Die Gartenlaube (1871)/Heft 11
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No. 11. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Eine Weile noch verharrte Martl in derselben nachdenklichen Stellung, dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als ob er sich besinnen müsse, wo er sei und was er gedacht, raschen Schrittes trat er dann hervor aus dem Vordach unter den Nachthimmel, der hehr und feierlich sich über der Erde aufbaute, von den Bergen getragen als wären sie die Säulen, die sein Gewölbe stützten. Majestätisches Schweigen waltete wieder ringsum; die Baumkronen rauschten nicht mehr im Abendwinde, die Sänger in ihnen waren schlafen gegangen; die Mondsichel aber schwamm im endlosen klaren Himmel und beleuchtete den duftigen Nebel, der wie ein Gewoge weißer Schleierfalten unabsehbar über die Ebene wallte. Ohne sich selbst darüber Rechenschaft zu geben, was er that, stieg Martl den Felspfad hinan bis an eine Ecke, wo auf dem nun stärker ansteigenden Berge die Sennhütten aus der Ferne sichtbar waren. In schwarzen Mondschatten wie in einen Mantel gekleidet stiegen die Felsen empor, während auf Weide und Wiesen das Silber des niedersinkenden Thaus schimmerte. Die Hütten waren kaum als schwarze Punkte erkennbar, das schärfste Auge hätte nicht vermocht, sie aufzufinden, wäre ihm nicht der rothe Feuerschein, der aus einer derselben drang, zum Führer geworden. Die Sennerin mußte noch so spät wachen und thätig sein; denn das Herdfeuer brannte noch und schien durch die offene Thür, daß es weithin sichtbar wurde; sonderbar und fast unheimlich leuchtete der dunkelroth glühende Punkt in den seligen Frieden der klaren Mondnacht hinein. Martl saß lange auf einem Felsstück, kein Auge davon verwendend. Erst spät, nachdem das Herdfeuer ebenfalls schon erloschen war, stieg er den Weg zu seiner Hütte hinab. Im seinem Innern war es kalt, still und dunkel, wie oben auf der entschlummerten Alm; aber der unheimlich glühende Punkt, der draußen erloschen war, glimmte in seinem Innern unlöschbar fort. Es war darum auch vergeblich, als er sich auf sein Lager warf; denn während er sonst auf demselben nach harter Tagesarbeit so fest geschlafen, als ob er im weichsten Federbett läge, wälzte er sich jetzt schlaflos darauf herum, als liege er auf den rauhen Spähnen und Scheiten seiner Holzwerkstätte, oder gar auf den heißen Kohlen seines rußigen Nachbars.
Der Mond war bereits hinter die Felszacken hinuntergegangen, und ein frischer, kalter Lufthauch schauerte tagverkündend vor der Sonne einher, die sich bereits hinter den Bergen zum Aufgang rüstete, als Martl, der schlaflosen Quälerei müde, wieder aufsprang und neuerdings die Hütte verließ. Er fühlte die Kälte nicht, die ihm entgegenströmte: sie war ihm wie angenehme Kühlung, er öffnete das Hemd und nahm den Hut ab, um sie tiefer einathmen zu können und so recht voll und frei um Stirn und Brust spielen zu lassen.
Hätte er geahnt, was am Abend zuvor, als er nach dem fernen Feuer der Sennhütte hinsah, in dieser vorgegangen, er wäre wohl kaum ruhiger, doch aber gewiß in anderer Art bewegt gewesen. Seine Vermuthung, daß es einen besondern Grund haben müsse, daß das Herdfeuer so lange brannte, war vollkommen richtig. Gewöhnlich löscht die Sennerin, müde von der Arbeit, das Herdfeuer bald und schließt die Hütte, weil schon der erste Morgenstrahl sie wieder im Stalle bei der Arbeit treffen muß; nur ausnahmsweise wird das Feuer länger unterhalten, wenn allenfalls Sennerinnen aus der Nachbarschaft zum Heimgarten einsprechen, oder wenn Städter, die eine Bergpartie gemacht, sich zum Nachtlager auf dem Heuboden einquartiert haben. Und ein Gast war wirklich auf der Brettenalm eingekehrt, spät und und erwartet, sonst wäre die Pointner Kathl wohl geblieben und hätte mit dem Abtragen der Butter bis zum nächsten Samstag gewartet.
Die schöne Stasi hatte eben das heimkehrende Almvieh gemolken und stand auf der Gräd am Brunnen, um die Milchgeschirre zu reinigen, damit sie früh am andern Tag gleich wieder zum Dienste bereit wären. Die Arbeit ist nicht gering anzuschlagen; denn die hölzernen Gelten müssen weiß sein wie Schlehenblüthe oder frischgefallener Schnee, und die blanken Kupferreifen sich davon abheben wie freundliches Rosenroth – das ist der Stolz einer Sennerin! Stasi war doppelt eifrig; denn die Dirne, welcher sonst diese Arbeit oblag, war in’s Dorf hinunter. Sie hatte selbst auf ihre Entfernung gedrungen; jetzt durfte und wollte sie sich um keinen Preis nachsagen lassen, daß deren Abwesenheit irgendwie zu bemerken war. Dennoch wäre einem geübten Auge nicht entgangen, daß ihr die ungewohnte Arbeit nicht eben geschwind von Handen ging; namentlich machte ihr ein ziemlich großes Butterfaß zu schaffen, das sich gar nicht fügen wollte, und an der unteren, gegen den Boden gekehrten Seite so hartnäckige Flecken hatte, daß sie dem angestrengtesten Reiben mit Sand, Hand und Bürste nicht weichen wollten. Um es besser handhaben zu können, hatte sie das Geschirr auf den Brunnenrand gestellt und war auf die gemauerte Einfassung der festgeschlagenen Gräd [174] gestiegen; denn um den Brunnen herum bot der Boden, erweicht vom Wasser und durchgetreten von den Füßen des zur Tränke herandrängenden Viehes, keinen festen Stützpunkt.
„Wirst halten, du ungeschlachter Ding?“ rief sie dem Rührkübel zu und stieß ihn im aufsteigenden Unmuth auf den Brunnenrand nieder; aber das Geschirr blieb ungefügig und ungelenk wie zuvor. Immer röther stieg darüber der Unwillen im Angesicht der schönen Sennerin auf, immer heftiger rieb sie hin und her; und als der Kübel, ihr unter den Händen ausweichend, sich drehte, war die mühsam bewahrte Geduld zu Ende. Als wäre das Butterfaß ein lebendiges Geschöpf, erhielt es einen Schlag oder Stoß, der es in den Brunnentrog fallen machen sollte. „Da lieg’ von mir aus, wenn du nix kannst, als die Leut’ ärgern!“ rief Stasi dazu, aber die Sache lief nicht ab, wie sie vermuthet hatte; der Rührkübel verstand unrecht und fiel durch eine boshafte Schwenkung über den Trog hinüber in den Schlamm und das schmutzige Wasser der Umgebung, das hochaufspritzend ihr die Tropfen auf Gesicht und Arme schleuderte. „So wollt’ ich doch gleich, daß du in tausend Trümmer auseinandergingst!“ rief sie in rücksichtslos ausbrechendem Zorne und sprang hinzu, um das unglückliche Geschirr noch tiefer in den Schmutz zu treten. „Ist’s denn nit g’rad’, als wenn Alles verhext wär’, was ich anrühr’ – als wenn Alles mir zum Fleiß geschähe, nur damit ich mich ärgern muß?“
Thränen traten ihr in die Augen, sie nahm sich kaum Zeit, sich von dem Unfall zu säubern, und rannte der Hütte zu, stand aber betroffen stille, als sie, an der Ecke angelangt, weit und breit Niemand gewahrte, den sie, wie sie sonst gewohnt war, ihren Unmuth entgelten lassen konnte. Die unabsehbare Berglandschaft lag feierlich schweigend vor ihr da, und die Sonne ging in erhabener Ruhe hinunter und schien ihr wie ein überirdisches Auge mit einem Blicke des Vorwurfs in’s zornentstellte Angesicht. Der Laut des Unwillens, der ihr noch eben auf den Lippen geschwebt, erstarb auf denselben, eine Regung der Scham quoll in ihr empor, und wieder drangen ihr Thränen in die Augen; aber es waren diesmal Tropfen anderer Art, heiß und brennend, wie sie dieselben nie gefühlt. So rasch sie erst herangekommen, so bedächtig setzte sie sich nun auf der Bank vor dem Hause nieder und starrte mit verschwimmenden Blicken in den Sonnenuntergang hinein.
Die wenigen Wochen auf der Alm waren nicht spurlos an dem Mädchen vorübergegangen. Wohl hatte der ebenso rasch gefaßte als vollführte Entschluß einen Theil seiner Wirkung nicht verfehlt; sie war den ihr verhaßten Menschen aus dem Gesichte gekommen, sie durfte nicht mehr fürchten, mit scheelen, spöttischen Blicken angesehen zu werden, oder hinter ihrem Rücken das abscheuliche Wort flüstern zu hören, das ihr zuwider war bis in den Tod, und das ihr durch das Ohr einen tödtlichen Stich gab bis in’s Herz hinunter; aber ihre Absicht war doch nur halb erreicht. Sie hatte gehofft, sobald Niemand und Nichts mehr sie daran mahnte, würde auch sie den ganzen Vorfall vom Ostertage vergessen – darin hatte sie sich geirrt; unerbittlich hielt ihr eigenes Gedächtniß wie ein verhaßter allzutreuer Spiegel ihr die ganze Begebenheit vor; das eigene Herz hatte die räthselhafte Rolle des Mahners übernommen. Hochmüthig und verzogen, wie sie war, hatte sie früher der Menschen wenig geachtet, und wenn sie bei öffentlichen Gelegenheiten die Aufmerksamkeit der Bursche auf sich gezogen hatte, war ihr das ganz natürlich und selbstverständlich vorgekommen. Wenn sie dabei aus manchem dunklen oder hellen Auge einem Blicke begegnet war, der mit einer schüchternen Frage oder freundlichen Bitte auf ihr haftete, so hatte sie darüber lachend die Achseln gezuckt, sie war unempfindlich geblieben, und schon in der nächsten Stunde war der Eindruck vergessen; wie kam es nun, daß sie das dunkle Augenpaar nicht aus dem Sinn bringen konnte, das in der Jachenau unter dem schäbigen, alten Hute hervor auf ihr gehaftet hatte, aus dem ihr eine wilde, auflodernde Gluth entgegengeleuchtet, eine Gluth zornigen Hasses und doch auch eines tiefen Schmerzes, der sich weniger um das eigene Leid abhärmt, als um den Gegenstand, der ihm dasselbe verursacht? Sie konnte Martl’s Bild nicht los werden, weil es sie in Gestalt eines Vorwurfs verfolgte und immer zu fragen schien: Was hab’ ich Dir denn eigentlich gethan, daß Du mich vor allen Leuten verspottet hast? Ich habe Dich gehalten, damit Du nicht gefallen bist und Dir nicht vielleicht Fuß oder Arm gebrochen hast; ich habe mit Dir tanzen wollen, wie ein Bursch ein Mädel zum Tanze aufzieht – und deswegen tust Du mir Schande und Spott an? –
Halb mit, halb ohne ihren Willen hatte sie von der Base bald erfahren, wer der Bursche, mit dem sie in der Jachenau zusammengetroffen, gewesen. Sie hatte schon oft vom Lenggrießer Martl gehört, daß er der Stolz des Ortes und der Schmuck der jungen Bursche sei, ein Meister mit der Büchse wie auf der Cither und im Gesang; sie hatte deshalb manchmal gewünscht, ihm zu begegnen und ihn kennen zu lernen, und nun, da sie mit ihm zusammengetroffen, da sie sich selbst überzeugte, daß er ein tüchtiger Bursche war und trotz seines verrissenen Kittels ein hübscher Bursche dazu, nun hatte sie sich gerade gegen diesen Burschen grob und dumm betragen, wie noch gegen Niemand. Allerdings hatte er sich durch das böse Wort wieder dafür gerächt; aber sie selbst war es ja gewesen, die ihn dazu veranlaßt und ihm Grund gegeben hatte, sie für das zu halten, was er sie genannt hatte. Nicht über ihn war sie daher eigentlich böse, wie sie sich selbst einzureden versuchte, sondern über die Leute und Nachbarn, die das spöttische Wort so bereitwillig aufgenommen, so boshaft festgehalten und so geschäftig verbreitet hatten; ihm war es zu verzeihen, wenn er nach der einmaligen Begegnung sie beurtheilte. Er kannte sie ja nicht; aber die Anderen, ihre Hausgenossen, die Bewohner des benachbarten Ortes, die mußten wissen, daß sie die gute Stunde selber war, und daß, wenn sie manchmal hitzig und mürrisch wurde, sie gewiß immer vollauf Ursache dazu hatte. Sie war sich bewußt, gewiß eine geduldige und nachgiebige Person zu sein; aber wenn man es überall darauf anlegte, sie zu ärgern, da mußte der Faden reißen, und wenn er aus einem Heuseil gedreht wäre.
So widereinanderstreitend und mit sich selber ringend, wogten ihre Gedanken und Gefühle durch Herz und Kopf, um so ungestörter, als die Einsamkeit ihre volle Muße gab, denselben nachzuhängen. Es kam wohl vor, daß sie Viertelstunden lang auf der kleinen Bank vor der Almhütte saß und gerade vor sich hin sah, als hätte sie über die wichtigsten Dinge nachzudenken oder die größte Aufgabe zu lösen. Manchmal eilte sie hastig aus der Stube nach dem Stalle, oder vom Stalle in’s Freie; mitten im Gehen aber hielt sie inne, besann sich und mußte wieder umkehren, unterwegs war ihr aus dem Sinn gekommen, was sie so eilig gewollt.
Auch an diesem Abend hatte sie sich mit den alten Bildern und Träumen abgekämpft und abgemüdet, und wie allemal hatte das Scharmützel in ihrem Innern damit geendet, daß ihr trotziges Wesen sich in eine schmerzliche Wehmuth auflöste, in das bittere Gefühl eines namenlosen Unglücks, über das sie sich selbst keine Rechenschaft geben konnte. Der Abend war schon tief heruntergebrannt, der Lichtball der Sonne, eben von einer dichten Dunstschicht am Horizont umhüllt, hing wie eine dunkle, rothe Kugel auf derselben und war anzusehn wie eine düster verglimmende Kohle. Stasi gewahrte es nicht. Sie saß unbeweglich auf der Bank und spürte nicht, wie die Luft immer kühler und schärfer gegen die Bergwand strich, in deren Schutz die Hütte eingebaut war, und daß auf der Almweide neben ihr schon ein schmaler Nebelstreifen den Weg kennzeichnete, auf welchem ein kleines Felsenbächlein durch das Grün herangerauscht kam, so wie daß durch Nebel und Gras eine Frauengestalt rüstigen Schrittes gegen die Hütte heran wanderte, in einiger Entfernung aber verwundert stehen blieb.
„Ja was soll denn das vorstellen?“ rief die Frau, während Stasi beim ersten Laute aufsprang wie Jemand, der, unvermuthet geweckt, sich den Schlaf aus den Augen reibt. „Da wollt’ ich doch gleich, daß alle Vögel Hennen wären! Das ist eine schöne Wirthschaft auf der Brettenalm, das muß ich schon sagen! Es ist sinkende Nacht und noch kein Feuer auf’m Herd, kein Kessel gehitzt, die Hütte steht offen und die Stallthür auch, das seh’ ich schon von Weitem, und die Sennerin sitzt vor der Thür wie ein Einsiedl vor der Klausen, nur die Kutt’n geht ihr ab.“
„Was?“ rief Stasi, sie unterbrechend, entgegen. „Die Mahm kommt ’rauf bis auf die Brettenalm? Schau, das ist mir im Geist vorgegangen, deswegen hab’ ich mich so hergesetzt und hab’ gewartet, damit Du gleich Deine Freud’ hast, wenn Du kommst und gleich was zum Greinen findst.“
„So?“ sagte die Bäuerin näher tretend. „Ist das mein Grüß’ Gott? Ich hab’ gedacht, die Luft da heroben sollt’ Dir gut [175] thun und Dein’ schlechten Humor fortblasen; aber ich gespür’ noch nichts davon.“
„Meine Red’ ist der Dank’ Gott für deinen Grüß’ Gott, Mahm,“ sagte Stasi. „Ich soll wohl einen Purzelbaum schlagen vor Freud’, daß es einmal Jemand daheim einfallt, nachzuschaug’n, wie’s mir geht, und wie’s mir anschlagt? Wenn Euch was dran gelegen wär’, hättet Ihr den Weg schon eher finden müssen – jetzt sind’s schon bald sechs Wochen, daß ich auf der Alm bin; während der Zeit könnt’ man sterben und verderben.“
„So ist’s recht,“ eiferte die Alte und setzte sich auf die Bank nieder, um auszuathmen, die Steile des Bergwegs und die weite Wanderung hatte sie ermüdet und außer Athem gebracht. „Jetzt greint sie mich aus, anstatt daß ich’s thu’ – es geht doch schon in Einem hin, wenn man doch einmal die Welt auf den Kopf stellt! – Aber wo ist denn die Dirn’, die Kathl,“ fuhr sie umherblickend fort, „daß man’s nit zu Gesicht kriegt? Ich möcht’ eine Schüssel Milch, und ich thät lügen, wenn ich sagen wollt’, daß ich mich nit freuen thät’ auf eine Pfann’ Schmarr’n – aber da ist noch kein Fünkel Feuer auf dem Herd! … Abgetragen hat sie?“ rief sie wieder, als ihr Stasi Bescheid gegeben, „da müssen wir einander um’gangen haben, ich hab’ einen kleinen Umweg gemacht zu dem Kapellerl mit den vierzehn Nothhelfern, und sie ist geradeaus gegangen – da muß ich schon selber umschau’n, daß ich was zu essen krieg’, und muß sorgen, daß Dasjenige geschieht, was auf einer richtigen Alm um die Zeit schon geschehen sein sollt’.“
„Ob Du sitzen bleibst!“ entgegnete Stasi heftig, indem sie ihr den Weg vertrat. „Brauchst Dir keinen Fuß zu verstauchen deswegen – ich hab’s einmal übernommen, daß ich Sennerin bin auf der Brettenalm, und ich mach’s durch; ich thu Euch den Gefallen nit, daß Ihr mir nachreden könnt, ich hätt’s nit zuwegen gebracht. Da sitz Dich hin und wart’ ein Bissel – was auf der Alm Brauch ist, wirst von mir auch haben können!“
Mit einer Entschiedenheit, die sich fast wie Gewalt ansah, schob sie die Frau in die Hütte und nöthigte sie, in der Ecke niederzusitzen, wo dem Herde gegenüber ein ganz kleines Tischchen angebracht war; im Nu brannte das Feuer, der Kessel war zurechtgedreht und begann über und über zu brodeln. Bald hatte die Base den Imbiß vor sich stehen, und daß sie sich selben ohne vieles Zureden schmecken ließ, schien zu zeigen, daß die neue Sennerin ihrem Geschäfte wohl gewachsen war, wenn sie es nur wollte. Nicht ohne Wohlgefallen sah sie dabei dem Treiben Stasi’s zu, die, so säumig und träumerisch sie zuvor gewesen, auf einmal voll Leben geworden und bestrebt war, eifrigst nachzuholen, was sie vorhin zu thun gezögert hatte. Bald hatte sie Stall, Milchkammer und Keller beschickt, das Bett im Kreister war zurecht gemacht, daß es für zwei verträgliche Personen Raum bot; dann legte sie Holz auf dem Herd zu und stieß vollends die Thür auf, daß der Schein den nächsten Raum vor der Hütte beleuchtete, und die Sterne, die draußen hie und da am Nachthimmel aufzutauchen begannen, wie verbleichend wieder im Luftmeer zu verschwinden schienen. Sie that Alles rasch und sicher, aber hastig und trotzig; als sie fertig war, setzte sie sich auf den Herdrand, kreuzte die Arme über der Brust und starrte wieder in’s Feuer, ohne dem Gaste Wort oder Blick zu schenken.
Eine gute Weile hatte die Alte sich an dem Schaffen des Mädchens und an ihrer Geschicklichkeit ergötzt; als sie eine Zeit lang gewartet, ob sie nicht beginnen und das Schweigen brechen würde, zuckte sie die Achseln und rief mit einem lauten, halb ernsthaften, halb lachenden Seufzer: „Das muß wahr sein, das ist eine schöne Unterhaltung bei Dir auf der Alm! Da ist’s zu meiner Zeit schon anders gewesen; das ist schon der Mühe werth, daß man noch so spät die Berg’ heraufsteigt, zumalen, wenn Einem obendrein die Knie’ manchmal so reißen, wie mich, daß ich oft mein’, ich komm’ nimmer von der Stell’. Die Nachbarin vom Ort hat mir Katzenschmalz zum Einreiben gerathen, es hat aber auch nix geholfen – es wird wohl die Zeit bald kommen, wo’s gar nimmer geht. Aber Du redst ja kein Wort und schaust mich gar nit an; bist und bleibst also heroben gerad’ so bockisch wie drunten!“
„Wegen was,“ entgegnete Stasi schnippisch, „sollt’ ich wohl heroben anders sein als unten? Warum kommst denn zu mir herauf, wenn Du doch einmal weißt, daß ich eine solche – Du weißt ja, wie sie mich nennen – daß ich eine solche Z’widerwurzen bin?“
„Darum, weil ich ein guter Narr bin, der Dich gern hat, wenn Du’s auch nit verdienst um mich, und weil ich alleweil mein’, es sollt’ eine Zeit kommen, wo Du den Spitznamen, den garstigen, nimmer verdienst.“
Stasi lächelte höhnisch. „Was thät’s nutzen?“ sagte sie. „Jetzt hab’ ich den Namen einmal droben, wer kann mir ihn wieder herunternehmen!“
„Du selber – Du allein kannst es und Du mußt es auch! Schau, Stasi, wann ich schon oft recht harb bin über Dich und vom Auf- und Davongeh’n red’, ist mir doch nit ganz Ernst damit: ich kann’s nit glaub’n, daß Du wirklich ein solcher Stock bist, wie Du Dich anstellst. Ich mein’ alleweil, es müßt mit Dir geh’n wie mit’m Eisstoß im Frühjahr; da fahrt man auch mit schwere Wagen d’rüber, auf einmal kommt die warme Luft, und in ein paar Tagen ist das Eis zu Wasser worden und fortgeschwommen, als wenn’s nie dagewesen wär’. Schau, ich will Dir’s nur eingesteh’n: ich bin deswegen herauf auf die Alm, um mit Dir ein aufrichtig’s Wörtel unter vier Augen zu reden – denn so, so kann’s nit länger fortgeh’n.“
„Was net geht, kann’s von mir aus steh’n bleiben,“ sagte Stasi rasch entgegen, „oder wenn Du’s fahren lassen willst, hab’ ich auch nix dawider.“
„Es ist merkwürdig mit Dir,“ erwiderte kopfschüttelnd die Alte. „Man weiß nit, wo man Dich anpacken soll; rundum bist voll Stacheln wie ein Igel.“
„So nimm’ Dein’ Hand in Acht! Rühr mich nit an, damit Du Dich nit stichst!“
„Na, das thu’ ich nit,“ sagte die Base gutmüthig, indem sie hinzutrat und sich hinter Stasi auf den Herdrand setzte, worauf diese unwillig, wie um nicht mit ihr in Berührung zu kommen, etwas vorrückte. „Ich lass’ mir das bissel Stechen nit verdrieß’n – das können fremde Leut’ thun; ich aber bin nit fremd zu Dir und Du bist mir an’s Herz gewachsen, als wenn ich Deine Mutter wär’! So halb und halb bin ich’s ja auch, denn die Deinige ist in der Jugend dahingestorben, ich hab’ Dich aufgepappelt und aufgezogen, und wenn ich Dich nit so gern gehabt hätt’, wärst Du vielleicht nie so ’worden, wie Du bist, und weil ich mir also auf die Weis’ einbild’, ich könnt’ ein wenig Schuld haben an Deiner unguten Art, so will ich’s auch wieder recht machen, soviel ich kann.“ Sie rückte Stasi wieder etwas näher; diese stand hastig auf und setzte sich auf das Bänkchen gegenüber. Die Base überwand eine in ihr aufsteigende bittere Aufwallung und schlug nun wie wehklagend und jammernd die Hände zusammen. „Schau, Madl, ich sag’ es noch einmal, es thut gewiß und wahrhaftig nit gut. Du mußt anders wer’n!“
„Ja freilich,“ erwiderte Stasi in still angewachsener Heftigkeit, „das weiß ich schon lang’, daß ich diejenige bin, von der aller Unfrieden herkommt; – aber ich weiß auch, warum das so ist! Bloß desweg’n, weil ich keinen einzigen Menschen hab’, der mich gern hat. O mein Gott!“ rief sie, in leidenschaftliches Schluchzen ausbrechend, „wenn ich nur sterben könnt’, – ich wollt’ mich gleich hinlegen, der Läng’ nach, und nimmer aufsteh’n!“
„Versündig’ Dich nit!“ rief die Mahm. „Sonst könnt’ das wohl einmal wahr werden, was Du sagst, und das wär’ das Traurigst’ von Allem. Wie kannst so lächerlich daher reden! Was geht Dir denn ab, daß Du alleweil so ungut bist? O mein Dirndl, Du hast gar kein’ Begriff, was das heißt: gar keinen Menschen haben, der Einen gern hat. Du hast Dein’ Vater, der in Dich hineinschaut wie in einen Spiegel; Du hast mich, die das Herz aus dem Leib für Dich geben thät’, wenn Du es nur erkennen wollt’st – und wann,“ setzte sie hinzu, indem sie den Blick schärfer auf Stasi richtete, „wann Du meinst, daß Dir noch etwas fehlt, so schau Dir halt um etwas um, das Du recht gern haben kannst und von dem Du wieder gern gehabt wirst! Deinem Vater ist’s alle Stund’ recht, Du darfst Dir nur ein’ Mann aussuchen und heirathen. Dann kannst Deinen Mann gern haben und, weil der Gottessegen nit ausbleiben wird, Deine Kinder, und wie gern man die hat, das seh’ ich am besten an mir – Lach’ nur, Stasi, wenn Du auch nit mein leiblich’s Kind bist, und wenn ich auch ein’ alte Jungfer ’worden bin, weiß ich doch auch, wie’s unter’m Brustfleck thut, wenn sich die Lieb’ drunter eingehäuselt hat.“
„Ich lach’ nur, weil Du gar so still auftrittst, Mahm,“ sagte Stasi trotzig wie zuvor, doch war der Ton ihrer Rede minder scharf. „Ich hör’ Dich ganz gut gehn; es hat Dir Einer einen [176] Kuppelpelz versprochen; aber ich fürcht’, Du plagst Dich umsonst! Weißt es wohl noch, was Du am Ostertag gesagt hast: Der, der mich zum Weib kriegt, müßt’s im Mutterleib’ schon verschuld’t hab’n – wie könnt’ ich das auf mein G’wissen nehmen, daß ich Einen so unglücklich machen thät’? Und dann“ – fügte sie nach einigem Zögern bei – „wenn ich auch wollt’, ich hab’ noch Kein’ kennen gelernt, bei dem sich unter’m Brustfleck ’was gerührt hätt’.“ Bei dem letzten Satze klang die Stimme noch etwas milder, ihr Gesicht war dabei abgewandt, als scheue sie sich, dem Blick der Base zu begegnen.
„Wird schon kommen; verlaß Dich d’rauf!“ sagte die Alte. „Die schöne Stasi, die einzige Tochter vom reichen Kurzen am Berg, braucht nit feil zu haben und hat die Wahl – aber anders mußt werden, hab’ ich gesagt und bleib’ dabei, damit Du die Leut’ nit abschreckst und sie sich nit völlig fürchten vor Dir.“
„Ha, der Rechte, wenn der kommt, der wird sich nit fürchten, denk’ ich; denn der Rechte, das muß auch der Richtige sein – sonst kann er auch hingehn, wo er hergekommen ist!“
„Der Rechte wird kommen und der Richtige – das ist mein geringster Kummer; deswegen aber brauchst doch nit gar zu übermüthig zu sein! In der heiligen Schrift steht: ‚Wer anklopft, dem wird aufgethan‘, – bald Du aber so grob ‚Herein‘ schreist, wie der Oberschreiber am Rentamt, wenn die Bauern die Steuer bringen, da kehrt Jeder lieber unter der Thür wieder um … Schau, ich will Dir’s nur sagen, ich bin deswegen herauf zu Dir; der Vater hat’s haben wollen; er ist auch nit gut zu Fuß, sonst wär’ er selber herauf. – Es ist schon Einer da gewesen, am letzten Sonntag nach dem Gottesdienst, da ist der Bichler von Bichl gekommen und hat seinen Spruch angebracht wegen Deiner für seinen zweiten Buben, den Mathies …“
„Und was hat der Vater gesagt?“ fragte Stasi, indem sie sich hastig nach der Redenden wandte.
„Das kannst Dir denken. Der Mathies ist der zweite Bub vom Bichler; der ältere, der Sepp, kriegt einmal den Hof; der Hies muß also schaun, daß er wo einheirathen kann; bringt einen schönen Stumpf Geld mit, ist sonst auch ein ordentlicher Bursch, der darf nirgends lang’ warten, bis man ihm aufmacht – drum hat sich der Vater auch nit lang’ besonnen’ und hat Ja gesagt.“
„So? Hat er Ja gesagt?“ rief Stasi, die an den Herd getreten war, mit funkelnden Augen und störte in den Brand, daß die Funken bis an die Decke sprühten. „Ich mein’, da hätt’ ich auch ein Wörtl drein zu reden! Ich will mich nit verhandeln lassen wie –“
„Wer verlangt denn das?“ unterbrach sie die Base. „Zünd’ nur nit die Hütt’n an! Der Vater hat auch ein Wort – er sagt:
‚Der Bub’ ist mir der Rechte; nachher kommt’s an’s Madel, das muß sagen, ob der Rechte auch der Richtige ist.‘ Brauchst Dich aber nimmer zu strapazir’n, Stasi – hast schon eine Ruh’ vor dem Hies! Dem Vater wär’ die Heirath ganz recht gewesen; er hat sich gedenkt, Du würdest auch nit so viel dawider haben; aber am andern Sonntag, wie der Bichler hätt’ wiederkommen sollen, damit die Sach’ wär’ festgemacht worden, da ist statt seiner ein Briefel gekommen, in dem hat er Botschaft gethan, er hätt’ sich’s anders überlegt, und wenn der Vater wissen wollt’, warum, nachher sollt’ er nur beim Wirth in der Jachenau nachfragen wegen dem Bocktanze; er hätt’ gern den Frieden und die Ruh’ in seinem Haus und in dem Haus auch, in das sein Sohn einheirathen sollt’ – und Du – na, mit Einem Wort: Du wärst ihm halt zu bös zu einer Schwiegertochter!“
Stasi erwiderte nichts; sie konnte nicht, sie war in Thränen ausgebrochen, in Thränen des Zornes und machtlosen Grimms, dabei hielt sie den Schurz, den sie vor die Augen gedrückt, so fest gefaßt und zerrte und zog daran, daß das starke Gewebe zu reißen begann. „Und das muß ich mir gefallen lassen,“ schluchzte sie, „blos weil ich Niemand hab’, der sich um mich annimmt.“
„So mach’, daß sich Einer annimmt um Dich! Mach’ aber zuerst auch, daß er sich annehmen kann, daß er Dich gern haben kann!“
„Willst Du mir vielleicht lernen, wie ich das anstellen muß?“
„Wenn Du noch so spöttisch d’reinschaust, vielleicht könnt’ ich’s doch!“ erwiderte die Base. „Schau’ mich an – thu’ ich nit mein’ Sach’ richtig? Jedes kriegt von mir ein freundliches Gesicht und ein gutes Wort, und wenn ich einmal gestorben bin, wird’s von mir heißen: ‚’s ist ein gutes altes Weibl gewesen‘ … O mein Dirndl, glaubst Du, deswegen ist auch inwendig Alles in mir so glatt und still gewesen? Muß man denn Alles den Leuten auf die Nasen binden? Müssen denn, wenn sich am Grund was rührt, droben die Wellen gleich zu stürmen anfangen? Ich hab’ wohl Ursach’ gehabt, harb zu sein, und es wär’ kein Wunder, wenn ich ganz erbittert worden wär’ und mein Lebtag kein freundliches Gesicht mehr gemacht hätt’.“
„Wie das?“ fragte Stasi und wandte sich nach der Redenden zu. „Davon hast mir ja noch nie was erzählt.“
„Weil ich nie davon red’, weil ich das Alles lang’ in mir eingegraben hab’ wie auf dem Friedhof, und hab’ ein Kreuz darauf gesteckt wie auf ein Grab – und wenn ich auch für mich manchmal die Grabschrift überles’, bist doch Du nie darnach gewesen, daß ich Dich noch hätt’ mitlesen lassen können.“
„Du machst mich ja völlig neugierig,“ sagte Stasi, etwas näher rückend.
Der gegenwärtige Krieg hatte von Anfang an das Wesen eines Volkskriegs. Die Leitung desselben von Seiten der deutschen Heeresführer ist eine meisterhafte gewesen, vom ersten Zusammenstoße bis zum letzten Schusse. Das wird die Weltgeschichte freudig anerkennen, das muß der Neid, die Feindschaft des Tages unbeleckt zugestehen. Aber eines wird die Weltgeschichte ebenfalls anerkennen, wird der Neid, der Haß, die Furcht des Tages nicht weniger zugestehen müssen, – daß es kaum je ein Heer gegeben hat, welches gekämpft wie das deutsche des Feldzuges von 1870 bis 1871, daß kaum je einem Feldherrn ein „Kriegsmaterial“ zu Gebote gestanden hat, wie das, dessen Laufbahn heute mit dem Waffenstillstand von Paris sein Ziel, den Frieden, hoffentlich erreicht haben wird.
Das ganze Heer, vom ersten bis zum letzten Soldaten, kämpfte mit Bewußtsein, mit persönlicher Entschlossenheit und persönlichem Siegesmuthe. Die Massen dieses Heeres waren vom ersten Tage bis zum letzten wahrhaft bewundernswürdig. Wir haben einen englischen Officier gesprochen, welcher der Schlacht bei Wörth als echter Engländer aus Liebhaberei beiwohnte. Er hat keine Kriegsberichte für Zeitungen geschrieben, auch keine Depeschen an irgend eine Regierung abgeschickt; aber vom Schlachtfelde von Wörth aus schrieb er einem Freunde: „Die Franzosen sind verloren. Das sind keine Bataillone, das sind Mauern, die mit unwiderstehlicher Macht vordringen. Man sieht gar nicht, daß die Kanonen, Mitrailleusen, Gewehre sie berühren. Jede Lücke schließt sich augenblicklich. Nur hinter den Reihen merkt man, daß sie gelichtet wurden. Jeder Mann, vom ersten bis zum letzten, ist ein Held. Frankreich ist verloren, und um so mehr, je länger der Krieg dauert!“
Das war der Eindruck der ersten Schlacht in diesem Kriege, das ist der Eindruck der letzten – denn wir hoffen, daß die Schlachten bei Belfort oder Montbeliard die letzten in diesem Kriege gewesen sein werden. In diesen letzten Schlachten ist aber der Charakter, das Wesen dieses Krieges nur noch lebendiger an den Tag getreten. Das „Werder’sche Corps“, das so eigentlich kein besonderes Corps war, sondern nach und nach zu einem kleinen Heere von Heeresabtheilungen aus allen Gauen Deutschlands, Baden, Württemberg, Westphalen, Holstein u. A. zusammengelesen ward, hat ein sehr einfaches, aber wunderbar großartiges Schauspiel von festem Muthe und unerschütterlicher Standhaftigkeit der Massen dieses kleinen Heeres, des gemeinen Mannes, des Volkes, das in ihm vertreten war, gegeben. Vier Tage haben die deutschen Krieger hier nicht nur wie die Helden gekämpft, – das hätten auch andere Völker gekonnt, die Franzosen vor Allen vielleicht auch, – ja, nicht nur gekämpft, sondern auch gewacht, gehungert, gefroren, gedurstet, gelitten und überstanden, was je irgend einem
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Heere geboten worden ist. Wer darüber von den Mitkämpfenden sprechen, die Einzelnheiten erzählen hört, – dem wird es heiß und kalt im Herzen, der staunt und bewundert diese eisenfesten Männer. Es ist das Volk, es ist die deutsche Volkskraft, der deutsche Volksgeist, der so zu leiden, zu dulden, zu darben, zu hungern, zu frieren vermochte und dann wieder Tag um Tag unerschüttert und unerschütterlich dem tapferen doppelt und dreifach starken Feinde festen Fußes Widerstand leistete. Es überlief uns ein Schauer, als ein Verwundeter dieser Heldenschaar schlicht und einfach erzählte: „Wir sagten uns: Hier kommt Niemand durch! Und es ist Niemand durchgekommen!“
Es war das Volk, das kämpfte, es war das deutsche Volksbewußtsein, [178] zum Heldenmuthe erwacht, das sich den ganzen Feldzug hindurch bewährt hat, das vom ersten bis zum letzten Schuß sich sagte: „Hier kommt Niemand durch!“
Der General von Werder wird einen schönen, klangreichen Namen in der Geschichte haben, das „Werder’sche Corps“ einen schönern. Gerne freuen wir uns, wenn der König-Kaiser dem Führer seinen Lohn in dem höchsten Orden zuschickt; wir werden auch ihm eine Dotation freudig gönnen, die ihm etwa bevorsteht. Lohn dem General – Dank dem Heere! Dank! Dank! Sonst nichts?
„Der Mohr hat seine Schuldigkeit gethan, der Mohr kann gehen!“
Diesmal wird er nicht mit dem „Schönen Dank!“ zufrieden sein. Denn der Mohr ist – das deutsche Volk in Waffen. Nicht nur der Führer hat außer Dank auch den Lohn verdient, sondern auch das Volk, dieses wunderbar unüberwindliche Heer. Sein Dank – wird die Freiheit sein. Sie wird ihm werden. Das Selbstbewußtsein des deutschen Volkes wird aus diesem Kriege so stark hervorgehen, daß – man bald, sehr bald auch allerhöchsten Ortes einsehen wird, wie diesmal das Volk nicht mit einem leeren „Dank“ abgespeist werden kann; daß auch das deutsche Volk seinen Lohn erwartet, daß es klug sein wird, ihm denselben freiwillig zu geben, da es sich ihn sonst doch gelegentlich mit der Kraft nehmen würde, die es in sich selber auf den Schlachtfeldern von Wörth bis Montbeliard erkennen gelernt hat.
Der Dank, den das Volk erhalten muß, heißt Freiheit, heißt Grundrechte der deutschen Nation. – –
Die vorstehenden herrlichen Worte sind die letzten, welche der alte Kämpfer für Recht und Freiheit, welche Jakob Venedey wenige Tage vor seinem jähen Hinscheiden an das deutsche Volk gerichtet hat, und welche dieses als ein theures, heiliges Vermächtniß bewahren möge, des Dankes harrend und zuversichtlich wartend. Das rückhaltlose Lob aber und die rückhaltlose Bewunderung jenes wahrhaft altrömischen Heldenmuthes, mit welchem unsere Braven bei Belfort und Montbeliard gekämpft und gesiegt haben, ist um so werthvoller, als Venedey dem Schauplatz jener blutigen, erbitterten Kämpfe in unmittelbarer Nähe gestanden hat und als er mit zuerst die Schrecken empfunden hätte, welche eine in ihren Folgen ganz unberechenbare Niederlage unserer Armee bei Belfort über das südliche Deutschland würde gebracht haben. Darum aber auch glaubten wir keine bessere Einleitung, als Venedey’s „letztes Wort“ zu den biographischen Mittheilungen über den Mann geben zu können, der diese Armee von Helden geführt hat und der für immer „einen schönen, klangreichen Namen in der Geschichte haben wird.“
Der General August von Werder steht heute im zweiundsechszigsten Jahre, nachdem er seine Militärlaufbahn schon 1825 beim Regiment der Garde du Corps begonnen, um im folgenden Jahre zur Infanterie überzugehen. Trotz seiner Beschäftigung in dem topographischen Bureau und der Kriegsschule mochte dem jungen, strebsamen Officier der friedliche Dienst der Garnison nicht ganz behagen; wenigstens wohnte er 1842 und 1843 den Feldzügen im Kaukasus bei, wo er im Gefecht bei Kefar verwundet wurde. In die Heimath zurückgekehrt, avancirte er zum Hauptmann, vom Hauptmann zum Major, vom Major zum Oberstlieutenant, und bei dieser letzteren Gelegenheit ereignete sich eine kleine Scene, die, wie der Erzähler derselben richtig bemerkt, zum Beweise dient, wie die Bedeutung des trefflichen Mannes und Heerführers auch von solchen früh erkannt worden ist, die seinem militärischen Berufe ferne standen. Als der Major v. Werder in Sangerhausen Oberstlieutenant geworden und, ihm zu Ehren, mit ihm ein kleiner Kreis seiner dortigen Freunde zu einem Festmahle geladen war, erhob sich der Superintendent der Stadt mit den Worten: „Wir reichen dies Glas dem Oberstlieutenant v. Werder, dem Werder.“ – „Wie,“ unterbrach der Wirth, „ist er denn noch in den Kinderschuhen, ist er nicht schon was?“ – Worauf der Superintendent erwiderte: „Ich sehe in dem, was er ist, daß er dereinst Großes werden und Großes vollbringen wird. Wir weihen dies Glas der deutlich signalisirten, bedeutungsvollen Zukunft des Oberstlieutenant v. Werder.“
Und wirklich, diesmal war der geistliche Herr von Sangerhausen wahrhaftig ein Prophet, ein guter Prophet zu Nutz und Frommen unseres Vaterlandes. Seine Prophezeiung sollte sich rasch erfüllen. Denn schon im Jahre 1866 führte der General v. Werder die ihm anvertraute dritte Division bei Gitschin mit höchster Auszeichnung, wie denn auch bei Königsgrätz seine Mitwirkung die bedeutendste und weitreichendste war. Bei Beginn des Krieges mit Frankreich fiel ihm das Commando des ersten Reservecorps zu, um nach der Erkrankung des badischen Generals v. Beyer zugleich zum Befehlshaber des gesammten wider Straßburg aufgebotenen Belagerungscorps ernannt zu werden, zu welchem sein Corps schon früher gestoßen war. Am 28. September hielt der General seinen Einzug – er hatte Straßburg wieder zu einer deutschen Stadt gemacht. Was General v. Werder, der sich mit seinem Corps nun südwärts wandte, in jenen Tagen leistete, da ganz Deutschland mit ängstlicher Spannung auf die Kämpfe um und bei Belfort sah, das hat Jakob Venedey in den obenstehenden Zeilen besser und eindringlicher geschildert, als wir es hier vermöchten und als daß wir eine Wiederholung hier versuchen dürften.
Frau König war eine geborene Heidelbergerin und hatte sich trotz einer Anlage von Schwermuth die heitere süddeutsche Beweglichkeit auch in den nordischen Umgebungen ihrer neuen Heimath bewahrt. Dem Freunde sind ihre eingestreuten, meistens epigrammatisch zugespitzten Aeußerungen über literarische und künstlerische Dinge stets willkommen. Als sie ihm z. B. einmal schreibt, daß die Frauen in Wien sehr gut sein müssen, weil dort ein Stück, dessen Hauptheldin eine böse Frau ist, so vielen Zulauf
habe, erwidert er: „Ihre Anmerkung, daß die Weiber da sehr gut sein müssen, wo es sich der Mühe verlohnt, eine Böse auf das Theater zu bringen, finde ich sehr richtig: und wo nicht nur gar eine solche Vorstellung mehr Schaden als Gutes stiftet! Viele Weiber sind gut, weil sie nicht wissen, wie man es machen muß, um böse zu sein.“
Ein gegenseitiges Verständniß im Ton und in der Weise des Urtheilens und Auffassens war also vorhanden, aber auch die Charaktere zeigen in den großen und brillanten Zügen der Gesinnung und des Seelenadels eine so innige Verwandtschaft, daß man bei der Betrachtung dieses Verkehrs unwillkürlich an die beiden Gestalten des Tellheim und der Minna in dem berühmten Lessing’schen Stücke erinnert wird. Wir haben oben schon verschiedene auszeichnende Eigenschaften der Frau König, ihren klaren und scharfen Frauenverstand, ihre standhafte Sicherheit in unglücklichen und schwierigen Lagen kennen gelernt. Dazu kam ein gänzlicher Mangel jener beschränkten Vorurtheile, jener kleinlichen Eitelkeiten und eigensinnigen Leidenschaften, mit denen so oft Frauen sich und den Ihrigen das Leben verbittern. Sie trieb und drängte den Mann ihrer Wahl nicht zur Erreichung glänzender Aemter und Würden, die bescheidenste Unabhängigkeit war ihr in der That lieber als das übergoldete Brod der Knechtschaft, und sie mahnte ernstlich ab, wenn Lessing aus Rücksicht für sie etwas unternehmen und sich in etwas begeben wollte, was seinen Neigungen, seinem Charakter, seinem und auch ihrem Stolze zuwider war. Als man ihn gern nach Wien in eine Stellung ziehen wollte, die ihm keine Unabhängigkeit vom Hofe gewährte, schrieb sie ihm, er passe gewiß besser in die Wolfenbütteler Bibliothek als unter die Hofschranzen. Und wie groß mußte seine Hochachtung vor der künftigen Lebensgenossin sein, wenn er sich gleichsam bei ihr entschuldigen zu müssen glaubte, daß er nicht umhin gekonnt, den braunschweigischen Hofrathstitel anzunehmen, er habe es wahrlich nicht abwenden können, wenn er den Herzog nicht beleidigen wollte.
Im Uebrigen hatte er diese Frau als die zärtlichste, liebevollste Gattin und Mutter in ihrem Hause walten sehen, hatte auch vielfach Gelegenheit gehabt, sich an ihrer mildthätigen Herzensgüte gegen [179] Arme und Unglückliche, sowie an ihrer Rührigkeit als tüchtige Leiterin eines beträchtlichen Hauswesens zu erfreuen. In die mannigfachen Gegenstände, welche ihre Briefe berühren, spielen auch hie und da diese letzteren Interessen hinein, und recht anheimelnd und keineswegs trivial klingt es aus ihrem Munde, wenn sie den Freund um ein ihm bekanntes Recept gegen die erfrorenen Finger ihrer Tochter oder zum Kitten des Porcellans bittet, oder wenn es als Nachschrift eines Briefes heißt: „Haben Sie die Recension von Claudius über Klopstock’s Oden noch nicht gelesen, so schicke ich sie Ihnen. Schicken Sie mir davor bald die Erbsen und Linsen.“ Lessing sind diese Aufträge nicht befremdend, er entledigt sich ihrer mit ganz ernsthafter Gewissenhaftigkeit. Wußte er doch, daß alle die kleinen und großen Züge in dem anmuthigen Charakterbilde seiner Freundin auf einem einzigen, wahrhaft goldenen Grunde ruhten, auf dem Grunde einer unbegrenzten Rechtschaffenheit, vor deren fast schwärmerischer Uebertreibung er sie sogar einige Mal warnen mußte, sowie auf einem seltenen Abscheu vor allem Unwahren und Gemachten. „Sie glauben nicht,“ sagt er ihr bei einer wichtigen Gelegenheit, „wie viel ich auf ein einziges Wort von Ihnen baue und wie überzeugt ich bin, daß so ein einziges Wort von Ihnen auf immer gilt.“ Und in der That konnte sie ohne Verlegenheit nicht die unbedeutendste Nothlüge über die Lippe bringen, ja sie vertheidigt sich sogar deswegen einmal bei dem so peinlich wahrhaftigen Lessing, indem sie ausruft: „Ich kann nicht lügen, Sie wissen, ich bin ein altfränkisch Weib.“
Aber gerade das, was damals in den vornehmen Kreisen Deutschlands schon als „altfränkisch“ belächelt wurde, gerade dieser kernhafte, auf das Gediegene, das Reine und Echte gerichtete Biedersinn, diese von gezierter Empfindelei oder geleckter Frivolität noch nicht angekränkelte alte deutsche Ehrenfestigkeit, gerade das war es, was der kern- und grunddeutschen Natur Lessing’s so wohlthuend in die Seele leuchtete und ihn so unwiderstehlich anzog. Von einer sicheren Erkenntniß zum festen Entschlusse war bekanntlich bei ihm kein weiter Weg. Als die Freundin im Frühling von Wien zurückkehrte und ihn auf der Durchreise in Wolfenbüttel besuchte, da hatte wohl die warme Strömung der Herzen alle Zurückhaltung durchbrochen und es begann nun die Zeit eines heimlichen, selbst den nächsten Verwandten verborgen gehaltenen Brautstandes. Eine bestimmte Andeutung über diesen Wechsel findet sich freilich in den folgenden Briefen nicht, der Punkt wird nur in fast jungfräulich schüchterner, allerzartester Weise berührt, aber unverkennbar ist eine vertraulichere Beziehung, und statt der bisherigen steifen Anrede („meine liebe Madame“ und „lieber Herr Lessing“) heißt es jetzt: „meine liebste Freundin“ und „mein lieber Freund“.
Man sieht, es ruht auf dieser Liebe nicht der romantische Duft einer späteren Epoche, sie hat keine blühenden Rosen durch jugendliche Locken geflochten, hat nicht im Schimmer des Mondes geträumt und nicht in lispelnden Jasmin- und Fliederlauben ihr Wehe und ihre Wonne verseufzt, es war auch nichts in ihr von jener Gefühlstrunkenheit und jenen wilden Gluthen eines brausenden Gemüthslebens, wie es erst der Taumelbecher der Wertherzeit erzeugt und entfesselt hat. Zwei besonnene, gute und hochstrebende, in herben Stürmen geprüfte und geläuterte Menschen finden sich auf der heißen und sorgenreichen Mittagshöhe des Lebens; mit ruhigem und klarem Auge erkennt Jeder von ihnen den echten und seltenen Werth des Andern, und still wächst in allmählichem Verkehr das Edelste ihres Wesens zu einem Bunde ineinander, der an hingehender Aufopferung, an demuthsvoller Kraft des Ueberwindens, an idealer Macht und Wärme der Innigkeit seines Gleichen in der Geschichte menschlicher Herzen sucht. Das war die Liebe Lessing’s und, seiner Eva König, wie sie in ihrem Briefwechsel sich darstellt. Wie ergreifend zum Beispiel klingt es, wenn er sie in ihrem tiefen Schmerze über den Tod ihrer alten Mutter mit den schlichten Worten tröstet: „Wollte Gott, daß Ihnen die Versicherung, bei dem Allen noch eine Person in der Welt zu wissen, die Sie über Alles liebt, zu einigem Troste gereichen könnte. Diese Person erwartet alle Glückseligkeit, die ihr hier noch beschieden ist, nur allein von Ihnen, und sie beschwört sie, um dieser Glückseligkeit willen, sich allem Kummer über das Vergangene zu entreißen und Ihre Augen lediglich auf eine Zukunft zu richten, in welcher es mein einziges Bestreben sein soll, Ihnen neue Ruhe, neues, von Tag zu Tag wachsendes Vergnügen zu verschaffen.“
Und wie zart und anmuthig läßt sie gleichfalls ihr tieferes Interesse zum Ausdruck gelangen, wenn sie ihm einmal schreibt: „Ich schließe diesen Brief in der Nacht um zwölf Uhr, wo ich Sie mir, ermüdet von der Reise, im tiefsten Schlafe gedenke und Ihnen von ganzem Herzen die angenehmste Ruhe wünsche, mir aber die baldige Versicherung, daß Sie sich, von den Fatiguen der Reise erholt, recht gesund und vergnügt befinden. Sie können dann noch wohl was hinzufügen, was mir eben nicht zuwider sein wird. Aber! aber! es müssen lauter Worte sein, die aus ihrem Herzen kommen, so wie es diejenigen sind, mit welchen ich Ihnen sage, daß ich bin, bester liebster Freund, dero aufrichtigste Freundin etc.“
Alle inneren Bedingungen zu häuslichem Glücke waren somit vorhanden, und schon das Lebensalter der beiden Liebenden hätte sie wohl an ein langes Hinausschieben der beschlossenen Vereinigung nicht denken lassen. Das Geschick aber thürmte Berge von widerlichen Schwierigkeiten entgegen. Denn die Verwickelung der König’schen Geschäfts- und Vermögensverhältnisse wollte sich mit aller thatkräftigen Einsicht noch immer nicht entwirren lassen, und der berühmte Lessing war von seinem Herzoge, der bekanntlich Hunderttausende an seine Maitressen verschwendete, noch immer nicht so gestellt, um sich in dem kleinen Wolfenbüttel ein bescheidenes Familienleben gründen zu können. Er erwartete aber täglich die Erfüllung des fürstlichen Versprechens und drang deshalb mit einigem Ungestüm auf baldige Verbindung. Als ihm die Freundin klagte: „Ich wollte gerne in dem elendesten Winkel der Welt Wasser und Brod essen, wenn ich nur aus dem Labyrinth einmal heraus wäre,“ erwidert er ihr in der Hoffnung auf eine schleunige Verbesserung seiner Stellung: „Wenn Sie lieber in dem elendesten Winkel, lieber bei Wasser und Brod leben wollten, als länger in Ihrer gegenwärtigen Verwirrung: so ist Wolfenbüttel Winkels genug, und an Wasser und Brod, auch an etwas mehr, soll es uns gewiß nicht fehlen.“
Wer die Sehnsucht eines liebenden Frauenherzens kennt, wird den schweren Kampf begreifen, den es Frau Eva gekostet hat, das so rührend ausgesprochene und sicher von ihr selber getheilte Verlangen des Freundes abzuweisen. Ihr edler Stolz aber und ihre kluge Gewissenhaftigkeit ließen es nicht zu, dem geliebten, auf hoher Geisteswarte stehenden Manne ein Heer von prosaischen Wirr- und Kümmernissen in’s Haus zu tragen, die sie allein durchleiden und von sich und den Ihrigen abwälzen wollte. Sie antwortete standhaft: „Die ganze verflossene Zeit meines Lebens kann ich ruhig zurückedenken, bis auf den Augenblick, wo ich schwach genug war, eine Neigung zu gestehen, die ich zu verbergen so fest beschlossen hatte; wenigstens so lange, bis meine Umstände eine glückliche Wendung nähmen. Ich bin überzeugt, Sie würden dennoch einen freundschaftlichen Antheil an Allem genommen haben, was mich betroffen hätte; allein Sie hätten nicht meine Angelegenheiten zu Ihren eigenen gemacht, wie Sie jetzt thun, ob Sie es gleich nicht sollten. Denn der Vorsatz bleibt unumstößlich: bin ich unglücklich, so bleibe ich es allein, und Ihr Schicksal wird nicht mit den meinigen verflochten. Meine Gründe hierüber wissen Sie, noch mehr, Ihre Aufrichtigkeit erlaubte Ihnen nicht, sie zu mißbilligen; nennen Sie sie also nicht Ausflüchte – Ihr Wort Ausflucht hat mich gekränket. – Fragen Sie Ihr Herz, ob es in dem nämlichen Falle nicht so handeln würde, und antwortet es Ihnen Nein, so glauben Sie nur, daß Sie mich nicht halb so sehr lieben, als ich Sie liebe. Das Einzige, warum ich Sie bitten will, ist, daß Sie sich durch mich in Ihrem Plan nicht irre machen lassen, sondern eben das thun, was Sie gethan hätten, wenn Sie mich nicht kennten.“
Das war, wie Adolf Stahr in seiner berühmten Lessing-Biographie bemerkt, die Sprache des Tellheim’schen Hochsinnes, und Niemand verstand diese Sprache besser, als Lessing. Er schwieg und mußte im Februar 1772 die Verlobte zum zweiten Male den gefährlichen und traurigen Zug nach Wien unternehmen sehen. Vier Wochen glaubte sie daselbst durch die Ordnung ihrer Sachen festgehalten zu werden. Aber aus den Wochen wurden Monate, aus den Monaten Jahre, drei volle Jahre und sechs Monate der Trennung, der verzehrenden Sehnsucht, der schleppendsten, kummervollsten und verdrüßlichsten Mühsal. Wir schreiben hier keine Biographie Lessing’s, sonst würden wir schildern müssen, was dieser mannhafte Charakter in jenen furchtbarsten Jahren seines bisherigen Daseins an Groll und Beschämung, an tiefem Mißmuth und Aergerniß durchgekostet hat. Die Erfüllung „der einzigen, ernsten [180] Hoffnung seines Lebens“, wie er seine Vermählung nannte, war ihm so nahe gewesen, und er sah sie immer ferner und ferner rücken, ohne daß ein Ende abzusehen war. Der braunschweigische Hof wußte den stolzen Edelhirsch fest an der Kette und kümmerte sich nicht um seine Lage und seine Wünsche, seitdem man die gefürchtete Berufung nach Wien hatte scheitern sehen. Breiten wir einen Schleier über das empörende Nachtbild aus und wenden wir uns dem freundlich heraufstrahlenden Tage zu, der ja doch endlich, ja endlich aus dieser Nacht des Kampfes und der Schmerzen sich losgerungen hat. Während Lessing als Begleiter des braunschweigischen Prinzen Leopold sich acht Monate hindurch auf einer ziemlich unerquicklichen und auch wissenschaftlich für ihn unergiebigen Reise durch Italien befand, war seine Verlobte, die er bei dieser Gelegenheit in Wien besucht hatte, im August 1775 nach Hamburg zurückgekehrt. Ihre Gläubiger waren bezahlt, es war ihr eine kleine Rente geblieben, und Lessing erhielt längere Zeit nach seiner Rückkehr eine unbedeutende Zulage nebst freier Familienwohnung, ein Einkommen, das ihn, seinem Vorsatze gemäß, in den Stand setzte, jede Betheiligung an dem Vermögen seiner Frau fest abzuweisen, und die Sicherstellung desselben für ihre Kinder zu verlangen. Nun erst konnte ernstlich an die Verbindung gedacht werden, die am 6. October 1776 auf dem Landsitze einer befreundeten Familie (zu Jork im Alten Lande) in aller Stille gefeiert wurde.
So war denn das Ziel jahrelangen Ringens erreicht und schon einige Wochen nach der Ankunft der Neuvermählten blühete in dem stillen Wolfenbüttel ein glückliches Haus empor, getragen von jenem Frieden, den nur die Liebe giebt, durchweht und durchwärmt vom Hauche des Geistes und einer heiteren und anmuthigen Geselligkeit, eine Stätte auch des erbarmungsvollen Wohlthuns für alle Hilfsbedürftigen und Bedrängten. Durch die Räume der Bibliothek wandelte nicht mehr der gebeugte und finster blickende Mann, welchen die letzten Jahre hier gesehen hatten, sein Haupt war aufgerichtet, aus seinem Antlitz schaute das sichere und freudige Behagen eines Gemüths, das endlich den Frieden gefunden, den es so lange und so schmerzlich hatte entbehren müssen. Moses Mendelssohn und andere Freunde, die Lessing in dieser Zeit besuchten, fanden ihn merkwürdig verjüngt und erfrischt wie in seiner besten Lebenszeit, und es ist wohl nur ein Zufall, daß sich unter ihren Aufzeichnungen kein Urtheil über die Frau findet, welche einen so wunderbaren Einfluß zu üben vermochte. Ein sehr wichtiges Zeugniß über das Lessing’sche Haus aber besitzen wir doch, es kommt von dem nachher so berühmt gewordenen Historiker Spittler, der sich damals einige Wochen in Wolfenbüttel aufgehalten und an Meusel Folgendes geschrieben hat:
„In Wolfenbüttel war ich fast drei Wochen und es waren drei der glücklichsten und lehrreichsten meines Lebens, da mir Lessing einen völlig freien Zutritt in sein Haus und einen ebenso völlig ungehinderten Gebrauch der dasigen Bibliothek gestattete. Ich darf Sie versichern, daß er der größte Menschenfreund, der thätigste Beförderer aller Gelehrsamkeit, der hülfreichste und der herablassendste Gönner ist. Man wird unvermerkt so vertraut mit ihm, daß man schlechterdings vergessen muß, mit welch’ großem Manne man umgeht. Und, wenn’s möglich wäre, mehr Menschenliebe, mehr thätiges Wohlwollen irgendwo anzutreffen, als bei Lessing – so wär’s bei Lessing’s Gattin. Eine solche Frau hoffe ich nimmermehr kennen zu lernen. Die unstudirte Güte des Herzens, immer voll der göttlichen Seelenruhe, die sich auch durch die bezauberndste Sympathie Allen mittheilt, welche mit ihr umzugehen das Glück haben. Das Beispiel dieser großen, würdigen Frau hat meine Begriffe von ihrem Geschlecht unendlich erhöht; und vielleicht bin ich noch viel zu kurz in Wolfenbüttel gewesen, um sie nach allen ihren Vorzügen kennen zu lernen.“
Das Glück aber, welches die gewöhnlichen Erdenkinder oft so verschwenderisch mit seinen Spenden überschüttet, pflegt bekanntlich den erkornen und zu hohen Aufgaben berufenen Menschen ein treuloser und heimtückischer Gefährte zu sein. Als das Weihnachtsfest Lessing zum zweiten Male in seiner eigenen traulichen Behausung fand, hatte es dem großen Kinderfreunde zur Vollendung seines Glückes auch ein eigenes Söhnchen in die Arme gelegt. Aber nur wenige Stunden konnte er an dem warmen Athem dieses jungen Lebens sich erfreuen, dann schloß das Kind die Augen und war starr und kalt. In jenem bitteren Humor, der bei ihm immer der Ausdruck verzweifelten Schmerzes war, meldete er seinem Freunde Eschenburg: „Meine Freude war nur kurz. Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! – Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu so einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisernen Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er sobald Unrath merkte? War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freilich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen, aber es ist mir schlecht bekommen.“ Und auch dieser erschütterndste und verhängnißvollste aller Schläge sollte ihm nicht erspart bleiben. Viele Tage und Nächte hindurch saß er, von heißer Angst zermartert, von kurz aufleuchtender Hoffnung belebt, am Lager der Besinnungslosen, die nur ihn erkannte, und mußte endlich gewaltsam von ihr entfernt werden. „Meine Frau ist todt und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht,“ so meldete er endlich die schnelle Zertrümmerung seines ganzen Lebensglückes wiederum an Eschenburg.
Ist der Morgenfrühe des 12. Januar 1778, ein Jahr und einige Monate nach ihrer zweiten Vermählung wurde Eva Lessing zur Erde bestattet. Auf dem Friedhofe zu Wolfenbüttel liegt sie begraben. Das deutsche Volk hat den Bräuten und Frauen seiner Dichter ein liebreiches Andenken bewahrt und duftige Blumenkränze auf ihre Gräber gelegt. Möge es fortan in seine Erinnerungen auch das hohe und fast verschollene Bild der geist- und tugendreichen, wahrhaft deutschen Frau verweben, welche der einzige kurze Freudenblick, aber ein warmer und mächtig tiefer, auf dem freudenarmen Lebenswege unseres großen Lessing gewesen ist. Drei Jahre hat er die Geliebte überlebt, bis auch er (noch nicht zweiundfünfzig Jahre alt) das kranke, kampf- und kummermüde Haupt zur Ruhe legte. „Ich war einmal," schrieb er an Mendelssohn, „ein gesundes schlankes Bäumchen und bin jetzt ein so fauler, knorriger Stamm. Ach! lieber Freund, die Scene ist aus!“
Der knorrige Stamm aber trieb noch gar wunderbar frische und grünende Zweige. Es waren die Jahre, in denen Lessing, aus dumpfer Trauer zu hoher Verklärung sich aufraffend, seine gewaltigen Schlachten gegen den finstern Orthodoxismus geschlagen, in denen er „die Erziehung des Menschengeschlechts“ geschrieben, und im „Nathan“ sein unsterbliches und ewig junges Schwanenlied vom Siege der Menschlichkeit gesungen hat. Er gehörte nicht zu den lyrischen Naturen die ihr persönliches Empfinden gern auf die Märkte tragen. Gewiß aber ist, daß ihn unter allen diesen Schöpfungen bis zu seinem letzten Augenblicke die Gestalt der verklärten Gattin umschwebte, von der er nach ihrem Hinscheiden sagte: „Wenn Du sie gekannt hättest!“ „Wenn ich noch mit der Hälfte meiner übrigen Tage das Glück erkaufen könnte, die andere Hälfte in Gesellschaft dieser Frau zu verleben, wie gern wollt’ ich es thun!“[1]
Damals führte der Fürst manches Reiterkunststück aus, nicht mit seinen Vollblutpferden allein, sondern auch mit arabischen Mauleseln, die Wunder von Schnelligkeit gewesen sein sollen. Wenn er so, auf hohem spanischen Sattel sitzend, in ungewöhnlichem Costüme, den Reitknecht hinter sich verlierend, dahinsprengte, so konnte man ihm nicht lange genug nachsehen. Glaubte man ihn aber verschwunden, so hatte er inzwischen, trotz der Windeseile, sein Pferd schon wieder parirt und kam im gleichen Tempo [181] zurückgesprengt, in Staubwolken gehüllt. Glücklicher war der Fürst mit den in Arabien gekauften Pferden gewesen, weil sie schon in der Heimath an Strapazen und Entbehrungen gewöhnt worden waren. Wie der Fürst uns bei unserem Besuche erzählte, pflegten sie die Nacht im Freien zuzubringen, an Stangen gefesselt, und ohne je in einen Stall zu kommen. Mit ihnen und den aus England bezogenen Vollblutpferden hat er seiner Zeit dem Hofe in Weimar großartige Wettrennen gegeben. Er pries die Güte der ersteren noch heute und meinte, daß sie in Arabien für ihn kaum den fünften Theil des Werthes gehabt hätten, wie sie im Occident bezahlt zu werden pflegten. Aber er hatte auch sie nach und nach verloren. – „Es blieb mir nur eine Stute übrig,“ fuhr der Fürst fort und ein Schatten von Trauer ging über sein Gesicht, „das war meine brave Adschameh, die ich hier habe erstechen lassen müssen – Sie werden Ihr Denkmal unten im Park finden; ihr Stammbaum wurde von ihrem früheren Besitzer bis auf die Stuten Mohammed’s zurückverlegt. – Das war das schönste Pferd, welches ich je besessen habe – gesehen und gekauft aber habe ich einmal ein noch schöneres. Das war in Arabien bei folgender Gelegenheit: ich hielt mich gerade damals bei einem Stamm auf, dessen Fürst ein außerordentlich einflußreicher Mann war. Er hatte mir kurz vor meinem Scheiden sehr werthvolle Geschenke gemacht und ich wollte deshalb meinen sonst üblichen Etat für Gegengeschenke überschreiten Aber ich war verlegen in der Wahl, der Fürst besaß Alles, worauf ich dachte. Da half ich mir, indem ich seinen vertrautesten Diener zu Rathe zog; er sagte mir, sein Herr sehne sich nur noch nach einem Gegenstande auf der Welt, nach einer weißen Stute im Besitze eines andern Fürsten in dieser Gegend, der aber selbst zu stolz auf den Besitz jenes Pferdes sei, das man für einen unvermischten Abkömmling der Rosse des großen Propheten halte; sein Herr handle schon Jahre lang um dieses Pferd, aber es sei nicht feil, und so oft desselben Erwähnung geschehe, verdüstere sich sein Antlitz. – Als ich einige Tage später weiterzog, ließ ich dem Fürsten jene weiße Stute am rothen Halfter vorführen. Was er dazu sagte, kann ich in unserer Sprache nicht wiedergeben. Aber ich hatte auch eine enorme Summe von Geld und Ueberredung dazu aufwenden müssen, das Thier zu bekommen.“
Als der Fürst wieder einmal auf den Lord Byron zu sprechen kam, sagte er, er halte ihn nächst Shakespeare für den größten Dichter Englands. Er stellte seinen „The corsar“ hinsichts der Plastik neben das beste Werk Goethe’s, und war empört, daß ihm seine Landsleute selbst heute noch nicht seinen wohlverdienten Platz im Pantheon gönnten.
Auch die Staël hatte er in Paris kennengelernt. Er stellte sie der Lady Stanhope in geistiger Beziehung an die Seite, welche der ersteren aber an schlagfertigem Witz und Sarkasmus überlegen gewesen sei. – „Ich dinirte einmal bei der Stanhope,“ erzählte er, „zu gleicher Zeit mit einem geistreichen, etwas eingebildeten französischen Dichter, welcher die Gewohnheit hatte, den Kopf etwas schief zu tragen. Die Stanhope redete ihn im Scherz darauf an; er entgegnete: ‚Wissen Sie nicht, daß Alexander der Große den Kopf ebenso trug?‘ – ‚Das kann sein,‘ erwiderte sie sofort, ‚doch ich habe dieselbe Eigenschaft auch bei den spanischen Maulthiertreibern gefunden, aber diese hatten wenigstens einen Grund dazu, denn sie mußten sich öfter nach ihren Thieren umsehen!‘ – Der Dichter biß sich in die Lippe und schwieg.“
Bei Vergleichen anderer Schriftstellerinnen mit den deutschen blieb der Fürst länger bei der [[[E. Marlitt|Marlitt]] stehen, von der er einige Novellen in der „Gartenlaube“ gelesen hatte. Er wünschte sehr, die interessante Dame kennen zu lernen. „Ihre Charakterzeichnungen,“ meinte er, „documentiren ein seltenes Menschenstudium und ihre Schilderungen der Versöhnung des schulgebildeten, der Natur entfremdeten Mannes mit der letzteren durch die Liebe des Weibes sind überraschend schön.“
Aus der Zeit der Jugendblüthe des Fürsten sind eine Menge von Scherzen im Volksmunde, welche von dem heitern Sinn des Fürsten, wie von seiner Wagehalsigkeit und endlich von manchem guten Einfall zur rechten Zeit Zeugniß geben. So fuhr er einmal einen ehrwürdigen geistlichen Herrn im Muskauer Park spazieren, als ein Platzregen kam und Beide vollständig durchnäßte. Den Fürsten incommodirte dies wenig, der Andere jammerte. Aber der Fürst wußte Rath. Er fuhr bei einem seiner Förster vor und überredete seinen Begleiter, sich zu entkleiden und, da ein entsprechender männlicher Anzug nicht aufzutreiben war, eine Sonntagsrobe der Frau Försterin anzulegen während aber die nassen Sachen trockneten, sich wieder mit auf den Wagen zu setzen und, um einem Katarrh oder Schnupfen vorzubeugen, in der wieder warm scheinenden Sonne weiter in dem Park spazieren zu fahren, wo er ja von Niemand gesehen würde. Der geistliche Herr war bereit. Kaum waren sie aber eine Strecke von dem Försterhause entfernt, da ließ der Fürst plötzlich den Pferden die Zügel schießen und fuhr, trotz aller Bitten seines Begleiters, mit diesem in die Stadt hinein und einige Male um die Kirche herum, worauf er denn zum andern Ende der Stadt wieder hinaus und auf Umwegen nach dem Försterhause zurücklenkte, wo die durchnäßten Sachen inzwischen denn auch wirklich trocken geworden waren.
Einen andern Scherz erzählte der Fürst selbst: „Als ich in Dresden diente, hatte ich eine Menge heiterer Cameraden. Dresden ist sehr schön und bot damals schon genug Amüsements; wie es aber in der Jugend kommt, daß man zu allerlei pikanten Dingen aufgelegt zu sein pflegt, so ging es auch uns. Nun hatten wir Kenntniß davon erhalten, daß eine etwas heruntergekommene Schauspielertruppe auf einem Dorfe ein paar Meilen ab gastire. Wir ritten also eines Tages hinüber. Da fanden wir denn ein so drolliges Völkchen beisammen, dem es zwar nicht an gutem Willen, desto mehr aber an Geld und ausreichenden Kräften gebrach, daß wir mit dem Director einen förmlichen Pact schlossen, hin und wieder an gewissen Tagen und zur Aufführung gewisser drastischer Stücke wiederzukommen und auf der Bühne thätig mitzuwirken. Das geschah auch einige Mal. Ich vergesse diese Stunden in meinem Leben nicht, wie wir inkognito dort Schauerdramen aufgeführt haben und dann nach einem mit den gesammten Thespisjüngern eingenommenen Mahle des Nachts im besten Frohsinn nach Dresden zurückgeritten sind.“
Ja selbst aus Weimar noch wird ein lustiger Einfall erzählt, den der Fürst dort in Scene setzte. Er hatte einst – gewiß absichtslos – zu einem Hofball keine Einladung erhalten. Im besten Wetter stellten sich die Glücklicheren ein. Da zieht gegen Abend ein Gewitter herauf. Der Regen gießt in Strömen es ist nicht abzusehen, ob es heut überhaupt noch aufhören wird. Der Ball ist zu Ende. Die Damen in elegantester Toilette treten aus dem Corridor in die Säulenhalle: – Hu – aber zum Glück stehen ja eine Menge Miethskutschen da! – Man athmet leichter – halt, Kutscher, hierher! – Besetzt! lautet die Antwort und – besetzt! die der sämmtlichen Kutscher. – Der Fürst hatte sie sämmtlich zu seinem Gebrauch miethen lassen.
Wie der Fürst in seinen jüngeren Jahren ein Meister in allen ritterlichen Uebungen war, so war er es auch als Schütze. Namentlich von seiner Fertigkeit im Pistolenschießen erzählt man sich halbe Wunder. So, daß er eines Tages einem Gärtnerburschen, der seine Ruhepause etwas gar zu lange ausdehnte und den Kopf träge auf seinen Spaten gestützt hatte, diesen auf eine bedeutende Entfernung vom Fenster aus unter dem Kinn fortschoß, und in gleicher Veranlassung einem ähnlichen Arbeiter, der auf einer Leiter am Weingerank stand, den Absatz vom Stiefel. Als einmal hierauf angespielt wurde, versetzte der Fürst:
„Nun ja, ich hatte eine gewisse Fertigkeit darin. Wenn ich einmal eingeschossen war, konnte ich fast mit Bestimmtheit auf meine Sicherheit wetten, nicht bloß in der Ruhe, sondern auch zu Pferde. Ich habe in Afrika Parforcejagden auf Schweine, sowie anderes Wild, mitgemacht, bei denen die Eingeborenen lange Flinten führten, während ich nur mit Pistolen versehen war. Als ich damit die erste Sau niederschoß, wunderten sich die Andern; sie hielten das gar nicht für möglich. Als ich aber ein ander Mal (es mag der Zufall mitgespielt haben) mit derselben Waffe einen Vogel aus der Luft herabschoß, waren sie nahe daran, mich für einen Zauberer oder ein übernatürliches Wesen zu halten. – Aber,“ fuhr der Fürst fort, „ich hatte einen Vetter, der mich darin doch noch übertraf; er konnte neunmal unter zehn dafür garantiren, daß er meine Kugel mit der seinigen deckte.“
Bei dieser Gelegenheit kam er auf etwas Naheliegendes – seine Duelle.
„Ich hatte vier auf Pistolen und acht auf Säbel,“ ließ er sich aus, „mir waren Duelle, wie alle andere Gefahren angenehme Aufregungen. Nicht, daß ich sie gerade gesucht hätte, aber ich habe auch keins durch Nachgiebigkeit vorher beigelegt. Zum Glück [182] habe ich dabei in keinem Falle meinen Gegner getödtet oder lebensgefährlich verletzt und ich selber bin auch immer leidlich heil aus ihnen hervorgegangen. Und es ist mir jedesmal gelungen, von meinem Feinde versöhnt zu scheiden, bis auf einen Fall. Es stand mir ein höherer Officier gegenüber, der mich in den Zeitungen öffentlich herausgefordert hatte, weil er mich anders nirgends finden konnte. Ich hatte ihn, ich muß es gestehen, in meinen Schriften etwas scharf exponirt und trug allerdings insofern die Schuld. Als mir seine Herausforderung zu Gesicht kam, suchte ich ihn auf und stellte mich ihm. Er war gerade in der Nähe. Wir schossen uns mit unerheblichen gegenseitigen Erfolgen, aber er wollte meine Hand nicht nehmen und ging grollend von mir. Erst nach Jahren fand ich ihn in Berlin in den königlichen Gemächern wieder. Wir mußten uns Beide besinnen und der König dazu kommen, bevor wir uns erkannten. Der König drohte uns – da reichten wir uns denn die Hände.“
Die Kritik hat die Werke des Fürsten einer etwas kecken Sprache bezichtigt. Er wußte darum und äußerte sich dahin:
„Es mag sein, daß ich hin und wieder etwas schonungslos verfahren bin, aber das lag so in den Zeitverhältnissen und in meiner Natur. Ich habe es auch später nicht bedauert, bis auf meine Schilderungen Goethe’s. Der Altmeister zürnte mir deswegen, als ich das nächste Mal mit ihm zusammentraf. Ich besuchte ihn in Weimar, ich hatte ihn sehr lieb. Als er mich empfing, drohte er mir halb im Scherz und halb im Ernst: ‚Sie haben mich doch etwas zu sehr im Negligé gezeichnet!‘“
Von Goethe war der Fürst voll: „Ich will hoffen, daß Napoleon nicht, um ihm zu schmeicheln, sondern aufrichtig sprach, als er ihn zum ersten Mal sah: ‚c’est un homme!‘ – Goethe war es wirklich. Er bestärkte mich in meiner Liebe zur Natur und regte mich am ersten zu meinen späteren Parkschöpfungen an. Er hatte einige kleinere Proben darin von mir gesehen und sich darüber gefreut. Mit Bezug darauf sagte er, als wir von einander gingen, zu mir: ‚Verfolgen Sie diese Richtung, Sie scheinen Talent dafür zu haben; die Natur ist das dankbarste, wenn auch unergründlichste Studium, denn sie macht den Menschen glücklich, der es sein will!‘ – Und ich bin ihm gefolgt und bereue es nicht. Auch in anderer Beziehung nicht – ich habe mir Goethe’s ‚ganzen Menschen‘ zum Vorbild genommen.“
Wir verstanden den Fürsten. In der That hat Goethe ihm auf seinen Lebenswegen vorgeleuchtet, denn er war, wie dieser, stets objectiv in Wort und Handlungsweise, human gegen Jedermann, mild in seinem Urtheil, bescheiden, erhaben über jede kleinliche Eitelkeit. Er verachtete den Weihrauch der Menge und alle Lorbeeren, aber er verachtete keinen Menschen! – „Ich habe das von Goethe gelernt,“ pflegte er dann zu.sagen, wenn das Gespräch auf den Werth der Menschen als solche kam. „Goethe meinte immer, der Mensch könne nicht auslernen, am Erhabensten nicht und nicht am Geringsten!“
So war der Fürst eingenommen gegen die Träger des Adelstitels, welche ihn nur führen, um ihn zu weltlichen Vortheilen auszubeuten. Er war frei von Selbstgefälligkeit und Ruhmsucht, er betrachtete eine Sache nur als solche und nicht in ihrer Beziehung zu dem Urheber. Man war erstaunt, ihn feiernden Bemerkungen seiner Biographen lachend widersprechen zu hören. So, was seine Thaten im Freiheitskriege betraf, von denen wohl außerdem genug rühmliche überliefert sind. Als wir einmal auch darauf kamen, sagte er: „Ich habe mich nie vor der Front der beiderseitigen Truppen und in ihrem abwartenden Zusehen mit einem französischen Husarenobersten herumgehauen. Die Franzosen waren einfach auf der Flucht und der Oberst stürzte, als ich ihn verfolgte, vom Pferde, aber ich habe ihn weder niedergeschlagen, noch gefangen genommen; und daß ich dem Feinde einige Kanonen abgenommen, ist zwar richtig, aber das hat nicht viel zu bedeuten, denn ich fand sie vernagelt und verlassen in einem Hohlwege stehen und ließ sie von meinen Leuten als Beute mit fortnehmen.“ Im Anschluß hieran fuhr er nach einer Weile fort: „Die Blätter schreiben oft zuviel“ (und er lachte) – „da soll ich mit einer Luftschifferin Reichard aufgestiegen sein, und doch ist es in Wahrheit ihr Mann gewesen ich hatte den Ballon aus eigenen Mitteln ausgerüstet, um mich auch auf diesem Felde einmal zu versuchen.“
Es wurde von der altgriechischen Bildhauerkunst gesprochen. Beim Vergleiche mit den Erzeugnissen der Deutschen seit Anfang dieses Jahrhunderts meinte der Fürst: „Wenn die alten griechischen Meister heut’ aufstünden und Rauch’s Sarkophage im Mausoleum zu Charlottenburg, oder die Statue Friedrich’s des Großen unter den Linden in Berlin, oder Rietschl’s Goethe-Schiller-Monument in Weimar sähen, sie würden sie unbedingt für Werke ihrer Zeit erklären, ein vollkommenerer Faltenwurf läßt sich nicht denken.“
Hieran knüpfte der Fürst Betrachtungen über die Baukunst. Er kam auf Schinkel und sagte: „Sehen Sie seine Bauten! wie echt classisch, wie edel und einfach, wie rein und erhaben! Ich interessirte mich immer für diesen Meister und nahm ihn mit mir nach Muskau, wo er mein Schloß restaurirte. Damals war auch noch der Clemens Brentano bei mir und der Leopold Schefer: sie waren immer um mich – waren, jawohl!“ setzte der Fürst hinzu, indem er traurig das Haupt neigte; „sie sind Alle todt, auch der Houwald und der Contessa, die ich Beide in Halle so lieb gewonnen – das waren Alle Menschen, auf die der Himmel seine besten Geistesfunken versprüht; sie sind mir lange voran geeilt, nur ich bin übrig geblieben! Welche schönen Träume von dem uns noch bevorstehenden Leben habe ich mit ihnen geträumt! Ob sie ihnen Wort gehalten – ich weiß es nicht, aber ich für meine Person kann wohl gestehen, daß sie mich nicht ganz betrogen haben. Ich bin dem Lenker der Welten dankbar und erwarte nur noch seinen letzten Spruch!“ –
Und er war vor wenig Tagen gesprochen worden, dieser letzte Spruch, welchen der Fürst meinte!
Diesen Erinnerungen an den Geschiedenen nachhängend, hatten wir unvermerkt den Rückweg aus dem Parke angetreten und standen bei einer Biegung des Weges plötzlich wieder den Pyramiden gegenüber. Der Tumulus, welcher die fürstliche Leiche aufgenommen, hatte wieder ganz sein früheres Aussehen. Nichts außer der mit Erde vermischten Schneedecke seines Fußes verrieth, daß er sich geöffnet hatte.
Wir nahmen Abschied von dem so winterlichen wie traurigen Bilde vor uns. Es war Hochmittag. Die Sonne strahlte freundlich vom Himmel nieder. Von der Spitze der mittelsten Pyramide, der höchsten von den dreien, wehte wie grüßend das fürstliche Banner. Es umhüllte zeitweise das eiserne Gitterwerk, zu welchem hinauf eine Treppe führt. Auf der dort oben von einer Hellebarde getragenen eisernen Tafel flammte ein goldener Schein: es waren die Lettern des Hoffnung erweckenden Koranspruches, welchen der Fürst einst darauf hatte eingraben lassen als sein Glaubensbekenntniß:
Hoffen wir wie er! –
Der Fürst starb, wie er es sich gewünscht, schmerzlos, an Altersschwäche. Nachdem ihn die Besinnung einige Tage vorher verlassen, kehrte dieselbe in der Nacht seines Todes noch einmal zurück. Er empfahl seiner Umgebung noch einen Gruß an sein Lieblingsroß, und im Gefühl seiner herannahenden Auflösung rief er:
Bald darauf, in der ersten Stunde des fünften Februars, eines Sonntags, hauchte er seinen Geist aus. Sein Geburtstag, der dreißigste Oktober des Jahres siebenzehnhundertfünfundachtzig, war gleichfalls ein Sonntag gewesen. Vier Tage nach seinem Tode erfolgte seine Beisetzung. –
Sein erfinderischer Geist wirkt nun nicht mehr in den für ihn engbemessen gewesenen Grenzen seines Parks. Wird dieser letztere erhalten bleiben zur Freude jedes Fremden und Einheimischen? Wir wissen es nicht, aber wir hoffen es mit Allen, welche ihn kennen gelernt haben. Die Herrschaft ist ein Majorat. Möchte der Nachfolger des Fürsten, der Graf Heinrich von Pückler, derzeit Commandeur der preußischen Gardelandwehrcavallerie in Frankreich, diesen lauten und allgemeinen Wunsch bestätigen!
Nach dem Testamente des Fürsten ist eine Frau von Pachelbe-Gehag, Marie geborene Gräfin von Seydewitz, in Ansehung seiner übrigen Nachlassenschaft, einige Legate abgerechnet, seine Universalerbin. Sie ist des Verstorbenen Nichte von der Seite einer Schwester. Es befinden sich in dem Nachlasse selbstverständlich die merkwürdigsten, seltensten und wunderlichsten Dinge, die der Fürst während seines langen Lebens zusammengetragen hat, vielfach von unschätzbarem Werth. Wir erwähnen außer einer Locke Napoleon’s des Ersten unter Glas und Rahmen und den vielen kostbaren orientalischen Sätteln, Reitzeugen anderer Art und Geschirren, sowie einer Masse prächtigen chinesischen Porcellans und Vasen aus [183] Etrurien und anderen berühmten Werkstätten nur aus der umfangreichen Bibliothek ein Unicum, Geschichte Wilhelm’s des Eroberes, von Froissard, einen im fünfzehnten Jahrhundert von der Hand eines französischen Mönches in Kalligraphie ausgeführten Folianten, mit Initialen und Illustrationen von noch frisch erhaltenen Farben. Man hat dem Fürsten für dies Werk einen unglaublichen Preis geboten, aber er war nicht zu bewegen, es zu veräußern; noch vor kurzer Zeit hat die Universität in Leyden mit seiner Erlaubniß von Künstlerhand einige Stellen daraus copiren lassen.
Cottbus, im Februar 1871.
Um Paris herum.
Das vernichtende Granatfeuer um Paris her, das schon anfing, der Hauptstadt selber, trotz der sie schützenden und umgebenden Forts, verderblich zu werden, schwieg. Jules Favre verbrachte den größten Theil seiner Zeit auf dem Wege zwischen Paris und Versailles, und schon die Ueberzeugung, daß ein Waffenstillstand geschlossen sei, trug die Zuversicht eines jetzt unausbleiblichen Friedens in alle Herzen und diese wuchs von Tag zu Tage. Den Parisern wurde verstattet, den bis dahin streng und unerbittlich eingeschlossenen und fast ausgehungerten Platz zu verlassen – wobei sie jedoch noch eines Passirscheins bedurften – und Tausende von ihnen machten Gebrauch davon, um sich theils einmal wieder in den benachbarten Orten wirklich satt zu essen, theils aber auch selber Provisionen mit zurück und zu den Ihrigen zu nehmen.
Der Verkehr, der noch insofern ein höchst einseitiger war, als die Pariser wohl für sich das Recht erlangt hatten, aus- und einzuwechseln, den Fremden, und besonders uns Deutschen, das aber noch hartnäckig weigerten, war überdies dadurch außerordentlich erschwert worden, daß die guten Pariser gleich zu Anfang der Belagerung den größten Theil ihrer Seinebrücken selber gesprengt und jetzt erst nothdürftig wieder hergestellt hatten, aber man konnte doch herüber und hinüber kommen, und das genügte vor der Hand.
Mir war schon gesagt worden, daß an diesen Brücken gegenwärtig ein so interessanter wie bedeutender Verkehr stattfände; ich beschloß deshalb, diese Plätze zu besuchen, und habe es wahrlich nicht bereut.
Am Sechsten Morgens nach dem Frühstück – denn daß unterwegs nur wenig Eßbares zu bekommen sei, wußte ich schon – wanderte ich also den Boulevard St. Cloud hinab aus Versailles zum Thor hinaus und gerade auf das Schloß St. Cloud zu. Der Weg dahin, der zum großen Theil durch schattiges Gehölz führt, mag in früheren und friedlichen Zeiten auch wohl belebt genug gewesen sein – jetzt lag er still und öde. An dem völlig zu Ruinen zusammengeschossenen Garches vorbei, erreichte ich endlich das kleine Städtchen St. Cloud und mit ihm eine Verwüstung, die ich entsetzlicher noch an keiner Stelle Frankreichs wahrgenommen hatte.
Das Schloß St. Cloud war vom Mont Valerien aus in Trümmern geschossen worden, die Stadt selber hatten unsere Truppen angezündet, weil sie dem Feinde eben stete Deckung gewährte – und sie brannte noch. Da und dort züngelte und prasselte die Flamme in den der Zerstörung preisgegebenen Gebäuden empor, aber Niemand kümmerte sich darum – keine Spritze war thätig, keine Hand suchte zu retten. Wozu auch? – die Gebäude waren schon demolirt und geplündert, und wo gierige Burschen noch da und dort zwischen den Trümmern nach irgend einer bisher übersehenen Beute umhersuchten, thaten sie es mit eigener Lebensgefahr, denn die schon von dem Verband gelösten Mauern konnten jeden Augenblick über ihnen zusammenbrechen und sie unter ihren Trümmern begraben.
Vorbei – ich hatte schon zu viel des Elends in diesem unglücklichen Lande gesehen, um mich länger als irgend nöthig bei solchen erneuten Schauerbildern aufzuhalten. Man sagt freilich, daß man zuletzt auch gegen das größte Elend abgestumpft werde, aber bei mir war das noch nicht der Fall. Ich suchte das Freie, d. h. das Ufer der Seine zu gewinnen, und dort fesselte zuerst der fast wunderbar schöne Anblick von Paris meinen Blick.
Da lag die ihrem Geschick verfallene stolze und übermüthige Stadt. Die goldene Kuppel des Invalidendoms funkelte im Licht der heute zum ersten Mal wieder hervorbrechenden Sonne – da lag Notre Dame – da lagen all die mächtigen Kuppeln und Kirchen, umgeben von dem endlosen Häusermeer dieses neuen Sodoms, und nicht satt konnte ich mich sehen an dem wahrhaft prachtvollem Schauspiel.
Paris – unwillkürlich fiel mir der Phrasenmacher Victor Hugo ein, mit seiner bodenlos dummen Proclamation an die Deutschen – da lag seine „Hauptstadt der Welt“ – das „heilige“ oder besser gesagt heillose Paris, beherrscht von unseren Forts, auf denen ringsum die Bundesflagge wehte, ausgehungert, beschossen, gedemüthigt und trotzdem noch voll Phrasen und Größenwahnsinn, und drüben über der Brücke von St. Cloud standen am anderen Ufer der Seine die neugierigen Bewohner der Stadt und konnten für zwei Sous, mit Hülfe der dort von Speculanten aufgestellten Teleskope, nicht allein die Verwüstung betrachten, welche die deutschen „Barbaren“ in der unmittelbaren Nähe ihrer Hauptstadt angerichtet, sondern auch unsere Pickelhauben mit ihren Zündnadelflinten auf der Schulter, behaglich auf den sie umschließenden Wällen spazierengehen sehen, die gebaut waren, um ihr Paris zu schützen, und es jetzt, unter dem Druck unserer Geschosse, gefangen hielten.
Allerlei Volk hatte sich dort versammelt – Blousenmänner und feingekleidete Damen, Kinder und alte Leute, und Nationalgarde in Uniform hielt die Ordnung aufrecht. Mitten auf der dort querüber führenden Barricade aber stand ein kleiner falstaffähnlicher Bursch, die Arme in die Seite gestemmt und von außergewöhnlichem Leibesumfang. Sollte er eine Demonstration sein, und hatten sie ihn vielleicht wattirt und ausgestopft, um uns zu zeigen, daß Paris noch keinen Mangel leide, so lange es solche Exemplare aufzuweisen habe?
Auf dieser Brücke fand übrigens gar kein Verkehr statt; sie war auf beiden Seiten abgesperrt und durfte weder von Franzosen noch von Deutschen betreten werden. Desto lebendiger sollte es aber dafür an der Sèvresbrücke, die etwas weiter unterhalb lag, sein, und ich wandte mich dorthin, nachdem ich vorher zu dem rechts vom Wege ab und auf einer leisen Anhöhe liegenden Schloß St. Cloud hinaufstieg.
Zerstörung überall hier, wohin man den Fuß setzt – aber daß das Schloß Napoleon’s selber von seinen eigenen Granaten verwüstet worden war, was that es hier, wo so mancher brave und tüchtige Bürger sein Eigenthum diesem Menschenschlächter zum Opfer fallen sah! Der Anblick ließ mich vollkommen kalt, und ich freute mich sogar des Bildes, das die alte Schloßruine bot, in der noch einzelne Beutesucher über den Schutt umherstiegen und mit eisernen Haken kratzten und wühlten, ob sie nicht doch noch vielleicht etwas aus der allgemeinen Verwüstung für sich herausfischen könnten. – Es waren das französische Republikaner – Republikaner wenigstens für den Augenblick, oder so lange es ihnen paßte. Was liegt solchem Gesindel an einer Regierungsform? Nur so lange sie darunter rauben und plündern können, hängen sie an derselben und jauchzen ihr zu.
Und gleich dort drüben, kaum ein- oder zweitausend Schritte davon, lag das wegen seiner Porcellanfabrik berühmte Sèvres, und dort spannte sich die allerdings ebenfalls gesprengte, aber doch für Fußgänger wieder hergerichtete Brücke über die Seine nach Paris hinüber. Dort schien auch Leben, denn über die Brücke herüber und hinüber strömten die Leute, und besonders an unserer Seite zeigte sich ein nicht unbedeutendes Gedränge, aus dem nur die Bajonnetspitzen unserer wackeren Landwehr emporragten.
Die Sprengung der Brücke lag nahe dem jenseitigen Ufer, und man hatte dort nur einen schmalen Holzsteg darüber gelegt, um eine Passage für Fußgänger zu erhalten, aber einen merkwürdigeren und eigenthümlicheren Anblick, als diesen nur zeitweilig eröffneten Verkehr zwischen den beiden feindlichen Lagern, habe ich im Leben nicht gehabt.
[184] Um diesem Gedränge nur einigermaßen Einhalt zu thun und für die Aus- und Einpassirenden eine einzige enge Bahn frei zu lassen, damit sie controlirt werden konnte, hatte man von dem gar nicht fernen Mont Valerien sogenannte „spanische Reiter“ heruntergeschafft und hier quer über die Brücke gestellt, so daß sie nur an der linken Seite einen Zugang offen ließen.
Spanische Reiter sind Balken, in welche etwa vier Fuß lange spitze Hölzer so eingefügt sind, daß sie wie Radspeichen von der Nabe in vier entgegengesetzten Richtungen von einander abstehen.
Auf zwei Reihen derselben vermögen also die Balken selbst zu ruhen, während sich die beiden anderen Reihen palissadenähnlich nach innen und außen strecken und so besonders bei der Erstürmung einer Festung den Stürmenden ein sehr häßliches und schwer zu beseitigendes Hinderniß entgegenwerfen. Hier auf der Brücke waren sie alle vollkommen an ihrem Platze, denn sie gestatteten einen freien Durchblick und zwangen die Pariser Bevölkerung, den Raum innezuhalten, der ihr von unseren Truppen gewährt worden.
Es sollten nur Solche diese Linie passiren dürfen, die einen Erlaubnißschein von Paris aus hatten, die Umgegend zu besuchen, um theils nach ihren Wohnungen zu sehen, theils Lebensmittel für die Ihrigen anzukaufen, und der dort an der Passage aufgestellte Officier hatte wirklich einen schweren Stand. Nicht einzeln kamen sie nämlich, sondern zu Zehn und Zwanzigen – Manche in fieberhafter Hast, um hinauszugelangen aus der beschossenen, halbverhungerten Stadt – aber erst mußte ihr Geleitschein untersucht werden, und lautete der auf einen Ort hinter Versailles, so wurden die Herren sowohl wie die Damen so lange zurückgehalten, bis sich ein kleiner Transport zusammenfand. Dann gab man ihnen eine Wache bei und ließ sie vorsichtig durch Versailles durch, aber auch sicher wieder an der andern Seite und durch die überall besetzten Thore hinaus geleiten. Es bestand ein Verbot, keinen Zuzug mehr von Paris nach Versailles zu gestatten, und zwar zum Schutz unserer deutschen Truppen und Behörden, da die Pariser sonst gerade Versailles überfluthet hätten. Waren doch die Preise der Lebensmittel schon in den wenigen Tagen ganz enorm gestiegen.
[185]
Diese Controle konnte aber kaum für einen Moment meine Aufmerksamkeit fesseln, denn Interessanteres bot sich da draußen an den spanischen Reitern, die jetzt von der ärmeren Bevölkerung im wahren Sinne des Wortes belagert wurden.
„Brod!“ schrieen die Menschen unseren Soldaten zu, „gebt uns Brod – nur ein Stück Brod – wir haben so lange keins gehabt!“ und dabei klammerten sie sich an die starren Hölzer, ja die Kinder steckten den Kopf hindurch und klemmten sich dazwischen hinein, nur um den bis dahin so gefürchteten Preußen ein klein wenig näher zu sein und ein Stück Brod von ihnen zu erlangen.
Ich hatte nie so recht geglaubt, daß die Noth in Paris wirklich schon so groß gewesen sei, um eine solche Scene zu
[186] ermöglichen. Es mag auch sein, daß die wohlhabende Bevölkerung sich noch eine ganze Weile gegen Mangel, ja selbst schlechte Nahrung geschützt hatte, während die Proletarier von der Regierung – mit was auch immer – genährt werden mußten, wenn sie nicht in offene Empörung ausbrechen sollten. Aber der ärmere Mittelstand muß schon schwer zu tragende Noth gelitten haben, oder der Mangel hätte sich hier nicht so offenkundig und am hellen Tage gezeigt, denn hier gab es kein Verheimlichen mehr, und der Schrei nach Brod tönte von allen Lippen.
Viele bekamen auch Brod, aber in einer Weise, wie ich es nie gewünscht hätte, von unseren Soldaten zu sehen, denn Einzelne von ihnen, Gott sei Dank nur wenige, machten sich die Noth der armen Menschen zu Nutze und eröffneten ein Wuchergeschäft mit der Gottesgabe. Die langen, aber sehr leichten Laibe Weißbrod, ohne die nun einmal der Franzose so wenig existiren kann, daß er lieber Fleisch und Gemüse entbehrt, wenn er nur solches Brod und Wein bekommen kann, wurden zu zwei, drei, ja vier Franken an die Hungrigen verkauft, und wer das Geld hatte, gab es, o so willig! hin. Hunderte aber hatten es nicht. Ein altes Mütterchen mit einem bleichen jungen, recht krank aussehenden Mädchen neben sich, drängte sich vor und streckte die Hand nach einem der Brode aus, die wie zur Schau mitten zwischen den Zinken der spanischen Reiter lagen.
„Was kostet das Brod?“ fragte sie schüchtern.
„Drei Franken – trois Franken,“ sagte ein dabei stehender Soldat und hob, zu besserem Verständniß, drei Finger empor. Die Alte zog scheu die Hand zurück – wo hatte sie drei Franken? – im Nu aber war sie von Anderen, wohl nur ebenso Hungrigen, aber Stärkeren zurückgedrängt und eine kecke Hand streckte sich sogar hinter der Schulter eines Anderen vor, um sich das Brod womöglich ohne Bezahlung anzueignen. Damit war es aber Nichts, denn die Leute hatten darin wahrscheinlich schon Erfahrungen gemacht und paßten wacker auf, und es dauerte auch nicht lange, so war dieses Brod, wie manches andere nachfolgende, an Leute verkauft worden, die keinen Passirschein aufweisen und deshalb auch nicht nach Sèvres hinein konnten, um Lebensmittel dort zu menschlichen Preisen einzuhandeln.
Und immer mehr des Elends drängte sich herbei – Knaben und Mädchen, Männer und Frauen – wildes, ruppiges Gesindel dazwischen, aber auch manches bleiche, abgemagerte Gesicht – Frechheit und Jammer, Rohheit und still duldendes Elend, das nur der Hunger an die deutschen Vorposten trieb, um dort eine Linderung zu finden. Das schwärmte auf und ab, das wogte herüber und hinüber, und wurde zuletzt so arg, daß unsere Soldaten schon den Moment kommen sahen, wo die wahrhaft verzweifelte Menge den Versuch machen würde, die spanischen Reiter bei Seite zu werfen und den Durchgang zu forciren, was sie dann hätten mit den Waffen in der Hand zurückweisen müssen.
Aber der französischen Wache da drüben konnte der hier entstehende Unfug ebensowenig entgehen, und da sie ganz besonderen Auftrag haben mochte, jeden Friedensbruch in dieser Zeit des Waffenstillstandes zu vermeiden, so kam plötzlich ein kleines Commando von Nationalgarde die Brücke entlang und trieb das Volk von den spanischen Reitern fort, und dann einfach zurück nach der französischen Linie an der anderen Seite der Brücke.
Neben mir stand ein alter Landwehrmann, der bis dahin kein Wort geäußert und sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Nun erst, als das hungrige Volk zurückgetrieben wurde, sagte er, indem er langsam mit dem Kopf schüttelte:
„Ich wollte, ich hätte das hier nicht gesehen, denn ich werde es mein Lebtag nicht vergessen. Hol’ der Teufel den Krieg!“
Der Mann hatte vollkommen Recht – auch mir war es bei dem Anblick eisig kalt über den Rücken herunter gelaufen und trotzdem – haben es die Pariser besser gewollt? ja fühlen sie selbst in diesem Augenblick, der sie thatsächlich gedemüthigt zu des Siegers Füßen steht, ihre Niederlage? – Nein und abermals nein, denn wo sich ein Deutscher in Paris, gerade in dieser Zeit, blicken ließ und als solcher erkannt wurde, da konnte er von Glück sagen, wenn ihn die Polizei oder die Nationalgarde in Gewahrsam nahm und in Haft brachte, denn dem Volk überlassen, hätte ihn dieses gesteinigt ober zerrissen. Und trotzdem sandten gerade die Deutschen in jenen Tagen Zug nach Zug mit Lebensmitteln in die schon fast zur Verzweiflung getriebene Stadt, um dem bleichen Hunger zu wehren, der an die Pforten pochte.
Der Abend war inzwischen angebrochen, die Sonne neigte sich wenigstens dem Horizont zu und schien voll und klar noch auf die goldene Kuppel des Invalidendoms, auf welchen die Sèvres-Brücke in schnurgerader Linie zulief. Und nun trafen ganze Schaaren Pariser, die wahrscheinlich Morgens die Stadt schon verlassen hatten und jetzt ihrer Heimath wieder zueilten, an der Brücke ein, um durchgelassen zu werden. Viele davon waren Leute aus den Vorstädten mit blauer Blouse und noch ziemlich gesund aussehenden Gesichtern, die sämmtlich einen Doppelsack über den Schultern trugen und die daheim sehnlichst erwarteten Lebensmittel mitbrachten. Aber auch sehr viele Herren in schwarzen Fracks, mit Cylinderhüten und Glacéhandschuhen sah ich, die den schmutzigen Weg nothgedrungen zu Fuß zurückgelegt hatten – aber Alle, ohne Ausnahme, tragen wenigstens eins der langen schwammigen Weißbrode (an deren Genuß ich mich selber nie habe gewöhnen können) unter dem Arm. Viele thaten das ganz offen und machten sich nichts daraus, wenn ihnen das Mehl am Frack klebte und wenn die Leute sahen, was sie heimbrachten, ja sie waren vielleicht stolz darauf. Andere transportirten ihre Beute, zwei oder drei Brode zusammen, sorgfältig in Papier eingepackt und mit Bindfaden umschnürt. Ja, ich sah sogar ganz anständig gekleidete junge Leute, die sonst vielleicht mit Kneifer und Spazierstock auf den Boulevards flanirten mit einem gewöhnlichen hölzernen Schiebkarren vor sich, in dem sie eine größere Quantität von Lebensmitteln im Triumph heimführten.
Dahin ist es mit den Parisern gekommen, und trotzdem haben noch Pariser Zeitungen die Frechheit, von dem gesetzgebenden Körper zu verlangen daß er entscheiden solle, ob der Krieg weiter geführt, oder Friede geschlossen werde. Sie schwindeln sich vor, daß die Welt mit Bewunderung auf sie blicke, während sie es doch nur mit tiefem Bedauern thut – sie sind immer noch das erste Volk der Welt und halten sich, weil sie Kabylen, Mexikaner und Chinesen besiegt, für die größten Helden der Erde.
Da drüben lagen die Kuppeln der großen prachtvollen Stadt im scheidenden Sonnenlicht – da drüben lag Glanz und Pracht einer Stadt, in die Jahrhunderte ihre Schätze gehäuft, während hier draußen die Kinder derselben um ein Stück Brod bettelten oder elegant gekleidete Herren, den langen Laib Brod unter dem Arm, scheu und verdrossen der preußischen Wache ihren Legitimationsschein vorzeigten, um wieder auf ihr eigenes Terrain gelassen zu werden.
Die Brücke von Sèvres war, wie gesagt, nur für Fußgänger passirbar, auf der von Neuilly dagegen kreuzten die verschiedenen Fuhrwerke aus und ein, und der Verkehr war dort ein viel bedeutenderer, aber gerade hier bei Sèvres zeigte sich das in der Stadt herrschende Elend auch in viel schärferem Grade, und wie sehr auch die französischen Phrasen versuchen mögen es zu übertünchen oder gar wegzuleugnen – wer Zeuge dessen war, was hier geschah, wird es, wie jener Landwehrmann – „nie im Leben vergessen.“
Was ist der Krieg?
Der Krieg ist eine schlimme Lage,
In welche die Gewalt uns preßt;
Der Krieg ist die bescheidne Frage,
Was sich ein Volk wohl bieten läßt.
Der Böses will und Böses schafft;
Ein unnatürlich schlechter Vater,
Schwächt er der eignen Kinder Kraft.
Der Krieg ist nichts, als ein Verschwender,
Ein Jammer-, Noth-, und Sorgenspender
Aus Dünkel oder Uebermuth.
Ein Handel ist’s, bei dem der Krämer
Im Leben keine Seide spinnt;
Sowie der Spieler nichts gewinnt.
Ein Buch, das uns mit jedem Blatte
Nur roher, schlechter, dümmer macht;
Ein Landtag, wo bei der Debatte
Ein Arzt ist’s, der, statt zu curiren,
Nur immer tiefre Wunden schlägt;
Ein Richter, der beim Processiren
Den Preis als Raub von dannen trägt.
Auch nicht den kleinsten Raum erhellt;
Ein falscher Freund, der, irr’ zu leiten,
Sich Volk und Fürsten zugesellt.
A. V.
Das war in heißer Erntezeit, im Sommersonnenbrand, da rief uns auf zum heil’gen Streit das
Vaterland, das Vaterland! In’s Feld, in’s Feld, was Waffen führt! Ein hoher Tag erscheint. An
uns’re deutsche Ehre rührt der welsche Feind! An unsre deutsche Ehre rührt der welsche Feind!
So klang’s vom Rebenstrand des Rheins bis zu der Marken Sand, da waren wir auf einmal eins für’s
Vaterland, für’s Vaterland! Wie Spreu im Hauch des Sturms zerstob in Nichts, was eitel war, und
rauschend seine Schwingen hob der deutsche Aar, Und rauschend seine Schwingen hob der deutsche Aar!
Und brausend durch die Gauen klang der Weckruf fern und nah: Der Franzmann ruft zum Waffengang und
wir sind da, und wir sind da! Aus West und Ost, aus Süd und Nord, erschallt’s: zum Krieg, zum Krieg! Wir
kennen nur ein Losungswort: Tod oder Sieg! Wir kennen nur ein Losungswort: Tod oder Sieg!
Der Franken stolze Heere riß zu Boden deutscher Zorn, und wer da fiel, der trug gewiß die
Wunde vorn! Da ward des Frevlers Macht zu Spott, zerbrochen sein Panier, doch
wir, wir jauchzen: Ew’ger Gott, Dir danken wir! Doch wir, wir jauchzen: Ew’ger Gott, dir danken wir!
Nun danket Dir, o Herr der Welt, das Land Germania! Im Frieden wie im blut’gen Feld sei
Du uns nah’, sei Du uns nah’! Daß nimmer uns ein Streit entzwei’, führ’ uns an Deiner Hand! Er-
halte einig, groß und frei das Vaterland! Erhalte einig, groß und frei das Vaterland!
* Vor Nachdruck wird gewarnt. Die Redaction.
Unsere sächsischen Soldaten. Es war mir ein eigenthümliches, ja fast heimisches Gefühl – obgleich ich doch selber kein geborener Sachse bin, als ich nach Lagny zuerst zwischen die sächsischen Truppen kam und dort wieder den gemüthlichen, singenden Dialect hörte und ihr harmloses Treiben mitten in einem der blutigsten Kriege der Welt beobachten konnte.
Der sächsische Soldat hat sich genau so wacker und tapfer geschlagen wie der preußische und vor Metz und in vielen anderen blutigen Schlachten, besonders hier wieder vor Paris bewiesen, wie todesmuthig er in dem Feuer stand, wie kräftig er den Sieg verfolgen konnte, und doch, welch ein Unterschied zwischen den Beiden in der Ruhezeit! – Im Kampf mögen sie sich vollkommen gleich sein, aber wahrlich nicht in den Zwischenpausen, denn wo der Preuße stets sein mehr ernstes, strammes Wesen bewahrt, da läßt sich der Sachse in seiner angeborenen Gemüthlichkeit vollkommen gehen, und seine gute Laune wie seine fast sprüchwörtlich gewordene Höflichkeit brechen durch.
Als ich von Clichy aus – wohin ich von Lagny mit einem Wagen gefahren war, der die Briefsäcke beförderte – keine weitere Gelegenheit mehr nach der östlichen Einschließung von Paris und zu dem Hauptquartier des Kronprinzen von Sachsen bekommen konnte, schulterte ich meinen Bergsack und wanderte meine Bahn entlang, durch Livery nach Le Vert galant. Die Straße von Livery lag vollkommen menschenleer, nur hie und da an einem Fenster sah ein Soldat heraus und schien lange Weile zu haben. Da öffnete sich plötzlich eine Thür und hinter mir her kam, im bloßen Kopf und einen Pfriemen in der Hand, ein sächsischer Soldat gesprungen, so daß ich stehen blieb und ihn erwartete. Im Nu war er auch heran, schien aber so von einem Gedanken erfüllt, daß er selbst die Begrüßung vergaß. Nur meinen einen Pelzstiefel – ich trug das Paar, zusammengebunden, über der Schulter – nahm er in die Hand, betrachtete ihn genau von allen Seiten und frug mich dann in seinem blühendsten Dialect:
„Heren Se, wo haben Se denn die Pelzstiefeln her?“
Die Worte klangen genau wie ein mehr als angedeuteter Verdacht, daß ich sie irgendwo gestohlen haben konnte. Ich lachte auch und sagte: „aus Wien.“
„Ih sehn Se mal an – machen se die da ooch? Mir arbeiten zu Hause nur in Pelzstiefeln, und mein Vater hat mer geschrieben, daß se jetzt gar nich Hände genug hätten, um sie alle fertig zu bringen.“
Der Mann gehörte mit zur Handwerkercompagnie, die hier einquartiert war und ihre verschiedenen Werkstätten errichtet hatte.
„Na, heren Se,“ sagte er freundlich, „nähmen Sie’s nicht übel und leben Se recht wohl.“ Damit reichte er mir gemüthlich die Hand und trollte sich.
In Le Vert galant nahm mich ein junger Officier freundlich in sein Quartier auf, und der Bursche desselben sorgte ebenfalls mit für meine kleinen Bedürfnisse. Als er den Abend von mir ging, drehte er sich noch einmal in der Thür um und frug:
„Trinken Se Ihren Kaffee schwarz?“
„Ja,“ sagte ich, „so ziemlich.“
„Na, das ist gut,“ meinte er trocken, „mer han ooch jetzt keene Milch.“
Viele Menschen wollen behaupten – während ich nicht solcher Meinung bin – daß alle unsere Soldaten in diesem furchtbaren, von Tag zu Tage rücksichtsloser geführten Kriege verwildern und diese verwilderten Sitten auch nach Hause mit zurückbringen würden. Ich glaube das nicht, denn die nämliche Furcht stieg damals in Amerika mit weit mehr Grund und nach dem blutigen vierjährigen Kampfe auf, ohne daß sie auch nur in einem Punkt begründet gewesen wäre, und so wird es auch hier sein. Die Leute alle sehnen sich in die Heimath zurück, wenn sie auch fest entschlossen sind, vorher das Begonnene durchzuführen, aber erst einmal dort, erst einmal wieder in dem versöhnenden Kreise ihrer Frauen, Mütter und [188] Schwestern, und all dies wilde Leben und wüste Treiben, dem sie so oft folgen mußten, ist vergessen und liegt wie ein Traum hinter ihnen.
Der Deutsche ist, seiner ganzen Erziehung nach, eher weich als hart, und überhaupt von Grund aus gutmüthiger Natur. Das rauhe Leben und Wesen ist ihm nicht angeboren, sondern nur durch die Umstände augenblicklich aufgezwungen, und freudig wird er es abschütteln, sobald er den Fuß auf heimischen Boden setzt. Wie dem aber auch sei, und wenn es wirklich – was Gott verhüten wolle – bei einigen Stämmen noch eine Weile nachhalten sollte – für unsere Sachsen stehe ich ein, und daheim brauchen sie deshalb keine Sorge zu tragen.
Die beiden Illustrationen, welche wir heute aus St. Cloud und Diedenhofen bringen, vermögen wir leider mit keinem erklärenden Text zu begleiten. Die beiden Maler Fr. W. Heine und Chr. Sell haben uns dieselben fast ohne jede weitere Notiz, als die Unterschrift, zugeschickt, und wir halten unter allen Umständen an unserem Grundsatze fest, die erläuternden „Texte“ nicht auf dem Redactionsbureau zu fabriciren. Indessen sprechen die Zeichnungen für sich lebendig genug, und wir bemerken denn nur, daß das Sell’sche Bild nach der Mittheilung des Malers mit der Hauptstraße und der Kirche von Diedenhofen am Tage nach der Capitulation der genannten Festung, am 25. November v. J., aufgenommen ist, während wir hinsichtlich der Heine’schen Illustration auf den Artikel Gerstäcker’s in der heutigen Nummer verweisen. Unsere Leser finden darin die entsetzliche Verwüstung erwähnt, welche St. Cloud erfahren und von welcher nun der Maler ein, wie es scheint, nur allzu getreues Bild gegeben hat.
Von der Südgrenze des Reiches. Der Ernst der Zeit ist nicht im Stande, den in unserem Volke lebenden Humor gänzlich niederzuhalten. Das zeigte ein Maskenspiel, welches an den drei Faschingstagen auf offenem Marktplatze des bairischen Marktfleckens Oberstdorf unter großem Zulauf von Nah und Ferne abgehalten wurde. Die Lage des Dorfes inmitten der acht- bis neuntausend Fuß hohen Bergriesen des Allgäu, berühmt an sich, zeigt auch im Winterkleide die volle Großartigkeit einer Alpenlandschaft; die eis- und schneebedeckten Felsenhäupter, die in den Schauplatz herniederblickten, bildeten eine grandiose Staffage zu dem munteren Treiben der Menschen. Das aufgeführte Spiel nennt sich der „Wildmännli“ – ober „Faunentanz“, der zu Anfang unseres Jahrhunderts von einem Ortsangehörigen aus der Schweiz eingeführt worden sein soll, jedoch unverkennbar auf italienischen Ursprung zurückweist. Die Originalmusik, die unter Leitung des Chorregenten des Ortes von einem gut besetzten Orchester einheimischer Dilettanten aufgeführt wurde, geht in allen Theilen mit dem dargestellten Spiele Hand in Hand. Letzteres ist wohl am besten als ein groteskes Ballet zu bezeichnen.
Die Bühne ist in allen ihren Theilen von lebendem Grün hergestellt, ohne Vorhang. Die „wilden Männer“, ihrer zwölf an der Zahl, beginnen damit, daß sie, streng nach dem Tacte der Musik; zuerst je sechs Arme, hierauf sechs Beine, dann die Köpfe blitzschnell aus den Coulissen strecken, wieder verschwinden, um hierauf nach rascherem Tempo dieselben Gliedmaßen in zuckenden Bewegungen zu zeigen. In den sich hieran reihenden, im Ganzen etlichen zwanzig Gruppirungen treten oder vielmehr hüpfen die „wilden Männer“ paarweise auf die Scene, vereinigen, trennen gruppiren sich, immer in strengem gravitätischem Zeitmaße in der drolligsten Weise, durch welche Pünktlichkeit im Verein mit den treffenden Masken der Darsteller die lachenerregendsten Effecte erzielt werden. Ueber und über in möglichst eng anliegende, dicht mit graugrünem Moose übernähte Gewänder gehüllt, einen soliden Gürtel von Tannengezweige um den Leib, den Kopf mit übergestülpten Masken von Tannen- und Mooswerk bedeckt, so daß nur Augen und Mund frei bleiben, halb Waldgeschöpfe, halb Menschen, bis auf die bemalten Hände herab grün, so vollführen diese „wilden Männer ihre Schwänke, die uns in die Urzeit der Erfindung des Ballets zurückversetzen, deren naive Empfänglichkeit noch von keiner sittengefährdenden Zuthat bedroht war.
Besondere Freude machte mir die Schlußscene des Spieles, in welcher auf einem dreistufigen Postamente eine grünumflochtene weiße Tafel errichtet wurde: oben die deutsche Kaiserkrone, darunter in großen Lettern: „Deutschland hoch!“, das Ganze von schwarz-weiß-rothen Bändern umschlungen. Um dieses erhebende Symbolum gruppirten sich jetzt die Darsteller, um in einem kräftigen Chore das Vaterland, die Freiheit, das deutsche Heer zu feiern, und ihren Gesang nach gutem altem Gebrauche mit einem Labetrunke aus hölzernen Bechern begleitend. Einer der gesungenen Verse mag hier vielleicht wiederholt werden:
„Dem tapfern deutschen Heere singt
Der wilde Mann das Lied,
Und für den deutschen Kaiser springt
Der Faun sich gerne müd’,
Hoch über Klüften und Gestein
Singt er mit frohem Muth,
Und für den freien deutschen Rhein
Giebt Leben er und Blut.“
Siegesdank. Mit Erlaubniß des Verlegers M. Schloß in Köln haben wir genannte Dichtung und Composition aus dem Werke „1870. Zwölf patriotische Männerchöre von Karl Wilhelm“ abgedruckt, welches der berühmte Componist der „Wacht am Rhein“ demnächst zum Besten der Verwundeten und Hinterbliebenen herausgeben wird. Diese „allen deutschen Sanges- und Waffenbrüdern“ gewidmete Sammlung bringt eine Anzahl von Tonschöpfungen des genialen Meisters, die ebenbürtig neben der den Schluß des Büchleins bildenden „Wacht am Rhein“ stehen und bei der Billigkeit des Preises (Partitur 10 Ngr.) gewiß Verbreitung finden wird. Karl Wilhelm bringt mit diesem Liederhefte den Deutschen in der Nähe und Ferne in würdigster Weise seinen Dank dar für die vielen Zeichen der Liebe und der Verehrung, die ihm für die Composition desjenigen Liedes zu Theil geworden sind, dem es in diesem Jahre bestimmt war, in Wahrheit ein deutscher Nationalgesang zu werden.
Für die Freunde des Priesters Herrn Braun. Alle unsere verehrten Leser, welche ihre Theilnahme für den vom Bischof von Passau mit so grausamer Härte verfolgten Priester Thomas Braun so werkthätig bewiesen, können wir mit der Nachricht erfreuen, daß wir durch sie in den Stand gesetzt waren, dem bescheidenen Wunsche des in der Abgeschiedenheit in dem protestantischen Ortenburg lebenden Mannes, der seine traurige Lage schon mit der geringen Summe von fünfzig Gulden aufzubessern hoffte, mit dem mehr als vierfachen Betrage zu entsprechen, ja wir haben sogar bestimmte Aussicht, dieser noch eine zweite Sendung nachfolgen lassen zu können. Herr Braun hat in einem Briefe an die Redaction der Gartenlaube allen seinen freundlichen Wohlthätern seinen herzlichsten Dank ausgesprochen.
gingen wieder ein: Ertrag einer von den Damen M. Göttel, A. Heinze, E. Kopp, B. Müller, Cl. Schmidt und M. Schwartz in Oschatz veranstalteten Lotterie 166 Thlr.; Beitrag von 100 Deutschen in Manchester im Staate New-Hampshire (Amerika) 243 Thlr. 11 Ngr.; gesammelt von einigen Deutschen in Kewanee (Illinois) 61 Thlr.; Ertrag eines Concerts von Deutschen in Indianolo (Texas) 100 Thlr. Gold: 110 Thlr. 19 Ngr.; vom Verein zur Unterstützung deutscher Krieger in Macon, Georgia 430 Thlr.; Sammlung unter Deutschen in Rockhampton (Incensland) (56 Pfd. 19 Sh.) 387 Thlr. 8 Ngr.; K. v. S. in Zwickau 5 Thlr.; S. R. in L. 1 Thlr.; eine deutsche Frau in L. 2 Thlr.; Wilhelmine Horn in Freiburg a. U. 3 Thlr.; A. Maschke in Moskau 1 Thlr.; Concertertrag des Sängervereins in Orlamünde mit Raschhausen 10 Thlr.; Dr. Abendroth in Dresden 2 Thlr.; aus Mühlhausen in Thür. 5 Thlr.; Sitta 1 Thlr.; N. N. in Herrnhut 1 Thlr.; gesammelt beim Stiftungsfest des Turnvereins in Hohenstein 5 Thlr.; Ernst Koch 3 Thlr.; Oberförster A. Kellermann in Paretzky 5 Rubel; Leseverein in Guntersblum (30 fl.) 17 Thlr. 4 Ngr. 2 Pf.; vier- und fünfundzwanzigste Wochensammlung der Klinkhardt’schen Buchdruckerei 6 Thlr. 22 Ngr.; Gustav B. aus Nordrußland 25 Rubel; Sammlung der Gemeinde Bjaschinoe bei Taganrog 75 Rubel; sechster Monatsbeitrag von Al. Wiede 20 Thlr.; sieben- und achtundzwanzigste Sammlung der Officin von Schelter und Giesecke 38 Thlr. 21 Ngr., Frida B. 2 Thlr.; gesammelt am Weihnachtsabend von den Kindern der Schule in Bernbach 2 Thlr. 20 Ngr.; zwei Freundinnen und J. J. Fletcher 4 Thlr. 27½ Ngr.; von einigen Mitgliedern des deutschen Vereins in Stillwater (Minnesota) 60 Thlr.; M. M.: meine für Garderobe bestimmten Ersparnisse 4 fl. rh.; aus Gretchen’s und Paul’s Lucas Sparbüchse 2 Thlr.; Aug. Wolff in Rucyn 10 Rubel; A. D. 1 Thlr.; Ergebniß einer von Frau Rosa Vogt in Kappel bei Chemnitz veranstalteten Vorlesung 31 Thlr.; Leseverein in Herschberg (Rheinpfalz) 2 Thlr. 25 Ngr. 5 Pf.; Andreas Lorenz in Pommritz 10 Thlr.; Erlös für zwei Frauenzöpfe 3 Thlr. 7½ Ngr. und ein Viertelpfund blondes Frauenhaar 2 Thlr. 15 Ngr.
Zur Erfüllung der Bitte des armen Arbeiters in Quittung der Nr. 8 gingen ein: J. F. W. in Ostfriesland 5 Thlr.; H. G. in L–p 2 Thlr. 7½ Ngr.; von einem Vater, dessen geliebte Kinder im Grabe ruhen 2 Thlr.; W. O. in Gotha 2 Thlr.; A. Q. in O. 2 Thlr.; W. F. aus Ntz. 15 Ngr. (für das liebenswürdige Gedicht an die Gartenlaube besten Dank, aber veröffentlichen können wir es nicht); Carl Rr. in Nürnberg 2 Thlr.; Cassa-Rest der Gartenlaubensammlung für die Verwundeten von 1866: 147 Thlr. 7 Ngr. 9 Pf.
Aus Oesterreich gingen ferner ein: Reinertrag des zu Gunsten der Verwundeten vom Akademischen Leseverein in Wien veranstalteten Commerses 429 fl.; zwei kleine deutsche[WS 1] Mädchen in Hohenelbe, anstatt eines Kinderballes 5 fl.; aus Köflach und zwar Bergverwalter Peter 15 fl.; Rechnungsführer Klingler 6 fl.; drei Steiger und Aufseher 6 fl. und ein Theil der Grubenarbeiter 13 fl. 74 Kr. (oder 16 Ngr.); Johannes Goetzger in Wien 5 fl.; Louise Schuster in Mediasch 20 fl.; J. H. in Baja 5 fl.; Sammlung von 15 Schülern der dritten Classe des evangelischen Gymnasiums in Hermannstadt 8 fl.; Sammlung einiger Schüler der zweiten und dritten Classe der Unterrealschule in Schäßburg 7 fl.; bei Gelegenheit eines Maskenballes des Mährisch-Ostrauer Gesangvereins gesammelt von Arthur Lehmann 18 fl.; 1 Thlr. und 20 Ngr.; Joseph Gruber aus Trieben, aus Dankbarkeit für die ihm in Deutschland gewordene humane Aufnahme 4 Thlr.; durch Edmund Campe in Brünn 3 fl. und 2 Thlr. (ein Gulden von den angegebenen 4 fl. fehlte im Briefe; C. B. in Pohnlitz 5 fl.
- ↑ Wer Eva Lessing aus ihren eigenen Aeußerugen kennen lernen will, der lese ihre mit Lessing gewechselten Briefe. Dieselben waren in den bisherigen Ausgaben unter die übrige Correspondenz Lessing’s verstreut, bis sie neuerdings von Dr. Alfred Schöne in Erlangen mit großer Sorgfalt zu einer besonderen Sammlung vereinigt wurden, die kürzlich unter dem Titel „Briefwechsel zwischen Lessing und seiner Frau“ (bei S. Hirzel in Leipzig) erschienen ist.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: dentsche