen ich mich schuldig gemacht habe, aus. Der Eine hielt den Ankömmling für einen jener Leipziger Geschäftsmänner, die wegen des Verbrechens bestraft werden, welches die römischen Juristen das crimen lenocinii nannten, der Andere für einen Wilddieb. Beide Voraussetzungen waren nicht schmeichelhaft, aber ich mußte darüber lachen. Als das Gespräch verstummte, klärte ich meine Schicksalsgefährten gleichfalls in lateinischer Sprache über meine Persönlichkeit auf und nannte Ihnen meinen Namen. Damit war ich in die Gemeinschaft der politischen Gefangenen dieses Flügels, den man scherzhafter Weise seiner bessern Lage und Aussicht auf die Gärten wegen die Pairs-Kammer nannte, aufgenommen. Mein Nachbar, ein Candidat der Theologie und politisch entschieden freisinnig, in religiöser Beziehung aber durchaus orthodox, in welchem ich später einen ebenso kenntnißreichen, wie liebenswürdigen Menschen kennen lernte – er ist jetzt Director einer öffentlichen höheren Lehranstalt im deutschen Reiche – fragte mich, ob ich vielleicht Hunger habe? Ich verneinte, doch mußte mich der Andere nicht verstanden haben, denn ein paar Minuten später wurde mir mitgetheilt, daß der Telegraph arbeiten werde, und zugleich flog eine doppelte Bindfadenschnur an mein Fenstergitter, die man mir mit der Bedeutung zuwarf, daß ich sie anziehen solle. Ich zog an, und eine Bratwurst, ein Cotelett, ein Weißbrödchen, eine saure Gurke, Cervelatwurst, Cigarren tanzten an dem Telegraphen durch mein Fenstergitter. Jeder meiner Mitgefangenen hatte seinen Beitrag gesteuert.

Doch ich will nicht bei dem Erzählen dieser Erinnerung meine persönlichen Schicksale in den Vordergrund stellen. Ich schreibe dies nieder, um zu zeigen, wie es damals nach einer Zeit des leidenschaftlichsten Kampfes in Deutschland Gefängnisse gab, in welchen politische Gefangene in einer Weise behandelt wurden, die in Uebereinstimmung stand mit den Grundsätzen der Humanität und die dem Charakter des Vergehens Rechnung trug. Es hat Strafanstalten gegeben, wo dies nicht der Fall gewesen ist. Ich erinnere an die Schilderungen aus Waldheim, die ein sehr düsteres Blatt in der Geschichte der Behandlung politischer Gefangenen in Deutschland ausfüllen. Denn wenn auch manche Erleichterung, welche wir in Schloß Hubertusburg genossen, der Persönlichkeit des Directors, Hauptmann von Bünau zu danken war, der, soweit dies mit seiner verantwortlichen Stellung vereinbar war, sich als ein Mann von Humanität und – es klingt dies in diesem Falle fast eigenthümlich – sogar von liebenswürdigem Wesen gegen uns zeigte, so war doch auch die an sich sehr straffe Gefängnißordnung in Hubertusburg eine solche, die dem Gefangenen mehr Erleichterungen gewährte, als dies in vielen anderen deutschen Gefängnissen der Fall war und gegenwärtig der Fall ist. Nicht ohne Erstaunen, ja mit Empörung habe ich die Schilderung gelesen, die jüngst ein neuerdings vielgenannter Schriftsteller, Paul Lindau in Berlin, von seiner kurzen Haft in Plötzensee gegeben hat. In Hubertusburg gab es für die politischen Gefangenen, die ihren Unterhalt aus eigenen Mitteln bestritten, keine Gefängnißkost. Man hatte die Wahl, aus dem Gasthofe „Zum Rothen Ochsen“ in Wermsdorfs sich zu beköstigen oder auf das Anstaltsessen zu abonniren.

Ich zog das Letztere vor. Für den Preis von zusammen sechs Thalern abonnirte ich mit meinem Zellennachbar auf die erste Classe der Anstaltskost, weil ein einziger Mensch unmöglich das verzehren konnte, was ihm für diese sechs Thaler monatlich geliefert wurde. Jeder von uns gab also monatlich drei Thaler, und wir erhielten dafür außer Kaffee – der allerdings nur für eine Person berechnet war, so daß wir je eine Woche um die andere abwechselnd noch eine Portion täglich vom Oberaufseher entnahmen – Mittags und Abends soviel gutes Essen, daß wir häufig noch davon verschenken konnten. Es gab täglich Gemüse mit Fleisch oder Suppe mit Braten, Abends kalte Küche, Schinken, Wurst, kalten Braten, zuweilen auch eine Kaltschale, und Alles war frisch und sehr gut zubereitet, viel besser, als in manchen Leipziger Restaurationen, in denen wir als Studenten zu essen pflegten. Außerdem bekamen wir für diese sechs Thaler täglich eine Kanne Braunbier, genügendes Brod und wöchentlich ein Stück frische Butter. In der ersten Classe der Anstaltskost erhielt man dasselbe Essen, welches die höheren Anstaltsbeamten, die keinen Hausstand hatten, bekamen. Lagerbier durfte, ich weiß nicht warum, nicht eingeführt werden. Dagegen war es gestattet, außer dem Braunbier Wein zu trinken und Cigarren in der Zelle zu rauchen. Den Wein konnte man sich von auswärts kommen lassen, erhielt ihn aber auch aus der Anstalt billig und gut geliefert. Wir hatten in der Mehrzahl unsere eigenen Betten, und manche hatten die bescheidene Ausstattung ihrer Gefängnißzelle durch ein Sopha oder einen Sessel, den sie dem Magazine eines Möbelverleihers in Wermsdorf entliehen, etwas comfortabler zu machen gesucht. Vor- und Nachmittags wurde uns eine kurze Promenade in einem kleinen Grasgarten des Schlosses, in welchem sich auch eine Turnanstalt befand, gestattet.

Diese Freistunden waren die einzigen Tageszeiten, in welchen wir uns von Angesicht zu Angesicht sahen, denn während des übrigen Tages saß Jeder in seiner Zelle allein. Alle Stände und Altersclassen waren vertreten, Aerzte, Geistliche, Assessoren, Lehrer, Advocaten, Rechtscandidaten, Studenten aller Facultäten, Buchhändler, Schriftsteller, Officiere a. D., Ingenieure, Fabrikanten und Handwerker; sogar ein Gymnasiast, ein junges, munteres Blut Namens von T., dem auch der wunderschöne Monat Mai die Brust mit Freiheitsdrang erfüllt und ihn auf die Dresdener Barricaden geführt hatte, war da. Doch waren die Vertreter der wissenschaftlich gebildeten Berufsclassen viel zahlreicher, als die der anderen.

Ein Original unter diesen Gefangenen war ein ehemaliger königlich preußischer Premier-Lieutenant von H. aus einer alten Adelsfamilie Preußens. Er verdankte seinen Aufenthalt in Schloß Hubertusburg, wie er mir einst auf einem Spaziergange im Garten erzählte, einer Broschüre, die er geschrieben und die ihn in Conflict mit der Leipziger Criminalbehörde gebracht hatte. Die Broschüre führte den curiosen Titel: „Der Hunger und die deutschen Fürsten, ein deutsches Rechenexempel“. Obgleich damals in seinen Vermögensverhältnissen etwas derangirt, verleugnete von H. auch im Gefängnisse den Gentleman nicht. In Ermangelung einer andern Sommergarderobe trug er die grauen Sommerkleider von Leinwand, die ihm von der Anstalt geliefert wurden, aber nie fehlten die schönen Reste einer bessern Vergangenheit, die buttergelben Glacés und die Glanzstiefel. Er war der Einzige, der über das Ende seiner Strafhaft, das nahe bevorstand, nicht gerade sehr erfreut war, und zwar weil sich, wie er mir sagte, über seine Heimathsangehörigkeit in Folge des häufigen Wechsels seines Domicils – er hatte früher in Posen in Garnison gestanden – eine Controverse entsponnen hatte, die ihn, wenn er frei wurde, wahrscheinlich zu einem Heimathslosen machte. Nach Jahren führte mich der Zufall wieder mit ihm zusammen. Er war nicht ohne eine wissenschaftliche Bildung, und dieser verdankte er die günstige Lage, in der ich ihn wieder sah. Er war ein sehr gutmüthiger, anständiger Charakter, und um so mehr bedauerte ich die Katastrophe, die wenige Monate nach unserm Zusammentreffen über ihn hereinbrach. Er hatte ein junges, schönes Mädchen geheirathet, das sich dann von einem Officier entführen ließ. Auf der Flucht verfolgt und so gut wie ergriffen, vergiftete sich das verzweifelnde Paar. Die tragische Geschichte ging damals – es war im Anfange der sechsziger Jahre – durch die deutschen Zeitungen und erregte bei Denen, welche die Persönlichkeiten kannten, allgemeine Theilnahme.

Doch ich bin von der Schilderung des Stilllebens in Schloß Hubertusburg abgekommen. Briefe, abgehende wie ankommende, unterlagen der Controle des Directors. Ebenso konnten Besuche nur im Directionszimmer und unter Aufsicht empfangen werden. Von Zeitungen erhielten wir täglich zum Nachmittagskaffee die „Leipziger Zeitung“, deren Ankunft Jeder mit Spannung entgegen sah, da sie ja die einzige Quelle war, aus welcher uns politische Neuigkeiten zuflossen. Sonntags war für Manche der Kirchenbesuch eine Unterbrechung der Einförmigkeit ihres Daseins. An einem Sonntage war es auch, an dem mir der Director, eben als ich aus der Kirche kam, in welcher der Pastor W. mit [355] großem Aufwande von Rhetorik über die Epistel Pauli an die Römer, 13, 1–4, gepredigt hatte, die Beendigung meiner Haft vor Ablauf meiner Strafzeit ankündigte. Die Ordre aus Dresden war eine halbe Stunde vorher eingetroffen. Ich ließ mein Gepäck in Ordnung bringen und nahm Abschied von meinen Freunden und Gefährten. Noch ein kurzer Rundgang durch den Garten und in die katholische Kirche, die mir noch unbekannt war und in deren Vorhalle das Bild der bekannten Gräfin Cosel, wie mir der begleitende Aufseher mittheilte, an die Geschichte des galanten Sachsens erinnert – und ich stand wieder frei vor dem Thore von Schloß Hubertusburg, durch das ich vor Monaten als politischer Gefangener eingetreten war.

„Ah, Freiheit ist ein edles Ding!“, singt der alte englische Dichter Chaucer, und nie habe ich mehr die Wahrheit dieses Wortes empfunden, als in jener Sonntagsnachmittagsstunde vor dem Schloßthore von Hubertusburg. Die Einbuße der Freiheit und die mit einer Haft unvermeidlichen Beschränkungen und Entziehungen langjähriger Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse sind für einen politischen Gefangenen schon so empfindliche Dinge, daß eine strenge Gefängnißordnung, wie sie für den gemeinen Verbrecher nothwendig, den Charakter einer unmotivirten Härte erhält.

Alle die zahlreichen Gefangenen, welche Schloß Hubertusburg beherbergte, sahen trotz der humanen und rücksichtsvollen Behandlung doch mit Sehnsucht dem Tage entgegen, der sie ihrer Familie, ihren Freunden, ihrem Berufe, in einem Worte, der Freiheit wieder gab.

Wir waren sammt und sonders Opfer jener Kämpfe für die Reichsverfassung. Heute ist die Hauptsache dessen, was die Bewegungspartei von 1848 und 1849 anstrebte, in der Verfassung des deutschen Reichs enthalten; heute entbehren wir zwar noch manche Grundrechte der 1849er Verfassung, aber wir haben doch die Grundlagen derselben: eine Reichsgewalt und ein Reichsparlament. So ändern sich die politischen Verhältnisse; so wechselt das öffentliche Recht der Völker.

Aber eben weil die politischen Zustände und das öffentliche Recht dem Wechsel unterworfen ist, sollten die Grundsätze der Humanität den politischen Gefangenen gegenüber unveränderlich und unabhängig von diesem Wechsel sein. Im Schloß Hubertusburg huldigte man diesem Grundsatze, und es gereicht mir zur Freude, heute, wo jene trüben Zeiten weit hinter uns liegen und die damals schwarzumhüllte Sonne nationaler Einheit und Freiheit wieder hell strahlt, davon Zeugniß ablegen zu können.
Karl Wartenburg.


Eine ertappte „Lateau“.

So lange das Urtheil der königlichen Akademie der Medicin zu Brüssel über die Wunderzeichen der Louise Lateau noch keine Beachtung und die Stigmatisations-Verherrlichung auf Seiten der Unfehlbarkeits-Gläubigen noch kein Ende gefunden hat, gehört dieser Gegenstand zum Register des Tags. Jenes Brüsseler akademische Urtheil kommt bekanntlich zu folgendem Schluß: „Louise Lateau arbeitet und verbraucht Wärme; jeden Freitag verliert sie ein gewisses Maß Blut durch die Wundmale. Bei ihrem Athem haucht sie Wasserstoff und Kohlensäure aus; ihr Gewicht hat nicht abgenommen, seit sie beobachtet wird; also verbraucht sie Kohlenstoff, ohne daß ihr Körper denselben verliert. Woher nimmt sie denselben? Die Physiologie antwortet: sie ißt. Die behauptete Enthaltsamkeit der Louise Lateau von allen Speisen läuft den Gesetzen der Physiologie entgegen; man braucht deshalb gar nicht zu beweisen, daß sie eine Erfindung ist. Wer behauptet, daß die Lateau außerhalb dieser Gesetze stünde, muß es beweisen. Bis dahin hält die Physiologie diese Behauptung für ein Märchen.“ – Der Bericht der Akademie verlangt nun vor Allem, daß die Lateau nicht bloß am Tage, sondern auch Nachts von Männern der Wissenschaft beobachtet werde. Was nützt es, fragt derselbe, dem Betruge elf Pforten zu schließen, wenn die zwölfte offen bleibt?

Besser, als die dermalige belgische, wußte vor sechsundzwanzig Jahren die Regierung des Schweizercantons Zug diese zwölfte Pforte zu verschließen.

Unweit des Zuger Bergs Gubel, auf welchem in den Reformationszeiten ein katholischer Sieg über die Protestanten geschehen und eine alte Schlachtcapelle und ein neues Nonnenkloster steht, liegt das Bergdorf Menzingen. Dort lebte ein Mädchen, Theresia Städele, von welchem Anfangs Mai 1849 das Gerücht ging, daß es jeden Donnerstag und Freitag das Leiden Christi mit allen Wundmalen der Kreuzigung durchmache. Auch hier hatte ein Geistlicher, der Herr Pfarrer Joh. Jos. Röllin, allerdings auf höhere Empfehlung, sich des Wunders sofort angenommen, indem er dem Mädchen in seinem Pfarrhause eine Zufluchtsstätte gab und über die willkommene Erscheinung sein feierliches „Credo“ sprach. Nun begann das Herbeiströmen des Volkes zu dem neuen Mirakel, dessen Verlauf so ziemlich in derselben Weise, mit Ekstase, Blutung und Essens-Enthaltung der Stigmatisirten, wie bei der Lateau, von Gläubigen und Zweifelnden gesehen und geschildert wurde. Aber schon am siebenzehnten Mai erschien im Menzinger Pfarrhaus ein Polizei-Commissär mit einigen Aerzten und Conventualen des Kapucinerklosters in Zug, und sofort kam, gleich bei der ersten Untersuchung der Theresia durch die genannten Herren, das Wunder der Blutung in Stocken. Vier Tage später brachte man sie in gerichtlichen Gewahrsam, und noch vor dem Ende des Monats begann die Auflösung der Wundergeschichte.

Welch außerordentliche Mühe Herr Pfarrer Röllin sich gegeben, um mit dem Theresia Städele-Wunder das Mögliche zu leisten, ist aus dem „Pfarramtsbericht“ zu ersehen, welchen er dem Polizei-Commissar beim Beginn der Untersuchung überreichte. Derselbe zeichnet sich auch durch eigenartige Rechtschreibung aus, wenn auch nicht in so starkem Maße, wie die schriftlichen Beichtberichte der „Heiligen“.

„Am 8. Sept.“ – schreibt u. A. der Herr Pfarrer – „nahm sie (die Städele) ohne Erlaubniß vorher eingeholt zu haben einen Apfel und darauf zeigten sich heftige Leiden in der Persohn. Wie sie sonst heiter und fröhlich war, war sie ganz wild und scheu und machte fürchterliche Augen, so daß ich ahnte es möchte der Dämon wieder auf sie Gewalt bekommen haben.“ (NB. Einschalten müssen wir hier, daß die Städele vorher schon in der Behandlung der berühmten Teufelsbanner von Maria-Einsiedeln gewesen und von diesen der Obhut des Pfarrers übergeben war; denn er berichtet darüber buchstäblich: „Ich wußte gar nicht, was mit dieser Persohn geschehen sollte, als was mir der Hochw. Dekan Athanasius und Pater Stephan mitgetheilt hatten. Sie waren der Beglaubigung sie sey ganz frey vom Satann, und mir schien es auch, weil gar Nichts zu sehen und wahrzunemmen war. – Die Herren sagten mir, es werde nach Aussage des Satanns eine düchtige Persohn werden, und sie sey gewiß zu Großem beruffen.“) Und nun lassen wir unsern Herrn Pfarrer im früheren Text weiter fortfahren. „Nach Anweisung der hochw. Herren in Einsideln machte ich den Befehl – und der Teufel sprach aus ihr und bekannte selbst die Ursache, warum er über sie Gewalt bekommen. – In diesen Zeiten tobte und wüthete der Satann oft fürchterlich und besondere Wuth äußerte er gegen das Gubelkloster, welches er nur ‚den Keffig droben‘ nannte. Er bekannte ohne Aufforderung oft, es sey der Wille des ob uns, daß dies Kloster erbaut werde und daß es jetzt wirklich solle angefangen werden, er wolle es aber doch verhindern etc.“

Wenn wir hier nun verrathen, daß dieser Herr Pfarrer selbst der eifrigste Betreiber des Klosterbaues auf dem Gubel „zum Dienst der ewigen Anbetung“, und daß es, wie wir später sehen, der Lieblingsgedanke der Städele war, in diesem Kloster eine Stätte für sich zu finden – so wird auch der praktische Zweck offenbar, den Beide mit ihrem Wunder und Wunderglauben verfolgten.

Da der Teufel die Klostergedanken der Städele jedenfalls längst herausgewittert hatte, so richtete er gegen sie auch immer gefährlichere Angriffe. Namentlich versuchte er sie zum „Selbstmord“ und zum „Heirathen“. Und wie galant fing er letzteres an! Man lese, was Theresia selbst am 21. Januar 1849 darüber als Beichte niederschrieb: „Von 9 –10 Uhr ist ein Härr gekommen; er war schön und Reich gekleidet. Seine erste Antwort [356] war: ich Grüße euch schönes Jungfreulein! was dreiben sie in dieser Einsamkeit? kommt es inen nicht verleidet vor, so alleine zu sein! – Meine Antwort war: Ja einigemal! – So kommt er ganz nah zu mir hin und wollte mich an der Hant nemen. Ich dachte aber an die Worte, die sie mir, lieber Vater, oft Sagten, – und so ging er wieder einige schrit zurück: er fragt mich und Sagte: – haben sie keine Heiratzgedanken, einen Härr meines gleichen zur Ehe zu nemen“ etc.

Ohne Zweifel zur Belohnung für ihre Standhaftigkeit empfing sie von der Heiligen Clara selber „ein buchsenes, messing-beschlagenes Kreuz“, und zwar mit dem ausdrücklichen Wunsche derselben: „Der Gubel soll jetzt mit Eifer betrieben werden.“

Wie zur Strafe für diesen Heiligenverkehr schreibt und bringt ihr der Teufel nun gar – und zwar „in Gestalt eines schönen Jünglings“ – zärtliche Liebesbriefe, ja, einen Brief zeigte Theresia als den, „welchen ihr der Satann auf die Thürfalle gelegt hatte“. Bedenkt man nun, daß bei solchen Anfechtungen seiner Pflegebefohlenen den Herrn Pfarrer noch der Zweifel plagte, ob der häufige ekstatische Zustand derselben „vom Guten oder vom Bösen herrühre“, so dürfen wir es dem geistlichen Herrn nicht verargen, daß er sich mittelst des Exorcismus darüber Gewißheit zu verschaffen suchte.

Ueber die Art und Weise der Beschwörungsfeierlichkeit selbst hat im Jahrgang 1872, S. 854, unser Artikel „Die besessenen Knaben von Illfurth, ein neuer Beweis für die Schlechtigkeit des Teufels“ Ausführliches mitgetheilt. Hier haben wir nur noch zu bemerken, wie unmanierlich der Teufel sich bei dem so äußerst ernsthaften heiligen Beschwörungsactus oft aufführte: ungeachtet aller Anstrengung konnten die geistlichen Hochwürden auf wiederholte Anfragen oft weiter nichts aus ihm herausbringen, als die gut schwäbischen Worte: „I sag’ der’sch nit.

Ganz anders ging’s vor dem Untersuchungsrichter. Dieser ließ sich nicht erst in Weitläufigkeiten mit dem Teufel ein, sondern nahm die Jungfer Theresia gleich selbst in’s Gebet. Zwar dauerten während der ersten Zeit der Haft die außerordentlichen Erscheinungen und Krampfanfälle noch fort und sogar die Blutung trat gegen Ende des Mai wieder ein, aber um so strenger ward nun die Aufsicht und so gelang es, in der Nacht vom siebenten zum achten Juni die Wunderthäterin auf frischer That zu ertappen: mit einer im Kopfhaar verborgen gehaltenen Steck- oder Heftnadel suchte sie sich in einem scheinbar unbewachten Augenblick Stiche auf die Stirn beizubringen. Bei genauer Untersuchung der Kopfhaut fanden sich noch mehr vernarbte Stichwunden, und es blieb der nun zur Inquisitin gewordenen Wunderheiligen nichts übrig, als das Geständniß, daß sie diese und auch die Wundenmale an den Händen durch Kratzen mit den Nägeln hervorgebracht habe.

Blutung und Ekstase waren damit erklärt und hörten für immer auf; die „Besessenheit“ wurde jedoch von der Städele um so hartnäckiger festgehalten, je größere Eindrücke sie durch dieselbe auf die Klosterexorcisten von Einsiedeln, den Pfarrer Röllin und die große Masse der Dummgläubigen bewirkt hatte. Als ihr aber nachgewiesen wurde, daß der angeblich vom Teufel auf ihre Thürfalle gelegte Brief von ihrer eigenen Hand geschrieben sei, brach mit dieser Lüge die ganze lange Lügenkette auseinander und erfolgte ein Geständniß, von welchem wir – immer den damit eng verwandten Fall der Louise Lateau im Auge – das Wesentlichste mittheilen müssen.

Theresia Städele, damals sechsundzwanzig Jahre alt, aus Bohlingen (Amt Radolfzell) in Baden gebürtig, wurde von ihren armen Eltern früh zum Betteln ausgeschickt, mußte schon vom neunten Jahre an sich ihr Brod selbst verdienen, leistete kurze Zeit auf dem Karlsruher Theater Aushülfe in untergeordneter Stellung und scheint schon damals Mitglied eines „Betvereins“ gewesen zu sein und Neigung zum Klosterleben, aber auch zur Wunderthäterei gewonnen zu haben. Aus der Untersuchung ging nämlich hervor, daß schon in Karlsruhe sich die Städele mit ihrem eigenen Blute dem Teufel verschrieben habe, und zwar dafür, daß sie auf dem Theater gleich in allen Sprachen reden und mitspielen könne, ohne etwas lernen zu müssen. Nach einer Liebesgeschichte, an die sich ein regelloses Leben knüpfte, gerieth sie in die schlimmsten Hände, in die ein solches Wesen fallen konnte: um „ein gesichertes Unterkommen“ zu finden, trat sie, gegen vierzig Gulden Einzugsgeld, in das damals, von dem Vicar Rollfuß gehaltene, aber von der Regierung des Cantons Schwyz Anfangs 1848 aufgehobene Klosterinstitut „zur ewigen Anbetung“ am Steinerberge. Hier hatte sie einen wirklichen Anfall von Krämpfen, in welchen jedoch Rollfuß sofort „Besessenheit“ erkannte, eine Entdeckung, die er der Klostervorsteherin mit den Worten verkündete: „Wenn dieses Kind in diesem Leiden ist, so kann dies uns noch Glück bringen.“

Diese Verkündigung fiel als Same auf einen nur allzu empfänglichen und sattsam vorbereiteten Boden, und so sehen wir nun die Städele im Studium religiöser Heuchelei am Steinerberge die Vorschule durchmachen, um dann in Einsiedeln die hohe Schule zu besuchen und in Wenzingen in die Praxis überzugehen, die im Zuchthause ihren Abschluß fand. – Wir lassen sie nun so weit thunlich mit ihren eigenen, den Untersuchungsacten entnommenen Worten reden.

„Am Steinerberg“, sagte sie, „wurden über das Essen aus dem Buche Allerheiligen geistliche Lesungen gehalten; in diesem las ich auch die Geschichte des Hl. Franciscus, wie er, vom Satan geplagt, sich dadurch eine große Heiligkeit erworben habe. Ich dachte, ich wollte es auch so machen, um zu dieser Heiligkeit zu gelangen. Die Besessenheit machte (ich) dann zuerst in Steinen – dann in Einsiedeln – und dann in Menzingen nach. Da ich an Krämpfen im Steinerbergkloster anfänglich gelitten, brauchte (ich) diese, als solche vorübergewesen, und ahmte die Bewegungen nach, daß die Herren es wirklich geglaubt.“ Dazu fügt sie die prächtige Erläuterung: „Ich gab vor nicht beten, nicht essen, nicht in der Kirche sein und nicht communiciren zu können. Schon in Einsiedeln gab ich solches den Patres Athanasius, Franz und Stephan vor. Dort habe (ich) auch von einer Agatha, die ebenfalls unter Behandlung obiger Herren gestanden, vernommen, daß die Patres hieran am besten erkennen, daß man besessen sei.“ So zeigte sich denn die Städele auch diesen Stifts-Teufelsbeschwörern gewachsen; war sie doch als bereits „Besessene“ vom Steinerberg im Voraus den gläubigen Patres empfohlen! Zudem besaß, wie die Acten ebenfalls ergeben, die Städele recht hübsche Kenntnisse in der Literatur über dämonische und ekstatische Zustände.

Was nun die Blutung betrifft, auf welche die Städele zuerst durch die Legende vom heiligen Franz von Assisi im Steinerbergkloster gebracht worden, so benutzte sie die Gelegenheit schon in Einsiedeln, die Teufelsbeschwörung durch den Dämon benachrichtigen zu lassen, daß sie später die Wundmale bekommen werde. „Ich dachte“, sagte sie im Verhör, „wenn ich die Wundmale des Heilands habe, werden die Leute sagen, wenn eins so etwas Außerordentliches an sich trage, sei’s gewiß in ein Kloster bestimmt; da in der Welt draußen so etwas nicht bestehen könne, sondern nur in einem Kloster zum Vorschein komme.“ – „Die Absicht (der Städele) war übrigens, die Blutung erst im Gubelkloster zu bewerkstelligen. Da ich aber arm bin, dachte (ich), ich wolle sie früher eintreten lassen, ich werde dann eher Almosen erhalten, um auf den Gubel kommen zu können.“ – „Als ich nach Menzingen gekommen, setzte (ich) mein früheres Thun fort und zwar, weil ich anfänglich keine Hoffnung hatte, vom Pfarrer versorgt zu werden.“ – „Als ich mich im Pfarrhof untergebracht befand, gab ich vor, daß der frühere Zustand, wie in Einsiedeln, wiederkehre.“ – Und nun gestand sie, welche Reihe von Betrügereien sie anwandte, um den Pfarrer und dessen Köchin, die Kathri, im Glauben an ihre Besessenheit zu bestärken; sogar die Briefe des Pfarrers las sie heimlich, um deren Inhalt zu vorgeblichen Ekstasen zu benutzen.

Das Geständniß war so vollständig, daß das Criminalgericht am ersten August 1849 die Theresia Städele wegen des Criminalverbrechens des Betruges mittelst künstlich erregten Blutschwitzens sowie mittelst simulirter Besessenheit zur Ausstellung auf der Schandbank, dreißig Ruthenhieben, dreijähriger Zuchthausstrafe etc. verurheilte.

Wie verführerisch damals das Beispiel der Städele zu werden drohte und wie gerechtfertigt das energische Einschreiten der Behörde war, dafür sprach die Thatsache, daß derselbe Pfarrer Röllin bereits von einer zweiten Stigmatisirten sprach, einer Anastasia Meyer im Gubelkloster, die jedoch im Augenblicke, wo die Städele in Haft genommen wurde, ihr Heil in der Flucht suchte.

[357]

Das Hermann-Denkmal auf dem Teutberge nach seiner Vollendung.

[358] In der kleinen, 1849 von J. M. A. Blunschi in Zug gedruckten und verlegten Schrift: „Der Hexenproceß und die Blutschwitzerprocedur, zwei Fälle aus der Criminalpraxis des Cantons Zug etc.“, welcher wir in obiger Darstellung gefolgt sind, wird noch an andere gleichzeitige Teufelsspukstücke erinnert, die wir hier übergehen wollen. Haben wir doch schon übergenug an unserer Louise Lateau! Sie wird unter dem Schutze eines Jesuitenregiments und in einem für die Glorificirung jedes den Geist der Wahrheit verhöhnenden Schwindels so überaus günstigen Augenblicke ihre Pfaffenpuppenrolle noch kurze Zeit fortspielen. Gerichtet ist sie bereits; der Gesammtschrei all’ der Stimmen, welche für sie fluchen und toben, ändert Nichts an den Naturgesetzen, die sie verurtheilen. Ob sie selbst eine Strafe noch persönlich trifft, oder nicht, sicher ist auch hier – die Schandbank, und die auf ihr zu stehen haben, entlaufen dem Richterspruche der Zukunft nicht.

Fr. Hfm.




Auf dem Häringsfang in Schottland.


Schottland ist ein classisches Land für Fischerei. Der Reichthum seiner rasch fließenden Bergströme, seiner Seeen und Föhrden, wie der das Land umschließenden Meerestheile an Fischen ist groß. In den Flußmündungen, wie eine Strecke hinauf in’s Land ist zu bestimmten Jahreszeiten der Lachsfang äußerst ergiebig, beispielsweise schätzt man den Werth der Lachsfischerei des Tay allein auf jährlich 18,000 Pfd. Sterl., und der jährliche Brutto-Ertrag des Fanges dieses werthvollen Tafelfisches in Schottland wurde mir bei meiner Anwesenheit im vorigen Herbst auf 200,000 Pfd. Sterl. angegeben. Dennoch tritt diese Fischerei, welche auf das Sorgfältigste durch eine Reihe von Gesetzen und Einrichtungen, wie auch durch eine von Betheiligten errichtete und unterhaltene Brutanstalt gehegt und gepflegt wird, zurück vor der Bedeutung und dem Umfange der alljährlich zu verschiedenen Zeiten an den Küsten und Inseln Schottlands betriebenen Häringsfischerei. Alles vereinigt sich zu einem massenhaften Fange, der unter den für die Verwerthung günstigsten Verhältnissen ausgeübt wird. Die wichtigste Gegend für dieses Gewerbe ist die Ostküste Schottlands, und hier fällt die Hauptfangzeit in die Monate Juni bis August. Zu dieser Zeit verweilte ich im vorigen Sommer in Schottland und unternahm mit einem Peterheader Fischerboot eine nächtliche Fischerfahrt.

Dieser kleine Hafen ist auf einer in die See hinausreichenden Landzunge äußerst günstig für den Betrieb gelegen. Es ist nämlich sehr wesentlich, daß die Böte nur eine kurze Fahrt bis zu höchstens fünf deutschen Meilen von der Küste, zu der Stelle, wo der Häring zu ziehen pflegt, zurückzulegen haben. Für die eigentliche Hochseefischerei sind die Böte nicht eingerichtet. Peterhead ist denn auch ein rechter Fischerort, und zur Sommerszeit duftet hier Alles nach Häring, was freilich für den daran nicht Gewöhnten nicht eben angenehm ist. Zweiräderige Wagen mit Fischabfällen oder zum Trocknen bestimmten Netzen rollen den ganzen Tag über durch die Straßen und über den Hauptplatz des sonst sauberen und freundlichen Ortes, dessen Häuser, wie fast überall in Schottland, aus Granit erbaut sind, gleichsam zur Versinnlichung des bekannten Wortes, welches ein Grundrecht des britischen Volkes kernig ausspricht: „Mein Haus ist meine Burg.“ Am Hafen entrollt sich uns das Bild emsigster Thätigkeit. Weitaus die Mehrzahl der Fahrzeuge besteht aus Häringsböten, sogenannten Halbdecksböten, deren größter Raum für die Aufnahme der Netze und des Fanges bestimmt ist, während eine kleine Kajüte mit Ofen und Schlafstätten nur eben für die fünf Mann, welche gewohnt sind, auf solchem Fahrzeuge zu hausen, groß genug ist. Diese Häringsböte haben eine Länge von etwa 45 Fuß, eine Breite von 16 Fuß und nur einen Mast.

Dem regen Leben in und vor dem Hafen, wo zahlreiche Fahrzeuge mit ihren rothbraun getheerten Segeln – die Nummern und Buchstaben auf den Segeln geben den District an, wo das Fahrzeug registrirt ist – aus- und einliefen, entsprach die rastlose Thätigkeit am Lande. Eine Menge Frauen und selbst kleine Mädchen sind um große Tröge, welche im Boden festgemacht sind, emsig beschäftigt; neben ihnen liegen, in Körben aufgehäuft, die silberglänzenden Fische, welche jene Böte mit den jetzt zu einem Berge aufgestapelten Netzen dem Meere abgewonnen haben. Diese Netze bestehen aus baumwollenen mit Catechu getränkten Fäden. Es ist die Arbeit des Ausweidens der Fische, welche hier im Gegensatze zu der deutschen und holländischen Fischerei am Lande verrichtet wird. Die holländischen und deutschen Fahrzeuge fischen nämlich, auf so und so viel Tagereisen von der Heimath entfernt, auf hoher See. Der Häring wird daher dort an Bord ausgeweidet und in Fässer verpackt, und dieser Betrieb bedingt also größere Fahrzeuge und mehr Mannschaften. Hier sehen wir wiederum Mädchen mit dem Verpacken der ausgeweideten Heringe in Fässer beschäftigt, wobei immer eine Lage Salz und eine Lage Häringe abwechseln. Der Betrieb der schottischen Häringsfischerei geschieht auf Grund des bei diesem Gewerbe überhaupt fast überall durchgeführten Antheilssystems. Ein Viertel des Ertrages kommt dem Boote zu, das bald nur Einem, bald aber Mehreren gehört. In die verbleibenden drei Viertel theilt sich die Mannschaft bis auf Einen, der von den Uebrigen im Lohne angenommen wird, nach einem bestimmten Maßstabe, wobei selbst der Schiffsjunge einen kleinen Antheil erhält. Die Netze gehören den Fischern; ein jedes dieser Netze kommt auf etwa dreiundeinhalb Pfund Sterling zu stehen.

Unsere Fahrt schien eine günstige zu werden. Allem Anscheine nach war kein Unwetter zu erwarten; blau wölbte sich der Himmel, und eine frische Brise wehte vom Lande. Mit zwei Freunden vertraute ich mich daher ruhig einem dieser kleinen Fahrzeuge an, welches der mir bekannte Chef eines großen Häringsgeschäfts von Peterhead ausgesucht hatte. Einige hundert Fischerfahrzeuge verließen mit uns zu gleicher Zeit den Hafen, und es war eine Lust zu sehen, wie unser Fahrzeug, welches ein guter Segler war, allmählich die ganze, mit ihren rothbraunen Segeln im Sonnenscheine lustig dahin gleitende Flotille überholte. „Mary Isabella“ war der Name unseres Bootes; es gehörte dem Fischer Anderson aus Pettenweem, einem Fischerdorfe an der Föhrde des Forth. Im Ganzen bestand die Besatzung aus sieben Mann. Darunter befanden sich Herr Anderson und sein Sohn, drei Fischerleute, ein Junge und ein nur für die Dauer der jetzigen Sommerhäringsfischerei angenommener Arbeiter, ein Maurergeselle aus Edinburgh. Die Fahrt ging gleichmäßig und ruhig von Statten, still und emsig that Jeder das Seine; nicht ein Scheltwort hörten wir auf der ganzen Fahrt, in Kurzem war Alles für die Fischerei vorbereitet. Der Fang geht in der Weise vor sich, daß eine Reihe von Netzen, die an einer durchgehenden Leine befestigt und deren Lage durch eine Anzahl mit dem Netze in Verbindung stehender luftgefüllter Ballons (Dogs) aus Schaffellen oder Guttapercha kenntlich ist, hinabgelassen werden. Das Fahrzeug zieht, am Fischplatze angekommen, die Segel ein und treibt vor dem Winde. Der Umfang eines solchen Netzes ist folgender: Länge der Leine, an welcher das Netz befestigt ist, neunzehn Faden, Länge des Netzes sechszig Yards, Tiefe desselben fünfundvierzig Fuß englisch; ein Quadratfuß eines solchen Netzes enthält ungefähr fünfzig Maschen.

Da der Zug der Häringe ungefähr parallel der Küste, von Norden nach Süden ging, so kam es darauf an, daß die Netze, welche, getragen durch die Ballons, wie ein Gitterwerk aus Baumwollenzeug senkrecht im Wasser gehalten werden, den Zug der Fische gleichsam auffingen. Die Häringe gerathen mit ihren Kiemen in die Maschen und werden auf diese Weise gefangen. Wir waren etwa zweiundzwanzig Miles von der Küste, als Master Anderson, ein bedächtiger wohlerfahrener Fischer, es an der Zeit hielt, die Netze auszuwerfen. Eine Anzahl Böte in unserer Nähe schickte sich zu der gleichen Arbeit an. Mast und Segel wurden gestrichen, die Netze langsam von drei Leuten in das Wasser gelassen, wobei der vierte die Ballons nach einander nachwarf. Im ungewissen Lichte des Abends – es war bereits auf acht Uhr – ging das ganze Geschäft mit größter Ruhe vor sich. Die Strahlen des Mondes glitzerten auf [359] der glatten Wasserfläche, und wo man hinblickte, sah man die dunkeln Punkte der treibenden Netzballons. Halb zwölf Uhr Nachts wurde eines der Netze zur Probe aufgezogen, und der Fang erwies sich als ziemlich reich. Die frischgefangenen Häringe, welche zum Theil noch lebten, sahen in ihrem silbernen Schuppenkleide ganz prächtig aus. Einzelne sprangen und zappelten. Die Arbeit des Ausschüttelns, beziehungsweise des Ausnehmens der Fische aus den Maschen wird mit großer Geschwindigkeit verrichtet, und zwar in der Weise, daß das Netz, nachdem es von einem Mann an Backbordseite aufgezogen, quer über den offenen für die Fische bestimmten Raum emporgeholt und ausgeschüttelt wird, wobei drei Mann auf der Backbordseite, zwei Mann auf der Steuerbordseite ihren Posten haben, während der sechste die Ballons einnimmt. Der Schiffsjunge hat seinen Platz an der Stelle, wo die Netze aufgenommen werden, und fischt die bei dem Aufnehmen des Netzes aus den Maschen fallenden Häringe mit einem Hamen aus der See. Der Fang ergab sich als ein mittelguter. Das Quantum betrug fünfundzwanzig Crans (das Maß der Fischer, während im Handel die Tonne und das Barrel den Maßstab giebt).

Die Häringsfischer pflegen über die Lieferung eines bestimmten Quantums Häringe in so und so viel Hundert Crans einen Vertrag mit den Häringssalzern abzuschließen, welche Letztere die Fische, in Barrels gepackt und gesalzen, theils direct verschicken, theils sie wiederum an Großhandlungshäuser zur Versendung übergeben. Der Werth des Fanges dieser Nacht war etwa dreißig Pfd. Sterl. (gleich sechshundert Reichsmark). Die Revision der Netze nach dem Fischen erforderte noch einige Zeit, dann kam der für die Leute willkommene Moment der Ruhe und eines sehr primitiven Genusses, welcher in heißem Kaffee und frischgebratenen Häringen bestand. Auch die Zeit, während die Netze im Wasser waren, wurde noch von Einem der Leute dadurch ausgenutzt, daß er mittelst der Angel dem Blackfischfang oblag. Das Resultat war nicht weniger als zweiundzwanzig Stück dieser Fische von der Größe eines Kabeljaus. Die Burschen machten einen gewaltigen Lärm, wenn sie mit Hülfe einer starken Angelschnur auf Deck geholt wurden.

Die Rückfahrt nach Peterhead war eine sehr langsame, denn da der Wind allmählich abstarb, bedurften wir wohl drei Mal soviel Zeit, als bei der Ausfahrt, denn die Aushülfe der Ruder ist doch nur eine ungenügende. Das Wetter blieb schön. Schon am Vormittage zeigten uns unsere Fischer am Horizonte in einer schwachen Rauchwolke unser Ziel, Peterhead, welches wir erst am Abend erreichten. Bei der Einfahrt in den Hafen war ein gewaltiges Gedränge der ein- und auslaufenden Böte. Immerhin war unsere Fahrt durch das Wetter im höchsten Grade begünstigt gewesen. Die Schwierigkeiten und Gefahren dieser Küstenfischerei sind nicht gering. Noch vor wenigen Wochen hatte ein mehrere Tage währender Sturm, wie unsere Fischer uns in ihrem sonderbaren schottisch-englischen Dialekt erzählten, arg unter der Fischerflotte gehaust und mehrere Menschenleben gefordert. Dennoch lieben diese Leute ihren Beruf, der ihnen reichliche Existenz sichert.

Man rechnete, daß im vorigen Sommer auf einer Strecke der schottischen Ostküste von einer Länge von siebenzig englischen Meilen zwischen Aberdeen und Fraserburgh 1881 Böte mit dem Häringsfang beschäftigt waren, welche Häringe im Werthe von einer halben Million Pfd. Sterl. landeten. Die Gesammtzahl der an der ganzen Ostküste bis nach denn Orkney-Inseln hinauf, und ferner an der Westküste und den Hebriden beschäftigten Böte war aber 5600, welche von 35,000 Leuten bemannt waren. Das Salzen und Packen der Häringe am Lande giebt außerdem noch 30,000 Menschen Beschäftigung. Der Gesammtwerth des schottischen Häringsfischereiertrags (Brutto) war über 1½ Millionen Pfd. Sterl..

Deutschland ist einer der Hauptabnehmer der schottischen Häringe und Stettin der wichtigste Einfuhrplatz. Im Ganzen wurden im Jahre 1873 in das Zollgebiet des deutschen Reichs beinahe 800,000 Tonnen Häringe eingeführt. Um auch Deutschland einen Antheil an dem Ertrage der Fischerei zu sichern, hat sich vor einigen Jahren in Emden die „Emder Häringsfischereigesellschaft“ gebildet, welche den Häringsfang in der Nordsee nach der verbesserten holländischen Methode durch eine Anzahl Logger betreibt. Der Brutto-Werth des Fischereiertrags dieser Gesellschaft war im Jahre 1875 77000 Thaler. Die Förderung der deutschen Fischerei-Interessen ist in neuerer Zeit durch den vor einigen Jahren gebildeten Fischereiverein in Berlin in die Hand genommen. Derselbe ist sehr thätig, verfügt aber leider über nur geringe Mittel. Den Bemühungen dieses Vereins, welcher eine umfassende Untersuchung veranstaltete, sind die soeben erschienenen von dem Custos des landwirthschaftlichen Museums in Berlin, Dr. L. Wittmack, bearbeiteten „Beiträge der Fischereistatistik des Deutschen Reichs, sowie eines Theils von Oesterreich, Ungarn und der Schweiz“ zu verdanken. Dieses werthvolle Werk, welches eine höchst interessante Karte über die Verbreitung der wichtigsten Tafelfische in Deutschland enthält, stellt leider fest, daß fast von allen Seiten über bedeutende Abnahme der Fische geklagt wird. Wer dieses Werk liest, der wird nicht in Zweifel darüber sein, daß die Pflege dieses wichtigen Zweigs der Volksernährung und des Volkserwerbs in Deutschland, verglichen mit England und den Vereinigten Staaten von Nordamerika, viel zu wünschen übrig läßt.

     Bremen, im April 1875.

Dr. M. Lindeman.


Blätter und Blüthen.

Das Hermann-Denkmal im Teutoburger Walde. (Mit Abbildung, S. 357.) Es war im Jahre 1860, einer Zeit der politischen und geistigen Windstillen, als in diesen Blättern auf ein „vergessenes deutsches Denkmal“, das Hermann-Denkmal im Teutoburger Walde bei Detmold, aufmerksam gemacht wurde.

Damals war seit dem Jahre 1846, wo der Unterbau des Denkmals beendigt und mit der Kuppel gekrönt war, ein betrübender Stillstand eingetreten. In Folge der unbehaglichen politischen Mißstimmung flossen die Gaben sehr spärlich, und der Schöpfer und ehrwürdige Baumeister des Denkmals, von Bandel, war vom Teutberge herabgestiegen und hatte sich in Hannover angesiedelt, freilich wohl mit geistiger Arbeit, mit Plänen und Entwürfen zur Vollendung des Denkmals beschäftigt, aber doch dem eigentlichen Schauplatze seiner Thätigkeit entrückt. Es ruhte eben Alles; Mutter Germania saß am Spinnrocken und spann, und nur der Dichter beschwor mahnend den Schatten Hermann’s:

„Von diesen Höhen in die Runde
Nach Nord und Süden wollt’ er schauen,
Zu sehen, ob Germaniens Gauen
Vereinen sich zu einem Bunde,
Ob mit der Stämme Einheit wohl
Zur Wahrheit werde ihr Symbol.
Er harrt und harrt; des Thurmes Quadern
Sind längst bemoost – die Arbeit ruht,
Hier, wie am Werk der Einheit, hadern
Die Bauherr’n mit erhitztem Blut.“

An der Zukunft des Denkmals verzweifelnd und mit der Gegenwart grollend, sahen wir Jahr um Jahr vergehen, aber wie trübe sich auch hier und da die Blicke senken wollten, der Baumeister verzweifelte nicht an dem Gelingen des nationalen Werkes. Der Gedanke, daß keine echte Idee zu Grunde gehe, daß über kurz oder lang um die hadernden deutschen Stämme das Band der Eintracht sich schlingen und dadurch auch das Denkmal seiner Vollendung zugeführt werden müsse, hat ihn und viele Freunde der nationalen Sache in dieser trüben Zeit aufrecht erhalten. Und er hat sich nicht getäuscht.

Wenige Jahre später, am 6. November 1862, richtete dann der Detmolder Hauptverein für das Hermann-Denkmal auf’s Neue eine Aufforderung zu Beiträgen an das deutsche Volk, es wurde lebendiger im Vaterlande. Schleswig-Holstein wurde vom dänischen Joche befreit, und der deutsche Mann von Blut und Eisen, Fürst Bismarck, betrat die politische Schaubühne. Ein frisches fröhliches Wagen trat an die Stelle des Zagens, und die blutigen Schlachten des Jahres 1866 festigten immer mehr das Nationalbewußtsein des deutschen Volkes, so daß im Jahre 1870 und 1871, als Frankreich in seinem Uebermuthe es wagte, unsere Grenzen zu bedrohen, sämmtliche deutsche Männer wie ein Mann vereint sich erhoben, mit einer Bravour, die kaum in der Geschichte ihres Gleichen findet, den Erbfeind besiegten und sich eine solch’ geachtete und gefürchtete Stellung im europäischen Rathe erwarben, wie nie zuvor.

Deutschland, einig und groß, gedachte nun aber auch seiner Ehrenschuld, der Vollendung des Hermann-Denkmals. Kaiser Wilhelm bewilligte unter allgemeiner Zustimmung des Reichstages die noch fehlende Summe von 10,000 Thalern zur Krönung des nationalen Monuments. Mit freudiger, frischer Hoffnung wurden die Arbeiten auf’s Neue begonnen; der Alte vom Berge fand sich im Herbste 1873 wieder auf dem Teut ein und führt nunmehr das Werk täglich mehr seiner endlichen Vollendung entgegen. Heute schon (am 1. Mai), während wir diese Zeilen schreiben,

[360] ist das vierundzwanzig Fuß lange und elf Centner schwere Schwert der wuchtigen Faust der noch mit einer Bretterhülle verdeckten Hermann-Statue einverleibt und blinkt mit seiner goldenen Inschrift:

Deutsche Einigkeit meine Stärke,
Meine Stärke Deutschlands Macht –

weit in die Lande hinaus. Nicht gar lange mehr wird’s dauern und das erhabene Denkmal steht im vollen Schmucke seiner Vollendung da und sieht nach siebenunddreißig langen Jahren dem schönen Tage der Einweihung, seiner Uebergabe an das deutsche Volk (am 16. August dieses Jahres) entgegen, einem Feste, dem, wie wir jetzt wohl mit Sicherheit melden können, Kaiser Wilhelm beiwohnen wird.

R. Sch.

Die Eisenbahn unter den Meereswogen. Nachtrag. Ueber dieses neueste Wunder des Jahrhunderts wird noch unendlich viel geschrieben werden. Wir ergänzen unsere in Nr. 8 befindliche Schilderung zunächst durch folgende Thatsachen, die für eine richtige Beurtheilung wesentlich erscheinen. Vor Allem vermindert sich die wohl in Jedem zunächst auftauchende Gefahr vor dem Einbruche des Meeres in den Tunnel fast bis auf ein Nichts, wenn wir erfahren, daß man in den Blei- und Kupferbergwerken von Cornwall, sowie in den Kohlenminen von Cumberland in England zum Theil bis beinahe eine deutsche Meile weit unter dem Meere hineingedrungen ist und immer weiter bergwerkt, ohne bis jetzt nur das leiseste Einsickern von Wasser bemerkt zu haben. Die Tiefe dieser Schachten kommt von zweihundertzwanzig bis siebenzig Meter dem Meeresbette nahe. Wenn es noch lange so fortgeht, gräbt man unwillkürlich den ungeheuersten aller unterseeischen Tunnel und kommt endlich unter der etwa zwölf deutsche Meilen entfernten Küste Irlands an und auf festem Boden von da wieder empor.

Noch mehr: Bei St. Just streckt sich das Bergwerk Huel-Cock vierhundertfünfzig Fuß weit unter dem Meere hin und zwar so dicht unter dem Meeresboden, daß man das donnernde Wogen von oben nicht selten hören und fühlen kann. Die schützende natürliche Steinmauer ist an manchen Stellen nur fünfzehn Fuß dick. An einer andern Stelle beträgt diese Schutzmauer gegen das tosende Meer oben kaum etwas über fünf Fuß, so daß die Leute unten bei großem Sturme von den Erschütterungen und dem Getöse über ihnen vertrieben wurden. Aber sie kommen immer wieder, und wenn sich manchmal höchstens eine Spalte mit einsickerndem Wasser einfindet, wird dieses Leck wie in Schiffen mit Werg, Pech und Cement dauernd verstopft.

Findet sich aber in solchen großen Tiefen nicht Wasser von unten ein? Merkwürdiger Weise bestätigt sich die schon vor beinahe hundert Jahren von dem englischen Ingenieur Pryce gemachte Behauptung, daß Tunnel unter dem Meere sich trockener halten, als eben solche unter festem Lande, auf das Glänzendste. Das Meer selbst sorgt für diese Trockenheit unter sich, da es seine Betten mit einem wasserdichten festen Schleime bedeckt. Aus der Meerestiefe hervorgeholte Steine oder Felsenstücke bestätigen dies; sie sind immer mit einer Schicht von Pflanzen und Muscheln und daran fest gewordenem Schleime überzogen, so daß die kleinsten Ritzen und Poren damit wasserdicht ausgefüllt sind.

Gestützt auf diese Thatsachen, haben die kühnen Unternehmer des englisch-französischen Eisenbahntunnels guten Grund, an die Gefahrlosigkeit und die Trockenheit ihres unterseeischen Verbindungsweges zu glauben und sich mit einer Tiefe von etwa fünfzig Fuß unter dem Meeresbette zu begnügen. Dadurch würde die Sache schon viel leichter werden, da zweihundert Fuß, die man früher für nöthig hielt, namentlich einen längeren Weg von den Küsten aus nach dem Lande hinauf in die Schienen, oberhalb der Erde nöthig machen würden. Es hieß deshalb auch schon, daß der Tunnel, unter dem Meere hin noch nicht fünf deutsche Meilen lang, durch seine beiden Ausläufe auf die Oberfläche Englands und Frankreichs, namentlich durch die nothwendigen Krümmungen, eine Länge von sechs und einer halben deutschen Meile erreichen würde. Jetzt hofft man wenigstens die Hälfte der Länge dieses aufsteigenden Landtunnels sparen zu können.

Auch in Bezug auf die Ausbohrung und Beseitigung von etwa drei Millionen Cubikmeter Kreidefelsengestein braucht man sich die Schwierigkeit nicht so groß zu denken. Die schon erwähnte Brunton’sche Maschine bohrt in diesen Kreidefelsen mit solcher Leichtigkeit, daß sie jede Stunde über drei Fuß vorwärts kommt. Sie bohrt immer gewaltige Löcher von mehr als sechs Fuß Durchmesser und befördert dabei die losgebröckelten Stücke auf einer durch die Maschine selbst gedrehten Leinwandfläche in die hinter ihr stehenden Wagen, welche durch ein System von Drähten und Winden in den an den Ausgängen befindlichen tiefen Brunnen fortwährend hin- und hergezogen werden. Diese Maschinerie wird, wie die zur Hebung und Beseitigung der ausgebohrten Massen, natürlich durch Dampf getrieben.

In den Tunnel selbst darf man damit nicht kommen. Deshalb werden die Brunton’schen Maschinen, wie die im Mont Cenis und jetzt im St. Gotthard, durch zusammengepreßte Luft getrieben. Dazu gehören freilich zuletzt Röhren von je etwa zwei und einer halben deutschen Meile Länge – sehr viel, aber es macht sich ganz einfach, indem man die Röhre mit den Fortschritten der Bohrmaschine eben nur immer verlängert. Es wird viel Geld kosten, aber ein und eine halbe Million Thaler sind ja bereits blos für die ersten Vorarbeiten gezeichnet worden. Bewähren sich diese, so kommen die achtzig bis hundert Millionen Gulden, die das Ganze nach der Berechnung des österreichischen Ingenieurs Pascher kosten wird, auch wohl zusammen.

Dabei hofft der französische Generalstabscapitain Roudaire auch noch seine zwanzig bis dreißig Millionen Franken für sein Sahara-Meer zu bekommen. Und die Amerikaner, mit ihrer Panama-Eisenbahn nicht zufrieden, wollen nun auch mit ihrem den Atlantischen und Großen Ocean verbindenden Tunnel Ernst machen. Auch kommt’s noch größer; denn „es wächst der Mensch mit seinen Zwecken“.
H. B.

Ein Schwindel ohne Gleichen. Leider war auch das der Gartenlaube nur beigelegte, mit der Redaction und Expedition derselben nicht in dem geringsten Zusammenhange stehende Insertionsblatt „Allgemeine Anzeigen zur Gartenlaube“ dazu ausersehen, einem Schwindel zur Ankündigung zu dienen, wie er frecher vielleicht noch nicht dagewesen ist. Aufmerksam auf denselben wurden wir durch eine kleine Waarensendung aus der Schweiz gemacht, welcher folgende „Warnung“ beilag:

„Wir warnen die geehrten Abonnenten der Gartenlaube vor den verlockenden Waarenanpreisungen des ‚Anton Rix, Praterstraße 16, Wien‘ (auch vereinigte Industrie-Halle oder Au bon Marché), da man von demselben unter aller Kritik angeschwindelt wird.

J. Leuthold
in Zurzach (Schweiz).“

Wir verglichen nun die gedruckten Ankündigungen mit den eingesandten Waaren, die Herr J. Leuthold für sein gutes Geld (zwanzig Franken) von der genannten Firma erhalten hatte und können nicht umhin, auszusprechen, daß hier offenbarer Hohn mit dem Schwindel verbunden ist. In der Ankündigung steht z. B.: „1 Taschenuhr, welche präcise vorwärts geht, sammt Uhrkette“ – und in einem Pappschächtelchen finden wir eine kleine Kinderspiel-Uhr, wie sie Jahrmarktsbuden „Stück für Stück einen Groschen“ bieten; – „2 Stück prachtvolle Wiener Oelgemälde sammt Goldrahmen“ werden durch zwei kleine Oeldrucksudeleien in Papiermaché-Rähmchen vertreten; ebenso schlimm stellt sich „1 prachtvolles Photographie-Album mit reicher Goldverzierung“ und der gesammte übrige Plunder dar.

Wir machen darauf aufmerksam, daß dieselbe Firma in demselben Blatte noch „Talmi-Gold-Schmuck für die Ewigkeit“ (Unterschrift: „Rix, Uhren-Fabriks-Niederlage, vereinigte Industriehalle, Wien, Praterstr. 16“), ferner: „Praktische Erfindungen, Bartzwiebel“, desgleichen: „Wiener Meerschaum-Bazar (Au bon Marché, Wien I., Adlergasse 12)“ und (ebendaselbst) abermals neue Erfindungen von Meerschaum, Talmi-Uhren und Haarpflanzen ankündigt, deren Erprobung wir allerdings solchen Käufern überlassen müssen, welche ihr Geld an derlei „billige Erwerbungen“ wagen wollen.


Der in Nr. 11 der Gartenlaube in dem Artikel über den Feldmarschall Grafen Wrangel erwähnte Officier, der sich bei der Belagerung von Straßburg so sehr ausgezeichnet hatte, gehörte nicht der bekannten freiherrlichen Familie von Ledebur an, sondern hieß Alwin Ledebour. Er diente früher im hannoverschen Ingenieurcorps und trat 1867 in die preußische Armee ein. Derselbe war nicht, wie in unserm Artikel erwähnt worden, während der Vernichtung der Minengänge verwundet worden, sondern vorher schon, wenn auch sehr leicht, bei einer Recognoscirung und das zweite Mal am Vorabend der Capitulation von Straßburg, als er die Aufwerfung eines Dammes entlang des Grabengürtels beaufsichtigte. Trotz der aufopferndsten Pflege bei einem Herrn von X. in Karlsruhe konnte sein durch die außerordentlichen Strapazen geschwächter Körper den Folgen der immerhin leichten Verwundung nicht widerstehen; er starb am 22. October 1870. Das Ingenieurcorps hatte den Leichnam des braven Cameraden nach Straßburg bringen zu lassen beabsichtigt, wo allen während der Belagerung gefallenen oder später an den Wunden gestorbenen Cameraden ein gemeinschaftliches Denkmal gesetzt werden sollte. Wegen der Schwierigkeit in der Ausführung zerschlug sich dieser Plan und so ließ daß Officiercorps dem Tapfern später in Karlsruhe ein Denkmal setzen, zu dem Vater Wrangel den erwähnten Beitrag gegeben hatte. Dies zur Ergänzung und Berichtigung.


Zur gefälligen Notiznahme. Auf die mannigfach an uns ergangenen Anfragen bezüglich des Erscheinens der neuesten Erzählung von E. Marlitt erlauben wir uns zu erwidern, daß die Dichterin sehr bedauert, in Folge von eigenem Leiden und Krankheit in ihrer nächsten Umgebung an der Erfüllung ihres Versprechens bisher verhindert worden zu sein. Wir sind indessen in der angenehmen Lage, versichern zu können, daß die Marlitt’sche Novelle ihrer Vollendung bereits erheblich nahe geführt worden und daß der Druck derselben – die Dichterin möchte aus inneren Gründen das Manuscript nicht unvollendet aus Hand geben – in nicht allzu ferner Zeit bestimmt beginnen wird.
Die Redaction.

Kleiner Briefkasten.

Frau v. L. in Petersburg. Bei der Zimmercultur ist ein Einfachwerden der Blumen gefüllter Camelien seltener, als ein Kleinerwerden derselben. Die Camelie bildet im Zimmer schwache, kurze Triebe, oft zur ungünstigen Winterzeit, blüht zu viel und wird so geschwächt. In diesem Falle muß von Zeit zu Zeit ein Verjüngen durch Zurückschneiden aller Triebe stattfinden, so daß an jedem Zweige nur einige Blätter bleiben. Sicherer ist es, dann die Pflanzen in das Treibhaus eines Gärtners zu geben, bis der neue Trieb vollendet. Das Umpflanzen geschieht besser im August, als im Frühlinge, und nur alle drei Jahre. Manchen Wink über Zimmerblumen finden Sie in Nr. 17 des laufenden Jahrgangs unseres Blattes in dem Artikel „Der Pflanzenschmuck der Wohnungen“ von H. Jäger in Eisenach, Ausführliches darüber aber in dessen Buche, „Die Zimmer- und Hausgärtnerei“, von dem jetzt eine neue Auflage ausgegeben wird. –

Daß der Pastor an der lutherischen Petri-Kirche in Petersburg neulich den Confirmanden das Versprechen abgenommen hat, die „Gartenlaube“ nicht zu lesen, hat uns sehr amüsirt. Die schwarzen Herren treiben eben überall das Handwerk der Unduldsamkeit.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Leser, die mit den Thüringischen Hofgeschichten der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts vertraut sind, werden mit Leichtigkeit das Fürstenschloß herausfinden, welches den Schauplatz unserer Erzählung abgiebt. Wir können selbstverständlich nicht verrathen, welcher fürstliche Herr sich hinter dem Reichsgrafen Max Theodor verbirgt.
    D. Red.
  2. Der vorstehende Artikel, lediglich durch die jüngst mehrfach besprochene Behandlungsweise hervorgerufen, welche die wegen politischer Vergehen Verurtheilten in Plötzensee und anderen Gefängnissen erfahren haben, will nur in flüchtigen Strichen die Thatsache illustriren, daß das Gefängnißwesen von heute mit den Humanitätsreformen auf anderen Gebieten in mancher Beziehung nicht Schritt gehalten hat, vielmehr im Vergleich mit den betreffenden Zuständen früherer Zeit hier und da sogar einen Rückschritt bekundet.
    D. Red.