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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[321]

No. 21.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
1.

„Na, jetzt sag’ mir nur um Gotteswillen, wo willst Du denn eigentlich hin, Hellwig?“

„Direct nach X.[WS 1], wenn Du erlaubst!“ klang es halb trotzig, halb spöttisch zurück.

„Aber dahin geht es doch in seinem ganzen Leben nicht über eine Anhöhe! … Du bist nicht gescheidt, Hellwig. … Heda, ich will aussteigen! Ich habe durchaus keine Lust, mich umwerfen zu lassen und meine heilen Knochen einzubüßen – wirst Du wohl halten?“

„Umwerfen? Ich? … I, das wäre doch das erste Mal in meinem Leben“ wollte er vermuthlich sagen! aber ein entsetzlicher Krach erfolgte, und mit demselben verstummten die Lippen des Sprechenden wie die eines Todten. Das Schnauben und Stampfen eines Pferdes wurde für einen Augenblick hörbar; dann stand das Thier auf seinen vier Hufen und jagte wie rasend querfeldein.

„Na, da haben wir die Bescheerung!“ brummte endlich der erste Sprecher, indem er sich auf dem nassen, frisch gepflügten Ackerfeld aufsetzte. „He, Hellwig, Böhm, seid Ihr noch am Leben?“

„Ja,“ rief Hellwig nicht weit von ihm und tastete suchend auf den triefenden Erdschollen nach seiner Perrücke. Alles Selbstvertrauen, aller Spott waren wie weggeblasen von dieser schwachen Stimme. Auch das dritte Opfer versuchte es zunächst mit einer Bewegung auf allen Vieren, wobei es entsetzlich fluchte und stöhnte; denn seine gewaltige Corpulenz fühlte sich unwiderstehlich zur Mutter Erde hingezogen. Endlich war die edle Stellung, die den Menschen als die bevorzugteste Creatur in Gottes weiter Schöpfung kennzeichnet, wiedergewonnen, die drei Gefallenen standen auf ihren Füßen und besannen sich, was eigentlich geschehen sei und was nun geschehen müsse.

Für’s Erste lag die kleine Chaise, in welcher die drei Herren heute Morgen ihr Vaterstädtchen X. verlassen hatten, um zu jagen, umgestürzt neben der unglückseligen Anhöhe und zeigte dem Himmel ihre vier Räder, wie die Drei tastend bemerkten; der Hufschlag des entfliehenden Rappen war längst verhallt, und eine stockfinstere Nacht bedeckte die traurigen Folgen des Hellwig’schen Selbstvertrauens.

„Na, hier übernachten können wir nicht – das steht fest. Machen wir, daß wir fortkommen!“ mahnte endlich Hellwig mit ermuthigter Stimme.

„Ja, nun commandire auch noch!“ grollte der Dicke, indem er sich heimlich überzeugte, daß nicht eine seiner Rippen; sondern die Scherben seines schönen Pfeifenkopfes das beängstigende, knirschende Geräusch an seiner Herzwand verursachten. „Commandire auch noch, das steht Dir gut an, nachdem Du um ein Haar in Deinem schandbaren Leichtsinn zwei Familienväter gemordet hättest. … Uebernachten will ich freilich nicht in dieser Löwengrube; aber nun siehe Du auch, wie Du Rath schaffst… Nicht zehn Pferde bringen mich ohne Licht von dieser Stelle! Ich versinke zwar im Ackerschlamm, und von da drüben her kömmt eine Luft, die mir für ein halbes Jahr meinen Rheumatismus in die Knochen jagt – da drein ergebe ich mich, Du magst es verantworten, Hellwig! Aber ich werde nicht so verrückt sein, mir muthwillig in den tausend Löchern und Gräben, die diese gesegnete Gegend aufzuweisen hat, Arme und Beine zu brechen, oder die Augen einzuschlagen.

„Sei kein Narr, Doctor,“ sagte der Dritte. „Du kannst nicht wie ein Meilenzeiger abwechselnd auf einem Bein hier stehen und abwarten, bis Hellwig und ich in die Stadt tappen und Hülfe holen. Ich hatte längst gemerkt, daß dieser ausgezeichnete Rosselenker zu viel nach links fuhr. Wir gehen jetzt schnurstracks über den Acker nach rechts und kommen an den Fahrweg, dafür stehe ich ein. Und nun komme und mache keine Flausen; denk’ an Weib und Kind, die vielleicht jetzt schon jammern und schreien, weil Du bei der Abendsuppe fehlst.“

Der Dicke brummte etwas von „heilloser Wirthschaft“ in den Bart; aber er verließ seinen Posten und tappte mit den Anderen vorwärts. Das war ein schreckliches Stück Arbeit! Faustdick hingen sich Erdsohlen an die Jagdstiefeln, und hier und da sank ein unsicher tappender Fuß mit aller Vehemenz in eine Pfütze, deren alterirter Wasserspiegel sich sofort in Fontainenform über die Köpfe und Flausröcke der drei Unglücklichen ergoß. Sie erreichten aber doch ohne ernstlichen Unfall den Fahrweg, und nun wurde tapfer und wohlgemuth d’rauf los geschritten. Selbst der Doctor gewann allmählich seine gute Laune wieder; er brummte mit einem fürchterlichen Baß: „Zu Fuß sind wir gar wohl bestellt, juchhe!“ etc.

In der Nähe der Stadt tauchte ein Licht aus der Finsterniß auf; es kam in stürmischer Eile auf die Wandernden zu, und Hellwig erkannte alsbald in dem breiten, fröhlich lachenden Gesicht, das sich in greller Beleuchtung über der Laterne erhob, seinen Hausknecht Heinrich.

„Ja, Herr Je, Herr Hellwig, sind Sie’s denn wirklich?“ schrie der Bursche. „Die Madame denkt, Sie liegen mausetodt da draußen!“

„Woher weiß denn meine Frau schon, daß wir Unglück gehabt haben?“

„Ja seh’n Sie, Herr Hellwig, da ist heute Abend eine [322] Kutsche mit Spielern angekommen“ – der ehrliche Bursche hatte für Schauspieler, Taschenspieler, Seiltänzer und dergl. nur diese eine Rubrik – „und wie die Kutsche in den Löwen eingefahren ist, da war das Beest, unser Rappe, hintend’ran, als ob er dazu gehörte. Der Löwenwirth kennt ihn ja, unsern Alten, und hat ihn gleich selbst gebracht… Na, aber der Schreck von der Madame! Sie hat mich gleich fortgeschickt mit der Laterne, und Friederike muß einen Camillenthee kochen.“

„Camillenthee? … Hm, ich meine, ein Glas Glühwein, oder wenigstens ein Warmbier wäre vielleicht zweckmäßiger gewesen.“

„Ja, das meinte ich auch, Herr Hellwig; aber Sie wissen ja, wie die Madame –“

„Schon gut, Heinrich, schon gut. Jetzt gehe Du voran mit der Laterne. Wir wollen machen, daß wir heimkommen.“

Auf dem Marktplatz trennten sich die drei Leidensgefährten mit stummem Händedruck; der eine, um pflichtschuldigst seinen Camillenthee zu trinken, und die anderen in dem niederschlagenden Bewußtsein, daß ihrer eine Gardinenpredigt daheim warte. Denn die Frauen waren der „noblen Passion“ ihrer Eheherren ohnehin nicht hold, und nun lag die Jagdbeute, das einzige Beschwichtigungsmittel, zerquetscht draußen unter der umgestürzten Chaise, und das mit zähem Schlamm bedeckte Jagdcostüm verwandelte sicherlich schon die erste Umarmung in einen jähen Zornausbruch.

Am anderen Morgen klebten an allen Straßenecken rothe Zettel, welche die Ankunft des berühmten Escamoteur Orlowsky und seine ausgezeichneten Kunstleistungen ankündigten, und eine junge Frau ging von Haus zu Haus, um Billets zu den Vorstellungen anzubieten… Sie war sehr schön, diese Frau, mit ihrem prächtigen, blonden Haar und der imposanten Gestalt voll Adel und Anmuth; aber das liebliche Gesicht war blaß, „blaß wie der Tod,“ sagten die Leute, und wenn sie die goldig bewimperten Lider hob, was nicht häufig geschah, da brach ein rührend sanfter, aber thränenvoller Blick aus den dunkelgrauen Augensternen.

Sie kam auch in Hellwig’s Haus, das stattlichste am Marktplatz.

„Madame,“ rief Heinrich in das große Zimmer im Erdgeschoß, während er den hellpolirten Messingknopf an der glänzend weißen Thür in der Hand behielt, „die Spielersfrau ist draußen!“

„Was will sie?“ rief eine weibliche Stimme streng zurück.

„Ihr Mann spielt morgen, und da möchte sie gern eine Karte an die Madame verkaufen.“

„Wir sind anständige Christen und haben kein Geld für solche Faxereien – schick’ sie fort, Heinrich!“

Der Bursche schloß die Thür wieder. Er kratzte sich hinter den Ohren und machte ein sehr verlegenes Gesicht; denn die „Spielersfrau“ mußte ja jedes Wort gehört haben. Sie stand auch einen Augenblick wie zusammengebrochen vor ihm; eine fliegende Röthe war in ihr bleiches Gesicht getreten, und ein schwerer Seufzer hob ihre Brust… Da wurde leise ein kleines Fenster geöffnet, das in die Hausflur mündete; eine unterdrückte Männerstimme verlangte ein Billet – es wurde in Empfang genommen, und ein harter Thaler glitt dafür in die Hand der jungen Frau. Ehe sie nur aufblicken konnte, war der Fensterflügel wieder geschlossen, und ein grüner Vorhang hing in dichten, undurchdringlichen Falten hinter den Scheiben. Heinrich öffnete mit einem linkischen Kratzfuß und gutmüthig lächelnd die Hausthür und die Frau schwankte hinaus, schwankte weiter auf dem Weg voller Dornen und Stacheln.

Der Hausknecht nahm ein Paar blankgewichster Stiefeln, die er vorhin, bei dem Erscheinen der Frau, niedergesetzt hatte, wieder auf und trat in das Zimmer seines Herrn, der sich uns jetzt im vollen Tageslicht als einen kleinen, älteren Mann mit einem mageren, blassen, aber unendlich gutmüthigen Gesicht zeigt.

„Ach, Herr Hellwig,“ meinte Heinrich, nachdem er die Stiefeln an dem gehörigen Platz gestellt hatte, „das war wirklich recht schön, daß Sie eine Karte gekauft haben! Die arme Frau sieht ja aus, wie’s Leiden Christi; sie dauert mich, und wenn zehnmal ihr Mann sein Brod nicht ehrlich verdient… Er hat hier so kein Glück – denken Sie einmal an mich, Herr Hellwig!“

„Warum denn nicht, Heinrich?“

„Ja, weil der Racker, unser Rappe, sich wie eine Klette an den Wagen gehängt hat, wie er zum Thor hereingefahren ist – das bedeutet nichts Gutes – das Unglücksvieh kam ja justament von einem Unglücksplatze… Passen Sie ‘mal auf, Herr Hellwig, was ich gesagt habe, die Leute haben kein Glück!“

Er schüttelte seinen dicken Kopf und ging, da sein Herr auf die Prophezeiung hin weder ein Für noch Wider verlauten ließ, wieder in die Hausflur, um die Strohmatte vor der Thür der gestrengen Madame regelrecht zu placiren; die fremde Frau hatte unbewußt mit deim Fuß daran gestoßen.


2.

Der Rathhaussaal war gedrängt voll Zuschauer und immer noch strömten die Menschen die Treppe herauf. Heinrich stand im dichtesten Gedränge und suchte sich schimpfend Luft zu machen mittels derber Püffe und heimlicher Attaken auf die Hühneraugen seiner Nächsten. „Herr Jesus, wenn das die Madame wüßte, das gäb’ ein Donnerwetter! – Der Herr müßte gleich morgen in aller Frühe zur Beichte,“ flüsterte er vergnüglich schmunzelnd einem Nachbar zu, indem er seinen schwieligen Zeigefinger nach einem der erhöhten Sitze an der Seitenwand des Saales ausstreckte. Dort saß Herr Hellwig in Gesellschaft seines Leidensgefährten, des Doctor Böhm. Es hatte dem ehrlichen Burschen Mühe genug gekostet, seinen schmächtigen Herrn herauszufinden; denn die Honoratioren waren stark vertreten. Das Programm versprach aber auch lauter neue Wunderdinge, und der Schluß desselben lautete folgendermaßen:

„Madame d’Orlowsky erscheint als Schildjungfrau. Sechs Mann Militär werden mit scharfgeladenem Gewehr auf sie schießen, und sie wird mit einem Hieb ihres Schwertes die sechs Kugeln in der Luft zerhauen.“

Die Bewohner von X. waren hauptsächlich gekommen, um sich von der Wahrheit dieses Wunders überzeugen zu lassen. Die schöne, junge Frau hatte das allgemeine Interesse geweckt, und Jeder mochte gern wissen, wie sie wohl aussähe, wenn sie die Feuerrohre auf sich gerichtet wüßte… Es gelang übrigens auch dem Taschenspieler, die Aufmerksamkeit des Publicums für seine Kunstleistungen zu gewinnen. Er war, was die Frauen einen interessanten Mann zu nennen pflegen. Mittelgroß, von schlanker, biegsamer Gestalt, mit regelmäßigen, aber bleichen Zügen, braunen Locken und ausdrucksvollen Augen, zeigte er sehr elegante Manieren, und sein eigenthümlich klingendes Deutsch, das ihn als den Sohn jenes unglücklichen, auseinander gerissenen Volkes kennzeichnete, machte ihn noch anziehender… Das Alles war aber sofort vergessen, als die annoncirten sechs Soldaten unter Commando eines Unterofficiers aufmarschirten. Ein Geräusch entstand im Publicum, wie das Tosen einer Brandung – dann folgte plötzlich bängliche Stille.

Der Pole trat an einen Tisch und machte die Patronen angesichts des Publicums. Mit einem Hammer klopfte er auf jede einzelne Kugel, um die athemlosen Zuschauer durch den Klang zu überzeugen, daß es wirkliche, zweilöthige Gewehrkugeln seien. Dann gab er jedem der Soldaten eine Patrone und ließ vor den Augen des Publicums laden… Der Taschenspieler klingelte.

Gleich darauf trat die Frau hinter einem breiten Schirm hervor. Sie schritt langsam seitwärts und stellte sich den Soldaten gegenüber. Es war eine wundervolle Erscheinung; den linken Arm deckte der Schild, und in der Rechten hielt sie das Schwert. Ein weißes Gewand floß in reichen Falten auf die Füße nieder; um die Hüften legten sich silberglänzende Schuppen, und ein strahlender Harnisch deckte die herrliche Büste… Was war aber all’ dieser Glanz gegen den matten Goldschimmer der Haarwellen, die unter dem Helm hervorquollen und fast bis auf den Saum des Gewandes herabfielen!

Das bleiche, schwermüthige Gesicht richtete den traurigen Blick auf die Mündungen der todbringenden Waffen, die hinüber starrten. Keine Wimper zuckte. Nicht die leiseste Bewegung war an dem leicht wallenden Gewand zu bemerken – sie stand dort wie ein Steinbild… Das letzte Commando schallte durch den todtenstillen Saal; die sechs Schüsse krachten wie aus einem Rohr -– sausend durchschnitt das Schwert die Luft, und zwölf halbe Kugeln rasselten auf den Boden.

Einen Augenblick noch sah man die hohe Gestalt der Schildjungfrau unbeweglich stehen – der Pulverdampf verwischte ihre Züge, und nur matt schimmerte die Rüstung durch die Wolke … dann schwankte sie plötzlich, Schild und Schwert sanken klirrend zu Boden, mit der Rechten griff sie, wie nach einem Halt suchend, krampfhaft zuckend in die Luft und taumelte mit dem herzzerreißenden Schrei: „O Gott, ich bin getroffen!“ in die Arme ihres herbeieilenden [323] Mannes … Er trug sie hinter den Schirm und stürzte gleich darauf wie ein Rasender auf die Soldaten zu.

Sie hatten sämmtlich die Weisung erhalten, beim Laden der Gewehre die Kugeln abzubeißen und im Mund zu behalten, das war das ganze Wunder. Einer derselben jedoch, ein ungelenkes Bauernkind, hatte, völlig verwirrt durch den Anblick der versammelten Menschenmenge, in jenem verhängnißvollen Moment den Kopf verloren – als die fünf Anderen auf den leidenschaftlich herausgestoßenen Befehl des Taschenspielers die Kugeln sofort aus dem Munde holten, da brachte er zu seinem eigenen Entsetzen ein wenig Pulver zum Vorschein – seine Kugel hatte die unglückliche Frau durchbohrt.

Die Züge des Polen verzerrten sich bei diesem Ergebniß in Schmerz und Verzweiflung, und er schlug, ganz außer sich, den unfreiwilligen Verbrecher in’s Gesicht.

Augenblicklich entstand eine unglaubliche Verwirrung im Saale. Mehrere Damen wurden ohnmächtig, und zahllose Stimmen schrieen nach einem Arzt. Doctor Böhm aber, der den Vorfall schneller begriffen hatte, als alle Anderen, war schon längst hinter dem Schirm bei der Verwundeten. Als er endlich mit erblaßtem Gesicht wieder hervortrat, sagte er leise zu Hellwig: „Muß ohne Gnade sterben, das arme, prächtige Weib!“

Eine Stunde später lag die Frau des Taschenspielers auf einem Bett im Gasthof zum Löwen. Man hatte sie auf einem Sopha aus dem Saal getragen; Heinrich war einer der Träger gewesen. „Na, Herr Hellwig, hatte ich Recht oder Unrecht mit dem Unglücksvieh, dem Rappen?“ hatte er seinen Herrn im Vorübergehen gefragt, und dabei waren ihm dicke Thränen über die Backen gelaufen.

Die Frau lag still, mit geschlossenen Augen da. Ihre entfesselten Haare fielen in einzelnen Strähnen über die weißen Kissen und den Bettrand hinab, und die goldigen Spitzen ringelten sich auf dem dunklen Fußteppich.… Vor dem Bett kniete der Taschenspieler; die Hand der Verwundeten ruhte auf seinem Kopfe, den er tief eingewühlt hatte in die Bettdecke.

„Schläft Fee?“ flüsterte die Frau fast unhörbar, während sie mühsam die Lider öffnete.

Der Taschenspieler hob den Kopf und nahm die bleiche Hand zwischen die seinigen.

„Ja,“ murmelte er mit schmerzverzogenen Lippen. „Die Tochter des Hauses hat sie mitgenommen in ihr Schlafzimmer; sie liegt dort in einem weißen Bettchen – unser Kind ist gut aufgehoben, Meta, mein süßes Leben.“

Die Frau blickte mit einem unaussprechlichen Ausdruck innerer Leiden auf ihren Mann, dem die Verzweiflung aus den Augen glühte.

„Jasko – ich sterbe!“ seufzte sie.

Der Taschenspieler sank auf den Teppich zurück und wand sich wie in den heftigsten körperlichen Schmerzen.

„Meta, Meta, gehe nicht von mir!“ rief er außer sich. „Du bist das Licht auf meinem dunklen Wege! Du bist der Engel, der die Dornen meines verfehmten Berufes sich in’s Herz gestoßen hat, damit sie mich nicht berühren sollten! … Meta, wie soll ich leben, wenn Du nicht mehr neben mir stehst mit dem behütenden Auge und dem Herzen voll unsäglicher Liebe? Wie soll ich leben, wenn ich Deine berauschende Stimme nicht mehr höre, Dein himmlisches Lächeln nicht mehr sehe? Wie soll ich leben mit dem marternden Bewußtsein, daß ich Dich an mich gerissen habe, um Dich namenlos elend zu machen? … Gott, Gott, da droben, Du kannst mich nicht in diese Hölle stoßen! …“ Er weinte leise. „Ich will erst sühnen, was ich an Dir gefrevelt habe, Meta. Ich will für Dich arbeiten, ehrlich arbeiten, bis mir das Blut unter den Nägeln hervorspringt – ich will arbeiten mit Hacke und Spaten. Wir wollen uns still und zufrieden in einen Winkel der Erde zurückziehen“ – er riß das schwarze, mit Goldflittern besäete Sammetwamms von den Schultern – „fort mit dem Plunder! Er soll mich nie mehr berühren… Meta, bleibe bei mir, wir wollen ein neues Leben anfangen!“

Ein schmerzliches Lächeln flog um die Lippen der Sterbenden. Mühsam erhob sie den Kopf; er schob seinen Arm unter und preßte mit der linken Hand ihr Gesicht wie wahnsinnig an seine Brust.

„Jasko, fasse Dich – sei ein Mann!“ stöhnte sie; ihr Haupt sank wie leblos zurück, aber sie öffnete die halb gebrochenen Augen wieder, und es schien, als klammere sich die scheidende Seele noch einmal verzweiflungsvoll an die zusammenbrechende Hülle – diese Lippen, die in Staub zerfallen sollten, mußten noch einmal sprechen; das Herz durfte nicht stillstehen und die Qualen unausgesprochener Mutterangst mit unter die Erde nehmen.

„Du bist ungerecht gegen Dich selbst, Jasko,“ sagte sie nach einer Pause, während welcher sie noch einmal den Rest ihrer Kräfte zusammengerafft hatte; „ich bin nicht elend geworden durch Dich… Ich bin geliebt worden, wie selten ein Weib, und diese Jahre des Liebesglückes wiegen wohl ein ganzes, langes Menschenleben auf… Ich habe gewußt, daß ich dem Taschenspieler meine Hand reiche – ich bin aus dem Vaterhause, das mich um meiner Liebe willen verstieß, hellen Blickes gegangen, um an Deiner Seite zu leben… Wenn Schatten mein Glück getrübt haben, so trifft mich, mich allein die Schuld, die ich meine Kraft überschätzt hatte und die kleinmüthig zusammenbrach unter der Misère Deiner Stellung… Jasko,“ fuhr sie leiser fort, „den Mann erhebt der Gedanke, daß seine Kunst, gleichviel welche, ihn adle, über die engherzigen Ansichten der Menschen – das Weib aber zuckt unter den Nadelstichen einer geringschätzenden Behandlung… O Jasko, die Sorge um Fee macht meine Sterbestunde zu einer qualvollen, schrecklichen! Ich beschwöre Dich, halte das Kind fern von Deinem Beruf!“

Sie faßte nach seiner Hand und zog sie an sich. Ihre ganze Seele drängte sich noch einmal in diese schönen Augen, die sich binnen Kurzem verdunkeln sollten im Todeskampf.

„Ich fordere unsäglich Schweres von Dir, Jasko!“ fuhr sie flehentlich fort. „Trenne Dich von Fee – gieb sie unter die Obhut einfacher, braver Menschen, lasse sie inmitten eines ruhigen, stillen Familienlebens aufwachsen – versprich mir das, mein einzig geliebter Mann!“

Mit von Thränen erstickter Stimme gelobte es ihr der Mann. Es folgte eine schreckliche Nacht, der Todeskampf wollte nicht enden. Als aber das Frühroth durch die Fenster brach, da warf es seine Rosen auf eine schöne Frauenleiche, deren verklärte Züge die Kämpfe der letzten Stunden nicht mehr ahnen ließen. Orlowsky hatte sich über die erkaltende Hülle geworfen, und nur der Anstrengung mehrerer Männer gelang es, ihn hinwegzureißen und in ein anderes Zimmer zu bringen.

Am dritten Tag gegen Abend wurde die „Spielersfrau“ unter großem Zudrang zur Erde bestattet. Mitleidige Herzen hatten den Todtenschrein mit Blumen bedeckt, und unter den angesehenen Männern der Stadt, die im Leichenzug schritten, war auch Hellwig. … Der Taschenspieler brach zusammen, als die ersten Schollen auf den Sarg fielen; aber Hellwig, der neben ihm stand, stützte ihn und führte ihn in die Stadt zurück. Er blieb mehrere Stunden allein bei dem Tiefgebeugten, der bis dahin jeden Zuspruch heftig zurückgewiesen und sogar versucht hatte, Hand an sich zu legen. … Die an der Thür des Sterbezimmers vorüber gingen, hörten bisweilen ein heftiges Aufschluchzen des unglücklichen Mannes, oder Ausbrüche leidenschaftlicher Zärtlichkeit, auf die süßes Kindergeschwätz antwortete – sie klangen herzzerreißend zusammen, jene thränenerstickte Stimme und die lachenden Silbertöne des Kindes.


3.

Der Abend war weit vorgerückt. Ein scharfer Novemberwind fegte durch die Straßen, und die ersten Schneeflocken taumelten auf Dächer und Straßenpflaster und auf die dunkle, frisch aufgeworfene Erde des Grabhügels, der sich über der jungen Frau des Polen wölbte.

„Inmitten des Hellwig’schen Wohnzimmers stand ein gedeckter Tisch. Es waren massive, silberne Bestecke, die neben den Tellern lagen, und das weiße Damasttischtuch hatte Atlasglanz und zeigte ein prachtvolles Muster. Die Lampe stand auf dem kleinen, runden Sophatisch, hinter welchem die Frau Hellwig saß und an einem langen, wollenen Strumpfe strickte. Sie war eine große, breitschultrige Frau im Anfang der vierziger Jahre. Vielleicht war dies Gesicht im Schimmer der Jugend schön gewesen, wenigstens hatte das Profil jene classische Linie, welche die Gesetze der regelmäßigen Schönheit verlangen; aber hinreißenden Zauber hatte diese Frau wohl nie besessen. Und mochte ihr großes Auge auch noch so schöngeschnitten und glänzend, ihr Teint noch so strahlend gewesen sein, sie hatten sicher nicht jenen Schmelz zu ersetzen vermocht, den ein reiches Seelenleben über die Züge haucht – wie hätte sich dies Gesicht so versteinern können bei innerer Wärme? [324] Wie wäre es möglich gewesen, nach einer Jugend voll seligen Gebens und Nehmens, nach den zahllosen Anregungen und Empfindungen, die das Leben in der empfänglichen Seele weckt, noch so eisig zu blicken, wie diese starren, grauen Augen blickten? … Ein dunkler Scheitel legte sich in einer strengen, festen Linie um die noch immer weiße Stirn. Das übrige Haar dagegen verschwand unter einem Mullhäubchen von tadelloser Frische. Diese Kopfbedeckung und ein schwarzes Kleid von gesucht einfachem Schnitt mit enganliegenden Aermeln und schmalen, weißen Manschettenstreifen am Handgelenk gaben der gesammten Erscheinung etwas Puritanerhaftes.

Dann und wann wurde eine Seitenthür geöffnet, und das runzelvolle Gesicht einer alten Köchin erschien forschend in der Spalte.

„Noch nicht, Friederike!“ sagte Frau Hellwig jedes Mal mit eintöniger Stimme, ohne aufzublicken; aber die Nadeln flogen immer rascher durch die Finger und ein eigenthümlicher Zug von Verbissenheit lagerte um die schmalen Lippen. Die alte Köchin wußte genau, daß ‚die Madame‘ ungeduldig sei; sie liebte es, zu schüren, und rief endlich in weinerlichem Ton in das Zimmer:

„Du lieber Gott, wo aber auch nur der Herr bleibt! Der Braten wird schlecht, und wann soll ich denn heute fertig werden?“

Diese Bemerkung trug ihr zwar eine Rüge ein, denn Frau Hellwig litt es nicht, daß ihre Leute unaufgefordert ihre Meinung äußerten; aber sie zog sich vergnüglich sammt ihrem Verweis in die Küche zurück, hatte sie doch gesehen, daß die Madame nun auch eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen hatte.

Endlich wurde die Hausthür aufgemacht. Der volle, tiefe Klang der Thürglocke scholl durch die Hausflur.

„Ach, das hübsche Klingkling da oben!“ rief draußen eine klare Kinderstimme.

Frau Hellwig legte den Strickstrumpf in ein vor ihr stehendes Körbchen und erhob sich. Befremden und Erstaunen hatten den Ausdruck der Ungeduld verdrängt – sie sah gespannt über die Lampe hinweg nach der Thür. Draußen kratzte Jemand unzählige Male mit den Füßen über die Strohmatte, das war ihr Mann. Gleich darauf trat er in das Zimmer und ging mit etwas unsicheren Schritten auf seine Frau zu. Er trug ein kleines Mädchen, das ungefähr vier Jahre alt sein mochte, auf dem Arme.

„Ich bringe Dir hier etwas mit nach Hause, Brigittchen,“ sagte er bittend, aber er verstummte sogleich wieder, als sein Auge das seiner Frau traf.

„Nun?“ fragte sie, ohne sich zu bewegen.

„Ich bringe Dir ein armes Kind –“

„Wem gehört es?“ unterbrach sie ihn kalt.

„Dem unglücklichen Polen, der seine junge Frau auf eine so schreckliche Weise verloren hat. … Liebes Brigittchen, nimm die Kleine gütig auf!“

„Doch wohl nur für diese Nacht?“

„Nein – ich habe dem Mann heilig versprochen, daß das Kind in meinem Hause aufwachsen soll.“

Er sprach diese Worte rasch und fest; denn es mußte ja doch einmal gesagt werden.

Das weiße Gesicht der Frau war plötzlich mit einer hellen Röthe übergossen, und ein schneidender Zug flog um ihre Lippen. Sie verließ ihren bisherigen Platz um einen Schritt und tippte mit einer unbeschreiblich malitiösen Bewegung den Zeigefinger gegen die Stirn.

„Ich fürchte, es ist nicht richtig bei Dir, Hellwig,“ sagte sie. Ihre Stimme hatte noch immer die kalte Ruhe, was in diesem Augenblick um so verletzender klang. „Mir, mir eine solche Zumuthung? … Mir, die ich mein Haus zu einem Tempel des Herrn zu machen suche, Komödiantenbrut unter das Dach zu bringen, dazu gehört mehr noch, als – Einfalt.“

Hellwig fuhr zurück, und ein Blitz zuckte aus seinen sonst so gutmüthigen Augen.

„Du hast Dich gewaltig geirrt, Hellwig!“ fuhr sie fort. „Ich nehme dies Kind der Sünde nicht in mein Haus – das Kind eines verlorenen Weibes, das so sichtbarlich vom Strafgericht des Herrn ereilt worden ist.“

„So – ist das Deine Meinung, Brigitte? Nun, so frage ich Dich, welcher Sünden hatte sich Dein Bruder schuldig gemacht, als er auf der Jagd von einem unvorsichtigen Schützen erschossen wurde? Er war seinem Vergnügen nachgegangen – das arme Weib aber starb in Erfüllung einer schweren Pflicht.“

Das Blut wich der Frau aus dem Gesicht, sie wurde plötzlich kreideweiß. Einen Moment schwieg sie und richtete das Auge erstaunt und lauernd zugleich auf ihren Mann, der plötzlich eine solche Energie ihr gegenüber entwickelte.

Währenddem zog das kleine Mädchen, das Hellwig auf den Boden gestellt hatte, die rosenfarbene Capuze herunter, und ein reizendes Köpfchen voll kastanienbrauner Locken kam zum Vorschein; auch das Mäntelchen flog zur Erde… Wie verhärtet mußte das Herz der Frau sein, daß sie nicht sofort beide Arme ausbreitete und das Kind kosend an die Brust drückte! War sie völlig blind gegen den unsäglichen Liebreiz der kleinen Gestalt, die auf den zierlichsten Füßchen, die je in einem Kinderschuh gesteckt, durch das Zimmer trippelte und mit großen Augen die neue Umgebung betrachtete? … Das rosige Fleisch der runden Schultern quoll aus einem hellblauen Wollkleidchen, dessen Bändchen und Säume zierliche Stickerei zeigten – vielleicht war dieser Schmuck des Lieblings die letzte Arbeit der Hände gewesen, die nun im Tode erstarrt waren.

Aber gerade der elegante Anzug, der ungezwungene, geniale Fall der Locken auf Stirn und Hals, die graziösen Bewegungen des Kindes empörten die Frau.

„Nicht zwei Stunden möchte ich diesen Irrwisch um mich leiden,“ sagte sie plötzlich, ohne auf die eclatante Zurechtweisung ihres Mannes auch nur eine Silbe zu erwidern. „Das zudringliche, kleine Ding mit den wilden Haaren und der entblößten Brust paßt nicht in unseren ernsthaften, strengen Haushalt – das hieße geradezu der Leichtfertigkeit und Liederlichkeit Thür und Thor öffnen… Hellwig, Du wirst diesen Zankapfel nicht zwischen uns werfen, sondern dafür sorgen, daß die Kleine wieder zurückgebracht wird, wo sie hingehört.“

Sie öffnete die Thür, die nach der Küche führte, und rief die Köchin herein.

„Friederike, ziehe dem Kind die Sachen wieder an,“ befahl sie, auf Capuze und Mantel der Kleinen deutend, die noch am Boden lagen.

„Du gehst augenblicklich in die Küche zurück!“ gebot Hellwig mit lauter, zorniger Stimme und zeigte nach der Thür.

Die verblüffte Magd verschwand.

„Du treibst mich zum Aeußersten durch Deine Härte und Grausamkeit, Brigitte!“ rief der erbitterte Mann. „Schreibe es daher Dir und Deinen Vorurtheilen zu, wenn ich Dir jetzt Dinge sage, die sonst nie über meine Lippen gekommen wären… Wem gehört das Haus, das Du, wie Du sehr irriger Weise behauptest, zu einem Tempel des Herrn gemacht haben willst? – Mir … Brigitte, Du bist auch als arme Waise in dies Haus gekommen – im Lauf der Jahre hast Du das vergessen, und, Gott sei es geklagt, je eifriger Du an diesem sogenannten Tempel gebaut, je mehr Du Dich befleißigt hast, den Herrn und die christliche Liebe und Demuth auf den Lippen zu führen, um so hochmüthiger und hartherziger bist Du geworden… Dies Haus ist mein Haus, und das Brod, welches wir essen, bezahle ich, und so erkläre ich Dir entschieden, daß das Kind bleibt, wo es ist… Und ist Dein Herz zu eng und liebeleer, um mütterlich für die arme Waise zu fühlen, so verlange ich wenigstens von meiner Frau, daß sie in Rücksicht auf meinen Willen dem Kind den nöthigen, weiblichen Schutz zu Theil werden läßt… Wenn Du nicht Dein Ansehen bei unseren Leuten verlieren willst, so triff jetzt die nöthigen Anordnungen zur Aufnahme des Kindes – außerdem werde ich die Befehle geben.“

Nicht ein Wort mehr kam über die weißgewordenen Lippen der Frau. Jede Andere würde wohl in einem solchen Augenblick der völligen Ohnmacht zu der letzten Waffe, den Thränen, gegriffen haben; aber diese kalten Augen schienen den süßen, erleichternden Quell nicht zu kennen. Dieses völlige Verstummen, diese eisige Kälte, mit der sich die ganze Frauengestalt förmlich panzerte, hatte etwas Beängstigendes und mußte jedem Anderen die Brust zuschnüren… Sie griff schweigend nach einem Schlüsselbund und ging hinaus.

Mit einem liefen Seufzer nahm Hellwig die Kleine bei der Hand und ging mit ihr im Zimmer auf und ab. Er hatte einen furchtbaren Kampf gekämpft, um diesem verlassenen Wesen eine Heimath in seinem Hause zu sichern, er hatte seine Frau tödtlich beleidigt; nie, nie – das wußte er – vergab sie ihm die bitteren Wahrheiten, die er ihr eben gesagt hatte, denn sie war unversöhnlich.


(Fortsetzung folgt.)
[325]
„Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n“.
Zu einem Jubiläum.


„Das ist ein merkwürdiger Klingelzug!“ sagte der alte urgemüthliche Musiktheoretiker Fink, als er in der Mitte der dreißiger Jahre mit dem eben von Düsseldorf nach Leipzig gekommenen Mendelssohn-Bartholdy an der Thomasschule vorüberging und nach der Thür wies, die dicht am Weg nach dem auf die Promenade führenden sogenannten Thomaspförtchen liegt. „Hier, eine Treppe hoch,“ ließ sich Fink weiter vernehmen, „wohnten seit

Franz Abt.

Jahren die Cantoren der alten Thomana. An diesem eisernen Klingeldraht hat Sebastian Bach, haben seine Söhne, haben Doles, Hiller und Schicht gezogen, ja, selbst Mozart, als er einmal bei Doles Quartier genommen.“ Mendelssohn lächelte und sagte: „Auch der alte wackere Zelter, als er mich im Jahre 1821 bei Schicht einführte und ich dem Tonsetzer vom ‚Ende des Gerechten‘ hier in der Thomaskirche eine Probe von der Fertigkeit meines damaligen Orgelspieles ablegen mußte“

Bei diesen Worten spielte ein Lächeln um seine feingeschnittenen Lippen, sein schönes, schwarzes, feuriges Auge blickte empor nach der Wohnung, wo so unsterbliche Werke der Tonkunst entstanden. Noch einmal fiel sein Blick auf den Klingelzug, der im nämlichen Moment hastig von der Hand eines Jünglings ergriffen wurde. Die Thür, durch einen Tritt von oben geöffnet, sprang auf, mit ihr aber zugleich das Herz des Eintretenden, der, freudig erregt, doch ehrfurchtsvoll im Eingang stehen blieb und still nach dem berühmten Tonsetzer hinsah, den er zum ersten Mal in der Nähe erblickte. Die anderen Beiden schritten durch das Thomaspförtchen der Allee und dem Vordergebäude des auch außerhalb Leipzigs bekannten Reichel’schen Gartens zu, wo sich Mendelssohn einlogirt hatte.

Hätte Letzterer geahnt, daß der Jüngling, welcher an der Cantorwohnung die Klingel zog, dereinst einmal auch ein Liedercomponist und Capellmeister werde, er hätte ihn vielleicht einer näheren Beschauung gewürdigt, und der gemüthliche Fink mit der ewig heiteren Stirn hätte ihm sicherlich recht innig die Hand gedrückt.

Der junge Thomaner war Franz Abt. In der Provinz Sachsen und zwar in der Fabrikstadt Eilenburg als der Sohn eines Pfarrers, der selbst ein ausgezeichneter Musiker war, am 21. December 1819 geboren, sollte er sich auf der berühmten Thomasschule in Leipzig zur späteren Universitätsbildung vorbereiten. Bekanntlich pflegt diese Anstalt seit alter Zeit mit besonderer Vorliebe die Musik, namentlich den Gesang, und so fand die große Liebe, die Abt zur Musik hegte, eine reiche Nahrung, ja sie wurde zur Leidenschaft. Er schwankte denn auch, ob er sich nicht ganz der Tonkunst widmen sollte, allein er fühlte sich seiner Mutter gegenüber verpflichtet, nach einem sogenannten Brodstudium zu greifen, und ließ sich als Studiosus der Rechte in Leipzig immatriculiren. [326] Ein Jahr lang folgte er dem Collegienzwang, aber sich mit Justinian und Tribonian auf einen vertrauten Fuß zu stellen wollte ihm trotz seines sonst eminenten Talentes nicht gelingen. Institutionen und Pandecten sagten ihm weniger zu, als die Harmonielehre, die er bei Cantor Weinlig zu studiren begonnen hatte.

Im Frühjahr 1838 hatte der Studiosus juris denn in aller Stille Opus 1 fertig gemacht, Compositionen, die jedenfalls nicht im Sinne des sonst liebenswürdigen, aber doch etwas pedantischen Cantors der Thomasschule waren. Abt hatte sechs Tänze componirt, und er ging nun auf eine Verleger-Entdeckungsreise aus. Diese Rundreise wurde gewöhnlich mit einbrechender Dunkelheit angetreten, damit die Schamröthe im Antlitz nicht so sichtbar sei, wenn abschlägliche Antwort erfolge. Endlich – Land! Land! – Wilhelm Alexander Künzel unterm Fürstenhause in der Grimmaischen Straße biß an, und am Ostersonnabend, den 14. April 1838, war der wichtige Tag, wo Abt seinen Namen zum ersten Mal gedruckt sah und noch dazu mit großer fetter Schrift. Im Leipziger Tageblatt prangte folgende Annonce:

„Freunden der Musik wird hierdurch ergebenst angezeigt, daß heute sechs neue Contretänze für Pianoforte, componirt von Franz Abt, die Presse verlassen haben und zu dem Preise von 8 Groschen bei Unterzeichnetem zu bekommen sind.
Wilhelm Alexander Künzel.“

Für Franz Abt war das Osterfest zugleich ein Auferstehungsfest, eine Himmelfahrt seiner höchsten Gefühle. Die Tänze wurden zwar nur spärlich gekauft, etliche davon aber wurden bei dem Beginn der Gartenconcerte für Orchester arrangirt, was schon Muth einflößte. Die Musikchöre von Hauschild und Lopitzsch brachten sie in zwei damals sehr beliebten Vergnügungsorten der Leipziger, der „großen Funkenburg“ und dem „Thonberg“, zu Gehör.

Unterdessen war auch ein Walzer entstanden, den der berühmte Posaunist Queißer für gut befunden und der in einem Donnerstags-Concert im Garten des Hotel de Prusse zur Ergötzlichkeit des Publicums vorgetragen werden sollte. Mit welcher Erwartung lauschte Abt, als die Tonkunstwerkstätte beisammen, der Dinge, die da kommen sollten! Sein Herz pochte fast noch mehr, als die große Trommel. Der Walzer gefiel, die jungen Damen rührten unter den Tischen ihre Füße und Füßchen, man applaudirte und sogar einzelne Bravos erschallten.

Dies genügte für den Augenblick vollkommen. Junge angehende Dichter und Componisten schenken der Sache aber erst Vertrauen, wenn sie die Meinung des Publicums Schwarz auf Weiß lesen, und schon den zweiten Tag darauf strahlte dem Walzer die „Sonne von Austerlitz“ hinten auf der letzten Seite des Leipziger Tageblattes. Da war für Mit- und Nachwelt unterm 23. Juni 1838 inmitten eines verlaufenen Jagdhundes und einer Einladung zu Fladen und Stachelbeerkuchen Folgendes zu lesen:

„Das vereinigte Stadtmusikchor wird recht sehr gebeten, uns den so ausgezeichneten Walzer von Franz Abt ‚Epheuranken‘ baldigst wieder in einem Concert hören zu lassen.

Mehrere, die am Donnerstag im Hotel de Prusse zugegen waren.“

Der ausgezeichnete Walzer – eine öffentliche Aufforderung zur Wiederholung! Abt traute kaum seinen Augen, er starrte die Annonce an, wie Dorfmusikantens Junge die Doppelgriffe. Sein Verleger Künzel schwamm in Wonne; er warf dem achtzehn und ein halb Jahr alten Componisten aus Respect gleich den „Herr Musikdirector“ an den Hals und acquirirte die ausgezeichneten „Epheuranken“, die ihm fortan zu Goldlack und Tausendgüldenkraut werden sollten.

„Auch dieses!“ rief Abt, „und noch ein Lied dazu.“ – Was war es für ein Lied? Jedenfalls ist es jetzt gänzlich dem Gedächtniß seines Erzeugers entschwunden, ebenso wie seine sechs Contretänze und die Epheuranken, welche er – „ein Werdender wird immer dankbar sein“ – dem Stadtmusikchor zu Leipzig gewidmet. Unter der Devise: „Gefälligst zu beobachten“ wurden Letztere vom Verleger mit Riesenlettern angezeigt. Aber nicht etwa so billig wie die sechs Contretänze, nein, die Epheuranken kosteten zehn Groschen.

Bald darauf kam auch das Lied. Die Bekanntmachung lautete:

Ooch enne schöne Jegend.

Gedicht von G. Hammer. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte oder der Guitarre, componirt von Franz Abt.

Preis zwei Groschen.“

Der Zufall fügte es, daß gleichzeitig Breitkopf und Härtel den Clavierauszug von Lortzing’s komischer Oper: „Czar und Zimmermann“ anzeigten. Auf diesen neu auftauchenden Operncomponisten blickte Abt freudig; in seine Nähe zu kommen, mit ihm bekannt zu werden, war sein innigster Wunsch. Dieser ging in Erfüllung und zwar in der in jenen Tagen viel genannten Restauration von Haring in der Hainstraße, wo vor Beginn der Theatervorstellung sich Schauspieler, Sänger, Schriftsteller und Tonkünstler versammelten. Zu diesen gesellte sich öfters auch der Dichter und Romanschriftsteller. Karl Herloßsohn, welcher zu jener Zeit den „Komet“ redigirte. Der gute „Hadschi“, wie Herloßsohn scherzweis von seinen Freunden genannt wurde, hatte wohl keine Ahnung, daß der bescheiden in der Ecke bei einem Krug Wernsgrüner Bier sitzende junge Mann nach wenigen Jahren eines seiner Gedichte für Gesang setzen werde, das sich als Volkslied einbürgern und so große Sensation erregen sollte.[WS 2]

Es war jene Zeit, wo Theater und Musik der rothe Faden waren, der sich durch das Leben zog. Auch die literarische Welt Leipzigs kannte kaum andere Interessen. Gemüthlich und harmlos saßen während des Sommers im Rosenthal bei Kintschy die Schriftsteller und Componisten zusammen. Der Roman neben der Novelle, das romantische Lied neben der komischen Oper, die Publicistik neben der Kritik. Alle in trauter Harmonie, Domino spielend, plaudernd, sprudelnde Heiterkeit, überschäumende Lust in der Runde. Ebenso im Café national, am Markt, wo Mittags von ein bis zwei Uhr die jüngeren Buchhändler einsprachen und auf der „kleinen Börse“ ihren Kaffee tranken. Gleiches bei Zill im „Tunnel“, wo in den Abendstunden der Liedercomponist Karl Zöllner an seinem Stammtisch erschien, während in den Sommermonaten an der langen Tafel des Einganges die fremden, Engagement suchenden Schauspieler saßen, die meist in barocker Kleidung einhergingen und sich durch gebranntes lockiges Haar, große Siegelringe und Jambenton vor andern Menschenkindern auszeichneten. Es war ein lustiges Künstlervölkchen und Abt bewegte sich mitten darin, er hatte es sogar schon bis zum Dirigenten des philharmonischen Vereines gebracht, den ein gewisser Pätzold, auch ehemals Thomaner, gegründet hatte. Die Mitglieder waren durchgängig Studenten.

So vergingen für Abt die Tage, bis er sich im September 1841 verheirathete. Jetzt galt es, eine feste Anstellung zu suchen, die sich für ihn augenscheinlich in Zürich fand, wo zu jener Zeit Frau Charlotte Birch-Pfeiffer die Theaterdirection führte. Der junge Ehegatte sollte bei ihrer Bühne den 1. October als Dirigent des Orchesters in Amt und Brod kommen. Mit seiner kleinen jungen Frau, einem Herzen voll Liebe und darin schlummernder Lieder, viel Anderes belastete ihn nicht, trat er die Reise nach Zürich an.

Mit Eifer und gutem Willen warf er sich in sein neues Amt; seine Wirksamkeit erlosch aber nur zu bald, denn die Direction sah sich genöthigt, im nächsten Mai schon die Bühne zu schließen. Da trat denn für den Musikdirector eine große Generalpause ein, die zum Glück ein bejahrter Engländer ausfüllte, welcher von Abt Gesangunterricht begehrte. John Bull wollte mit Gewalt singen lernen. Er dachte: viel hilft viel, und wünschte, daß ihm der Lehrer täglich drei Stunden widme; Honorar für die Stunde einen Gulden.

Abt schlug ein; er wurde dadurch einer großen Sorge überhoben und die siebenmonatlichen Theaterquälereien hinter sich, verlebte er heiter mit seiner Frau den ersten herrlichen Frühling in der schönen Schweiz. Seine frohe Stimmung wurde noch durch die Anwesenheit des damals schon gefeierten Liedercomponisten Kücken erhöht, der zum Besuch in Zürich verweilte. Es diesem gleich zu thun, sowie dieser im Reich des Liedes zu schaffen, war der Wunsch des jungen glücklichen Gatten, der zum Dichten und Gestalten in Tönen immer die frühen Morgenstunden wählte, wie es schon Vater Haydn gethan. So schuf er sieben Lieder, wozu er den Text aus Herloßsohn’s „Buch der Liebe“ entlehnte. Die zur Composition sich eignenden Gedichte trugen als Ueberschrift die Namen: Agathe, Irene, Pauline, Adelheid, Agnes.

In einer wahren Weihestunde – es war am 14. Mai 1842, ist also vor wenigen Tagen fünfundzwanzig Jahr gewesen – hatte Abt [327] das Lied mit der Ueberschrift „Agathe“ componirt, dessen Anfangsstrophe mit den Worten beginnt: „Wenn die Schwalben heimwärts ziehn.“ Er selbst räumte ihm wohl keine Bevorzugung ein, denn wo ist der poetische Schöpfer, der sagen kann: Das ist das Beste, was ich geschaffen! Gerade das, worauf er weniger Werth legt, findet Anerkennung, wie sich dies besonders bei Componisten auffällig gezeigt hat. Vollkommener Beweis ist u. A. Lortzing’s Czarenlied: „Sonst spielt ich mit Scepter, mit Krone und Stern etc.“ In der Generalprobe vor der ersten Aufführung in Leipzig wurde es gestrichen und noch heute müssen in der ersten Violinstimme, welche damals auf dem Notenpult des Concertmeisters David lag, die mit Rothstift geschriebenen Worte zu lesen sein: „Bleibt weg!“ Der damalige Sänger Richter war dies ganz zufrieden: das Lied sei für den rauhen Czar zu weichlich, zu sentimental, es halte nur die Handlung auf. Erst als der Sänger Ziesche in Berlin damit außerordentliches Furore machte, stutzte man und nur nach vielen Demonstrationen des später auf der Leipziger Bühne als Czar gastirenden Baritonisten Scharpff wurde ihm der Vortrag des Czarliedes gestattet. Das Resultat ist weltbekannt.

„Bücher haben ihre Geschichte“ und – auch Lieder. Hatte sich das in Frage stehende Lied von Seiten seines Schöpfers einer Bevorzugung zu erfreuen, so war es die, daß Abt dabei den Tag der Entstehung angemerkt, was ihm sonst nie in den Sinn kam. Singen des Liedes, Auferstehen, Lebendigwerden, der Wunsch ging dadurch in Erfüllung, daß die im Herbst beim Theater in Zürich engagirte erste Sängerin, Fräulein Agathe Reuß, von Abt ein Lied zum Vortrag begehrte. Bei dem Einblick in die Manuscripte wählte sie ohne Zögern das Lied, welches ihren Vornamen trug: Agathe.

Das Lied, trefflich vorgetragen, gefiel und später sang es noch einmal ein Freund des Componisten, Namens Langeloth, der jetzt in Mannheim lebt. Von Liedern eignen sich indeß für die Oeffentlichkeit nur die oberflächlichen und gefälligen, die dem Publicum nichts zu rathen geben, sondern seiner bequemen Genußsucht schmeichelnd entgegen kommen; gute, innig empfundene Lieder müssen eigentlich dem Privatvortrage, dem häuslichen Kreise vorbehalten bleiben. In weite Räume hineingesungen, oft vor ungeweihten Ohren, wird ihnen, wie einem lyrischen Gedicht voll zarter Empfindung, der Duft der Weihe abgestreift. Für sie hat nur das einzelne Gemüth, nur der Familienkreis gleichgestimmter Seelen die nöthige Empfänglichkeit.

Dies Alles erwogen wohl auch die Vortragenden, namentlich Agathe Reuß, später verehelichte Gaudelius, welche vor einigen Jahren zu Altona starb und deren Name mit Achtung vom Componisten genannt wird, denn sie war ja die erste Sängerin seines Schwalbenliedes. Es liegt dieses Gefühl der Achtung tief in jeder Künstlerseele. Gleich wie der Mensch in späteren Tagen so gern seiner ersten Liebe gedenkt, denkt der Dichter an Diejenigen, welche zuerst seinen Schöpfungen Leben einhauchten.

Dichter und Componisten in frischer, frommer Jugendzeit halten jeden kleinen Erfolg für einen Sieg; sie werden kühner in ihren Hoffnungen, Wünschen und Verlangen. Jetzt galt es einen Verleger für die sieben Lieder aufzufinden, einen renommirten Verleger, eine namhafte Musikalienhandlung. Der Componist schickte sie zuerst an Friedrich Hofmeister nach Leipzig. Sie wurden zurückgesendet. Das Manuscript wanderte zu Schott nach Mainz. – Retour. Abt dachte: „Das Wandern ist des Müllers Lust,“ warum nicht auch die eines Liedermanuscriptes, das wiederum gehörig geschnürt und verpackt in die Welt ging. Wenigstens ein halbes Dutzend Briefe mit „ganz ergebener Diener“ gingen anfragend hinaus. Man las die Unterschrift: Abt! – Wer ist denn das? Höchstens kannten die Empfänger Bürger’s Abt von Sanct Gallen, von dem Abt in Zürich aber hatten sie noch keine Silbe gehört. So irrten die sieben Lieder durch Deutschland; man floh sie wie die sieben Todsünden, die Schwalben zogen wieder heimwärts, das heißt: nach Zürich. Nirgends konnten sie ihr Recht finden, weil – der Componist noch keinen Namen hatte.

Da brütete denn der arme Tondichter oft in dumpfer Betäubung so vor sich hin, bis sich endlich Göpel in Stuttgart fand, der die Lieder in sein Sammelwerk „Orpheon“ aufnahm und die „Schwalben“ zuerst veröffentlichte. Weil aber dieses Lied nur in dieser Sammlung und nicht einzeln zu erlangen war, gingen doch ungefähr drei Jahre in’s Land, ehe es sich Bahn brach. Dann aber zog es mit Riesenschritten durch die Welt.

Die berühmte Sängerin v. Marra ließ sich ein Bühnenstück „Angela“ schreiben, in welchem sie das Schwalbenlied als wirksame Einlage benutzte, und noch vor einigen Jahren, als die Wiener Hofopernsängerin Tietjens zu London gastirte, erzählte sie dem in der Themsestadt zum Besuch verweilenden Abt, daß jenes Lied das erste gewesen, welches sie bei Beginn ihrer Studien gesungen habe. – Es war damals das stereotype Lied der Harfenmädchen, es ertönte am Piano im Salon wie aus den Leierkasten und die musikalischen Wanderchöre hielten es fest auf allen Messen und Jahrmärkten.

Schreiber dieser Zeilen erinnert sich noch des Momentes, als zu Leipzig während einer Ostermesse in der Hainstraße die Melodie des Liedes von Meßmusikanten geblasen wurde und zwar nahe an dem Hause, wo der Dichter wohnte. Der gute Herloßsohn suchte zwei Viergroschenstücke aus seiner Westentasche zusammen und senkte sie freudig in das Notenblatt des geldeinsammelnden Clarinettisten. Aus Dankbarkeit wurde das Lied von der Straßencapelle wiederholt und ein wehmüthiger Zug spiegelte sich in des Dichters Antlitz. Er gedachte vielleicht der einsam nächtlichen Stunde, wo er in Erinnerung an ein geliebtes Wesen die Worte auf ein Stückchen Papier niedergeschrieben. Jene Worte, in Töne gekleidet, umkreisten jetzt den Erdball.

Das Schwalbenlied reihte sich in seinen Erfolgen an das berühmte „Marlborough s’en va-t-en guerre“, das bis in das Serail drang und daselbst, auf dem Leierkasten gedreht, die Odalisken ergötzte. Es erinnerte in seinem Weltlauf an Weber’s: „Wir winden dir den Jungfernkranz“, das nach den Wäldern Südamerika’s drang, und wie dereinst Lichtenstein, als er Anfangs dieses Jahrhunderts unter den Hottentotten herumreiste, von Georg Nägeli’s: „Freut euch des Lebens“ überrascht wurde, so auch ertönte das Lied: „Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n“ tief in Rußland und Schweden, ja selbst in Californien und Australien. An seinem Sang erkannten sich deutsche Landsleute oder es wurde von Einzelnen zur Erinnerung an das Vaterland angestimmt, denn:

„Stehst Du fern im fremden Lande
Einsam und verlassen da:
Nur ein deutsches Lied gesungen,
Und die Heimath ist Dir nah.“

Die spätere Laufbahn des Componisten ist bekannt: er wurde Hofcapellmeister in Braunschweig und leitete 1865 mit anderen Geistesverwandten das große Sängerfest zu Dresden. Wie oft, gern und freudig seine anderweiten Lieder, u. v. a. „Ob ich dich liebe, frage die Sterne“; „In den Augen liegt das Herz“: „Bleib’ bei mir“; „Am Neckar, am Rhein“; „Schlaf’ wohl, du süßer Engel“ etc. etc. etc. von Gesangvereinen und Einzelnen gesungen werden, dies kann ich noch am Schluß dieser Skizze anhängen, indem mich bei dem Niederschreiben dieser letzten Worte der am Hoftheater zu Dresden gastirende berühmte Tenorist Theodor Wachtel besucht. Derselbe erzählt mir, daß er bis jetzt das Abt’sche Lied: „O, Du mein herziges Kind!“ sechshundertachtundsiebenzig Mal als Einlage in Opernvorstellungen benutzt und gesungen habe. Ein Aehnliches wurde mir oft von anderen Sängern und Sängerinnen versichert, die mit gleicher Hingebung der Abt’schen Tonmuse huldigen und jedes neue Lied von ihm mit Freuden begrüßen.
Th. D.




Eine Stunde bei Paul de Kock.
Von Ludwig Kalisch.


Paul de Kock, der auch in Deutschland vielgelesene Sittenschilderer des modernen Babels, den ich aber durchaus nicht als Lecture für junge Mädchen in Pensionsanstalten empfehlen möchte, wohnt in einem kleinen Hause auf dem Boulevard St. Martin. Eine dunkle Treppe führt zu seinen Appartements, oder vielmehr zu seinen Zimmerchen, die sehr bescheiden möblirt sind. Er empfing mich mit einem herzlichen Händedruck und führte mich in sein Arbeitszimmer, das zugleich zum Schlafzimmer [328] dient und so eng und so sehr mit Kleidungsstücken und allerlei Geräthe vollgestopft ist, daß es einige Zeit dauerte, bis er einen Stuhl von einem schweren Haufen Gerümpels befreien und ihn mir anbieten konnte.

Ich ließ mich neben ihm vor dem alten bestaubten Schreibpulte nieder und wir fingen an zu plaudern. Ich sagte ihm, daß sein Name in Deutschland sehr bekannt sei, daß man – wenigstens zu meiner Zeit – ihn auf manchen vaterländischen Gymnasien eifriger studirte, als Homer, Virgil, Thucydides und Tacitus, und daß man es ihm zuzuschreiben habe, wenn jetzt in Deutschland so viel praktische Aerzte und Juristen weniger classische Bildung besitzen, als sie sollten.

Er lächelte und bemerkte mit einem gewissen Behagen, daß ihn dies nicht überrasche, er werde in allen Ländern Europa’s gelesen, am meisten jedoch in Amerika. „Und warum sollte man mich denn nicht lesen?“ rief er. „Ich bin heiter und natürlich; ich suche meine Leser zu ergötzen; ich bin ein abgesagter Feind aller heftigen Situationen. Die Schilderungen blutiger Gräuel sind mir auf’s Herzlichste zuwider. Ich will das Zwerchfell erschüttern, aber keine Gänsehaut erregen, und wenn ich zufällig einen Blick in einen Roman von Paul Féval oder gar von Ponson du Terrail werfe, so kann ich in der That nicht begreifen, wie ein französischer Leser eine solche Lectüre verdaulich findet.“

Es schien ihn zu schmerzen, daß die eben genannten Roman-Schriftsteller decorirt seien, während er selbst nach einer literarischen Wirksamkeit von fast zwei Menschenaltern noch kein rothes Bändchen im Knopfloch trage. Um diesen Schmerz zu begreifen, muß man die Bedeutung des Ordens der Ehrenlegion in Frankreich kennen. Es ist eben kein großes Glück für französische Künstler und Schriftsteller diese Decoration zu besitzen, denn sie schützt dieselben nicht immer vor Armuth und Noth, aber es ist ein Unglück für sie, nachdem sie das Schwabenalter zurückgelegt, noch nicht decorirt zu sein. Das Publicum findet nämlich darin den Beweis eines unglücklichen oder auf Abwege gerathenen Talentes. Ausländische Decorationen bieten keinen Ersatz für den Orden der Ehrenlegion, und ich kenne in Paris mehrere Künstler, welche eine beträchtliche Anzahl fremder Decorationen besitzen, dieselben aber nicht tragen, weil sie nicht mit dem Kreuz der Ehrenlegion bedacht worden.

„Man macht mir den Vorwurf des Lasciven, des Schlüpferigen,“ sagte Paul de Kock nach einer Pause; „man thut mir jedoch Unrecht. Ich schildere das Leben und Treiben gewisser Schichten der Pariser Bevölkerung mit kecker Feder und in der Absicht, meine Leser zu erheitern. Man mag dies für ein geringes schriftstellerisches Verdienst halten, und es fällt mir nicht ein darüber zu streiten. Ich schreibe weder für weibliche Pensions-Anstalten, noch für Nonnenklöster; aber ein unsittlicher Schriftsteller bin ich nicht. Ich vertheidige kein Laster, keine Gemeinheit, keine Niedertracht; ich bin kein Advocat des Ehebruchs, des Betrugs, der Gewinnsucht um jeden Preis, und wenn ich die Romane lese und die Stücke sehe, die in den letzten zehn Jahren hier producirt worden, so ist mein Erstaunen über den Vorwurf, den man mir macht, gewiß sehr natürlich.“

Ich gab ihm vollkommen Recht und sagte ihm, um ihn in eine heitere Stimmung zu versetzen, daß ich einst in Deutschland einen Sommermonat hindurch mich fast ausschließlich mit der Lectüre seiner Romane beschäftigte, deren Titel ich ihm nannte.

„Das sind lauter alte Sachen,“ erwiderte er. „Sie haben kaum ein Dutzend Romane von mir gelesen und ich habe deren über hundert geschrieben. Sie sehen,“ fügte er nach einigen Secunden hinzu, indem er auf die Bücherei über seinem Schreibpulte zeigte, „Sie sehen, daß Sie nur wenig, nur sehr wenig von mir gelesen.“

Ich sah zu meiner Verwunderung, daß die Bibliothek beinah ausschließlich aus seinen eigenen Werken bestand, daß er in dem kleinen Zimmer von den zahlreichen Kindern seiner Muse umgeben war und sie mit dem Wohlbehagen eines glücklichen Vaters betrachtete.

„Nicht wahr, ich bin nicht müßig gewesen?“ fragte er mich mit sichtbarer Selbstzufriedenheit. „Ich habe mein erstes Werk vor sechsundfünfzig Jahren veröffentlicht, als ich eben das siebenzehnte Jahr zurückgelegt, und ich bin durchaus nicht gesonnen, meine Feder in den Ruhestand zu versetzen. Das Schreiben ist mir ein Bedürfniß, das ich täglich mit Vergnügen und ohne die allergeringste Anstrengung befriedige.

Er zeigte mir das Manuscript eines Romans, an dem er eben arbeitete, und lächelte sehr vergnügt, als ich die sehr deutliche, fast zierliche Handschrift bewunderte, in welcher nur wenige Worte gestrichen waren.

„Ich corrigire selten ein Wort, fast niemals einen Satz,“ sagte er. „Ich schreibe täglich einige Stunden, und wenn ein Roman vollendet ist, wandert er in die Druckerei. Meine Romane bieten dem Setzer auch nicht die allergeringste Schwierigkeit. Ich fühle nicht, daß meine geistigen Kräfte abnehmen,“ bemerkte er nach einer Weile, „und Sie werden sich überzeugen, daß meine Einbildungskraft noch frisch und lebhaft ist, wenn Sie sich die Mühe geben, meinen jüngsten Roman, Leo Professeur Ficheclaque, zu lesen.“

Er öffnete das Fenster und lud mich ein, mit ihm die Boulevards zu betrachten.

„Meine Wohnung ist sehr klein, aber sehr angenehm,“ sagte er. „Sie bietet mir die Aussicht auf einen der bewohntesten Theile der Riesenstadt. Stundenlang weile ich vor dem geöffneten Fenster und die Vorübergehenden liefern mir die Stoffe für meine Romane. Ich habe aber noch einen andern Grund, warum ich diese Wohnung, die ich vor siebenundvierzig Jahren bezogen, nicht verlassen möchte. Sie befindet sich zwischen zwei Theatern, der Porte St. Martin und dem Ambigu Comique, die ich gern besuche. Sie müssen nämlich wissen, daß ich auch dramatischer Schriftsteller bin und theils allein, theils mit einigen Freunden in Gemeinschaft, über hundert Vaudevilles verfaßt habe. Sie können sich denken, wie unangenehm es mir sein muß, daß Herr Haußmann in seiner unüberwindlichen Verschönerungswuth die sechs Theater auf dem Boulevard du Crime niedergerissen, vor denen jeden Abend das Pariser Volksleben sich auf eine so interessante Weise entfaltete. Jetzt ist es dort still und unbelebt. Paris verschönert sich, das ist wahr; aber ich ziehe das alte Paris vor, dessen lebenslustige, lachende Bevölkerung immer mehr aus dem Mittelpunkte der Stadt nach den äußersten Enden derselben zurückgedrängt wird. Paris ist durch die Neubauten vornehmer, aber auch kälter und ernster geworden. Ich finde, daß man jetzt viel weniger lacht als früher, und das thut mir leid. Als Franzose liebe ich die Heiterkeit und ich möchte nicht, daß wir sie verlieren.“

Er fuhr noch einige Zeit mit derartigen Bemerkungen fort und sagte mir dann, daß er jeden Abend entweder die Theater besuche, oder eine Partie Whist spiele. „In früheren Jahren,“ fuhr er fort, „ging ich häufig in die Chaumière, jetzt besuche ich einige Male des Jahres die Closeries des Lilas, um die lebenslustige Jugend tanzen zu sehen. Der Anblick derselben vergnügt mich und läßt mich die Schmerzen vergessen, die mir die Gicht verursacht.“

Er zeigte mir seine Hände, die von unzähligen Gichtknoten bedeckt waren; als ich ihm aber mein Mitleiden ausdrückte, sagte er lachend, daß er dasselbe nicht verdiene. Er befinde sich sonst sehr wohl, sei noch sehr rüstig und seine Vorliebe für die heitere Jugend zeige ihm deutlich, daß sein Herz noch nicht zusammengeschrumpft. „Nur der ist alt,“ sagte er, „der sich mit der muntern Jugend nicht mehr freut; denn er vergißt, daß er selbst jung gewesen. Ich vergesse es nicht, und wenn ich eine Grisette sehe, die im Tanze dahinfliegt, denke ich an jene schöne Zeit zurück, da ich selber jeden Abend tanzte, nachdem ich den Tag über meine Feder lustig auf dem Papier hatte herumhüpfen lassen.“

Als ich ihm bemerkte, daß man nicht mehr an die Existenz der Grisetten glaube, wurde er fast unwillig.

„Die Grisette ist nicht verschwunden,“ rief er. „Die kleinen zierlichen Wesen, die den ganzen Tag arbeiten, in dem engen Dachzimmerchen ihren Rosenstock pflegen oder ihren Kanarienvogel füttern und nicht viel mehr Nahrung zu sich nehmen, als ihr Kanarienvogel: diese Wesen, sage ich, sind nicht ausgestorben; allein man spricht nicht mehr von ihnen. Die Schriftsteller von heute ziehen es vor, von den Weibern zu sprechen, die sich unverschämt in glänzenden Equipagen spreizen und mit Diamanten bedeckt in den Theaterlogen herausfordernde Blicken um sich werfen. Die Grisette, die ihr Herz oft leichtsinnig schenkt, aber niemals verkauft, lebt nach wie vor in den Arbeitervierteln, wo es viel mehr Tugend und Aufopferungsfähigkeit giebt, als sich unsere Tagesschriftsteller träumen lassen.“

Paul de Kock besitzt ein kleines Gut in dem benachbarten Romainville, wo er die schöne Jahreszeit zubringt und, wie er [329] scherzend bemerkte, sich mit der Horticultur beschäftigt, ohne davon etwas mehr zu verstehen, als irgend ein Pariser, der niemals seinen Stadttheil verläßt. „Ich pflege gern die Pflanzen,“ sagte er, „und finde mich wohl dabei; ob sich aber die Pflanzen unter meiner Pflege eben so wohl befinden, ist eine andere Frage.“

Paul de Kock stammt von einem holländischen Vater und von einer Pariserin, die dieser als Wittwer geheirathet. „Ich habe in meinem Temperamente viel von meiner Mutter und wenig von meinem Vater,“ bemerkte er. „Ich habe nichts Holländisches an mir, wofür ich dem Schöpfer aufrichtig danke. Als ich einst mit einigen meiner holländischen Verwandten einen Tag zubrachte, gähnte ich mich fast zu Tode. Die Holländer sind kalt, phlegmatisch und sehen aus, als ob sie einen Leichenzug begleiteten, und das ist ein hinlänglicher Grund, meine Antipathie zu erwecken.“

Er schüttelte mir derb die Hand, als ich mich von ihm verabschiedete, und äußerte dabei zu wiederholten Malen sein Vergnügen, daß man ihn im Auslande nicht vergesse.

Paul de Kock verräth in seinen Zügen durchaus nicht den Schriftsteller; sein rundes ausdrucksloses Gesicht läßt ungeachtet des grauen Schnurrbartes auf einen Pariser Boutiquier schließen, der sich von den Geschäften zurückgezogen. Als Romanschreiber wird er von der Kritik zu sehr unterschätzt. Es fehlt ihm freilich an Idealität, an höherer Lebensanschauung und er glänzt eben auch nicht durch eine edle Kunstform; er besitzt jedoch eine große Meisterschaft in der Schilderung gewisser Volksschichten und ist reich an komischen und possirlichen Einfällen. Daß er sich oft wiederholt, ist bei dem beschränkten Kreise, der ihm die Gestalten für seine Romane liefert, sehr natürlich; allein es steckt doch in ihm Zeug genug, um selbst einem ernsten Manne einige angenehme Stunden zu bereiten. Ich kenne einen namhaften deutschen Gelehrten, der während eines hartnäckigen rheumatischen Uebels sich an den Romanen Paul de Kock’s gar sehr ergötzte.

Paul de Kock kann sich rühmen, von einem Papste eifrigst gelesen und bewundert worden zu sein. Gregor der Sechszehnte las alle seine Romane und hielt ihn so hoch, daß er an jeden Pariser, der ihm vorgestellt wurde, die Frage zu richten pflegte: „Come sta il caro Signore Paolo de Kock?“ (Wie befindet sich der liebe Herr Paul de Kock?)

Als Lamartine, so erzählt man, bei diesem Papste eine Audienz erhielt, sagte ihm derselbe „Ich höre, daß sie ein Mann von Talent sind und schon manche hübsche Sachen geschrieben haben. Aber wie geht es Ihrem berühmten Landsmann Paul de Kock?“




Der Herzog von Jerusalem.
Ein anderer „heiliger Herr“.[1]


Auf keinem Gebiete hat sich die religiöse Schwärmerei kühner gezeigt, seltsamere Gestalten angenommen und einen weiteren Spielraum gefunden, als in den Erwartungen des tausendjährigen Reiches, welche man unter dem Namen „Chiliasmus“ begreift. In diesem Chiliasmus liegt die Idee einer Welterneuerung auf communistischer Grundlage bei der Wiederkunft Christi, die Erwartung einer politischen und socialen Umwälzung zur Herstellung des Paradiesesstandes auf Erden; die Sehnsucht nach Befreiung von den Uebeln der bestehenden Weltzustände und von den Fesseln der Polizeistaaten, sowie die Hoffnung auf die seligste Gemeinschaft aller Frommen im Besitze einer Gemüthsruhe, welche bei Befriedigung aller äußeren Wünsche durch nichts gestört wird. Mithin ist der Chiliasmus ungefähr dasselbe, was das „goldene Zeitalter“ nach der alten griechischen Sage, die „Messianischen Erwartungen“ in dem Munde der Juden, ein „Utopien“, ein „Eldorado“ im Munde der Poesie sind; das Gebilde einer mit allen Reizen der üppigsten Phantasie ausgeschmückten künftigen Zeitperiode, hervorgegangen aus dem natürlichen Verlangen nach Vollkommenheit und Glückseligkeit und wesentlich unterstützt und gehoben durch Vorstellungen, die in der Bibel vorkommen. Namentlich hat die Offenbarung Johannis im zwanzigsten und einundzwanzigsten Capitel diese Erwartung eines tausendjährigen Reiches der Herrlichkeit mit Bestimmtheit ausgesprochen.

Welche Grübeleien gläubiger Seelen haben schon stattgefunden, um den Zeitpunkt auszurechnen, wo dieses goldene Zeitalter des Christenthums eintreten würde, und welche Ausschweifungen sind aus dieser Erwartung hervorgegangen! Und doch war es dem neunzehnten Jahrhundert vorbehalten, den kühnsten Schwärmer für diese Richtung erstehen zu sehen, dessen Leben, Thaten und Meinungen noch lange nicht hinreichend erklärt sind. Was aber eifrigste Forschungen in den zugänglichen Quellen über ihn bis jetzt zu Tage bringen ließen, theilen wir hiermit unsern Lesern mit. Wir übergehen dabei die vielen fabelhaften und erlogenen Enthüllungen über eine angeblich höchst fürstliche oder gar göttliche Abstammung unsers Helden und treten gleich an diejenige der verschiedenen ihm an den verschiedensten Orten untergeschobenen Wiegen hinan, in welcher er am wahrscheinlichsten das Licht der Welt erblickt hat.

Das Schloß zu Aschaffenburg war, abwechselnd mit Mainz, die gewöhnliche Residenz der Kurfürsten-Erzbischöfe von Mainz und seit 1787 des Coadjutors dieses Bisthums, Karl Theodor’s von Dalberg. In diesem Schlosse war im erwähnten Jahre 1787 eine Nähmamsell angestellt, die Helena Balser hieß, ein Frauenzimmer von bedeutender Schönheit. Diese fand Gnade in hohen Augen und wurde, nach der Unsitte jener traurigen Zeit patriarchalischer Tyrannei, auf hohe Veranstaltung an einen jungen Kunstgärtner Namens Johann Adam Müller in Kostheim verheirathet und dazu reich ausgestattet, um dem auf dem Wege befindlichen hohen geistlichen Sprößling einen Vater vor der Welt zu geben. Als der neue Eheherr den Betrug entdeckte, wollte er sich von preußischen Werbern engagiren lassen. Da erschien ihm ein Engel, aber nicht im Traum und im strahlenden Lichtgewand, sondern in einem schwarzen Priesterrock und verkündigte ihm eine große Gnade, die ihm widerfahren solle, weil ihm der Messias geboren würde, welcher eine Frucht des heiligen Geistes sei. Zu dessen Bekräftigung wurden ihm ansehnliche Geldgeschenke überbracht und ein Avancement zum Chausseeinspector zur Belohnung seiner Verdienste um das Vaterland in Aussicht gestellt. Dieses wirkte und der üble Fleck wurde mit goldnem Lethewasser abgewaschen. Um kein Aufsehen zu erregen, geschah die Niederkunft ohne Zweifel an einem fremden Orte und in heimlicher Weise, woraus sich der Mangel des Eintrags im Kirchenbuch zu Kostheim, den später der junge Müller und seine Vergöttlicher so klug zu benutzen wußten, hinreichend erklären läßt. Auch mochte der eingeschobene Eheherr sich wohl gehütet haben, den Geburts- und Taufact aus der Ferne in die Register von Kostheim auf seinen Namen übertragen zu lassen.

Die Kinderjahre des jungen Müller fielen in eine sehr stürmische Zeit. Schon ein Jahr nach seiner Geburt brach die französische Revolution aus und die brausenden Wogen dieser Volksströmung wälzten sich bis an den Rhein und berührten Mainz und die Umgegend. Ehe noch der französische General Custine mit seinen Truppen im Jahr 1792 vor Mainz erschien, hatte sich der kurfürstliche Hof von Mainz in die zweite Residenz zu Aschaffenburg geflüchtet. In dieser Belagerung litt Kostheim unaussprechlich. Die Bewohner des Ortes flüchteten sich so zeitig, als es nur möglich war, um nicht vom Verderben ereilt zu werden. So pilgerte auch Frau Helena Müller, den blondgelockten Knaben an der Hand, mehrmals hinüber nach Aschaffenburg, wo sie im kurfürstlichen Schlosse stets ihr Asyl fand und von da reich gesegnet zurückkehrte, wenn die Gefahr vorüber war.

[330] Nachdem der kleine Bernhard Müller das achte Lebensjahr erreicht hatte, wurde er in ein Seminarium nach Mainz gebracht, wo er Freiunterricht erhielt, aber auch nach katholischem Erziehungssystem streng abgeschlossen und wie ein Schulpferd, das im Circus gehen soll, dressirt wurde. Hier scheint dem mit außergewöhnlichen Talenten begabten Knaben der Impfstoff religiöser Schwärmerei beigebracht worden zu sein. Als er diese Anstalt nach Zurücklegung seines vierzehnten Lebensjahres verlassen hatte, sollte er auf Verlangen der Müller’schen Verwandtschaft das Schneiderhandwerk erlernen; allein er entlief seinem Lehrherrn nach kurzer Zeit und gerieth in eine Gesellschaft von englischen Reitern, wo er das Balanciren auf dem Seil lernte. Auch hier nicht befriedigt, beschloß er, sich dem geistlichen Stand zu widmen, und ging deshalb in ein Kloster zu Aschaffenburg, wo er unter hoher Protection einige Jahre blieb und sich mit dem Lesen von Legenden und Wundern der Heiligen, mit der Geschichte der geistlichen und weltlichen Ritterorden beschäftigte, unter welchen ihm besonders die Tempelherren mit ihren streitbaren Tendenzen zum Schutze der Pilger und des heiligen Grabes zu Jerusalem, mit ihren Tempelhöfen sammt ihrer Unabhängigkeit von allen politischen Gewalten der Erde, mit ihrem Ansehen und ihren Schätzen wohl gefielen. So wurde schon frühzeitig seine Phantasie erhitzt und er mit hohen Ideen von sich selbst erfüllt, die ihn bis zu förmlichen Visionen geführt haben. Auch erhielt er eine Anstellung als Chorknabe und wurde von unbekannter Hand unterstützt.

Auf diese Weise ist er in den Stand gesetzt worden, eine Pilgerreise nach Rom anzutreten, um das römische Kirchenthum an der Quelle kennen zu lernen, und zwar auf das Gebot einer inneren Stimme. Allein er fand nicht, was er suchte, sah die Gebrechen der Kirche in der Nähe und konnte seine eigenthümlichen Anschauungen damit nicht in Einklang bringen. Deshalb verließ er nach kurzer Zeit die päpstliche Hauptstadt und pilgerte, unter großen Entbehrungen und Kasteiungen, nach Bamberg und, als er auch da nur darauf angewiesen wurde, mit Franciskanern zu terminiren, das heißt von Almosen zu leben, wandte er sich nach Regensburg, einem Bestandtheil des Großherzogthums Frankfurt unter der Regierung des Fürsten Primas Karl von Dalberg, wo er hoffen durfte, unter die Protection seines hohen Gönners zu kommen, dessen unsichtbare Hand schon in Mainz und Aschaffenburg des Guten viel an ihm gethan hatte.

Hier trat aber eine Wendung in seinem Lebensgange ein, die für seine ganze Zukunft entscheidend wurde. Ursprünglich ein guter Katholik, begann er an vielen Lehrsätzen und Einrichtungen der römischen Kirche zu zweifeln, die ihm nicht mehr dieselben zu sein schienen, wie in den ersten drei Jahrhunderten, bildete sich hiernach seine eigenen Anschauungen und überließ sich dem Glauben, daß seine außergewöhnliche Geburt und Herkunft das Vorzeichen seiner göttlichen Mission andeuteten. In dieser mystischen Richtung wurde Müller durch einen Mann bestärkt, welcher William Sykson hieß, Missionär einer Pietistengesellschaft in London war und sich heimlich in Regensburg aufhielt, um Proselyten zu machen. Angezogen durch den Reiz des Geheimnißvollen, wofür Müller’s bizarre Seele sehr empfänglich war, wurde er bald ein Freund und Gesinnungsgenosse des englischen Missionärs, und aus seinem vermeintlichen Schauen in die Geheimnisse der Welt, Natur und Zeit, die dem profanen Auge verborgen seien, entwickelte sich in Müller’s Seele ein unbändiger Hochmuth, zu den Auserwählten zu zählen und mehr zu sein, als Andere, – ein Hochmuth, der sich bis zur Annahme fürstlicher Würden verstieg, um sich als Götze verehren zu lassen. Von da bis zur Rolle eines Propheten war der Schritt nicht mehr so weit.

Wie stark der Trieb in ihm war, seine Offenbarungen kund zu thun, und welchen Muh er besaß, darüber hat man eine Probe aus jener Zeit, wo er in Regensburg lebte. Müller hatte nämlich eine auffallende Anhänglichkeit an den Kaiser von Oesterreich und noch mehr an den Erzherzog Karl; es schien, als ob in Müllers Plan der Welterneuerung Oesterreich im Vordergrund erscheinen solle. Deshalb erließ er im Jahre 1810, als Napoleon der Erste nach der Besiegung Oesterreichs sich mit einer österreichischen Kaiserstochter verheirathet hatte und auf dem höchsten Gipfel der Macht und des Erdenglücks stand, eine Drohnote an den allgewaltigen Imperator, in welcher er demselben in prophetischem Ton seinen nahen Sturz, die Zertrümmerung seiner Macht ankündigte und ihn zugleich aufforderte, ohne Zeitverlust Buße zu thun. Diese Drohnote, welche ohne Angabe des Wohnortes blos mit „Bernhard Müller“ unterzeichnet war, kam auch wirklich in Napoleon’s Hände und der erzürnte Kaiser ließ durch seine geheime Polizei überall Nachforschungen anstellen und setzte einen Preis von tausend Friedrichsd’or auf Müller’s Kopf. Während dieser Nachstellungen wußte sich Müller verborgen zu halten, brachte wochenlang, ja sogar einmal vier Wochen unter der Erde (vermuthlich in einem Keller) zu, wo er nur von Zwiebeln lebte. Hierdurch entging er der Gefahr, bis er nach London entfloh, um Missionär zu werden und als Prophet die Welt zu durchziehen.

In London bereitete er sich zu seiner prophetischen Laufbahn vor und ließ sich durch Sykson dem Vorstand der dortigen Missionsgesellschaft als Mitglied und Sendbote empfehlen. Er wurde mit Vergnügen angenommen, da die Miene des Glaubens und der Frömmigkeit, die er besaß, sein schwungreiches Gemüth und die Kühnheit seines Charakters die besten Erfolge für den Missionsberuf von ihm erwarten ließen. Auch zeigte er sich geneigt, der katholischen Kirche zu entsagen, ließ sich in der evangelischen Lehre so wie in der englischen Sprache unterrichten, blieb aber fest haften an seinen mystischen Idealen, die er aus dem Studium der Bibel geschöpft und denen er später sein ganzes Leben widmete.

So war das Jahr 1812 eingetreten und mit ihm die Erfüllung seiner prophetischen Drohnote. Dieser Erfolg bestärkte ihn in dem Glauben an eine ihm beigelegte höhere Sehergabe, welche zukünftige Dinge im Voraus erkenne. Auch gewann er die Meinung von sich selbst, daß sein Gebet und Flehen Gottes Allmacht und Gnade bewogen habe, die zerstörenden Naturkräfte, als Feuer, Kälte, Hungersnoth und Pestilenz, zum Sturze Napoleon’s in Bewegung zu setzen. Müller’s mystische Richtung erhielt durch diese Zeitbegebenheiten neue Nahrung und einen mächtigen Aufschwung.

Gerade dieses Zutreffen war der Grund, weswegen er sich immer eifriger mit dem Studium der Bibel beschäftigte, weil er glaubte, Alles darin vorgedeutet zu finden, was Welt, Natur und Zeit in ihrem Gange bringen würden. Bei seiner ungemeinen Belesenheit legte er übrigens die Bibel so aus, wie sie zu seinen mystischen Vorstellungen paßte.

Es mochte im Jahre 1813 gewesen sein, als Müller von der Missionsgesellschaft den Auftrag erhielt, sammt William Sykson nach Irland zu gehen. Beide Missionarien wendeten sich, nach längeren erfolglosen Wanderungen, nach Cork, der zweiten Hauptstadt von Irland und einem sehr bedeutenden Handelsplatz, und hier wollte es Zufall und Gelegenheit, daß sie mit zwei Personen bekannt wurden, welche sehr viel dazu beitrugen, daß sich Müller’s Lebenswege immer seltsamer und phantastischer gestalteten. Diese Personen waren Miß H. (deren Namen wir nirgends ausgeschrieben finden) und der Jesuit Martin.

Miß H. wird von unserem englischen Berichterstatter als eine Dame geschildert, die einem Pietistenverein in Cork angehörte, in großen Verbindungen stand, zu den reichsten Damen in Irland zählte und seit den Tagen ihres Frühlings von schmachtenden Seelen umgeben und verehrt war, ohne daß sie sich durch eine dauernde Neigung hätte binden lassen. Schon war sie über die Mittagslinie ihres Lebens hinausgekommen, als Müller in ihr Haus trat und ihre Gunst gewann. Ein bildschöner junger Mann von fünfundzwanzig Jahren mit regelmäßiger Gesichtsbildung, schlanker Figur, imponirendem Wesen und einnehmender Beredsamkeit, wurde er schnell der erklärte Liebling dieser Dame, welche in der mystischen Richtung ihm gefühlsverwandt war und solche Eigenschaften liebte, die außergewöhnlich waren, wie sie in Müller’s Natur sich vereinigt fanden.

Die zweite Person, welche auf Müller’s Leben einen großen Einfluß gewarnt, war der Jesuit Martin, der sich schon seit Jahren in Cork aufhielt, weil er wegen ihm zur Last gelegter Verbrechen den Continent hatte verlassen müssen. Dieser hatte Eingang im Hause der frommen Miß, wurde von derselben zu geheimen Diensten verwendet, besaß eine große Welt- und Menschenkenntniß und wußte es bei der Geschmeidigkeit, die seinem Orden überhaupt eigen ist, so einzurichten, daß er auch neben Müller wenigstens noch Rathgeber im Hause blieb und die Fäden des Gespinnstes in der Hand behielt.

Dieser jesuitische Mephistopheles, dem Müller’s Herz sehr bald wie ein Buch aufgeschlagen war, gewann in Kurzem die Ueberzeugung, daß maßlose Eitelkeit, noch größerer Ehrgeiz und [331] überschwengliche Imagination die Haupttriebfedern in Müller’s Seele waren und daß dieser die Fähigkeit besaß, die außergewöhnlichsten Bahnen einzuschlagen und sich in enthusiastischen Richtungen zu gefallen. Er fand jene seltsame Mischung von Demuth und Anmaßung, von Heuchelei und Freimuth, von Religiosität und frivoler Speculation, von weichlicher Sinnlichkeit und hoher Kraft, von Selbstbetrug und sophistischem Verstand in Müller’s Natur vereinigt, so daß er in ihm ein Werkzeug zur Welterneuerung nach jesuitischen Ordensgedanken, aber auch den Schlüssel zu den Schätzen der Miß zu finden glaubte.

Da dieser geistliche Reineke Fuchs wußte, daß Müller ursprünglich der katholischen Confession angehörte und durch William Sykson davon ab und in den Dienst der englischen Missionsgesellschaft gebracht worden war, so hielt er es für seine erste Aufgabe, Müller von Sykson zu trennen und den Einfluß des Letzteren gänzlich abzuschneiden. Letzteres wußte er auf’s Gründlichste damit zu bewerkstelligen, daß er, natürlich mit weisester Deckung seiner eigenen Person, einen Aufstand des katholisch-irischen Pöbels gegen den englischen Missionär anzettelte, der zu einem furchtbaren Ausbruch kam; nur mit Mühe entging W. Sykson dem Tode und entfloh nach England.

Aber noch ehe dieser Jesuitenstreich gelungen war, stand bereits Müller, ohne es zu merken, unter der Leitung des Bruder Martin, der ihn immer tiefer in das Labyrinth sectirerischer Plane, durch die Hallen und Kreuzgewölbe alterthümlicher Orden zur Schwelle des verheißenen tausendjährigen Reiches führte.

Es liegt nämlich die Vermuthung sehr nahe, daß eine geheime Gesellschaft, die ihren Ursprung vom Orden der Tempelherren ableitet, gleichwie notorisch in Portugal und Frankreich, so auch in Irland bestanden und sich den Namen „Christusorden“ beigelegt hat. Nach gewaltsamer Unterdrückung der Templer im vierzehnten Jahrhundert ist der Kern und das Wesen derselben in diesem Christusorden niedergelegt und durch geheime Mitglieder fortgepflanzt worden. Mit demselben ist der Orden der Jesuiten ganz nahe verwandt und es scheint dieser, seit er aufgehoben worden, mit den geheimen Templern, wenigstens in Irland, unter dem Namen Christusorden sich vereinigt zu haben, in welchem Bruder Martin eine Hauptperson gewesen sein mochte. Auch scheint in dieser geheimen Gesellschaft die Absicht obgewaltet zu haben, die den Balleien und Comthureien der ehemaligen Tempelherren beigelegten Privilegien, Gerechtsame und Immunitäten zu erneuern und unter der Firma des tausendjährigen Reiches eine theokratische Republik zu errichten, womit freilich die bestehenden Polizei- und Militärstaaten mit ihren Fürsten und Contributionen hätten wegfallen müssen. In Müller’s späterem Leben wird man diese Vermuthung immer deutlicher hervortreten sehen, daß er nämlich Mitglied dieser geheimen Gesellschaft und nicht blos religiöser Idealist und Enthusiast, sondern auch politischer Demagog gewesen sei, der den Riesenplan einer socialen Welterneuerung angestrebt habe.

In Folge seines Vertrauens auf den jesuitischen Lehrmeister ist es gekommen, daß Müller demselben das Geheimniß seiner hohen Abstammung mittheilte. Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte diese Nachricht des Jesuiten arglistige Seele. Ihm war es sogleich klar, daß, wenn Müller schon durch seine Naturanlagen zum Schwärmer für die weltumdrehenden Plane der Jesuiten und ihrer Anhängsel geschaffen sei, seine geheimnißvolle Geburt hierzu noch einen bedeutenden Vorsprung gewähre. Er hatte nichts Eiligeres zu thun, als der Miß H. die Nachricht zu überbringen, daß ihr Geliebter ein geborner Prinz aus Deutschland sei, der Thron, Vaterland und Schätze aufgegeben habe, um im Gewande der Niedrigkeit durch die Welt zu pilgern; wie derselbe mit allen Gaben unmittelbarer Erleuchtung und göttlicher Kraft ausgerüstet sei, Wunder zu thun und Weissagungen zu verkündigen, und wie durch ihn, den gottgesandten Propheten, die Erlösung von allen Banden der Erde und die Aufrichtung des tausendjährigen Reiches geschehen werden. Darüber war die Miß außer sich vor Erstaunen und Entzücken. Müller war ihr jetzt Alles, ein Königssohn mit göttlichem Siegel, ein Gesalbter vom Herrn aller Herren, der größer sei, als alle Propheten der Vorzeit. Er wurde Herr über ihre Person und über ihr fürstliches Vermögen, wohnte von nun an beständig in ihrem Palais und schwamm in einem Meere von Seligkeit und Entzücken, welches alle seine Sinne berauschte und ihm schon Scepter und Krone vorgaukelte.

Unter so günstigen Umständen schritt nun Bruder Martin nebst seinen jesuitischen Gesellen und Handlangern auf das Ziel der Welterlösung los und entwarf in der verschleierten Gesellschaft, die aus geheimen Templern und Verwandten bestanden zu haben scheint, die Reichsordnung für das projecirte Herzogthum Jerusalem. Darin sollte Müller Herzog und Prophet sein, wie weiland Melchisedek König und Priester von Salem zugleich war, und als Emissär der Gesellschaft in die Welt gehen, wenn die Zeit dazu gekommen sei. – Er solle den Namen „Müller“ in der profanen Welt ablegen und dafür „Proli“ heißen. Dieses Wort heißt übersetzt „Sohn Gottes“ und kommt entweder her vom lateinischen proles (der Nachkomme, was dann hier ganz besonders den Größten aller Nachkommen von Juda und David würde zu bedeuten haben) oder, was am wahrscheinlichsten ist, vom syro-chaldäischen baroli, übersetzt: Sohn Gottes, welches Wort zusammengezogen Broli und durch Veränderung des B in P Proli gezeichnet wurde. Wir wollen ihn daher unter diesem Namen forthin aufführen, weil er sich ohnedies einige Jahre später officiell denselben durch Regierungsbeschluß hat beilegen lassen. Merkwürdig aber ist es, daß in dieser geheimen Gesellschaft geglaubt worden ist, Proli sei durch Geburt und Abstammung zum Gründer des tausendjährigen Reiches und zum Propheten darin bestimmt, seine Seele sei auch nicht mit der irdischen Hülle erzeugt und geboren (zu Kostheim), sondern sie sei vielmehr im Anbeginn der Schöpfung vorhanden gewesen, von Adam durch Fortwanderung auf Abraham, von diesem auf Moses, von diesem auf David, von da auf Christum und zuletzt in Proli’s Hülle übergegangen, wo sie durch und durch geheiligt und geläutert zur Erlösung der Welt gesendet worden sei. Daher wurden seinem Herzogstitel die Worte beigefügt: „vom Stamme Juda und aus der Wurzel David,“ damit anzudeuten, daß er weit mehr sei, als „von Gottes Gnaden“, daß der Stammbaum seiner Seele vielmehr auf den Uranfang aller Dinge zurückdatire.

Das Modell zur neuen Ordnung des tausendjährigen Reichs wurde vom ursprünglichen Paradiesesstande hergenommen, wie solcher vor dem Sündenfalle war. Da habe man von Polizei, von Obrigkeiten und Königen, von Kirchen und ordinirten Geistlichen, von Adeligen und Bürgerlichen, von regulirtem Militär mit Bajonneten und Kanonen, von Börsenspiel und Actienschwindel, von Ritterschaft und Hörigkeit, sowie von sonstigen Standesunterschieden nichts gewußt. Von solchen Dingen sollte das neue Reich Erlösung bringen und Befreiung von allem Druck und allen Gewalten auf Erden. Drei Stücke aber sollten vorzugsweise in Kraft und Wirksamkeit stehen: einmal Gütergemeinschaft wie bei einer großen Familie, so daß Niemand so arm sei, daß er Noth litte, und Niemand so reich, daß er Ueberfluß hätte; – ferner Freiheit für beide Geschlechter mit einander umzugehen, je nachdem sie für einander fühlen, ohne daß sie durch ein festes kirchliches Eheband verknüpft sein müßten; – und endlich Gleichheit aller Stände, ohne Geburtsvorzüge und Rangordnungen, Titel und Würden, Orden und Wappen. Unter diesem Banner sollten alle Völker der Erde zu einem einzigen versammelt werden, zu dessen Haupt und Prophet Proli von Anbeginn berufen sei.

Vorläufig handelte es sich darum, die Auserwählten um den Propheten zu sammeln, und dieses konnte mit den grandiosen Geldern der frommen Miß H. nicht schwer fallen. Proli fand viele Anhänger für sein projectirtes Reich und richtete in dem Palais der Miß eine Hauscapelle ein, worin zwei Mal des Tages Betstunde gehalten wurde. Da erschien Proli als Fürst und Prophet mit allen Insignien seiner angeblichen göttlichen Sendung. Der Jesuit übernahm das Amt eines Oberpriesters und trug dafür Sorge, daß eine Anzahl Priesterinnen, an deren Spitze die fromme Miß stand, stets im Gefolge des Propheten waren. Mit den Betstunden wechselten periodische Festlichkeiten ab, die ganz darauf berechnet waren, die Adepten und Priesterinnen des himmlischen Reiches auf Zion in einen Freudentaumel zu versetzen, um nach dem Rathe des jesuitischen Mephistopheles ihre Seelen ganz zu besitzen. Unter diesen Festlichkeiten ragen besonders die Bälle hervor, die in einem Landhause der Miß nach der Weise des Paradiesesstandes abgehalten wurden. Dabei sah man an einem Tempel von himmlischem Glanz und Pomp die Worte flammen: „Freiheit allen Welten!“ In der Mitte saßen auf Thronen der fürstliche Seher, die Miß und der Oberpriester umringt von Nymphen, deren lieblicher Stimmenklang die irdische Sphäre zu einer himmlischen zu verzaubern vermochte.

[332] Dieses Elysium auf Erden, diese Mysterien der Liebe und Wollust, diese Tänze der Adepten und Grazien fanden natürlich in solchen Kreisen Beifall, die zur Gesellschaft zählten, und das Geld für die Vereinscasse wurde dazu sehr reichlich gespendet. Das neue Jerusalem, gestützt auf das Testament der ehemaligen Tempelherren, gewann immer größere Dimensionen und wurde allmählich im großen Publicum bekannt, zum Theil Gegenstand der spannendsten Neugierde, zum Theil der schärfsten Anklage von Seiten Solcher, welche die öffentliche Moral gefährdet glaubten.

Letzteres drohte endlich der geheimen Gesellschaft gefährlich zu werden, weshalb Bruder Martin den Rath gab, in Begleitung der reichsten Bürger und Nymphen der Gesellschaft Cork zu verlassen und nach London überzusiedeln, wo man hoffen durfte, inmitten der ungeheueren auf- und abwogenden Menschenmenge in den Mysterien des neuen Jerusalems mit größerer Sicherheit leben und eine noch größere Zahl von Proselyten finden zu können.

Von der Nothwendigkeit dieses Schrittes die Miß H. zu überzeugen, hielt am schwersten, da sie durch ihren reichen Grundbesitz an Irlands Boden gebunden war und nicht mitziehen konnte. Sie rang die Hände und vergoß einen Strom von Thränen, als Proli kam, ihr die Trennung zu melden; er berief sich jedoch auf eine Erscheinung des Erzengels Gabriel, die ihn zu diesem Entschluß aufgefordert habe, aber erst als er versprach, wiederzukommen und sie als Gemahlin und Herzogin des neuen Reichs heimzuholen, ergab sie sich in die Nothwendigkeit und rief ihm noch mit aufgelösten Haaren und schluchzender Stimme nach: „Herr, gedenk an mich, wenn du in dein Reich kommst!“

Im Besitze einer Summe von nahezu hunderttausend Pfund Sterling, welche die Gemeinschaft der Heiligen zusammengesteuert und wozu die Miß H. das Meiste beigetragen hatte, kam Proli nebst seinem Mephistopheles und einer Anzahl Jünger und Priesterinnen in Britanniens Hauptstadt an. Das Leben in London erwies sich jedoch so kostspielig, daß die heilige Gesellschaft bald in Noth gerathen mußte. Diese Zeit sah der jesuitische Judas voraus und hielt es für angezeigt, das Geld aus dem drohenden Schiffbruch zu retten. Während eines Tages der Prophet seine Andacht mit den Jüngern und Priesterinnen hielt, schlich er in das Cabinet des Propheten, bemächtigte sich der ganzen Summe in Banknoten, die noch vorhanden war, und entfloh.

Als der Prophet aus seinen Andachtsübungen zurückkam und sein Cabinet betrat, ersah er aus einem von Martin zurückgelassenen Zettel, daß der Judas in den Hafen geeilt und ein Schiff bestiegen hatte, um nach Amerika zu entweichen. Trotz aller Bestürzung und augenblicklichen Verlegenheit beschloß Proli, den Diebstahl vor seiner Gesellschaft geheim zu halten, er gab sogar vor, daß er den Jesuitenpater nach Dänemark und Schweden auf eine Missionsreise gesendet habe und daß er demselben die Summe von dreitausend Pfund Sterling nachschicken müsse. Diese Summe entlieh er von seinen Anhängern, versprach die Rückzahlung innerhalb vier Wochen, wenn er den Erlös aus seinen Gütern von einigen Millionen Thalern flüssig gemacht hätte, und entfloh mit dem Gelde nach Hamburg, nachdem er vorher den vornehmsten Auserwählten seines himmlischen Reiches verkündigt hatte, daß er, Proli, gleich Moses dem Erdkreis entschweben und sich erheben müsse zu den höchsten Regionen des Urlichtes, um dort sein Angesicht in das leuchtende Meer der Offenbarung zu tauchen und von da hellleuchtend zurückzukehren, wie Moses vom Berge Sinai in voller Glorie herabgestiegen sei zur Erdenwelt. Dann würde das Reich der Herrlichkeit vollendet sein. Bis dahin sollten sie sich wacker halten, damit er nicht nöthig habe, bei seiner Wiederkunft wie Moses die Gesetzestafeln zu zertrümmern.

(Schluß folgt.)




Das Unterwasser-Geschütz.
Ein Brief von Wilhelm Bauer.


Nachdem die Gartenlaube seit einer Reihe von Jahren meine Bestrebungen in der Submarine und die damit erzielten Resultate ihrem Leserkreis in allen Welttheilen zur Kunde gebracht und für mich um Freunde geworben, welche durch freiwillige Geldbeiträge es ermöglichten, daß ich das Dampfschiff „Ludwig“ aus der Tiefe von dreiundsiebenzig Fuß so wohl erhalten heben konnte, daß es gegenwärtig unter dem Namen „Rorschach“ den Bodensee wieder nach allen Richtungen durchfurcht; – nachdem mir ferner ermöglicht worden, den Plan zu einer für unterseeische wie für aëronautische Fahrzeuge geeigneten Motionsmaschine durch Experimente im Kleinen so weit auszuarbeiten, daß auch dieses Problem nur der Großausführung harrt (denn es ist mir gelungen, die Expansivkraft des Petroleums in langgezogenen Explosionen auf eine Wassersäule wirken zu lassen, um die Propellerschraube durch eine Turbine zu bewegen): fand ich auch die nöthige Hülfe, um die Plane zu meinen Unterwasser-Geschützen nicht allein ausarbeiten, sondern auch praktischen Versuchen unterziehen zu können. Auch darüber ist seiner Zeit von der Presse kurz berichtet worden. Möge mir nun gestattet sein, über diese unterseeischen Schießproben einige ausführlichere Mittheilungen zu machen und so meinen Dank für die freiwillige Förderung dieser technischen Versuche auszusprechen, dagegen über die eigenthümlichen Erlebnisse auch mit diesem Theile meiner Erfindung in den Kreisen der Competenz schweigend hinwegzugehen.

Es dürfte genügend bekannt sein, daß ich weder an den deutschen Ostsee- noch an den Nordseeküsten die beabsichtigten unterseeischen Schießversuche ausführen durfte, daher ich schließlich nach Baiern zurückkehren und bis auf den Alpensee bei Starnberg steigen mußte, um eine deutsche Waffe wenigstens in deutschem Wasser erproben zu können. Daß ich auf diesem fünf Stunden langen Alpensee keine Panzer- oder sonstige Kriegsschiffe zum Durchschießen vorfand, weiß Jedermann; daher mußte ich versenkbare Ziele bauen, welches für meinen Zweck an die Stelle von Bodentheilen feindlicher Kriegsfahrzeuge traten; ebenso wenig besaß ich ein unterseeisches Boot, und auch dieser Mangel war in einer Weise zu ersetzen, die mir dennoch die vollständige Lösung meiner Aufgabe möglich machte.

Zum Verständniß dieser Aufgabe gehören folgende Vorbemerkungen.

Nachdem die unterseeische Navigationsfähigkeit meiner Taucherfahrzeuge bei Kiel und Kronstadt praktisch bewährt war, obgleich dort nur Menschenkraft zur Fortbewegung diente, so waren noch zwei Hauptbedürfnisse zu lösen und zu bewähren. Die erstere bezog sich auf die erwähnte neue Motionsmaschine, die zweite auf die in einem „Küstenbrander“ anzubringenden Unterwasser-Geschütze, um mittels dieser feindliche Schiffe von unten nach oben durchschießen zu können, und zwar ohne den Rückstoß der Geschütze auf den Körper des „Küstenbranders“ nachtheilig einwirken zu lassen. Gehässige Verurtheiler meiner Erfindung, die über sie absprechen ohne sie zu kennen, haben mit ganz besonderm Hohn prophezeit, daß der erste unterseeische Schuß aus meinem Boote dieses selbst zertrümmern würde. Die Leser der Gartenlaube werden sich nun über das mir angedrohte Schicksal leicht beruhigen, wenn sie, denen aus der Illustration in Nr. 35, Jahrgang 1864 die äußere Form eines Küstenbranders bekannt ist, Folgendes erwägen. Sie müssen sich nämlich mitten durch das Schiff vom Kiel bis zum Deck reichende eiserne Rohre laufen denken, welche oben wie unten wasserdicht mit den Wandungen vernietet werden; diese Rohre, die ich Führrohre nenne, bilden demnach Cylinder, in welchen ein Geschütz, welches von einem Holzmantel umgeben und getragen ist, der dasselbe schwimmen macht, wie ein Kolben oder Pfropfen auf und ab bewegt werden kann, und da nun das Wasser in dem Führrohre nach unten oder oben ungehindert austreten kann, so ist bei der Abfeuerung des Geschützes ein wenn auch noch so starker Rückschlag desselben unschädlich, weil er nur auf das Wasser außerhalb des Bootes wirkt, ohne auf den Körper desselben einen wesentlichen Einfluß auszuüben. Es war daher für die Schießversuche selbst der Besitz eines unterseeischen Fahrzeuges kein absolutes Bedürfniß, dagegen mußte ich eine Vorrichtung treffen, daß ein Führrohr das Geschütz sammt seinem Holzmantel aufnehmen und frei darin spielen lassen konnte.

Weil das Geschütz sammt Führrohr, in Ermangelung eines führenden Küstenbranders, auf den Grund des Sees an Stellen von vierzig bis sechszig Fuß Tiefe gesenkt werden mußte, so gab

[333]

Wilhelm Bauer’s unterseeischer Schießversuch auf dem Starnberger See.
Nach einer Originalzeichnung des Erfinders.

[334] ich dem Führrohre vier Füße von zwei Fuß Länge, damit das bei dem Abfeuern durch den Rückstoß gedrückte Wasser auch nach unten freien Abzug habe.

Da ich annehme, daß ich feindliche Schiffe so unterfahren werde, daß ich ungefähr sechs bis acht Fuß unter deren Kiel durchfahre, so verband ich die zu durchschießende Zielscheibe, die also hier den Boden eines feindlichen Schiffes darstellen soll, mittels Eisenschienen mit dem Führrohre auf sechs bis acht Fuß Abstand, denn es handelte sich hier nur um Constatirung der Wirkung eines vertical geschossenen Geschosses gegen Holz und Eisenplatten unter Wasser und nicht um weitere Schädigung der Schiffräume und Besatzung bis zum endlichen Versinken oder Explodiren des feindlichen Schiffes. Das in unserer Illustration gezeigte Floß diente nur zum Hinausfahren zur Schießstelle und ermöglichte die Handhabung und Ladung des am Krahn auf- oder niedergeholten Geschützes sammt Scheibe; in der Hütte des Flosses befand sich die galvanische Batterie, durch welche die Geschützladung entzündet wurde und deren Leitungsdrähte (Conductoren) um eine Spuhle aufgerollt waren, um bei der Versenkung des Schießapparats in den See nach Bedürfniß abgerollt zu werden; auch war in dieser Hütte die Munition vor Regen und Schnee geschützt.

Am 18. März 1866 machte ich mit einer vierundzwanzig Pfund schweren Granate, welche mit Blei ausgegossen war, den ersten Probeschuß im Scharffeuer. Ich fuhr mit dem Floß bis zu einer Stelle, wo der See nur zwölf Fuß Tiefe hat, ließ hier das Geschütz, jedoch ohne Vorsetzung einer Scheibe, senken und die beiden Conductoren der galvanischen Batterie wurden von der Spuhle entsprechend nachgelassen. Nachdem die Füße auf dem Grunde des Sees aufstanden, wurde das Floß um seine halbe Länge am Anker zurückgezogen, dann ließ ich mein damals fünf Jahr elf Monate altes Söhnchen Wilhelm[2] durch Schließung der Batterie den ersten Kanonenschuß unter einem deutschen Wasser entzünden; im selben Moment stieg eine Wasserhose von etwa fünfzig Fuß Höhe auf, aus welcher sich die von zwei Pfund Ladung (Pulver) geschleuderte Granate erhob und endlich mit heftigem Zischen aus einer Höhe von ungefähr viertausend Fuß in den See fiel. Bei diesem ersten Scharfschuß hat sich gezeigt, daß meine Construction der einsetzbaren Zünder, sowie die Art des wasserdichten Abschlusses gegen Nässung des Pulvers richtig war und der Rücklauf des Geschützes in dem Führrohre nur zweiundeinhalb Zoll betrug, weil weder eine Scheibe noch ein Schiff über der Mündung stand. (Da die Gartenlaube kein Specialblatt für Technik ist, so können hier die technischen Details der Zünder, Geschützbohrungen etc. übergangen werden.)

Nach diesem ersten Probeschuß wurden zunächst blos Holzscheiben mit dem Geschütz-Führrohre verbunden und mit Rundkugeln bei verschiedenen Ladungen und in verschiedenen Tiefen unter Wasser durchschossen, wobei sich zeigte, daß nicht allein die stärksten Linienschiffboden durchschossen werden können, sondern daß nach dem Durchbruch der Kugel auch die ganze Flamme der Pulvergase in den Schiffraum tritt, weil das Wasser die Verlängerung des Geschützrohres bildet und nicht so schnell nach allen Seiten weichen kann, als wie die Kugel in der kürzesten Verticallinie steigt.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß, wenn ein solcher unterseeischer Schuß in den Schiffboden eingedrungen, ein Verstopfen der Oeffnung nicht möglich ist, weil die unteren Schiffräume mit Ballast, Proviant, Ketten und Tauwerk, Maschinen und Munitionsrequisiten gefüllt sind, daher für Menschen nicht so schnell zugänglich, als für das eindringende Pulvergas und Leckwasser. – In dem Vorgefühl dieser seiner Furchtbarkeit benannten schon 1850 die schleswig-holsteinischen Officiere den Brandtaucher als „Seeteufel“, und die kaum überwindbare Abneigung der Marinelenker bis heute basirt einzig auf der Erkenntniß der Unabhaltbarkeit und Furchtbarkeit dieser unterseeischen Waffe, gegen welche auch kein Panzer schützt, wie die nun folgenden Versuche erwiesen.

Diese wurden gegen Eisenplatten, welche ich an den Holzscheiben aufschrauben ließ, in Tiefen von dreißig, sechsunddreißig und vierundzwanzig Fuß vorgenommen, in welchen die Panzerplatten ebenfalls an Stelle des Schiffbodens versenkt waren, während das Geschützrohr nur sechs oder acht Fuß unter derselben mündete. Die Eisenpanzerplatten ließ ich in München in der Fabrik des Herrn von Maffei aus bestem Kesselblech von einen halben Zoll dicken Platten in zwei, drei, vier Lagen zusammennieten und bei drei und einem halben Fuß im Quadrat zum Anschrauben an die Holzscheiben lochen. Die erste Panzerscheibe bestand aus zwei solchen Platten und wurde bei sechsunddreißig Fuß Tiefstellung mit zwei Pfund Pulver so durchschossen, daß das Geschoß noch einen Fuß zehn Zoll tief in die Holzscheibe eindrang und die sich kreuzenden Balken bis fünf Zoll aufbog, viele eiserne Verbandschrauben abriß oder verbog und es somit außer Zweifel ließ, daß die jetzt übliche Stärke der Bodenplatten bei eisernen Kriegsschiffen von sieben Achtel Zoll Dicke keinen nennenswerthen Widerstand selbst nur gegen zwei Pfund Ladung Pulver zu leisten vermögen.

Ermuthigt durch diese günstigen Resultate, dehnte ich die Versuche auf Scheiben von drei und vier Eisenplatten aus, welche ich mit drei und vier Pfund Pulverladung und zweiundsechszig Pfund schweren Stahlgeschossen bearbeitete, bis endlich am 18. April die königl. baierische Artillerie-Berathungs-Commission, sowie die beiden Herzoge Karl Theodor und Max Emanuel von Baiern mit ihren Adjutanten, endlich die Doctoren Steinbacher und Hauff von München zu den Schlußversuchen kamen. Da die k. Artillerie-Commission dienstlich befohlen war, so mußte ich auch die ganze Reihenfolge vom Zündfeuer bis zum Scharfschuß gegen leine aus vier Eisenplatten zusammengesetzte zwei und einen Viertel Zoll dicke Panzerscheibe vorstellen, und wir fuhren dazu auf eine Stelle, wo die Scheibe vierundzwanzig Fuß unter der Oberfläche gehalten war.

In dem Moment der Zündung waren, wie immer, zwei rasch aufeinander folgende Schläge hörbar, wovon der erstere den Austritt des Geschosses aus dem Rohr, der zweite den Anschlag des Geschosses an die Panzerplatten bekundete, gleich darauf erfolgte eine schwingende Bewegung des ganzen Flosses, das Wasser hob sich in einem Kreis von etwa fünfzig Fuß Durchmesser um einige Zoll und Millionen von Luftperlen stiegen an das Niveau. (Eine Wassersäule kann nur dann hoch aufgeschossen werden, wenn weder eine Scheibe noch ein Schiff über der Mündung des Geschützes festgehalten ist, sonst bricht sie sich daran.) Der Knall des Schusses im Wasser ist nicht entfernt so heftig, wie bei den in der Luft abgefeuerten Geschützen, dagegen die Erschütterung des bewegten Wassertrichters so stark, daß die Masten eines Schiffes dadurch sofort abspringen würden.

Ich ließ nach diesem letzten Probeschuß Scheibe und Geschütz am Krahn aufholen und erstere kehren, um die Wirkung an der Platte zu untersuchen. Dabei ergab sich, daß die sämmtlichen vier Eisenplatten an der Stelle des Anstoßes des Geschosses fünf Zoll tief eingestoßen und nach drei Seiten gerissen waren. Die höchstgelegene Platte zeigte eine Ausbauchung von neun Zoll und an der ganzen Plattenscheibe war keine gerade Linie mehr zu finden, daher die Vernietungen alle gelockert waren. Die als Träger benutzte Holzscheibe, aus drei Lagen achtzölliger Balken bei sechs Fuß in Quadrat, zeigte, daß der nächst getroffene Ballen abgeklemmt und zu beiden Seiten fünf und zwei Zoll hinausgedrückt worden war, obgleich zwei Verbandschrauben durch die Enden liefen, welche sich aber ebenfalls als abgesprengt zeigten.

Das zu allen diesen Versuchen benutzte Geschütz war das alte Metallrohr einer Siebenpfünder-Haubitze, welches ich zu meinem Zwecke auf zwei Fuß vier Zoll Fluglänge hatte abschneiden lassen. Nach dem letzten Schuß zeigte es eine Ausbauchung über der Kammer von einem halben Zoll, doch blieben Zünder und die Conductionsverbände im Stoßboden unverletzt, wie immer, da ich nur Quecksilber zur Conduction verwendete. Hätte ich mein in Preußen proponirtes Geschütz statt dieses Nothbehelfs anwenden können, so hätte ich die Versuche bis zu zwölf Pfund Ladung und einhundertundzwanzig Pfund schwerem Geschoß ausdehnen können; so aber mußte ich mich der Befürchtung der Commission, „das kleine Geschütz halte fernere Anstrengungen nicht mehr ohne Zerreißen aus“, anschließen.

Ueber meine Schießproben selbst sagt die Artilleriecommission in ihrem längeren Bericht und dessen Schlußfolgerungen:

„1. Die Möglichkeit des Abfeuerns eines außer Wasser geladenen Geschützes durch elektrische Entzündung der Ladung in beliebiger Wassertiefe unterliegt keinem Zweifel.

2. Die vom Erfinder beabsichtigte Art und Weise, das Geschütz in einem Brandtaucher zu führen, erscheint als ausführbar.

[335] 3. Die Benutzung dieses Geschützes für den Landkrieg und speciell für Baiern kann in keiner Weise praktisch erscheinen, da Brandtaucher nur in Gewässern von größerer Tiefe Verwendung finden können.“

Die Versuche wurden nun eingestellt, das Geschütz wieder abgeliefert, die deutschen Regierungen durch ihre Gesandten von diesen Erfolgen in Kenntniß gesetzt, aber meine Bitte um Gewährung der Mittel zur Erbauung eines Küstenbranders, der mit fünf solchen, aber größeren Geschützen armirt werden sollte, blieb bis zur Stunde unbeachtet, obgleich ich nur einhundertundzwanzigtausend Thaler hierzu bedürfte und praktisch zu beweisen bereit bin, daß ich mit einem solchen Fahrzeug eine Anzahl der viele Millionen kostenden Panzer- und Holzschiffe in den Grund zu bohren vermag, ohne selbst Schaden zu nehmen.

So stehe ich wieder nur um ein Kleines vorgeschritten in Erfahrung und Leistung vor Deutschland, sehe tief bewegt mich zur Thatlosigkeit verurtheilt, während die Rüstungen zu Land und See ganz Deutschland beschäftigen. Die Nation kann ich nicht um so große Opfer bitten, die Regierungen wollen an mir keinen Dreyse zur See erkennen, ich selbst aber bin machtlos dem Geschick überantwortet. Mein Urtheil, daß die Monitors nur der Uebergang zur Submarine sind, wird belacht. Meine Behauptung, daß „Lissa“ den Beweis geliefert hat, daß sich Kriegsschiffe dem Widderstoß durch Untertauchen entziehen müßten, erscheint heute noch kindisch oder zu kühn, und meine Fernsicht, daß die Handelsschiffe den Gefahren des Sturmes, des Strandens, Scheiterns etc. durch Untertauchen unter die Wellentiefe während eines Sturmes wie eine Qualle sich entziehen müssen und noch werden – erscheint der Gegenwart noch zu grau. Die Sache ist noch in deutscher Hand, kommt noch nicht aus England oder Amerika, und kostet darum noch nicht Millionen! Das sind die Mängel, an denen sie zu Grunde geht.




Blätter und Blüthen.


Zwei „Philosophen“ in ihrer Einsamkeit. Der Einzig-Eine, unser Altmeister Goethe, sang einmal:

„Wenn die Reben wieder blühen,
Rühret sich der Wein im Fasse.“

Was aber war es doch, was mir diese Verse so mit einem Male in den Sinn blitzte, als ich jüngst – es war in den letzten Tagen des Monats April – den vielbesprochenen Schatten seiner selbst sah, den entthronten Kurfürsten von Hessen? Aus Süddeutschland kommend, gelangte ich in die Stadt Hanau. Dort ließ mich ein Zufall in einer der wenigen sonnigen Stunden, die unserm diesjährigen „Wonnemonat“ vorausgegangen sind, an ein Gitterthor des Philippsruher Schloßgartens herantreten, als eben „der alte Herr“, von einer seiner Töchter begleitet, lustwandelte in den Gängen des Parks, umrauscht von dem jungen Laube der Birken und der Linden, die, mißmuthig über die böse Zeit, ihre alten Wipfel im Winde schüttelten. Serenissimus war lebhaft erregt; sein Auge leuchtete. War ihm der Frühlings-Lockruf der Drossel in’s Herz gedrungen, die dort auf der höchsten Spitze der Esche saß, stolz wie ein König auf seinem Throne? Oder hatte er dem Liede der Lerche gelauscht, die fröhlich über den grünen Kornfeldern der Kesselstädter Flur ihren Jubelsang erschallen ließ? „Der alte Herr“ hörte nicht das Rauschen der Linde, nicht den Ruf der Drossel und der Lerche; er sprach – vom Krieg. Er sprach von den Schlachten, die dem deutschen Volke schon wieder bevorstehen, und – das gerade ist das Schwere der Gegenwart – aus dem großen Chaos, das da zu drohen schien, lächelte ihm eine junge Hoffnung.

Obschon durch ein eisernes Gitterthor von ihm getrennt, stand ich doch dem weiland Selbstbeherrscher des Hessenländchen, dem gestürzten Nachkommen Philipp’s des Großmüthigen, so nahe, daß ich ihn fast mit den Händen hätte greifen können. Ich sah in sein Auge und habe die Bedeutung des einzigen Blickes, den ich erhaschen konnte, schwerlich falsch verstanden. Der Mann ist nicht mehr der Gefangene von Stettin, nicht mehr der Gebrochene, Vernichtete; wie unglaublich es unseren großen Diplomaten auch klingen mag: er hofft wieder. Auch damals habe ich ihn gesehen, als er, der Kriegsgefangenschaft entlassen, wieder frei in die Heimath ging. Damals meinte ich, der schwere Gang in das Altstädter Schloß zu Hanau werde nur noch sein Gang zum Grabe sein. Friedrich Wilhelm „der Erste“ schien mir damals völlig niedergedrückt, ja zerschmettert zu sein von der Schwere seines Schicksals. Seine Gesichtszüge waren schlaff, die Farbe seines Angesichts fast grau geworden. Der Nacken, den er sonst doch wohl gar stolz getragen haben mag, war gebeugt; die Schritte waren unsicher wie die eines lebensmüden Greises. Die Tochter, die auch dort – in Stettin – als opfermuthige Gefährtin und hingebende Pflegerin treu an seiner Seite stand, hatte ihm damals den Arm offenbar nur deshalb nicht gereicht, damit er nicht auch selbst an seine Hinfälligkeit erinnert werde. Wie aber ist es denn möglich, fragte ich mich jetzt, daß dieser Mann, dieser Gedemüthigte, dieser schon Sterbende so mit einem Male wieder jung geworden?

Wahrlich, es scheint so, und zwar nicht mir allein. Serenissimus hat sich die Regierungssorgen abgeschüttelt, sie sind ihm durch das Schicksal abgeschüttelt worden, und, befreit vom Eise der Regentenpflicht, trinkt nun „der alte Herr“ junge Lebenskraft in dem würzigen Dufte des Lenzes. So wenigstens erklärt man es sich in Hanau. Nicht, daß Serenissimus so ganz frei von Sorgen wäre, sagte man mir, oder daß er nicht jetzt noch tapfer arbeitete. Denn noch ist nicht Alles glatt zwischen ihm und dem Sieger; noch giebt es täglich Differenzchen und Differenzen zu ordnen und darunter selbst solche, die beim Ordnen nur immer größer werden. Auch in der Verwaltung seines Privatvermögens, in seinen Familienverhältnissen findet der Entthronte Beschäftigung in Hülle und Fülle. Eine Last aber ist ihm alles Das schwerlich. Hieß er doch, als er noch souveräner Herr war, in allem Ernste der fleißigste Mann Kurhessens. Niemals hat er das Regieren leicht genommen. Er hatte sich dabei allerdings seine höchsteigne Schablone, wenn man will, sein System gemacht und vielleicht war es gerade sein größter Fehler, daß er trotz allen Mühsalen, die ihm daraus erwuchsen, in der unglückseligen Meinung verharrte, es müßte so sein und ohne sein persönliches, sein unablässiges, ja geradezu halsstarriges Eingreifen in Alles, selbst in das Kleinste, werde die Staatsmaschine still stehen. Aber indem er Alles und Jedes in seiner eigenen Manier zum Verzweifeln pünktlich und einseitig genau nahm, wurde er durch sein Arbeiten die Ursache des Stillstandes. Seine Rathgeber, nicht selten Männer ohne Charakter, suchten ihrer großen Mehrzahl nach diesen Uebelstand nicht immer mit ehrlichen Mitteln zu bewältigen. Die landesherrlichen Entschließungen, die man sich nicht durch kühne Energie zu erkämpfen, dem „allergnädigsten Herrn“ nicht ehrlich abzutrotzen vermochte, suchte man nicht selten zu erlisten oder wohl gar zu erschwindeln. Man ließ ihn befangen bleiben in irrigen Voraussetzungen, wenn man der Meinung war, sie seien geeignet, die Schwergeburt seines Entschlusses zu fördern, und man verheimlichte Anderes, was er auf alle Gefahr hin hätte wissen müssen. Daß der so Betrogene alsdann doch nur allzu oft hinter den Schwindel und hinter die List kam, machte ihn natürlich eigensinnig und mißtrauisch; machte ihn als Regenten so, wie ihn die Welt jetzt kennt. Ich will in dieser Beziehung keine Charakteristik versuchen; er büßt die Schwere des Wortes, daß es bis hin zu den Thronen nur selten einen Weg giebt – für die Wahrheit. Wohl mag sie Serenissimus jetzt gar manchmal hören, aber zu spät!

Doch ich wollte ja nur den Blick zu deuten versuchen, der in den Augen des Alten leuchtete, als den Lippen das Wort „Krieg“ entschwebte. Sah mir doch dieser Blick entschieden nicht darnach aus, als wenn Kurfürst Friedrich Wilhelm von Hessen an sein „Zu spät!“ schon glaubte. Noch blühen die Reben nicht, die hier und da auch im Philippsruher Parke grünen, aber bei dem Alten selber wirkt der Kriegsrumor (und in jenen Apriltagen war dieser gar besonders laut) wie die Rebenblüthe auf den Wein im Fasse.

Noch einmal ging „der alte Herr“ an mir vorüber; er sprach jetzt nicht mehr vom Krieg. Er trat sinnend zu einer Frühlingsblume heran und betrachtete lächelnd die goldenen Flügeldecken des Hollunderkäfers, der glänzend im Blüthenkelche saß, unbekümmert um den Sturm, der hoch über ihm die Wipfel der Linde zauste. „Der alte Herr“ war jetzt wieder ganz derselbe, als welchen ihn die Zeitungen neuerdings zu schildern pflegten, wenn sie von ihm erzählten, daß er nur noch fleißig spazieren gehe, lache und scherze, im Theater ungewöhnlich heiter sei und auf den Straßen menschenfreundlich mit den Kindern plaudere, als wenn er niemals auf einem Throne gesessen hätte. Er war jetzt ganz der „Hanauer Philosoph“, dem noch vor Kurzem auf dem ganzen Erdenrund auch nicht eine Seele das Philosophiren hätte zutrauen mögen.

Auch ich vergaß jetzt den Krieg und ging weiter. Zu meiner Linken die niedrigen Häuser Kesselstadts, jenes Dörfchens, das in Wahrheit eine Vorstadt Hanaus ist. Zu meiner Rechten der hochangeschwollene Mainstrom. Die Wogen schäumten und brausten. Sie kamen mir wahrlich weit weniger pfützenhaft vor, als man sie jüngst in meiner norddeutschen Heimath zu schildern versucht hat. Mancher Held, der kühn in Worten schwimmt, möchte schwer erschrecken, wenn er jetzt einmal versuchen sollte, sich keck hinüber zu rudern. In allerlei Gedanken vertieft, die sich an diese Betrachtung knüpften, wandelte ich auf und ab am Strome. Da huschte plötzlich ein goldgelocktes Kind an mir vorüber, leicht und lieblich wie eine Elfe. Sie sprang fröhlich-wild über das bunte Seil, das sie eifrig mit beiden Händen schwang, und war dabei ganz so rasch verschwunden, wie sie gekommen war. Und doch, ich konnte das Gesicht dieser Kesselstädter Kleinen so wenig vergessen, wie das des Hanauer Philosophen. Mir war, als hätte ich auch in den Zügen des Kindes das Antlitz eines alten Bekannten, den Blick eines Philosophen wiedergefunden. Eine schöne Stirn, eine feine, aber kühn geschnittene Nase, unter den festgeschlossenen Lippen ein scharf hervortretendes Kinn – Alles zart-kindlich und weiblich und doch so erinnerungsvoll? Ja, sie konnte mich wohl erinnern; sie war die Tochter noch eines anderen Hanauer Philosophen: ich stand vor dem Gartenhause Karl Gutzkow’s; die Kleine, die ich gesehen hatte, war eines von seinen Kindern. Aber der ewig ringende, gestaltende, schaffende Philosoph dort im Gartenhause läßt jetzt weniger von sich erzählen, als sein vielbesprochener College im Schloß. Auch der Philosoph des Gartenhauses hat sich einen Thron gebaut, aber nur einen geistigen, der nicht einstürzt. Und noch immer – nach einem schweren Schicksal dem Leben auf’s Neue zurückgegeben – bevölkert er sein Reich mit lebendigen, lebenskräftigen, unsterblichen Gestalten: der Ritter vom Geiste entsendet seine Ritter, aber auf der Fahne, unter welcher sie kämpfen, steht der Sinnspruch der Kunst: Bildung, Friede, Freiheit.

Das Häuschen, in welchem Gutzkow wohnt, liegt nur wenige Schritte vom Main entfernt. Es gehört schon zu Kesselstadt, nicht mehr zu Hanau. Die dunklen Tannen, die Birken und Ahornbäume eines kleinen Gartens verstecken es so vollkommen, daß Hunderte vorübergehen, ohne es nur zu sehen. Es liebt die Einsamkeit wie sein stiller Bewohner, der nur selten sichtbar wird, um allein oder mit seinen Kindern die Stadt zu besuchen. [336] Nur Kunstgenossen und Mitglieder, nur alte, Freunde kommen mitunter zu ihm; nur Vertraute verkehren mit ihm. Wer ihn aber heimsuchen darf, der findet immer einen gastlichen Wirth, einen freundlichen Bekannten, einen mittheilsamen Gelehrten, einen unermüdlichen Arbeiter. Und auch das Häuschen sieht drinnen im Garten weder so klein noch so versteckt aus, wie es von außen erscheinen mag Es gewährt den freien Blick auf den Main, den Blick hinüber auf die malerischen Thürme von Steinheim, hinüber in die blauen Berge des Freigerichtes, des Baierlandes. So sieht Gutzkow die schwere Arbeit der deutschen Nation noch immer unvollendet zu seinen Füßen liegen. Hier den trennenden Strom und die schwarzweißen Grenzpfähle; dort die bescheideneren roth- und blauweißen; nirgend die alleinigenden, ewig hehren, schwarzrothgoldenen. Aber noch liegt ja, wie die schwere Sorge um das Unfertige und Zerbröckelte, so auch der volle Tag vor uns; auf denn, du mein deutsches Volk, an die Arbeit!




Goldelse als Buch. Wir sind überzeugt, der Name braucht nur genannt zu werden, um weit und breit freundliche Erinnerungen, einen wohlmeinenden Nachklang genußreicher Stunden zu wecken. Hat die Erzählung schon überall eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit erregt, als sie im vorigen Jahre in unsern Blättern die Welt durchzog, so wird sie wohl kaum einer Empfehlung bedürfen, da sie nun allein kommt und die Kraft ihrer eigenen Schwingen erproben will. Nur über die Gründe, welche die Verlagshandlung bewogen haben, von ihrem bisherigen Grundsatze abzugehen und eine bereits von der Gartenlaube mitgetheilte Novelle noch einmal als Buch erscheinen zu lassen, glauben wir mit einigen Worten uns aussprechen zu müssen.

Ein Journal verfügt nur über ein bestimmtes, genau zugemessenes Terrain, auf welchem nicht alle zur Aufnahme bestimmten literarischen Producte in demselben Umfange Platz finden können, wie sie der freien Schöpfungskraft des Autors entwachsen sind. Um die wesentlichen Bestandtheile und Schönheiten einer interessanten Arbeit für ihre Leser zu retten und bei den ohnehin störenden Zwischenräumen von einer Nummer zur anderen den Gang der Entwickelung nicht unnöthig aufzuhalten, muß sich vielmehr eine Redaction oft genug mit zagendem Herzen zu dem eben so delicaten wie schwierigen Geschäfte entschließen, gerade den werth- und kraftvollsten Erzeugnissen hier einige duftige Blüthen, dort ein frisches Blatt, ein paar schöne Zweige und anmuthige Ranken hinwegzuschneiden. Auch Goldelse hatte leider dieser Procedur sich unterwerfen müssen und dabei manche charakteristische Scene, manchen schönen Gedanken, manche poetische Episode eingebüßt. Es war daher wohl eine Pflicht der Gerechtigkeit, nicht blos gegen den neu in die Literatur tretenden Verfasser, sondern auch gegen das Publicum, eine dichterische Leistung, die sich in ihrer verkürzten Gestalt einen so überaus warmen und zahlreichen Freundeskreis erworben, nun auch in der ganzen Frische und Fülle ihrer ursprünglichen Entfaltung dem Genusse und Urtheil darzubieten. Der so eben (bei E. Keil) erschienene Roman „Goldelse von E. Marlitt“ enthält also Vieles, was sich zwischen den Spalten der Gartenlaube nicht unterbringen ließ.

Für eine selbstständige Ausgabe sprachen aber, neben diesen mehr äußerlichen Rücksichten, auch Gründe innerer Art. Gerade weil die Redaction der Gartenlaube sich bewußt ist, auch auf den novellistischen Theil des Blattes stets eine sehr ernste Sorgfalt verwendet zu haben, und gerade weil sie ihren Lesern im Laufe der Jahre eine nicht unbeträchtliche Zahl anerkannt brillanter, nach Inhalt und Form wirklich vollendeter Erzählungen aus der Hand der bewährtesten Meister zu bieten vermochte, mußte ihr der glänzende Erfolg Goldelse’s, wenn auch einerseits eine sehr freundliche Erfahrung, so doch zugleich ein Gegenstand vielfältigen Nachdenkens sein. Denn giebt es auch für eine Redaction kaum eine größere Befriedigung, als ihre nach reiflicher Prüfung erlangte Ueberzeugung von der Vortrefflichkeit eines neuen Products durch den Beifall des Publicums besonders in denjenigen Fällen bestätigt zu sehen, wo es sich um eine Erkenntniß der ersten noch zaghaften Schritte eines frisch auftauchenden Talents handelt, so ist doch durch den bloßen Beifall der eigentliche Werth einer Erscheinung noch keineswegs endgültig festgestellt. Je weniger uns die unzweideutigsten Beweise über den günstigen Eindruck Goldelse’s in Zweifel ließen, um so mehr fühlten wir uns im Interesse unser eigenen Belehrung zu der Frage gedrängt: Worin lag denn nun der Reiz dieser Erzählung? Was war es, was ihr so schnell die Herzen namentlich der Frauenwelt gewonnen, wodurch sie nach Ueberwindung der ersten Eingangscapitel eine bis zum Schlusse sich steigernde Spannung erzeugt und nach ihrer Vollendung ein vielfach mit großer Innigkeit sich kundgebendes Gefühl der Befriedigung zurückgelassen hat?

Die naheliegende Vermuthung, daß hier vielleicht unedleren Neigungen, oberflächlichen und schlimmen Seiten des Zeitgeschmackes geschmeichelt sein dürfte, konnte von vornherein bei uns nicht Platz greifen. Denn eben die zarte und duftige Poesie, der keusche Hauch einer schönen und gesunden Sittlichkeit, welcher die Schöpfung durchweht, hatte uns zur Aufnahme derselben bestimmt, und eben im Hinblicke auf diese ihre Eigenschaften gewährte uns der Erfolg Goldelse’s eine wohlthuende Beruhigung in Betreff unseres deutschen Publicums. Was sich aber sonst noch in Bezug auf die Vorzüge und Mängel, auf Stoff und Gestaltung, auf Staffage und Colorit der Erzählung zur Erklärung ihrer Anziehungskraft unserem Urtheil ergeben hat, darüber hier eine Meinung auszusprechen, dürfte nicht unseres Amtes sein. Das Werk liegt jetzt in geschlossener Gestalt vor, damit es sich selbstständig seinen Weg bahne und nach bereits erlangtem Ruhm die Feuerprobe der Kritik bestehen möge.

Die neue Erzählung desselben Verfassers, deren Anfang die Leser an der Spitze unser heutigen Nummer finden, dürfte übrigens unserem Urtheil nach das Interesse des Publicums selbst in einem noch weit höheren Maße zu fesseln wissen, als dies Goldelse so erfreulich gelungen ist.




Ein kleines Erlebniß aus dem letzten Kriege. „Wir waren,“ so erzählt ein preußischer Lieutenant, „mit klingendem Spiele eines schönen Abends in ein böhmisches Städtchen eingerückt, und wie ein dürstender Hirsch nach frischem Wasser schreit, sehnte sich meine hungrige Seele nach einem guten Quartier und soliden Abendbrode. Bald sah ich auch meinen sehnlichen Wunsch erfüllt und steuerte direct auf ein Häuschen los, das sich durch seinen saubern Anstrich vor seinen Nachbarn vortheilhaft auszeichnete. Ein junges Tischler-Ehepaar, von dem das Haus allein bewohnt ward, nahm mich freundlich auf und erquickte mich, was die Hauptsache war, mit einem gediegenen Abendbrode. Um jedoch das Städtchen, dem wir morgen schon wieder Adieu sagen sollten, wenigstens etwas kennen zu lernen, wurde auf den matten Beinen noch ein kleiner Spaziergang unternommen, und als ich mich todtmüde zurückschleppte, stand schon der Mond am Himmel. Kaum war ich in’s Haus getreten, als ich meinen gastlichen Wirth, einen Deutschen, bat, mir mein Nachtlager anzuweisen.

‚Fürchten Sie sich, Herr Lieutenant?‘ fragte er mich ernst ansehend.

‚Ich glaube gar,‘ polterte ich heraus, ‚wie wird sich ein preußischer Soldat fürchten!‘

‚Auf Ihrem Zimmer stehen nämlich Särge,‘ fuhr der blonde Jünger der edlen Tischlerkunst fort, ‚und ich pflege im Winter, wenn ich weniger zu thun habe, dergleichen auf Vorrath anzufertigen. Da aber manche Menschen eine abergläubische Scheu haben, in der Nähe von Särgen zu schlafen, so erlaubte ich mir die Frage, mit der ich Sie indessen keinesfalls kränken wollte.‘

Mein Wirth zündete jetzt ein kurzes Licht an und führte mich auf mein Schlafzimmer, ein niedliches Stübchen, dessen eine Seite Särge bis zur Decke aufgestapelt einnahmen, und wünschte mir eine ‚gute Nacht‘.

Beim Anblick der Särge konnte ich mich eines leichten Schauders kaum erwehren, da wir Soldaten doch dem Tode alle Tage so nahe standen. Das frisch überzogene schwellende Bett lockte indeß nicht vergebens und bald lag ich in den weichen Kissen und sah auf die weißen Särge, auf die der Mond sein bleiches, geisterhaftes Licht warf; ein leichenartiger Firnißgeruch er Särge erfüllte das ganze Zimmer. Eben als sich der Schlaf mir auf die Augenlider senken wollte, tönte mitten aus den vom geisterhaften Mondlicht beschienenen Särgen ein recht klagendes ‚Ach!‘ Mir ward unheimlich zu Muthe; sollte das, dachte ich bei mir, nicht vielleicht eine Ahnung sein, daß ein naher Verwandter sehr krank ist, oder etwas dem Aehnliches? Ein abermaliges deutliches ‚Ach!‘ schreckte mich aus meinen Betrachtungen auf und deutlich vernahm ich den Ton aus den Särgen; jetzt brach mir der Angstschweiß aus und ich zog mir die Decke über die Ohren, um nichts zu hören und nichts zu sehen, und erst sehr spät schlief ich ein. Als ich am andern Morgen erwachte, fiel mir sogleich der Vorfall des vorigen Abends ein, da durchtönte plötzlich dasselbe ‚Ach!‘ das Zimmer, diesmal aber von einem recht gemüthlichen Gähnen begleitet, und gleich darauf wie zur Bekräftigung schob sich das schlaftrunkene Gesicht des Tischlerjungen zwischen den Särgen hervor und sagte: „Guten Morgen, Herr Lieutenant!“

Am Abend vorher hatte der Junge, um die Bettstelle für mich zu räumen, seine Betten in einen großen Sarg gebracht und darin göttlich geschlafen, und er war der Urheber des gespenstischen ‚Ach!‘ gewesen.“
T.




Kleiner Briefkasten.

B. A–ch in B–n. Es freut uns, daß Ihnen die beiden Illustrationen unserer letzten Nummer, „Sabbathanfang“ und „Sederabend“, so gefallen haben. Sie sind einem Cyklus von sechs Photographien nach Originalzeichnungen von Professor Moritz Oppenheim entnommen, welcher unter dem Titel: „Bilder aus dem altjüdischen Familienleben“ im Verlage von Heinrich Keller in Frankfurt a. M. erschienen und in drei verschiedenen Ausgaben zu dreißig Gulden, acht Gulden sechs Kreuzer und vier Gulden achtundvierzig Kreuzer zu haben ist. Einzelne Blätter der schönen Sammlung kosten je nach ihrer Größe sechs Gulden, einen Gulden fünfundvierzig Kreuzer und vierundfünfzig Kreuzer.




Freiligrath-Dotation.


Bei dem Barmer Haupt-Comité sind wiederum eingegangen: Dr. A. Pusinelli in Dresden 10 Thlr., A. H. 10 Thlr., L. B. in Bochum 5 Thlr, G. 5 Thlr., N. C. in Barmen 5 Thlr., L. das. 5 Thlr., B. das. 10 Thlr., S. das. 5 Thlr., H. das. 5 Thlr., A. das. 5 Thlr., S. das. 5 Thlr., H. das 5 Thlr., W. das. 5 Thlr., F. das. 2 Thlr., N. das. 2 Thlr., H. E. das. 5 Thlr., D. das. 10 Thlr., J. das. 10 Thlr., K. das. 3 Thlr. Gesammte Einnahme bis heute 1137 Thlr.

Bei der Redaction der Gartenlaube: J. L. in Neustadt, Oberschlesien 2 Thlr. 15 Ngr., R. G. in Allstedt 2 Thlr., am 5. März bei H. O. in Bremen gesammelt 7 Thlr. 6 Ngr., M. O. in Gotha 3 Thlr. 5 Ngr., vier in Pest wohnende Deutsche 4 Thlr., Ertrag einer Kindervorstellung 1 Thlr., Pastor Steinacker in Buttelstädt 15 Thlr., Gustav Kühne in Hosterwitz 10 Thlr.




Inhalt: Das Geheimniß der alten Mamsell. Novelle von E. Marlitt. – „Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n“. Zu einem Jubiläum. Von Th. D. Mit Portrait. – Eine Stunde bei Paul de Kock. Von Ludwig Kalisch. – Der Herzog von Jerusalem. Ein anderer „heiliger Herr“ – Das Unterwasser-Geschütz. Ein Brief von Wilhelm Bauer. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Zwei „Philosophen“ in ihrer Einsamkeit. – Goldelse als Buch. – Ein kleines Erlebniß aus dem letzten Kriege. – Kleiner Briefkasten. – Freiligrath-Dotation.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 20 enthalten: Der Krieg zwischen Capital und Arbeit. – Umschau: Ein Held und Dulder. – Bewegtes Künstlerleben. – Reclamationen der griechischen Presse. – Heinrich Beitzke. – Ein bewährtes Volksbuch. – Paris amüsirt sich. – Zu den Folgen des Krieges. – Die Sonderlinge. – Eine unsterbliche Ode.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Das Leben und Treiben dieses kühnen Schwärmers hat in so engen Beziehungen zu sehr hohen Personen deutscher Höfe gestanden, daß die Quellen, aus welchen die sicherste Wahrheit über ihn zu schöpfen wäre, vielleicht theils für immer vernichtet sind, theils aber so sorgfältig bewacht werden, wie dies z. B. mit dem Ministerialarchiv zu Darmstadt der Fall ist. Auf seine Bitte um Erlaubniß der Einsicht der betreffenden Acten erhielt der Verfasser folgende Zuschrift: „Ew. Wohlgeboren beehre ich mich auf das gefällige Schreiben vom 30. d. M. zu erwidern, daß ich bedaure, dem darin ausgesprochenen Wunsch, um Mittheilung der über den Sectirer Bernhard Müller, genannt Proli, erwachsenen Ministerialacten nicht entsprechen zu können, da sich in denselben eine Menge vertraulicher Correspondenzen befinden, welche sich zur Mittheilung nicht eignen. Uebrigens geben diese Acten auch bezüglich dessen, was für Ew. Wohlgebohren vorzugsweise von Interesse ist, nämlich über den Ursprung, das Wesen und Treiben der Proli’schen Secte, nicht den mindesten Aufschluß.
    Hochachtungsvoll etc.          v. Dalwigk.“
  2. Dieser begabte und hoffnungsvolle Knabe, Bauer’s einziges Söhnchen, ist wenige Monate später gestorben und am Starnberger See begraben worden.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. X. steht, wie weiter im Text ersichtlich wird, für Arnstadt. Gleichwohl handelt es sich um eine fiktive Geschichte.
  2. Wenn die Schwalben (Herloßsohn)