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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 20.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Aus dem Merkbuche der Gartenlaube.

Deutschland hat, scheint es mir, für sich allein mehr Orden hervorgebracht, als das ganze übrige Europa, und die meisten kamen auf in den letzten Jahrhunderten, in der Zeit unserer politischen Erniedrigung; wie vermochten sie das Herz zu erheben? Jeder Fürst wollte auch seinen Orden, wenigstens seinen kleinen Orden, haben, und so sahen wir die bunteste Fülle von Orden und Bändern, die Ihr Auge wohl öfter an einem puppengleich geschmückten Minister oder Kammerherrn angeschaut haben wird. Das kann ein wahres Verdienst nicht ehren, noch die Kraft langer Fortdauer und Ueberlieferung auf die Nachwelt in sich tragen. Meine Herren! Ich bin aufrichtig dem Königthum zugethan; es giebt hochherzige Könige, und der König, dem ich diene, ist des edelsten Menschengefühls voll, er hat jederzeit Deutschlands Wohl gewollt und wird nie etwas Anderes wollen; ich darf fest darauf vertrauen. Aber zugleich hege ich die Ueberzeugung, daß unsere Fürsten bald die Selbstverleugnung haben werden, allem byzantinischen oder chinesischen Schmuck zu entsagen, zur Einfachheit unseres Alterthums zurückzukehren und keinen Orden an Civilisten auszutheilen, da sie ursprünglich blos für das Heer bestimmt gewesen scheinen. Für dieses, für die Krieger mögen sie bleiben, ihnen kann ich sie nicht absprechen wollen. Es ist etwas Großes, in heißer Schlacht ein solches Zeichen erhalten zu haben, und nach ihm pflegt der Krieger zu sehen; aber was soll unter Civilisten ein Ritter, der nie zu Rosse steigt, ein Comthur, der nichts zu commandieren hat?
Jacob Grimm.




Vater und Sohn.

Aus dem Tagebuche eines Arztes.

In der Nähe der polnischen Grenze, wo ich mich als praktischer Arzt längere Zeit aufhielt, bieten „Land und Leute“ vielfache Gelegenheit zu interessanten Beobachtungen und Studien. Die Folgen der früheren Erbunterthätigkeit und Hörigkeit sind noch keineswegs verschwunden; die ehemalige Knechtschaft hat Herren und Unterthanen in gleicher Weise demoralisirt und dadurch die abnormsten Zustände und Verhältnisse herbeigeführt. Trotz der im Jahre 1809 erfolgten Aufhebung der Erbunterthänigkeit hat sich im Laufe der Zeit wenig verändert und noch heute zeichnet sich das Volk an der Grenze durch seine sclavische Gesinnung, durch Trägheit, Leichtsinn und Trunksucht aus, während der Adel der Provinz durch seine tyrannische Willkür, Verschwendungssucht und seinen Uebermuth an das Leben und Treiben jener alten Magnaten und ihre so verrufene „polnische Wirthschaft“ erinnert. Hier findet man noch hochgestellte Familien, die sich durch den unsinnigsten Luxus, durch Spiel und Ausschweifungen aller Art in kürzester Frist ruiniren, Männer und Frauen, welche jedes menschliche und göttliche Gesetz frech mit Füßen treten und in ihrer wilden Leidenschaftlichkeit vor keinem Verbrechen, keiner Unthat zurückschrecken, obgleich die frühere Straflosigkeit längst aufgehört hat und die bessere Rechtspflege den Schuldigen nicht mehr wie sonst schont, wo der Edelmann sich ungescheut Alles erlauben durfte und das vornehme Verbrechen weder Kläger noch Richter fand. Ich selbst fand in meiner Eigenschaft als Hausarzt öfters Gelegenheit, manches erschütternde Familiendrama, manches grauenvolle Geheimniß, manche zerrüttete Verhältnisse durch eigene Anschauung kennen zu lernen.

Unter andern Patienten schenkte mir Graf Xaver G…in, einer der angesehensten und vornehmsten Magnaten der Provinz, sein ganzes Zutrauen, obgleich mir seine Persönlichkeit nichts weniger als sympathisch erschien. Derselbe war der Typus des dortigen Adels, eine höchst interessante und blendende Erscheinung, der unermüdlichste Sportsmann, Jäger und Reiter, der verwegenste Spieler, vor Allem aber berühmt oder vielmehr berüchtigt durch seine galanten Abenteuer. Mit jener männlichen Schönheit, welche man nicht selten in den höheren Ständen der slavischen Race findet, verband der Graf eine hinreißende Liebenswürdigkeit, eine wunderbare elastische Geschwindigkeit, eine gewisse romantische Ritterlichkeit, die wohl geeignet war, ihm bei einer oberflächlichen Bekanntschaft alle Herzen zu gewinnen. Aber ein tieferer Blick, wie er mir als Hausarzt gestattet war, ließ gar bald unter der glänzenden Hülle eine grenzenlose Frivolität, den gänzlichen Mangel aller moralischen Grundsätze, seine Unzuverlässigkeit und Charakterlosigkeit erkennen, welche unter diesen Umständen doppelt gefährlich und besonders dem schwachen Geschlechte verderblich werden mußte, das sich nur zu leicht von seiner verführerischen Außenseite täuschen ließ. Wehe dem Mädchen oder der Frau, auf deren Eroberung er es abgesehen hatte, sie wurde fast immer ohne Widerstand die Beute und das Opfer des rücksichtslosen Wüstlings.

Nachdem der Graf durch seine ungezügelte Verschwendungssucht sich so gut wie ruinirt hatte, gelang es ihm trotz seines zweideutigen Rufes die Hand einer jungen und reichen Erbin zu gewinnen. Sie war eine sanfte, herzensgute und fein gebildete Dame, blond und zart, von jener ätherischen Schönheit, die für den aufmerksamen Arzt leider das fast untrügliche Zeichen der beginnenden Schwindsucht ist. Sie liebte den Grafen mit der zärtlichsten Hingebung und Treue, welche er zum Erstaunen der [306] Welt in eben demselben Maße zu erwiedern schien, so daß man ihn allgemein für einen gebesserten Sünder hielt. Ich selbst ließ mich anfänglich täuschen und glaubte an die günstige Umwandlung seines Charakters, da er seine Frau mit der größten Aufmerksamkeit behandelte und mich vielfach, selbst bei ihren kleinsten Leiden, zu Rathe zog, indem er mit rührender Sorgfalt über ihre Gesundheit wachte. Weit entfernt, seine egoistischen Beweggründe zu durchschauen, freute ich mich über seine anscheinende Besserung durch eine glückliche Ehe, da ich die gute liebenswürdige Frau von Herzen lieb gewonnen hatte. Meinen ärztlichen Bemühungen gelang es auch, ihr Leiden, wenn auch nicht gänzlich zu heben, doch wesentlich zu bessern. Für meine geleisteten Dienste war sie mir überaus dankbar, so daß sie mir bald ihr volles Zutrauen schenkte. Eine Badecur, die ich ihr verordnet hatte, war ihr so gut bekommen, daß ich mich selbst von ihrem frischen Aussehen täuschen ließ und bei einem zweckmäßigen Verhalten jede Gefahr beseitigt hielt. Um ihr Glück vollständig zu machen, fühlte sich die Gräfin seit einiger Zeit Mutter und erwartete ihre Niederkunft. Ihr Gatte überhäufte sie mit verdoppelter Zärtlichkeit und zeigte sich hoch erfreut über die bevorstehende Geburt eines Erben.

Nicht ohne Besorgniß sah ich dem immer bedenklichen Augenblick entgegen, da ich nur zu oft die Erfahrung gemacht hatte, daß sich verborgene Brustleiden unter diesen Verhältnissen öfters mit rapider Schnelligkeit zu entwickeln pflegen. Leider sollten meine Befürchtungen nur zu bald in Erfüllung gehen; die Gräfin brachte zwar leicht und glücklich einen gesunden, wenn auch etwas schwächlichen Knaben zur Welt, kränkelte aber seitdem fortwährend und verlor mehr und mehr ihre Kräfte. Rasch entwickelte sich ein zehrendes Fieber, das meiner Kunst nicht weichen wollte, dazu gesellte sich ein quälender Husten mit den übrigen Symptomen der unaufhaltsamen Schwindsucht. Eine Reise und der längere Aufenthalt in südlichen Gegenden vermochte nicht die Fortschritte des Uebels aufzuhalten; sie kehrte ungebessert zurück, um in der Heimath zu sterben. Auf ihrem Todtenbette empfahl sie mir, über das Leben ihres Kindes zu wachen, dessen zarte Constitution allerdings Besorgnisse erregte. Wider Erwarten entwickelte sich der schwächliche Knabe unter der Aufsicht eines tüchtigen Hofmeisters geistig und körperlich so trefflich, daß ich nur selten wegen seiner Gesundheit zu Rathe gezogen wurde. Später kam er in eine vornehme Pension nach der Schweiz, wo er zu einem durch Geist und Schönheit ausgezeichneten Jüngling heranwuchs, indem er die Liebenswürdigkeit des Vaters mit dem herrlichen Gemüthe seiner verstorbenen Mutter vereinigte.

Graf Xaver lebte nach dem Verluste seiner Frau einige Monate in strenger Zurückgezogenheit, so daß Niemand an der Aufrichtigkeit seines Schmerzes zweifeln konnte. Nach und nach jedoch kehrte er zu den Zerstreuungen seiner Jugend zurück und bald überließ er sich wieder dem Strudel seiner früheren Vergnügungen, nur mit dem Unterschiede, daß er jetzt mehr als früher den äußeren Anstand zu wahren suchte. Durch den Tod der Gräfin war er in den Besitz eines bedeutenden Vermögens gelangt, das er zu gleichen Theilen mit seinem Sohne geerbt hatte. Dasselbe setzte ihn von Neuem in den Stand, seiner ungezügelten Verschwendungssucht zu fröhnen. Auf seinen Gütern führte er ein wahrhaft fürstliches Leben, an seiner Tafel floß der edelste Ungarwein und Champagner, sein Stall enthielt die kostbarsten Rennpferde, die er für ungeheuere Summen in England ankaufen ließ, in seinem Schlosse fand der vornehme Adel und besonders die Jeunesse dorée der Provinz eine den Slaven eigenthümliche Gastfreundschaft. In den glänzend decorirten Sälen wurde hohes Spiel gespielt, Tausende an einem Abend gewonnen und verloren und manche wilde Orgie gefeiert. Im Winter lebte der Graf in Paris oder Neapel, wo er durch seinen ungemessenen Aufwand und durch seine Liebenswürdigkeit selbst in den ersten Kreisen Aufsehen erregte und zahlreiche interessante Bekanntschaften mit Männern und Frauen der vornehmen Welt anknüpfte.

Unter diesen Umständen war es nicht zu verwundern, daß selbst die bedeutende Hinterlassenschaft der Gräfin für ein solches Treiben nicht ausreichte und in wenig Jahren zusammenschmolz. Trotz der dringenden Anzeichen seines nahen Ruins konnte sich der Graf weniger als je zu einer Veränderung seiner Lebensweise entschließen, indem er mit gewohntem Leichtsinn seine Verschwendung fortsetzte. Bald war er wieder in die Hände christlicher und jüdischer Wucherer gefallen, die seine Verlegenheit benutzten und vollends die Zerrüttung seiner Verhältnisse beschleunigten. Seine Lage wurde um so peinlicher, da er im Begriffe stand, sich zum zweiten Male mit einer angesehenen, aber unvermögenden Dame zu vermählen, für die er die glühendste Leidenschaft gefaßt hatte. Auf seiner letzten Reise hatte er in Paris eine reizende Wittwe kennen gelernt, deren bezaubernde Schönheit ihn unwiderstehlich fesselte. Durch die feinste Koketterie wußte sie den blasirten und verwöhnten Schmetterling anzuziehen, während der unerwartete Widerstand, den sie seinen Wünschen entgegensetzte, seine Leidenschaft zur Raserei anfachte. Um jeden Preis mußte er das verführerische Weib besitzen, so daß er vor keinem Hinderniß zurückschreckte.

Um diese Zeit war auch der Sohn des Grafen, der indeß sein achtzehntes Jahr erreicht hatte, aus der Schweiz zurückgekehrt, um auf einer deutschen Universität seine Ausbildung zu vollenden. Derselbe hatte die Sanftheit und Herzensgüte seiner Mutter geerbt, mit der er auch in seinem Gesichte die auffallendste Aehnlichkeit zeigte. Mit gleicher Liebe hing er an seinem Vater, an den er sich trotz der Verschiedenheit ihres Charakters mit schwärmerischer Zärtlichkeit anschloß. Der Graf hatte sich eine seltene Jugendfrische zu bewahren gewußt, während der Sohn einen gewissen Ernst zeigte, der ihn älter erscheinen ließ, als er wirklich war. Zwischen Beiden herrschte dem Anschein nach das innigste Verhältniß und fast täglich sah man den Grafen in Gesellschaft des liebenswürdigen Jünglings. Unterdeß rückte die Zeit immer näher, wo der Graf sich zum zweiten Mal vermählen sollte. Dieser Schritt nöthigte ihn, sich zuvor gerichtlich mit seinem Sohn auseinander zu setzen und laut testamentarischer Verfügung dessen Vermögen sicher zu stellen.

Er wußte nur zu gut, daß dies nicht möglich war, ohne seine Zahlungsunfähigkeit einzugestehen und einen öffentlichen Concurs herbeizuführen. Theils um seine Verschwendung fortzusetzen, theils um seine dringendsten Gläubiger zu befriedigen und seinen Credit aufrecht zu erhalten, hatte er sogar das Erbtheil seines Sohnes, dessen Verwaltung seinen Händen anvertraut war, angegriffen. Die Entdeckung eines derartigen Vergehens bei der bevorstehenden Rechnungsablage mußte ihn vollends zu Grunde richten und unausbleibliche Schande nach sich ziehen. Der verzweifelnde Mann sah keinen Ausweg aus diesem furchtbaren Labyrinth und verfiel widerstandslos den finstern Mächten der Hölle.

Eines Tages wurde ich plötzlich durch einen reitenden Boten nach dem Schloß des Grafen gerufen, wo sich ein großes Unglück ereignet hatte. Von dem bestürzten Diener erfuhr ich nun, daß der junge Graf bei einem Ritt auf das benachbarte Vorwerk in der Nähe eines Steinbruchs von seinem scheuen Pferde abgeworfen worden sei und sich eine lebensgefährliche Verwundung zugezogen habe. Bei meiner Ankunft fand ich das ganze Schloß in der höchsten Aufregung; der Graf empfing mich mit allen Zeichen der tiefsten Erschütterung und größten Besorgniß. Seine Wangen waren bleich, seine Stimme zitterte und sein ganzes Wesen verrieth eine unter diesen Umständen nur zu gerechtfertigte Verwirrung. Er selbst führte mich an das Bett seines leidenden Sohnes, den ich fast ohne Besinnung in Folge seiner schweren Verletzung fand. Bei der Untersuchung des Patienten wendete sich der Graf ab, als könnte er den Anblick des Unglücklichen nicht ertragen. Mit ängstlicher Spannung erwartete er meinen Ausspruch, der leider nicht allzu tröstlich lautete. Die schwere Verwundung am Hinterkopf, verbunden mit einer bedeutenden Gehirnerschütterung, gab nur wenig oder gar keine Hoffnung. Als ich den Grafen mit schonenden Worten auf die Gefahr aufmerksam machte, sah ich ihn wanken, so daß er sich an einem nahe stehenden Stuhle festhalten mußte, um nicht zu fallen.

„Also verloren, rettungslos verloren!“ murmelte er, während seine Zähne hörbar an einander schlugen.

„Leider kann ich mich nicht für die Wiederherstellung des Kranken verbürgen, obgleich ich noch nicht alle Hoffnung aufgeben möchte.“

„Und wird der Arme noch lang zu leiden haben?“ fragte der Graf mit einem tiefen Seufzer.

„Das kann ich nicht genau bestimmen, da sich der Umfang der stattgefundenen Gehirnerschütterung nicht so leicht feststellen läßt.“

„Glauben Sie, Herr Doctor, daß das Bewußtsein noch wiederkehren wird?“

„Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, wenn die Congestion gehoben werden kann.“

[307] „O! Das wäre schrecklich, entsetzlich!“ rief der Graf mit sichtlichem Schaudern.

Ich war nur zu geneigt, diese Fragen so wie das gestörte Wesen des Grafen seinem väterlichen Schmerze zuzuschreiben und fand in seinem Benehmen daher nichts Auffälliges. Nachdem ich meine Untersuchung des Patienten beendet hatte, forderte ich ihn auf, zur genaueren Aufklärung des Thatbestandes mir die näheren Umstände des Unfalls zu erzählen, da mir die Art und Weise der Verletzung manche räthselhafte Erscheinung bot und es mir darauf ankam, so speciell als möglich unterrichtet zu sein, ehe ich die nöthigen Verordnungen treffen wollte. Nach den Mittheilungen des Grafen war der Verwundete in Begleitung eines alten bewährten Reitknechts nach dem nahen Vorwerk geritten, um daselbst den neu erbauten Schafstall in Augenschein zu nehmen. Dicht vor dem Steinbruch scheute das Pferd vor einem großen Block, der zum Theil die Straße versperrte. Der junge Graf wollte das Thier zwingen über das Hinderniß zu setzen und gab ihm die Sporen und Peitsche zu kosten. Das sonst sanfte und gehorsame Thier bäumte sich und schleuderte den Reiter gegen einen Steinhaufen, wo ihn der schnell herbeieilende Diener bewußtlos fand und nur mit Mühe nach dem Schlosse zurückbrachte. Auf meinen Wunsch, den Reitknecht selbst zu sprechen, um einige nöthige Fragen an ihn zu richten, verfärbte sich der Graf und schien sichtlich verlegen.

„Sie werden schwerlich mehr erfahren, als ich Ihnen mitgetheilt habe. Der Mensch ist zwar treu wie Gold, aber im höchsten Grade bornirt und hat durch das Unglück vollends alle Besinnung verloren.“

„Es kommt mir hierbei auf die unbedeutendste Einzelheit an, und deshalb bitte ich Sie, den Reitknecht rufen zu lassen, damit ich ihn genauer examinire. Seine Aussagen können mir wichtige Fingerzeige über die Natur der Wunde und über die von mir einzuschlagende Behandlung liefern.“

Wie ich bemerken konnte, ergriff der Graf nur mit Widerstreben die silberne Glocke; worauf er dem hereintretenden Kammerdiener den Befehl ertheilte, den Reitknecht Jurek zu rufen. Nach einigem Zögern erschien der gewünschte Mann, dessen äußere Physiognomie allerdings das Urtheil des Grafen bestätigte und einen gewissen stupiden Ausdruck zeigte, wie er bei den unteren Ständen der slavischen Race nicht selten angetroffen wird. Die niedrige Stirn, umgeben von dem kurz geschnittenen blonden Haar, das platte Gesicht verrieth einen hohen Grad geistiger Beschränktheit, wogegen die grünlich schimmernden, schief geschlitzten Augen jene Verschmitztheit bekundeten, die sich mit einer mäßigen Bornirtheit ganz gut vertragen kann und gleichsam das Surrogat für die mangelnde Intelligenz abgiebt. Mit sclavischer Unterthänigkeit näherte er sich dem Grafen, dessen Rockzipfel er küssend an seine Lippen führte, während er mir einen mißtrauischen Blick zuwarf. Unwillkürlich erinnerte er mich an den Kettenhund, der die Hand seines Herrn mit Zärtlichkeit leckt, dagegen jedem Fremden die scharfen Zähne grimmig zeigt.

Nachdem der Graf ihn aufgefordert, mir die gewünschte Auskunft zu ertheilen, erzählte er den Vorgang in gleicher Weise mit überraschender Geläufigkeit, als sagte er eine auswendig gelernte Lection her. Um so stockender und mangelhafter beantwortete er die an ihn gerichteten Fragen über die näheren Details, womit ich seinen Redefluß unterbrach. Trotz aller Mühe konnte ich aus ihm nicht mehr herausbringen, als ich bereits durch den Grafen wußte; weshalb ich nach manchen vergeblichen Anstrengungen von allen weiteren Erkundigungen Abstand nahm, da mir die Beschränktheit des Reitknechts wirklich unbesiegbar schien. Das Wenige, was ich von ihm erfuhr, wurde ihm gleichsam tropfenweise und nur mit Hülfe des Grafen abgepreßt, der allein im Stande war, diese verstockte Maschine in Bewegung zu setzen, indem er wie ein Magnetiseur den Geist seines stupiden Dieners zu beherrschen und durch unsichtbare Zeichen zu leiten schien.

Unter diesen Umständen mußte ich mich mit diesen mangelhaften Resultaten begnügen und die nöthigen Anordnungen treffen, worauf ich das Schloß verließ, ohne dem bekümmerten Vater irgend eine Hoffnung auf die Rettung seines einzigen Sohnes geben zu können. Dringend ersuchte er mich, meinen Besuch zu wiederholen, indem er mir zu gleicher Zeit ein nach der Sitte jenes Landes übliches Honorar in die Hand drückte, das alle meine Erwartungen überstieg und wonach ich seine Liebe für den theueren Kranken zu bemessen glaubte. Als ich am nächsten Morgen meine Visite abstattete, fand ich den Patienten zwar bewußtlos, aber wider Erwarten noch am Leben; auch hatte sich die Congestion unter der fortdauernden Anwendung von Eisumschlägen und Blutentziehungen kaum merklich gebessert. Mehrere Wochen schwebte so der Kranke zwischen Leben und Tod, bis endlich seine jugendlich kräftige Constitution den Sieg davon trug und die Gefahr wie beseitigt schien, obgleich ein großer Schwächezustand ihn noch längere Zeit auf dem Lager gefesselt hielt. Während dieser Zeit zeigte der Graf die zärtlichste Besorgniß für seinen Sohn, indem er Tag und Nacht bei ihm wachte und ihn auch nicht einen Augenblick verließ. So oft ich kam, fand ich ihn in dem Krankenzimmer, wo er außer dem ihm treu ergebenen Reitknecht keinen Fremden duldete. Er selbst reichte dem Patienten die verordnete Medicin, machte ihm die nöthigen Umschläge und pflegte ihn mit einer Geduld und Ausdauer, wie sie sonst nur die liebevollste Mutter bei ähnlichen Gelegenheiten besitzt. Ich selbst bewunderte diese Hingebung und Opferfreudigkeit, die ich ihm am wenigsten zugetraut hatte, und beeilte mich, mein Urtheil über den mir früher so antipathischen Charakter im Stillen zu berichtigen.

Um so auffallender mußte mir selbst bei meinen flüchtigen Besuchen das Verhalten des in der Genesung begriffenen Sohnes gegen seinen Vater erscheinen. Sichtlich duldete der Erstere nur mit Scheu und Widerwillen die Gegenwart des Grafen, dessen Zärtlichkeit und Liebe keineswegs die verdiente Würdigung fand. Bei jeder Gelegenheit zeigte der junge Mann eine erhöhte Reizbarkeit, abwechselnd mit einer düsteren Melancholie, die ich jedoch auf Rechnung der schweren Verletzung und damit verbundenen nervösen Aufgeregtheit schrieb. Oefters überraschte ich ihn bei meinen Besuchen, wie er mit wahrhaft ängstlichen Blicken seinen Vater anstarrte, bei dem Tone seiner Stimme plötzlich zusammenfuhr und dann unerwartet sich seine Augen mit Thränen füllten, die er vor mir zu verbergen suchte. Der Graf sprach mit mir über diese räthselhafte Erscheinung, welche ihn von Neuem besorgt machte. Er sprach bei dieser Gelegenheit wiederholt die Befürchtung aus, daß die bedeutende Gehirnerschütterung wohl eine geistige Störung des Patienten zurückgelassen haben könnte, worüber ich ihn jedoch nach meiner besseren Ueberzeugung zu beruhigen suchte.

Natürlich hatte der traurige Vorfall in der ganzen Umgegend Aufsehen erregt und eine große Theilnahme gefunden. Man interessirte sich lebhaft für das Schicksal des Verunglückten, der wegen seiner Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit zahlreiche Freunde gefunden hatte, während der Graf nichts weniger als beliebt war. Boshafte Zungen behaupteten sogar, wenn auch anfänglich nur leise und mit Vorsicht, daß ihm der Tod seines Sohnes erwünscht gewesen wäre, da er als nächster Erbe desselben mit einem Male allen seinen bekannten Verwirrungen und Zerrüttungen seines Vermögens überhoben worden wäre. Merkwürdiger Weise fanden diese Verleumdungen immer mehr Glauben und gestalteten sich mit der Zeit zu der furchtbaren Beschuldigung: daß der eigene Vater den Mord des Sohnes veranlaßt habe.

Bald nahmen diese nur vagen Gerüchte eine festere Gestalt an, als sich ein Zeuge in der Person eines Arbeiters fand, der sich in dem Steinbruch beim Suchen eines verlorenen Hammers verspätet hatte und unwillkürlicher Zuschauer eines entsetzlichen Verbrechens geworden war. Nachdem dieser Wochen lang aus Furcht und Respect vor dem angesehenen und mächtigen Grafen geschwiegen hatte, trat er jetzt plötzlich öffentlich mit einer Anklage hervor, die zur Ehre der Menschheit kaum glaubhaft schien. Nach der Aussage des Mannes war der junge Herr in der Nähe des Steinbruches von dem Reitknecht des Grafen überfallen, mit Gewalt vom Pferde gerissen und gegen die am Wege liegenden Felsblöcke absichtlich geschleudert worden, während der Graf selbst in einiger Entfernung der Ausführung des von ihm wahrscheinlich veranlaßten Verbrechens beiwohnte. Diese furchtbare Beschuldigung wurde noch durch eine Reihe mir leider jetzt entfallener Nebenumstände, vor Allem aber durch seine bekannte pecuniäre Lage und das Interesse am Tode seines Sohnes so wesentlich unterstützt, daß sich die Staatsanwaltschaft veranlaßt, sah die Untersuchung gegen den Reitknecht wegen beabsichtigten Mordes und gegen den Grafen wegen intellectueller Urheberschaft desselben Verbrechens einzuleiten.

[308] Im Laufe des Processes wurde das Hauptgewicht auf die Aussage des unglücklichen Sohnes gelegt, der deshalb vom Gericht als Zeuge vernommen werden mußte. Derselbe war bereits so weit genesen, um ohne Gefahr die nöthige Auskunft ertheilen zu können, obgleich ich in meinem Gutachten seine nervöse Reizbarkeit und die damit verbundene geistige Aufregung pflichtgemäß hervorhob. Er selbst berief sich auf das verwandtschaftliche Verhältniß zu seinem Vater und bat, deshalb von seiner Vernehmung abzustehen. Das Gericht billigte vollkommen diese Gründe, forderte aber sein Zeugniß gegen den Reitknecht, das er auch nicht länger verweigern konnte, obgleich die Schuld des Letzteren nothwendiger Weise die Verurtheilung des Grafen herbeiführen mußte.

An dem Tage, wo die öffentliche Gerichtsverhandlung stattfand, war der Andrang des Publicums so stark, daß der Zuschauerraum die herbeigeströmte Menge nicht zu fassen vermochte. Die Seltenheit des Falles, die Größe und Unnatürlichkeit des Verbrechens, die hervorragende Stellung und die bekannte Persönlichkeit des Angeschuldigten mußten das größte Interesse erregen und die höchste Spannung hervorrufen. Als die Angeklagten hereingeführt wurden und auf der Sünderbank ihren Platz nahmen, herrschte in dem weiten Saale eine Todtenstille. Alle Augen waren auf den Grafen gerichtet, der einfach, aber elegant gekleidet, nur etwas bleicher als gewöhnlich erschien, doch sonst seine vornehme, ruhige Haltung bewahrte. Das immer noch schöne Gesicht des wohl conservirten Mannes verrieth auch nicht die geringste Bewegung, nur als er unter den anwesenden Zeugen seinen Sohn erblickte, glaubte ich ein leichtes nervöses Zucken seiner Muskeln zu beobachten. Beide wechselten einen Blick, der wie ein Blitz den Abgrund zweier Seelen beleuchtete, aber eben so schnell vorüberfuhr, worauf ein Lächeln der Befriedigung um die fein geschnittenen Lippen des Grafen schwebte. Neben seinem aristokratischen Herrn saß der plumpe Reitknecht mit stumpfen, gleichgültigen Zügen, die sich neu belebten, wenn das Auge des Grafen auf ihn fiel, oder dessen Stimme zu ihm klang, so daß er gleichsam unter dem magnetischen Zauber seines Gebieters zu stehen schien. Nachdem die beiden Angeklagten gehört worden waren, schritt der Präsident zur Vernehmung der vorgeladenen Zeugen. Zuerst legte der Steinarbeiter seine Aussagen ab, die nichts wesentlich Neues enthielten und von ihm beschworen wurden. Hierauf wurde der junge Graf aufgefordert, der Wahrheit gemäß den Vorgang zu erzählen. Seine Erscheinung steigerte die schon vorhandene Spannung auf das Höchste und erfüllte die Seele der Zuschauer mit banger Erwartung. Mit sichtlicher Anstrengung erhob sich der junge Mann von seinem Sitz, um die geforderte Auskunft zu ertheilen. Leichenblässe überzog das interessante, sanfte Antlitz und ein nervöses Zittern flog durch seine Glieder. Mit niedergeschlagenen Augen und leiser, von Seufzern unterbrochener Stimme beantwortete er die an ihn gerichteten Fragen. Während er sprach, wagte kaum ein Mensch zu athmen, um nicht ein Wort seiner so wichtigen Aussage zu verlieren.

Nach und nach jedoch schwand seine anfängliche Aufregung und mit fester, wenn auch tonloser Stimme erzählte er den Vorgang in einer Weise, welche den Reitknecht seines Vaters von aller Schuld freisprach, indem er wiederholt versicherte, von seinem scheuen Pferde herabgeworfen worden zu sein, so daß kein Dritter ihn beschädigt habe. Vergebens machte ihn der Präsident auf die Widersprüche seiner Angaben mit den Aussagen der übrigen Zeugen aufmerksam und ermahnte ihn zur Wahrheit, da er seine Worte beschwören müsse. Er blieb bei seiner Behauptung stehen und ließ sich durch nichts davon abbringen. Nur als der Gerichtshof sich zurückzog, um die Zulässigkeit seiner Vereidigung zu berathen, kehrte die frühere nervöse Unruhe zurück, doch ein Blick auf seinen angeklagten Vater gab ihm bald die nöthige Fassung wieder. Mit festen Schritten trat er auf Befehl des Präsidenten an den Tisch, auf dem ein gußeisernes Crucifix stand, um den ihm zuerkannten Zeugeneid zu leisten. Noch einmal machte ihn der Vorsitzende pflichtgemäß auf die Wichtigkeit eines solchen Schrittes aufmerksam und drohte ihm mit den zeitlichen und ewigen Strafen des Meineides. Einen Augenblick schien der junge Mann tief erschüttert zu zögern und einen innern Kampf zu kämpfen, dessen Ausgang die Versammlung und vor Allen der Angeklagte mit banger Spannung erwartete, da von seinen Worten der Ausgang der ganzen Verhandlung, die Ehre und das Glück seines Vaters abhing. Es war ein wahrhaft aufregender Moment und die kurze Pause dünkte Allen gewiß eine Ewigkeit. Der Graf sah auf seinen Sohn und das krampfhafte Zittern seiner Hände verrieth mir seine tiefe Bewegung. Mit einem schmerzlichen Blick auf seinen Vater sprach dieser mechanisch die bekannte Schwurformel mit erhobenen Fingern dem Präsidenten nach, während eine lange, feierliche Stille in dem Saale herrschte. Erst als der junge Graf auf seinen Sitz zurückkehrte, sah ich ihn wanken und fast zusammenbrechen, wobei sein Gesicht sich mit wahrer Todtenblässe überzog, so daß ich einen Sterbenden zu erblicken glaubte. Aber auch dieser Anfall[WS 1] einer erklärlichen Anwandlung von nervöser Schwäche ging so schnell vorüber, daß ihn außer mir wohl keiner der Anwesenden bemerkt hatte.

Unterdeß nahmen die Verhandlungen ohne weitere Störung ihren Verlauf, noch andere Zeugen wurden vernommen, deren Aussagen die zerrütteten Vermögensverhältnisse des angeklagten Grafen bekundeten und über seinen Charakter und seine Lebensweise ein keineswegs günstiges Licht verbreiteten. Auch mein ärztliches Gutachten wurde gefordert und meine Ansicht über die Natur der Wunde gehört. Ich gab mein objectives Urtheil ab, verschwieg aber keineswegs die mir aufgestoßenen Bedenken über die räthselhafte Verletzung, welche allerdings den Verdacht eines Verbrechens nicht ausschloß. Nach Beendigung des Verhörs ergriff der Staatsanwalt das Wort und hielt die Anklage sowohl gegen den Grafen wie gegen den Reitknecht aufrecht, indem er mit bewunderungswürdigem Scharfsinn die Schuld Beider trotz der beschworenen Aussage des entlastenden Hauptzeugen darthat. Mit Recht betonte der Redner die nahe verwandtschaftliche Stellung des Sohnes zu seinem Vater und die dadurch verminderte Glaubwürdigkeit seiner Aussagen, wogegen er das Interesse des Grafen an dem Tode des jungen Mannes unwiderleglich folgerte und dessen intellectuelle Urheberschaft an dem beabsichtigten Morde durch eine Kette eng mit einander verbundener Indicien und Thatsachen begründete. Dagegen suchte die nicht minder geistvolle Vertheidigung den Eindruck dieser Worte zu schwächen und die Beweise zu entkräften, indem sie sich auf das in der That bestehende liebevolle Verhältniß des Grafen zu seinem Sohne, so wie auf das gewichtige Zeugniß des Letzteren stützte, dessen volle Gültigkeit dem ihm fremden Reitknecht gegenüber nicht bezweifelt werden könnte, ohne einen Meineid vorauszusetzen. Während dieser ganzen Verhandlung beobachtete der Graf eine merkwürdige Ruhe, als wenn es sich um die Angelegenheit eines Dritten handelte. Er verzog keine Miene und schien auch nicht einen Augenblick seine Freisprechung zu bezweifeln.

Nachdem der Vorsitzende noch einmal eine kurze lichtvolle Zusammenstellung der Verhandlungen gegeben und die Fragstellung festgesetzt worden war, zogen sich die Geschworenen zurück, um ihren Wahrspruch zu fällen. Die Berathung dauerte längere Zeit; ein Beweis, daß die Meinungen über den Fall getheilt waren. Endlich öffnete sich die Thür, das Gericht nahm wieder die verlassenen Plätze ein und das laute Getöse der Versammlung verstummte, der würdige Obmann der Geschworenen verkündigte mit bewegter Stimme das Urtheil, welches für beide Angeklagte auf „Schuldig“ lautete. In demselben Augenblick ertönte ein herzzerreißender Schrei; nicht der verurtheilte Graf, sondern sein armer Sohn hatte ihn ausgestoßen und wurde ohnmächtig fortgetragen, während der entehrte Vater in sein Gefängniß wankte, wo man ihn am nächsten Tage als Leiche an den Gitterstäben seines Fensters hängen fand.

Zwar gelang es mir, den unglücklichen jungen Mann, der in Folge der unausbleiblichen Erschütterung in ein Nervenfieber verfiel, am Leben zu erhalten, aber sein Geist war so gestört, daß er in einer bekannten Irrenanstalt untergebracht werden mußte. Aus seinen verwirrten Reden konnte ich mit Gewißheit entnehmen, daß er, um seinen Vater zu retten, einen falschen Eid geschworen hatte. Durch die Bemühungen des ausgezeichneten Irrenarztes wurde er mit der Zeit wiederhergestellt, aber eine tiefe Schwermuth begleitete ihn durch das fernere Leben. Wie ich später erfuhr, hat er seine Güter verkauft und den Ertrag derselben einer frommen Stiftung überwiesen. Er selbst soll in einem französischen Kloster die ersehnte Ruhe und Versöhnung mit seinem Gewissen gefunden haben, das er mit dem, wenn auch hier verzeihlichen, Verbrechen des Meineides belastet hatte.

Max Ring.
[309]
Die Vorlesung eines weiblichen Doctors in London.
Von Karl Blind.

„England ist das Paradies der Frauen, das Fegefeuer der Dienstboten, die Hölle der Pferde!“ so lautet ein altes Sprüchwort, das sich schon, wenn ich mich recht entsinne, im Tagebuch eines deutschen Prinzen, der im sechzehnten Jahrhundert England bereiste, erwähnt findet.

Die edlen Renner genießen zwar hier einer Pflege, die jenes Sprüchwort Lügen zu strafen scheint. Allein wahr bleibt es doch, daß das englische Volk mit den Rossen und mit den Thieren überhaupt keineswegs so gutmüthig umgeht, wie es im Ganzen z. B. in Deutschland der Fall ist. Die Dienstboten in England erfreuen

Dr. Marie Walker.[WS 2]

sich heutzutage einer großen Unabhängigkeit, und im Vergleich zu ihrer Stellung erscheint die der betreffenden Classe in unserem Vaterlande wie eine wahre Sclaverei. Allein die Härte der englischen Zustände liegt darin, daß bei der Freiheit des Vertragsrechtes jeder Rest von wohlmeinender Sorglichkeit für das „Gesinde“ auf Seiten der Familien geschwunden ist, und daß sich „Herrschaft“ und „Dienstboten“ vielfach wie Feinde gegenüberstehen.

Für die Frauen endlich ist dies Land allerdings in gewissem Sinne ein Paradies. Hier sieht man nicht Weiber auf dem Felde ackern und hacken, während der Mann mit dem Pfeifenstummel im Munde nebenher lungert. Hier sieht man nicht Frauen unter schweren Hotzen keuchen oder mit über die Brust gespanntem Seile am Schiff ziehen. In nur wenigen Geschäften, und zwar in solchen blos, für die das Geschlecht sich eignet, sind Frauen thätig. Die Familie aber, die sich gesellschaftlich irgendwie über die untere Mittelclasse erhebt, betrachtet es als selbstverständlich, daß die weiblichen Angehörigen, von aller drückenden Arbeit frei, der größten Bequemlichkeit genießen und überall mit der äußersten Zuvorkommenheit behandelt werden. In Wahrheit darf man sagen, daß, von dieser Bevölkerungsschicht an bis zu der sogenannten höchsten hinauf, sich für die Frauen eine stets neue „Reihe von Himmeln“ aufthut – vorausgesetzt allerdings, daß man von der thatsächlichen Rechtlosigkeit absieht, in welcher das weibliche Geschlecht in England gehalten wird.

Die Errungenschaften der französischen Revolution für das bürgerliche Leben der Frauen sind auf britischem Boden noch unbekannt. Der Mann ist überall ihr nothwendiger, unvermeidlicher Vertreter. Nur durch ihn erscheint sie vor dem Gesetz als ein rechtsfähiges Wesen. Das ist der düstere Punkt in dem „Paradies“; das die Ursache, warum sich in der englischen Frauenwelt, die bisher so still die bürgerliche Rechtlosigkeit getragen, eine Bewegung für politische Emancipation herausbildet, wie sie bisher nur in Amerika betrieben worden ist. Die Ansätze dazu sind bis jetzt freilich nur schwach. Auch wird die Bewegung vorerst noch nicht rein principiell geführt, denn für die verheiratheten Damen will man das Wahlrecht nicht verlangen. Unter denen, die als Fürsprecherinnen des so modificirten Vorschlages hervorgetreten sind, nenne ich die geistvolle Schriftstellerin Frances Power Cobbe, das auch in Deutschland wohl bekannte Fräulein Martineau, ferner die Gattin des Parlamentsmitgliedes P. A. Taylor, u. A. Ihre Bestrebungen hat Englands bedeutendster Nationalökonom und philosophischer Denker, John Stuart Mill, durch einen im Parlament gestellten Antrag befürwortet. Als Bundesgenosse ist ihnen der greise General Perronet Thompson, der Veteran der Anti-Korngesetz-Liga, zur Seite getreten.

Die dem Unterhause vorgelegte Petition trägt nur die Unterschriften von eintausend sechshundert und fünf Wittwen und Mädchen. Eine gleichzeitig eingereichte Petition, die dreitausend fünfhundert neunundfünfzig Unterschriften zählt, weist die Namen von verheiratheten Frauen und Männern auf, die der Ertheilung des Stimmrechtes an unverehelichte Damen und Wittwen günstig sind. Unter den Namen der Männer findet sich eine unverhältnißmäßig große Anzahl geistlicher Würdenträger. In der That glaubt man, daß nach den jetzigen Zuständen in England das Frauenstimmrecht dem – kirchlichen Interesse zu Gute käme!

Ich habe die Frage der politischen Gleichstellung der Frauen mit einigen der obengenannten entschiedensten Wortführerinnen persönlich besprochen. Scheint es mir auch, daß nicht blos das ganze Erziehungssystem, sondern – was kaum wünschenswerth wäre – sogar der Charakter des Geschlechtes erst geändert sein müßte, ehe eine solche völlige Gleichstellung erfolgen könnte, so bedarf es doch andererseits kaum eines Beweises, daß die Stellung der Frauen einer gründlichen Verbesserung fähig ist. Wenn man die Frauen, vermittels eines edleren Erziehungssystems, zur Theilnahme an den höchsten Idealen des Mannes, zum tieferen Verständniß seines Ringens für große und allgemeine Zwecke heranbildet; wenn sie dadurch in noch erhöhterem Maße, als sie es jetzt schon sind, selbst zu Bildnerinnen einer Nation werden, so kann sich die Freiheit und der menschliche Fortschritt nur Glück dazu wünschen. Michelet hat glänzend nachgewiesen, daß die gewaltige Volksbewegung des vorigen Jahrhunderts sicherlich einen günstigeren Verlauf genommen hätte, wäre die Frau nicht vorzugsweise unter dem geistigen Druck altererbter Vorurtheile und unter dem Einflusse einer volksfeindlichen Priesterschaft gestanden. „Durch die Frauen die Männer und dadurch den Staat zu beherrschen,“ ist ein alter Grundsatz der jesuitischen Finsterlinge. Unleugbar hat daher die Partei, welche Menschenrecht und Menschenwürde auf ihre Fahne schreibt, ein gebotenes Interesse, die Frauenwelt, die mit tausend zarten Banden das Leben umflicht, hereinzuführen in die große geistige Bewegung, sie zu erfüllen mit erhabeneren Begriffen von Volks- und Staatswohl, sie fähig zu machen für Leidenschaften, die man mit Unrecht als dem Wesen des Weibes widersprechend bezeichnet hat.

In England selbst, wie oben bemerkt, beschränkt sich die Propaganda [310] für das Frauenstimmrecht einstweilen darauf, dasselbe für diejenigen erwachsenen Mädchen und Wittwen zu beanspruchen, die mit eigenem Vermögen ausgestattet sind und die bestehenden Bedingungen des Wahlrechtes nach dieser Seite hin erfüllen. Man kann scherzend dagegen einwenden, daß dies einer Prämie für Altjungferschaft oder Nichtwiederverheirathung gleichkommt. Die Damen, welche den Stimmrechts-Vorschlag in dieser beschränkten Form aufstellten, haben allerdings, wie ich wohl weiß, ein weiteres Ziel im Auge. Sie bedienen sich nur einer politischen Kriegskunst. Sie wollen vorerst einmal Stellung nehmen: das Uebrige soll sich dann später finden. Daß es den Frauen nicht an taktischem Instinct fehlt, ist bekannt genug.

Die Frage vom politischen Stimmrechte der Frauen ist zu trennen von der Frage der Berufszweige, die zu erfassen ihnen möglich sein soll. Bei der Heftigkeit jedoch, mit welcher die meisten Männer sich gegen jede Aenderung in der Stellung des weiblichen Geschlechtes aussprechen, werden die beiden Fragen gewöhnlich durcheinander geworfen und in Bausch und Bogen, meist mit bloßem, nichtssagendem Spott, abgethan. So geschieht es wenigstens hier; und kommt das Gespräch einmal auf dies Thema, so stellen sich die Männer sofort mit flammendem Zungenschwert vor das „Paradies“, in welchem sie das andere Geschlecht gern für immer eingeschlossen haben möchten.

Bei dem Geräusch, welches die öffentliche Fürsprache zu Gunsten des Frauen-Stimmrechtes und das daran sich knüpfende Gespräch über Frauen-Emancipation in den Londoner Gesellschaftskreisen neuerdings gemacht hatte, mußte das öffentliche Erscheinen eines weiblichen Arztes, und noch dazu einer Amerikanerin aus dem Norden, die Neugier stark reizen. Dr. Marie Walker hatte eine Vorlesung in der großen St. James-Halle angekündigt, in welcher gewöhnlich musikalische Vorträge vor einer dichtgedrängten Zuhörerschaft gegeben werden. Sie wollte über die Befähigung der Frau zum ärztlichen Beruf und über ihre eigenen Erlebnisse während des welterschütternden Unionskrieges sprechen.

Die verschiedenen Schichten der Londoner Gesellschaft werden nicht leicht durch ein und dieselbe Strömung bewegt. Nur ausnahmsweise geschieht dies alle Jahre ein oder zwei Mal: nämlich beim Derby-Wettrennen oder beim Schifferstechen, das die Ruder-Clubs der Universitäten Oxford und Cambridge auf der Themse abhalten. Bei diesen Anlässen allein löst sich das Eis der englischen Frostigkeit. An dem Tage, wo die amerikanische Dame auftreten sollte, geschah ein ähnliches Wunder. Ueberall hörte man den Namen: „Dr. Mary Walker“, und Leute, die sich ganz fremd waren, fingen, der Londoner Gewohnheit zuwider, Gespräche miteinander über das bevorstehende Ereigniß an. Die Bemerkungen trugen freilich meist das Gepräge des Sarkasmus. Indessen war die Halle am Abend trotz der hohen Eintrittspreise (die ersten Plätze kosteten sieben, sechs und fünf Schilling) dicht gefüllt, so daß kaum mehr ein Sitz zur Verfügung stand. An Hörern schien es der Vorlesenden somit nicht fehlen zu sollen.

Die Engländer selbst besitzen bis jetzt nur eine einzige geprüfte Aerztin, Fräulein Garrett, die ihren Weg stark durchzukämpfen hatte. Uebrigens wurde sie blos zum sogenannten Apotheker-Examen zugelassen. Eine weitere Prüfung ihr zu gewähren, erklärte die edle äsculapische Zunft nicht berechtigt zu sein! Man stützte sich dabei, wie mir einer der Betheiligten lachend gestand, auf ein altes, verrottetes Statut, dessen Titel ich vergessen habe.

Fräulein Garrett, deren Schwester sich unlängst mit dem blinden Parlamentsmitglied für Brighton, Professor Fawcett, ehelich verband, habe ich in Gesellschaft getroffen. Ihr anspruchsloses, echt weibliches Wesen, das fern von aller blaustrümpfigen Eckigkeit ist, nichts Schrilles oder Männisches an sich hat, gewann ihr rasch die Sympathieen. Eine öffentliche Vorlesung zu halten, hat sie bis jetzt nicht gewagt, oder es nicht gewollt. Ein Wagestück wäre es in London allerdings gewesen; das sieht man jetzt an dem Ausgange des betreffenden Versuches der amerikanischen Dame.

„Ich glaube, unsere jungen Mediciner,“ sagte mir ein Freund, selbst Arzt, bei der Hinfahrt nach der St. James-Halle, „werden heute Abend großen Unfug machen!“ Ich hielt es für eine übertriebene Befürchtung und zuckte die Achseln ungläubig. In der Nähe der Halle, ein paar Minuten vor Beginn der Vorlesung, angekommen, hörte ich indessen bereits in den Gängen einen Heidenlärm aus dem Saale herausschallen. Ich trat ein und nahm Platz neben einem bekannten englischen Fürsprecher der Frauenrechte, auf dessen Zügen sich bereits Unruhe über den vermuthlichen Ausgang der Vorlesung malte.

Dr. Marie Walker trat auf die Rednerbühne in einer Art Bloomer-Anzug. Sie war mit einem oben geöffneten Rock bekleidet, aus welchem eine Weste und eine nach Männerart getragene Uhrkette heraussah. Hosen – von ihr „Pantaletten genannt – vollendeten den männlichen Anzug. Im gescheitelten Haar trug sie einen kleinen Kranz. Die Brust war mit einem von der amerikanischen Regierung ihr verliehenen Verdienstzeichen geschmückt. Bei ihrem Erscheinen, ehe sie noch ein Wort gesprochen, brachen die Unruhestifter – allerdings größtentheils Studenten der Medicin, die sich auf der obersten Galerie, im Himmelreich der Schillingplätze, geschaart hatten – in die scandalösesten Unziemlichkeiten aus.

Man sang – zum Hohn – das amerikanische Freiheitslied auf den Märtyrer der Sclaven-Emancipation, John Brown, –

„Deß Leichnam in der Erde modert,
Doch seine Seele zieht siegreich dahin!“

Dann stimmten die bübischen Gesellen den Gassenhauer: „Wir kreuzfidelen Hunde“ (Three jolly dogs are we) an. Dazwischendrein wurde gejohlt, gepfiffen und gegröhlzt. Man ahmte das Schmerzensgeschrei von Verwundeten nach, die operirt werden. Andere stellten sich seekrank. Erst nach längerer Zeit konnte sich die Rednerin Gehör verschaffen. Das zahlreiche feine Auditorium that kaum etwas, um dem Unfug zu steuern. Es bestand übrigens gewiß die Hälfte der Zuhörer, wenigstens auf den theueren Plätzen, aus Damen. Fast während des ganzen Abends dauerten die Unterbrechungen fort. Bald wurde gemiaut; bald erscholl ein wieherndes Gelächter, wenn die Vorleserin auf delicate Gegenstände überging; bald wurden ihr Anzüglichkeiten zugerufen, wie: „Liebchen!“ „Schätzchen!“ Manchmal mußte sie auf längere Zeit aussetzen. Zu verwundern war nur, daß sie bei solcher Behandlung überhaupt im Vortrage fortfuhr. Kurz, es war eine Scene, wie ich sie noch nie gesehen und nie wieder zu sehen hoffe.

Der Vortrag selbst wurde dadurch vielfach unverständlich, und es ist nicht möglich, ein ganz sicheres Urtheil über die Befähigung der Sprechenden darnach festzustellen, obwohl sie Alles aus einer auf einem Pulte vor ihr liegenden Handschrift ablas. Zu rhetorischen Bewegungen erhob sie sich kaum, auch nachdem eine Zeitlang, in Folge des energischen Auftretens einiger Herren, Stille geboten und erlangt war. Betonung und Geberde der Vortragenden ermangelten des Ausdruckes. Ausführlich behandelte Dr. Marie Walker ihren eigenen Lebenslauf als Studirende der Arzneikunde, sodann ihre Praxis während des amerikanischen Krieges. Auf die Kleiderfrage ging sie, wenn auch theilweise vom gesundheitlichen Standpunkte, mit einer Genauigkeit ein, die beständig Anlaß zu Sticheleien für die Lärmmacher gab. Ein Fehler war es, daß sie gerade bei Punkten, bei denen sie von vornherein auf die eingewurzeltsten Vorurtheile gefaßt sein mußte, humoristisch zu sein versuchte. Ein Fehler war es auch, daß sie eine ihr persönlich passirte Kußscene am Sterbebette eines tödtlich verwundeten Unionssoldaten mit allen Einzelheiten wiedergab und dabei unwillkürlich Ausdrücke gebrauchte, die sofort in England spaßhafte Gedankenverbindungen erwecken mußten. Das Miauen, das Turteltauben-Girren, das hänselnde Nachäffen der Stimme der Vortragenden wurde bei diesen Gelegenheiten jedes Mal am lautesten. Vom Parterre aus erhoben sich dann freilich Gegenrufe: „Hinaus mit den Unruhstiftern!“ – aber man merkte es dem Tone der Rufenden an, daß sie selbst nur scherzen und scandaliren wollten.

Bei der Schilderung des Kampfes der Republik gegen die Sclavenhalter-Liga verweilte Dr. Marie Walker in freiheitlich-patriotischer Darstellung. Die südstaatliche Gesinnung der Mehrheit der Zuhörer brach hier durch; Viele verließen geräuschvoll den Saal. Es war peinlich und empörend, sehen zu müssen, wie eine mit schwachem Stimmorgan begabte, zartgebaute Frau, die auf Schlachtfeldern ihre Aufopferungsfähigkeit bewiesen, sich gegen diesen zum Theil vornehmen Pöbel abkämpfte. Sie verlor indessen nie die Fassung. Ein oder zwei Mal suchte sie die Unterbrechenden durch eine Bemerkung zu beschämen. Im Uebrigen las sie ruhig aus ihrem Texte vor, der indessen, schon was äußere Anordnung betraf, nicht gut durchgearbeitet schien. Obwohl die Vorlesung ziemlich lang dauerte und bei dem Mangel an Stimmmodulation [311] der Redenden noch länger erschien, so überging sie doch, wie mir dünkte, einige Abschnitte ihrer Handschrift, da gegen den Schluß, von der Galerie aus, das Girren wieder ärger wurde.

Als sie geendet, stand Niemand auf, um den üblichen Dank vorzuschlagen. Dagegen sangen die jungen Helden im „Juchhe“ wieder die „Kreuzfidelen Hunde“ und „Frei und lustig“ (Free and easy) im Chorus ab. – Am anderen Tage wurde eine Anzahl derselben, die nach der Vorlesung in eine Musikhalle gegangen waren und dort unter dem Rufe: „Dr. Mary Walker!“ Polsterstühle und Glasscheiben zertrümmert hatten, vor den Polizeirichter gebracht, aber mit geringer Strafe gnädig genug entlassen. Die Rohheit der hiesigen Studenten der Medicin ist leider wohlbekannt. So kam es unlängst vor, daß in St. Mary’s Hospital mehrere derselben den Leichnam eines Mannes in Gegenwart der bekümmerten Wittwe mit Stöcken herumstießen und ekelhafte Witze über den Todten rissen. Der Obmann der Todtenschau sagte ihnen in’s Gesicht, daß sie Ohrfeigen dafür verdienten.

Es wäre ungerecht, gegen eine so schmählich mißhandelte Dame, wie Dr. Mary Walker, eine eingehende Kritik zu richten; doch kann ich nicht verhehlen, daß der neben mir sitzende Freund der Frauenrechte die Bemerkung machte: „Die Dame vergißt zu sehr, was sie einem englischen Publicum sagen kann.“ Es giebt auch hier – die Verhandlungen im Congreß des social-wissenschaftlichen Vereins haben es bewiesen – nicht Wenige, die eine Reform in der Stellung der Frau wünschen und weiblichen Rednern, die in dieser Frage sehr entschieden auftreten, das willigste Gehör leihen. In der Provinz wenigstens ist es Dr. Mary Walker seitdem gelungen, einmal ohne Störung ihren Vortrag zu halten. Gegen die Vermischung der Kleidertrachten aber – und darüber verbreitete sich die Vorlesung in der St. James-Halle nur allzu sehr – sind Alle, die ich noch gehört, und zwar aus guten Gründen. Die Ueberzeugung, daß für Frauen- und Kinderkrankheiten weibliche Aerzte unbedingt erforderlich seien, bricht sich in England immer mehr Bahn. Andererseits bringt es die Natur der Dinge mit sich, daß diejenigen Frauen, die sich zur Laufbahn der Dr. Mary Walker gedrängt fühlen, stets mehr oder weniger auch auf der Grenzlinie der männlichen Charaktere stehen und daher eine numerisch geringe Ausnahme bilden werden.

Im wohlgeordneten Staate muß aber für die Entwickelung Solcher ebenfalls Platz sein; und wenn die „Times“ sagt: „Dr. Mary Walker habe, da sie einmal in die Stellung des Mannes getreten, auch die Folgen über sich nehmen müssen,“ so ist dies eine ganz unlogische Darstellung und zugleich eine Aeußerung, die einen traurigen Einblick in die Macht der herrschenden Vorurtheile thun läßt.




Der Rauchmaler.
Ein Bild aus dem Münchener Künstlerleben.

Im Oberpollinger Gasthaus in München war es in den vierziger Jahren wie immer sehr lebhaft, es war Abend, das Local gedrängt voller lärmender Gäste, die dem edlen Gerstensafte wacker zusprachen; dazwischen tönte eine Dreikreuzermusik, ein Bockwalzer oder ein Ländler von „Harpfen, Flöt’ und Geig’n“. In einem Winkel des Locals ging es besonders lebhaft zu, es waren junge Münchener Künstler, welche ganz in Tabaksdampf eingehüllt sich um einen Tisch gruppirt hatten. Einige spielten Tarok, andere waren im lebhaftesten Discurs über politische und sociale Zustände begriffen. Das Hauptwort führte unter ihnen ein Mann mit lautem und stark markirten oberbaierischen Accent, er trug wie immer eine derbe, rauhe Kochler Joppe mit hochaufgeschlagenem Kragen und ein paar gigantische Wasserstiefeln, die fast bis an die Lenden hinaufreichten. Plötzlich wurde er ernst und ruhig, blies unter seinem martialischen Schnauzbart mächtige Rauchwolken hervor und saß grimmig und in sich gekehrt da. Man hätte seine Gestalt für einen bärbeißigen Oberförster halten können, wenn er nicht der geniale Thiermaler Schleich gewesen wäre, dessen Bilder schon seit Jahren bewundert und hoch gepriesen wurden. Er zog ein Fetzchen Papier aus der Tasche, skizzirte darauf, in sich hineinbrummend, allerlei und vollendete seine Zeichnerei mit einem angebrannten Schwefelholz, da ihm der Bleistift abgebrochen war. Befragt, warum er plötzlich so ernst, brummte er wieder, zerriß die gezeichnete Skizze und, das Papier als Fidibus für seine Cigarre benutzend, sagte er: „Es muß Alles in Rauch aufgehen.“

„Hast wohl wieder keinen Kreuzer im Sack, weil Du so daher red’st?“ fragte einer der Freunde.

„Alles ist verraucht und verdampft,“ rief Schleich mit erhobener Stimme, „und mein ganzes Leben soll verdampfen und verrauchen und auch mein biss’l Kunst soll in Rauch aufgehen.“

Die Anwesenden verstanden die doppelsinnige Rede Schleich’s nicht, bald aber sollten sie erfahren, was Schleich hatte andeuten wollen. Er wurde plötzlich redseliger, trank ein Glas Glühwein nach dem andern und erging sich in humoristisch-philosophischen Auslassungen über die Verderbtheit der Welt, über die Reichen und über die Armen und Elenden, und daß er sich vorgenommen, für reiche Leute nun keine Bilder mehr zu malen, am wenigsten aber für Ausländer. Dann sagte er wieder mit ruhigerer Stimme: Er wisse ein armes Weiberl, eine Wittib mit ein paar Kindern, denen es elendiglich schlecht gehe. Er habe da schon heute etwas hergegeben, aber mehr sei besser, und dabei deutete er ziemlich verständlich an, daß die „Companei“ zusammenlegen solle, damit dem armen Weiberl ein wenig ausgeholfen würde. Seine Ermunterung fand aber nicht den gewünschten Erfolg, worauf er sich nicht weiter äußerte, und anstatt wie gewöhnlich vom Jähzorn hingerissen zu werden, blieb er ganz ruhig, nahm dann einen Teller zur Hand und schwärzte die innere Fläche desselben über einer brennenden Lichtflamme, ergriff ein Stückchen Schwefelholz, fing an auf der Rauchfläche zu skizziren und in unglaublicher Schnelligkeit war da ein Hirsch mit Waldumgebung zu sehen, welcher mit gewaltigem Satze vorübereilt. Das Bild war in unvergleichlicher Lebenswahrheit wiedergegeben; die Zeichnung, welche in ihren weißen Contouren reizend vom Dunkel abstach, erregte allgemeine Sensation. Schleich rief selbstgefällig und siegesbewußt dazwischen: „Ja, Brüaderln, jatz hätte mir amoi das Rechte ‘rausstudirt. Mit diesem Büldl[1] beginnt eine ganz neue Zeitrechnung der Kunst! Seagt’s jatzt ein,[2] ös Trottel,[3] daß die Kunst in Rauch aufgehn muß?“

Ein nicht endenwollendes Halloh und Bravo belebte die Gesellschaft, der Teller machte die Runde durch das ganze Local, man gratulirte dem Künstler zu dieser neuen Erfindung, und Schleich erwiderte, das sei sein erstes Stück, und wenn er nicht gerade Moneten brauche, so gäbe er den Teller gar nicht her, so aber wolle er denselben der Versteigerung unterwerfen, ihn „verlicitiren“.

Da wurde die Steigerungslust auf der Stelle wach, Schleich steigerte selbst mit, die Gemüther erhitzten sich immer mehr und in kurzer Zeit hatte er für seinen Teller einen hübschen Haufen Guldenstückl. Er schob das Geld in die Tasche, stieg mit seinen schweren Wasserstiefeln auf den Tisch, daß die steinernen Bierkrüge wackelten, und donnerte über die Schlechtigkeit und Erbarmlosigkeit der heutigen Welt; unsere Vorfahren seien lauter christliche und wohlthätige Leut’ gewesen, aber heut zu Tage gäbe in seiner Irreligiosität und Verderbtheit keiner ein Kreuzerstück her, wenn er nicht zugleich ein Plaisir davon hätte; da wäre man gleich bei der Hand und kaufe einen skizzirten Hirsch um einen Haufen Silbergulden.

Nun kann man sich das Halloh der Umgebung denken, welche immer höher wuchs, als der Künstler, den der Beifall erhitzte, in eine classisch improvisirte Capuzinerpredigt verfiel und schließlich zum Erstaunen der Anwesenden herunter donnerte: ob da etwa einer von der irreligiösen Companei glaube, daß er das artistisches Rauchsündengeld für sich behalten wolle; der solle sich nur melden, er werde schon fertig mit ihm, das erlicitirte Rauchhonorar gehöre dem armen Weiberl und ihren kleinen Kinderln. Mit einem [312] „pfit Enk Got,[4] unter Enk mag’i nimma bleib’n,“ griff er nach Schlapphut und Stock und eilte zur Thür hinaus, nachdem er der Kellnerin zugerufen: „Hanni, morgen zahl i Zech und Teller, kimm scho, daß d’ net moanst, i bleib’ ebbar aus!“ – Das arme Weiberl empfing noch in später Nachtstunde das Erträgniß des ersten Rauchbildes.

So entstand das erste Erzeugniß einer neuen Art zu malen, und was bisher nur durch Tusche, einen Farbestoff aus dem himmlischen Reich der Mitte, bewerkstelligt wurde, das schuf Schleich aus flüchtigem Rauch, indem er ihn zu bannen und ihm Gestalt zu geben verstand.

August Schleich, oder wie er sich vorzugsweise gern nennen ließ: „der Schleichgustel“, wurde 1814 in München geboren; dort Zögling der Akademie der bildenden Künste, Radirer und Lithograph und begann seine künstlerische Laufbahn bald in Oel malend, bald aquarellirend. Durch die Lebendigkeit seiner Darstellungen erregte er große Aufmerksamkeit und bald war große Nachfrage nach seinen Producten. Aber auf keinem Gebiete war er so gern beschäftigt, wie auf dem der Porcellanmalerei, in welcher er auch Jahre lang seinen Haupterwerb fand und noch mehr gefunden hätte, wenn er in gleichem Schritte mit der Nachfrage fleißig gewesen wäre. Mangel an Ausdauer war sein Hauptfehler, es mußte Alles schnell bei ihm gehen und es kam ihm durchaus nicht darauf an, Wochen und Monate lang sich im Bewußtsein zu sonnen, daß er schaffen könnte, wenn er nur wollte. Außerdem wurde er gar oft und anhaltend von einem äußerst humoristisch-ernsthaften Zorn befallen, darüber, daß er für Andere arbeiten und daß er nicht, wenn auch nicht alle, doch mindestens die besten Stücke für sich behalten dürfe. Diese Leidenschaft wuchs in seinen späteren Jahren, als er fast nur noch im Rauchfach arbeitete, und er lernte seinen Kummer hierüber durch stärkeren Aufguß von Spirituosen zu dämpfen.

Da wetterte er oft erschrecklich und behauptete, für das Geld, das er bekomme, sollten die Besteller ihre Sachen bei ihm anschauen, so oft sie wollten, ihm aber dieselben nicht forttragen und „verfluchten Trafik“ damit machen. Kurz, er hätte mitunter vorgezogen, am Hungertuche zu nagen, als einen Zeichenstift anzurühren. Begreiflich galt es aber doch, zu leben, weshalb er sich in Verbindlichkeiten einließ, welche zur Folge hatten, daß er in besseren Zeiten doch um nichts reicher war. Also in solchen Zeiten rührte er extra keinen Finger, ging spazieren oder stattete den entferntesten Wirthshäusern Besuche ab, wenn er die näheren schon besucht hatte; und wenn er für sein Nichtsthun gar keine Entschuldigung mehr wußte und von Bestellern gedrängt ward, so war er urplötzlich ganz und gar aus der Stadt München verschwunden im Freien und Niemand wußte, wohin er gegangen. Eingenommen gegen alles Fremdländische, bereiste er nie das Ausland; Florenz und Rom, die Wallfahrtörter aufstrebender Künstler, blieben ihm fremd; doch wozu brauchte er sie? Schleich hat wohl nie nach Idealen im praktischen Leben gerungen, und in der Kunst noch weniger. Er schöpfte seine Gedankenfülle weder aus den sichtbaren Vorbildern großer Meister, noch aus unsichtbaren Sphären, er wußte nichts von geschwungenen classischen Formen; im frischen grünen Hag, in dunklen Tannen, im struppigsten Buschwerk, in Feld und Wiese und auf den Bauerhöfen, da liefen seine Vorbilder lebendig, gesund und frisch umher, da belauschte er sie und studirte sie in ihrem Thun und Treiben. Sich der langen Gesichter seiner Besteller freuend, streifte er, einen guten Imbiß im Sack und einen Schluck Branntwein in der Feldflasche, im Gehege umher, lag oft halbe Tage lang heimlich versteckt im Buschwerk in der Nähe von Erdhöhlen, indem er es hauptsächlich auf Reineke Fuchs abgesehen, dessen schlaue Gestalt in seinen Meisterwerken auch eine bevorzugte Stellung einnimmt. Er studirte den Familienverkehr der zwei- und vierbeinigen Waldthiere, ahmte ihre Stimmen und ihre Manieren nach und in der gründlichen Detailkenntniß des Fuchses, der Hirsche, Rehe, Gemsen, Wildschweine nahm er es mit dem erprobtesten Forstmann auf. Seine Freude namentlich an den jungen Waldbewohnern war so groß, daß er oft voll Entrüstung betheuerte, er könne so einen Jäger vor Zorn umbringen, wenn er „solch’ a kloan’s Fuchsl derschossen hätt.“

Schleich arbeitete also gar oft die längste Zeit nicht, es ist aber klar, daß die Kunst an sich dadurch nicht litt. Im Gegentheil, die Wochen und Monate scheinbaren Nichtsthuns und Flankirens, welche ihm uneingeweihtere Bekannte so leicht zum lieblosen Vorwurf machten, förderten seine künftigen Leistungen durch die Menge der gesammelten Erfahrungen, und wenn er dann von selbst den Antrieb zum Produciren empfand, kehrte er ebenso malbegierig nach München zurück in seine Werkstatt, als er, allen lockenden Angeboten trotzend, von dort weggestürmt war. Eine Zeit lang residirte Schleich dann in seinem Atelier, welches hoch auf einem Dachboden gelegen war. Die letzte Stiege, die in dieses originelle Künstlerheiligthum führte, war eine ziemlich halsbrecherische Leiter, welche nur Eingeweihte mit Sicherheit betreten konnten. Um vor lästigen Besuchern geschützt zu sein, zog er nicht selten dieses Treppenersatzstück zu sich hinauf und ließ eine mächtige Fallthür herab, als Zeichen, daß der Schleichgustel nicht zu Hause sei.

Kam aber nach langer Abwesenheit so ein lieber willkommener Cumpan zu ihm, ihm ein Grüß-Gott zu bieten, so pflegte Schleich, in seinem stark markirten oberbaierischen Dialekt zu sagen: „Im Woaid drauß’n san ma g’wesen und in die Felda, woaßt, bei di Bauern, da is schön, Brüaderl!“ Da hätte man sehen sollen, was der Schleich an einem Vormittag Alles zu Wege brachte. Da standen ganze Reihen allerlei Teller, Tassen, Deckel und Pocale, auf deren Ausschmückung die Besteller mit Ungeduld warteten. Sie sollten bald befriedigt werden, denn wenn Schleich einmal mit dem freien Vorsatz, zu malen, sich gegen neun Uhr Morgens aus seinem Bette erhob, wenn er in seine graue Bergjoppe geschlüpft war und die unvermeidliche Cigarre oder eine thönerne Pfeife in Feuer gesetzt hatte, womit er der Welt guten Morgen sagte und seine Phantasie anregte, wie schnell waren da auf sämmtlichem Porcellan die lebendigsten Compositionen und wie rasch griff er dann, nicht unähnlich einem Setzer am Setzkasten, bald nach diesem, bald nach jenem Gegenstande mit wahrer Blitzesschnelligkeit! So sah man denn in etlichen Stunden eine förmliche Galerie kleiner Bilder hervorgezaubert und zwar meistens von einer Form und Schönheit, wie es andere Porcellanmaler trotz eines zehnmal längeren Zeitaufwandes und eines verschwenderischen Colorits nicht hätten schaffen können. Denn Schleich’s Bilder sind Leben, sind Wahrheit; wir sehen das Thier vor uns, das lebt, das athmet, es blitzt und leuchtet aus den lieben klugen Thieraugen und springt und läuft und hüpft und bewegt sich hierhin und dorthin. Die Bilder werden in des Beschauers Augen fast zur greifbaren Wirklichkeit und doch ist Alles nur aus Rauch, aus elendem Lampenruß, aus – Nichts geschaffen.

Es konnte nicht fehlen, daß man dem Schleichgustel gelegentlich große Bewunderung und Lob zollte, worauf er wohlgefällig schmunzelnd seinen braungelben Schnauzbart strich, seine gigantischen Rauchwolken mit doppelter Kraft von sich blies und wo möglich noch schneller darauf losmalend mit unnachahmlichem Ton und treuherziger Betheuerung sagte: „Brüaderl, schnell muaß gen, sunst is da Mesch koan Scheni. Da schaug her! Sieghst den Fuchs’n, wiera rausschaugt? Gel, der thut weita net lach’n? Jatz kimst du dran, Gamsbock, mir wer’n di glei hab’n! Woaßt, Brüaderl, köna muaß ‘s Oana hallt, nacha is so vui net dahinta![5] Gams, ob’s d’ jatz glei springst!“ –

Aehnliche Adressen erließ er an alle seine kleinen und großen Bilder, wenn sie der Vollendung nahe waren. Er lebte sich in seine Arbeit so hinein, daß er im Verlangen, den höchsten Grad der Wahrheit zu erreichen und nebenbei seine Phantasie zu kräftigen, allerlei Gesichter schnitt, zum Beispiel wie der im Morgendämmern hervorkommende Hirsch schreiend Hals und Kopf streckt, und wenn er den vielgeliebten Reineke malte, so konnte man nicht entscheiden, ob Schleich oder der unter seinen Händen entstehende Fuchs ein listigeres Gesicht mache; dabei dampfte er oft so, daß man ihn erst nach einiger Zeit völlig wieder sah, und unter den Rauchwolken kam etwa der Zuruf hervor: „Brüaderl, des kost’ beiß’n!“ – So malte er bis um die Mittagszeit und dann machte er in seiner originell dürftig eingerichteten Junggesellenwirthschaft Toilette – vorausgesetzt, daß er zwölf Uhr läuten gehört oder auf seine Uhr geschaut, die entweder nicht allemal in seinem Besitz oder gar nicht aufgezogen war, weil ihm, wie er sagte, die Zeit hierzu vor lauter Bestellungen fehle. Häufig nicht wissend, wie spät es an der Zeit, malte er so eifrig fort, bis ihm endlich ein Gefühl um die leere Magengegend sagte, [313] es müsse schon sehr spät sein. Da warf er sein Handwerkszeug brummend zusammen und grollte über die Kunst, daß man ihretwegen Hunger leiden müsse. Seine Toilette bestand in nichts Anderem, als daß er sich mit einem Instrument, welches einem Kamme nicht unähnlich sah, mehrmals verzweifelt schnell durch die struppigen Haare fuhr und daß er zur Winterszeit, wenn es die Umstände gerade zuließen, mit einer vom Fenster weggenommenen Hand voll frisch gefallenen Schnee’s Gesicht und Brust bearbeitete. Nach einer warmen und ausführlichen Empfehlung dieser Abhärtungstheorie griff Schleich, mit Gebirgsjoppe und Wasserstiefeln angethan, nach seinem Ziegenhainer und Schlapphut, welch letzterer meistens mit einem Gemsbart geziert war, und trollte seines Weges, sein Diner meistens in ein Souper verwandelnd.

In besseren Zeiten war Schleich auch einer besseren Toilette nicht abhold. Im Sommer sah man ihn häufig in einer überraschenden Metamorphose auf der feinen Promenade langsam und verklärt dahinschreiten; es war dann nämlich die Zeit gekommen, wo er, der in höheren Kreisen sehr geschätzte Künstler, der feinen Welt einmal beweisen zu müssen glaubte, daß er sich auch auf den höheren „Modenrummel“, aber auf „Künstlerfaçon“, verstehe. Ein schwarzer mit Schnüren besetzter Sammetrock besten Stoffes, ein feiner Cylinderhut, weiße Pantalons und lackirte Stiefeletten, fein gefaltete Chemisettes mit Manchetten und eine Halsbinde mit mächtiger genial gebundener Schleife vollendeten den Künstlerdandy. Ein fein gearbeitetes Stöckchen mit goldenem Griff in den Händen schwingend, verfiel er dann plötzlich aus seiner oberbaierischen Redeweise in einen sarkastisch accentuirten Berliner Jargon, namentlich wenn feine Gesellschaft des Weges daher kam, der er den höheren Schliff zeigen zu müssen glaubte.

In den Glacéhandschuhperioden war Schleich auch selbstverständlich gut bei Casse, er rauchte eine Cigarre, an der nicht blos wie sonst das Deckblatt gut, sondern deren ganzer innerer Bestandtheil unter Havannas Sonne getrocknet war. Er liebte es in solchen Momenten, mit großer Freigebigkeit seine Freunde zu regaliren, in heiteren Stunden eine lustige Zecherei zu bezahlen, und was er während seines Landaufenthaltes oft im Wirthshause that, nämlich die Bauern, welche seiner Zungenfertigkeit aufmerksam zuhörten, mit allerlei wüster Gelehrsamkeit vollzupfropfen, das that er auch in der Stadt im Freundeskreise mit oft bewundernswürdiger Eloquenz. Er verfiel dabei von einem Thema auf das andere, räsonnirte in schlagendster Weise über Politik, Juristerei, Medicin, Religionsphilosophie, Seelenwanderung, Christenthum, und wenn er in überzeugender Weise einen großen Theil seiner Zuhörer für sich gewonnen, stürzte er plötzlich von einem Extrem in’s andere und bewies mit so schlagender Wahrheit das Gegentheil von dem, was er wenige Minuten früher behauptet, daß seinen Genossen ganz bange zu Muthe wurde. Bei solchen Scenen kam es wohl zu manchem gereizten Durcheinander und zu fast harten Zusammenstößen, aus denen indeß ebenso die Klugheit, wie die Gutmüthigkeit des Künstlers immer zu guter Zeit den rechten Ausweg fand.

Seine späteren Tage blieben von diesen Anflügen von äußerem Luxus völlig frei, er lebte sich ganz in sein rauhes Gewand und die ihm entsprechenden geselligen Formen ein; später kam jedoch in die ungestüme Art seiner einfachen Lustbarkeiten allmählich eine merkliche Milderung, zu welcher ihm eine hier und da auftauchende Besorgniß für seine Gesundheit Veranlassung gab. Es stellten sich arge Brustbeschwerden ein und eines Tages im Frühjahr 1866 war er überraschend schnell nicht mehr in dieser Welt.

Die Rauchbilder Schleich’s, welche gleich nach ihrer Erfindung Gegenstand der Besprechung wurden, vervollkommneten sich immer mehr und mehr unter der genialen Hand; es gelang ihm immer mehr, hinter das originelle Verfahren zu kommen und in dem Anschwärzen der Teller sowie später der Flächen eines Zeichenpapiers eine Virtuosität zu erlangen. Er übte sich, die Zeichenfläche über der qualmenden Lampe gleichmäßig zu decken, und durch ein Bindemittel von transparenten Harzen ermöglichte er die Nichtbeschädigung des fertigen Bildes durch äußere Einflüsse. Holzgriffel, Nadel, Wischer und Lampenruß waren seine Werkzeuge, welche sich gleichsam wie Zauberdinge in seiner Hand bewegten. Diese Fertigkeit, diese eminente Geschicklichkeit muß man um so höher anschlagen, wenn man sich vorstellt, daß diejenigen Stellen eines Bildes, welche bei einer gewöhnlichen Zeichnung erst unter der Hand des betreffenden Malers durch Schattirung entstehen, bei den Rauchbildern fast unberührt bleiben und durch’s Zeichnen und Wischen der Lichtpunkte hervorgerufen werden. Aber trotz der Schnelligkeit, ja man kann wohl sagen Flüchtigkeit Schleich’s wurden die kleinsten Nüancen, die anscheinend unbedeutendsten Farbentöne nicht übersehen und durch mehrmaliges Nachschwärzen der Rauchfläche über der Flamme erhielten viele seiner Schöpfungen erst den rechten Weihekuß ausgezeichneter Künstlerschaft.

Es muß besonders hervorgehoben werden, daß man sich unter diesen Rauchbildern nicht Skizzen vorzustellen hat, sondern alle tragen das Gepräge der Durchführung bis in die kleinsten charakteristischen Merkmale des Gegenstandes und kommen der erprobtesten Beobachtungsgabe für die Thierwelt in jeder Beziehung entgegen; sie vereinigen aber mit dieser Meisterschaft im gewöhnlichen Sinne die elektrisirende Wirkung, durch welche Skizzen eines genialen Geistes so oft fleißigst und sorglichst ausgeführte Kunstwerke des geschulten Talentes glänzend besiegen.

Leider sind die zahlreichen großen und kleinen Meisterwerke Schleich’s nur wenig über München hinaus gewandert und daher weniger bekannt geworden, als sie verdienten, und gerade darum ist es um so erfreulicher, daß die anerkannt gelungensten Stücke in einer Sammlung vereinigt sind. Franz Neumeyer in München ist der Besitzer eines Rauchbilder-Cabinets von mehr als hundert der größten und prächtigsten Stücke, die nun durch photographische Vervielfältigung zu einem Gemeingut des Volkes gemacht werden sollen. Neumeyer gehörte zu dem engeren Freundeskreise Schleich’s, zu dessen Lebzeiten er es schon oft als einen Lieblingswunsch aussprach, seine Rauchbilder durch die Photographie in’s größere Publicum zu bringen; aber ebenso gehörte es zu den hartnäckigsten Absonderlichkeiten des Künstlers, gegen die Ausführung dieses Gedankens sich mit aller Entschiedenheit zu wehren. Sein Widerwille gegen diese Vervielfältigungsart seiner Bilder ging so weit, daß er, wie im Vorgefühl der drohenden Möglichkeit derselben, immer, so oft er Neumeyer’s Rauchbilder-Salons betreten mußte, nur mit traurig gesenktem Haupte und fast geschlossenen Augen durch das Zimmer ging. – Er ist heimgegangen und der Freund nun frei von der Rücksicht auf des Künstlers wilde Mucken; es wird seiner Ruhe im Grabe nicht schaden, wenn sein Andenken durch seine Werke in den weitesten kunstsinnigen Kreisen des Vaterlandes geehrt werden kann.




Im Frieden des Sabbathlichtes.
Aus den vier Wänden des jüdischen Familienlebens.

Indem ich mich anschicke, die Blicke der Leser auf einen Lebenskreis zu lenken, der einer nicht geringen Zahl derselben ein Gegenstand hergebrachten Spottes, den Meisten aber im Grunde noch ein mehr oder weniger verschleiertes Geheimniß ist, tauchen zunächst in meiner Erinnerung zwei leuchtende Augen auf und über die edeln Züge eines ernsten Gesichts sehe ich ein wehmüthig-mildes Lächeln gleiten. Vor mir steht die hohe und elegante Gestalt eines ergrauenden Mannes, mit dem ich einst in einem lieblichen thüringischen Badeorte vier genußreiche Wochen verlebte. Er gehörte zur –schen Beamtenaristokratie und sein Aeußeres zeigte unverkennbar den Typus derselben; bereits im Jahre 1849 hatte er aber seine langjährige Stellung als Chef einer hohen Behörde aus Besorgniß vor den Conflicten verlassen, in welche ihn seine freisinnigen politischen und religiösen Ansichten mit seinem Amte verwickeln mußten. Seitdem lebt er in ungestörter Muße den mannigfachen Studien, Forschungen und Arbeiten, zu welchen ihn eine eben so tiefe wie umfassende Bildung befähigte. Niemals habe ich ein so gründliches und ausgebreitetes Wissen mit so ernster Entschiedenheit des Charakters, so viel klare Schärfe der Auffassung mit so viel feiner und herzgewinnender Manier verbunden gesehen, als in dieser interessanten und geistvollen Persönlichkeit. Wir machten zusammen viele Wanderungen und Ausflüge, zu denen die schöne Gegend besonders einladet. So hatte uns auch einst einer der strahlenden Augustnachmittage [314] Thüringens auf einsamen Pfaden weit über die Berge geführt und schon begann es leise zu dämmern, als wir zurückkehrend den ziemlich steilen Weg herabstiegen, der sich in mannigfachen Windungen von den rings umherliegenden Höhen bis in die Straßen des Städtchens zieht, das jetzt im Glanze des goldübergossenen Himmels wie träumend zu unseren Füßen lag. Mein Begleiter hatte auf dem Rückwege mit besonderer Wärme gesprochen, war aber seit einigen Augenblicken auffallend still geworden und spähte zerstreut in die Ferne, als ob seine Aufmerksamkeit durch irgend einen unerwarteten Anblick gefesselt sei. Plötzlich blieb er stehen und ich erschrak fast, als er lebhaft meinen Arm erfaßte und mit dem Finger nach unten deutend in bewegtem Tone sagte:

„Sehen Sie dort das Licht?“

Ich blickte nach der bezeichneten Richtung und hatte bald zwischen einer Reihe alterthümlicher Gebäude, die hier am Rande der Stadt ihre Vorderseite in die Berge kehren, ein kleines Haus entdeckt, hinter dessen weinumrankten Fenstern bereits das trauliche Zeichen abendlichen Beisammenseins, der röthlich in das Halbdunkel hinausblitzende Schimmer flammender Kerzen, deutlich zu bemerken war.

Der Präsident war meinen Blicken mit seltsamer Spannung gefolgt und schien befriedigt, als ich mit dem Kopfe nickte und unsere Augen nun gemeinsam auf dem einen schimmernden Punkte ruhten.

„Es freut mich, daß Sie es gefunden haben,“ sagte er mild, „es ist ja auch rings im Umkreise bis jetzt das einzige Licht und überhaupt kein Licht wie andere Lichter, d. h. für den, der es kennt. Und Sie kennen es, nicht wahr, Sie wissen, was es bedeutet?“

Ich wußte es. „Es ist heut’ Freitag,“ erwiderte ich, „und gerade die Stunde, wo überall bei den Juden, die noch an ihren alten Gebräuchen hängen, vor dem Eintreten der Dunkelheit der Sabbath beginnt und das Sabbathlicht angezündet wird. In dem Hause da unten muß eine jüdische Familie wohnen.“

„So ist es,“ rief sichtlich erheitert mein bejahrter Freund, „und dieses Licht, die glückliche Flamme, welche durch die ergreifende Leidensgeschichte der Juden die trostlose Nacht ihres Daseins wenigstens einmal in jeder Woche freundlich durchleuchtet hat, vor Allem ist es, was auf mich stets eine ganz eigenthümlich erregende Wirkung übt. So oft ich zufällig einem jüdischen Sabbath- oder Festlicht begegnen mag, kann ich es nicht sehen, ohne unwillkürlich nach einer weichen Stelle meines Herzens zu greifen, ohne mich ergriffen zu fühlen von einem unbeschreiblichen Heimweh nach jener ganz besonderen Art von harmloser Freude, von sanftem und heiterem Frieden, wie ich ihn einst nur im Schimmer dieses Lichtes genossen habe.“

Ich sah den Mann betroffen an. Auf seinem sonst etwas strengen Gesichte lag jetzt ein Zug der Verklärung, jenes wehmüthig milde Lächeln, das mir beim Beginn dieser Mittheilungen vorgeschwebt. Er bemerkte die Verlegenheit, in welche mich sein plötzlicher Gefühlsausbruch versetzt hatte, und sagte scherzend: „Sollte ich Ihnen wirklich noch nicht erzählt haben, daß ich als Jude geboren und in einem ehrbaren jüdischen Hause von gebildeten, aber noch frommgläubigen Eltern erzogen worden bin? Nun ja, wir sind zufällig nicht darauf gekommen, und man sieht mir das so leicht nicht an, die Spuren meiner Herkunft haben sich schon in früher Jugend bei mir verwischt – es sind jetzt sechsunddreißig Jahre, daß ich Christ bin – und die Kreise und Umgebungen, in denen ich später so viele Jahre hindurch gewirkt und mich bewegt habe, waren gewiß nicht dazu angethan, jüdische Traditionen in mir lebendig zu erhalten. Schon zur Zeit meines Uebertritts war ich über alle confessionellen Unterschiede und Schranken hinausgewachsen, aber ich kann wohl sagen, daß ich mich herzlich und ohne Rückhalt Allem angeschlossen habe, was sich von den Sitten und Gewohnheiten eines christlichen Hauses mit meinen freien religiösen Ansichten vereinigen ließ. Meine nächsten Freunde, Studien- und Gesinnungsgenossen waren Geistliche aus der Schule Schleiermacher’s, kurz, ich habe dem Christenthum gegenüber kein Gefühl der Fremdheit, das sich etwa auf jüdische Vorurtheile gründete. Und trotz Allem – ich erzähle eine psychologische Thatsache und stelle kein philosophisches System auf – trotz Allem lebt und regt sich in meinem Innersten ein Etwas, das jüdisch geblieben, ein tiefes Gefühl der Anhänglichkeit an Alles, ja der eigenen Ehrfurcht vor Allem, was mir in dem schönen Morgenglanze meines Lebens einst heilig und ein Gegenstand der Inbrunst gewesen ist. Ich lasse es nicht antasten und in den Schatten stellen – und,“ fuhr er erregt mit gehobener Stimme fort, „wer jemals in einem der jüdischen Hauser, wie sie vielfach noch jetzt existiren und vor dreißig oder vierzig Jahren noch durchweg bestanden, eine fromme Mutter den Festtag rüsten und mit segnend ausgebreiteten Händen das Licht entzünden sah; wem einst ein theurer Vater unter ergreifendem Aussprechen des hebräischen Segens in solcher feierlichen Stunde die Hände auf’s Haupt gelegt; wer jemals das beklommene Gefühl, die heiligen Schauer empfunden, mit dem ein jüdisch erzogenes Kind am Eingange des großen Fast- und Versöhnungstages an der Seite der Eltern und Geschwister zur Synagoge geht, mit dem es im strahlend erleuchteten Tempel die in weiße Sterbehemden gehüllten Gestalten sieht und den uralten, zuweilen wilden, aber von wehmüthig schmerzlichen Klängen durchzogenen Melodien der Synagogengesänge lauscht; … wer am Gedächtnißtage der Zerstörung Jerusalems in der finstern Synagoge unter Absingung der Klaglieder Jeremiä mit der fastenden Gemeinde auf der Erde gesessen; … wer die düsteren und strengen Trauergebräuche nach dem Tode der nächsten Angehörigen und dann wieder im Gegensatz dazu das in jüdischen Familien so unvergleichlich gemüthliche und lustige Purim-, sowie das glänzende Passah- und Laubhüttenfest … wer dies Alles – und ich könnte die Beispiele noch zwanzigfach vermehren – in regelmäßiger Wiederkehr nicht blos gesehen, sondern Jahre hindurch von Jugend an mit durchlebt hat: der ist ein Lügner oder ein gefühlloser Mensch, wenn er mir sagt, er habe diese Eindrücke abgeworfen wie ein altes Kleid, er habe sie mit der Wurzel wieder aus sich herausreißen können, wie einen schlechten und leblosen Keim. Haben Sie jemals mehr als flüchtig der Feier jüdischer Feste beigewohnt?“

„Die Feier hat etwas Strenges durch das unbedingte Ruhegebot,“ bemerkte ich, „sie schließt die Freude aus, hat nichts von der hellen und bunten Beweglichkeit der christlichen Feste.“

„Wie man es nimmt,“ lautete die Entgegnung, „man muß jede geschichtliche Lebenserscheinung eben in ihrer Eigenthümlichkeit zu erfassen wissen. Das jüdische Fest schließt nicht die weltliche Freude aus, sondern verlangt dieselbe geradezu; wohl aber schließt es das aus, was man Vergnügen nennt, die brausende Lust, Tanz, Spiel und lärmendes Gelage. So werden Sie z. B. jüdische Handwerker, Soldaten oder Dienstmägde gerade an ihren Sabbath- und Feiertagen nicht auf Tanzplätzen oder an anderen dergleichen Orten finden. Auch werden Hochzeiten und ähnliche Feste nicht an diesen Tagen gefeiert. Sonst aber haben dieselben mit dem düstern, langweiligen und kopfhängerischen Sonntag der schottischen Puritaner und unserer deutschen Betbrüder nichts gemein; es sind vielmehr meistens heitere Familienfeste, die sich wie ein immer frisch und duftig bleibender Kranz durch das bekanntlich sehr arbeitsvolle Leben des fleißigen Stammes flechten und ihr Charakteristisches eben in dem Umstande haben, daß ein Theil der religiösen Observanz in das Haus fällt, sich z. B. hier auf die vorschriftsmäßig sehr reichen und trefflichen Festmahle der Familie, auf den Dank für den Wein, auf die Bereitung des weißen Fest- und Sabbathbrodes, auf das Anzünden des festlichen Lichtes, auf den vom Vater jedem seiner Kinder und Enkel zu ertheilenden Segen und auf viele andere nur am heimischen Heerde vor sich gehende Dinge bezieht. Man besucht sich einander und giebt sich an den Abenden und in den Stunden, welche zwischen den verschiedenen Gebeten und Gottesdiensten liegen, einer ungebundenen Fröhlichkeit hin, bei welcher auch der originelle Witz und drastische Humor des jüdischen Naturells eine nicht geringe Rolle spielen. Dies Alles, und auch sogar die verschiedenen Jahreszeiten, in welche sie fallen, gehört zum Gesammtcolorit dieser Tage. Daß man mit seinem Kopfe und Wesen darüber hinauswachsen, sich persönlich davon lossagen, andere Anschauungen gewinnen und doch den von dem Dufte einer ganz unvergleichlichen Weihe durchwärmten Reiz dieser Eigenthümlichkeit nicht wieder vergessen kann, sehen Sie an meinem Beispiel. Was habe ich nicht an blendendem Glanz und großartiger Herrlichkeit gesehen von der Peterskirche in Rom bis zum Czarenpalaste in Petersburg! Und doch bedurfte es nur des Anblickes dieser armseligen, mir so lange entfremdeten Flämmchen, um geheime Saiten meines Gemüthslebens zu erschließen und mich zu diesen Ergüssen zu führen.“

[315] Langsam waren wir unter diesem Gespräch den Berg herabgestiegen und standen jetzt vor den inwendig mit sauberen weißen Gardinen umgebenen Fenstern, welche die Anregung zu einer Erörterung gegeben hatten, wie sie wohl schwerlich jemals an dieser Stelle vorgekommen war. Die inzwischen eingetretene Dunkelheit gestattete uns einen Einblick in das Zimmer; es zeigte eine peinliche Sauberkeit und war behaglich, fast elegant eingerichtet. An der Decke brannte ein kleiner Kronleuchter, außerdem standen noch zwei silberne Armleuchter auf dem weißgedeckten Tische, um den eine zahlreiche Familie in festlichem Schmucke beim Mahle saß, in der That ein anmuthiges Bild stillen Behagens und häuslicher Zufriedenheit.

„Sehen Sie den Mann,“ sagte der Präsident, auf eine untersetzte Gestalt mit kräftigem, sonnengebräuntem Gesichte deutend, die in blendendweißer Piquéjacke auf dem Sopha saß und sich Speise und Wein sehr wohl schmecken ließ. „Wie Sie bemerken, ist er kein Ideal für romantische Seelen und nichts weniger als ein Frömmler und Kopfhänger; er ist, wie ich weiß, preußischer Soldat und Landwehrmann gewesen und ein gewandter, durch und durch deutscher Mensch. Trotzdem ist in ihm jener ideale Zug, dessen ich vorhin gedachte, mächtig geblieben. Als ich heut’ Mittag um die Stadt ging, sah ich ihn erhitzt und keuchend von einer Geschäftsreise zurückkehren. Sicher hatte er den dreimeiligen Weg von der Eisenbahnstation zu Fuße gemacht, weil die Post um fünf Uhr von dort abgeht und also erst nach Beginn des Sabbaths hier eintrifft, was den Gesetzen und der Sitte zuwider ist. So kehrt er fast an jedem Freitag um dieselbe Stunde von seinen außerhalb betriebenen Geschäften zu den Seinen zurück. Oft könnte er den Sabbath in einer Gemeinde, ja in Leipzig oder Berlin verleben, aber nein … es zieht ihn zu den Seinen, in die Stadt, wo es für ihn keinen Tempel und keinen Gottesdienst giebt … es ist ja doch kein Sabbath, wenn man nicht bei Weib und Kind ist, wenn man nicht allwöchentlich die friedlichen Sabbathengel sich auf die eigenen häuslichen Räume herniederlassen sieht. Seine Familie war ihm heute bereits im Festanzuge entgegengegangen und die Kinder trugen mit seinem kleinen Gepäck auch das dürftige Päckchen des armen Juden, der neben ihm herging und den er wahrscheinlich irgendwo unterwegs gefunden und ‚über Schabbes‘ in sein Haus geladen hat. Ich kenne das. Sehen Sie, dort sitzt nun der arme gänzlich fremde Mann, für den diese Gegend hier eine ungastliche Wüste wäre, am Familientische, und wenn noch zwei oder gar vier Andere kämen, sie würden ebenfalls freundliche Aufnahme und Stärkung finden. Daß die Juden in weltlicher Hinsicht eine Gemeinschaft oder einen Zusammenhang erhalten, wie man gewöhnlich glaubt, ist nicht wahr; ein Band ist allerdings vorhanden, aber es ist eben das rein geistige der gemeinsamen religiösen Institutionen. In dieser ohne Hülfe irgend eines Zwangsmittels, einer äußeren Gewalt bestehenden, über die ganze bewohnte Welt sich verbreitenden Uebereinstimmung der Gebräuche und Gebete liegt allerdings etwas sehr Wunderbares, fast Unerklärliches.“

In diesem Augenblicke sahen wir die Familie im Zimmer die Gebetbücher zur Hand nehmen. Einer der Söhne las; wir konnten nur so viel vernehmen, daß es Deutsch und also eine Neuerung war. Hierauf jedoch begann der Hausvater mit lauter Stimme das rituelle hebräische Tischgebet zu sprechen. „Kommen Sie,“ sagte mein Freund, mich fortziehend, „ich ertrage das nach allen diesen Eindrücken nicht mehr; es ist, als ob ich meinen alten Vater, ja noch meinen Großvater hörte. Dieselben Worte, derselbe Ton, dieselbe Melodie, länger als ein Jahrtausend hindurch mit geringen Unterschieden von einem Ende des weiten Erdenrundes bis zum andern; ja, ich kann nicht aufhören, es zu betonen! das ist und bleibt eines der ergreifendsten Geheimnisse der Weltgeschichte. Und wenn heute die Juden, die man vor Jahrhunderten verbrannt und hingeschlachtet, aus ihren Gräbern erstehen und an den Tisch dieses Mannes treten könnten, sie würden sofort Satz für Satz einstimmen in die ihnen vertrauten Klänge dieses Gebetes.“

Schweigend waren wir weiter geschritten und ich muß gestehen, daß mich der unverhoffte Einblick in eine der verborgensten Herzensfalten dieses ausgezeichneten Mannes gar seltsam bewegt hatte. Mitten auf dem freundlichen Marktplatze des Städtchens, unserer Wohnung gegenüber, blieb er noch einmal stehen, indem er sagte: „Und doch möchte ich von Ihnen nicht mißverstanden sein, als ob es mir um eine Idealisirung und Verherrlichung des orthodoxen Judenthums zu thun sei. Dasselbe ist ein religiöses Product vergangener Zeiten und wird mit den beengenden Vorurtheilen und zelotischen Einseitigkeiten, welche an ihm haften, die Schwelle einer freieren und lichtvolleren Zukunft ebenso wenig überschreiten, wie das orthodoxe, confessionell-exclusive Christenthum. Aus der Tiefe meines Bewußtseins aber und aus meiner innersten Erfahrung heraus behaupte ich, daß dieses Judenthum auf das Leben und die Gemüthswelt der Seinigen eine gleich veredelnde Wirkung geübt, eine ebenso große Weihe und sittliche Erhebung ausgestrahlt, wie die verschiedenen christlichen Kirchen der Masse ihrer Angehörigen gegeben haben. Die Frucht des verlästerten und geschmähten Judenthums ist oder war eben ein Gemeinde- und Familienleben, das mit seiner nach Innen gekehrten und deshalb wenig gekannten Seele unstreitig zu den reinsten und wärmsten Stellen der Menschheit gehört. Demonstriren läßt es sich freilich nicht, was aus dieser verborgenen Welt, aus der Fülle ihrer gemüthreichen Innigkeit und ihrer wahrhaft poetischen Momente namentlich dem Herzen des deutschen Volkes eine verwandt sich anfühlende Hand entgegenstreckt. Wäre ich ein Dichter, so würde ich es zu schildern, wäre ich ein Maler, so möchte ich es in einer Reihe jener schönen Scenen und Bilder zu verewigen suchen, wie sie unverwischlich meinem Herzen sich eingeprägt und bis an mein Ende zu den besten und liebsten Schätzen meiner Erinnerung gehören werden.“

Hiermit drückte mir der Mann die Hand, machte seine gewöhnliche Abschiedsverbeugung und zog sich für heute in sein Zimmer zurück. Er sah bleich und ergriffen aus und mochte der Erholung bedürftig sein.




Daß ich die obigen merkwürdigen Geständnisse eines hochgestellten Staatsmannes hier wörtlich mittheilen konnte, verdanke ich meinem sorgfältig geführten Tagebuche, in das ich sie damals noch frisch aus dem Gedächtnisse niedergeschrieben habe. Schon nach einigen Tagen reiste der Präsident ab und ich bin ihm seitdem nicht wieder begegnet; er hat sich, wie ich höre, in das Landleben zurückgezogen und bewirthschaftet in irgend einer der entfernten Provinzen die großen Güter einer verwittweten Tochter. Sollte ihm dieses Blatt zu Gesicht kommen, so wird es ihm mit der Erinnerung an jene bewegte Abendstunde in der Stille des thüringischen Gebirges zugleich eine wohlthuende Ueberraschung bereiten. Der Wunsch seines Herzens ist erfüllt. Ganz dasselbe Heimweh nach einem verlorenen Paradiese der Kindheit, das er wie einen geheimen Schatz in seiner Seele trägt, dasselbe Verständniß für jenen poetischen und sittlichen Zauber, von welchem viele Jahre der Entfremdung sein Gemüth nicht zu lösen vermochten, ganz jener Funke einer zarten und warmen Sympathie hatte längst auch in der Seele eines Künstlers, eines deutschen Mannes aus jüdischem Stamme, geglüht, der lebensvoll aus sich herauszugestalten und im Farbenglanze herrlicher Bilder auf die Leinwand zu zaubern wußte, was er im Leben der Seinen mit dem Auge des Poeten angeschaut und mit dem sinnigen Geiste des Denkers betrachtet hat. In Professor Moritz Oppenheim in Frankfurt a. M. hat die mißachtete, für reizlos gehaltene Welt des altjüdischen Familienlebens, haben namentlich die freundlichen und heiteren Seiten, durch welche es sich für den hartherzigen Druck und die Kränkungen der Außenwelt zu entschädigen suchte, ihren Maler gefunden. Die berühmten Bilder, zu denen ihm diese Sphäre den liebevoll erfaßten Stoff geliefert, sind nicht blos anerkannte Meisterwerke der Kunst, es sind auch interessante, natur- und wahrheitsgetreue Schilderungen, innerlich erfahrene und von der Sonne des Gemüths beleuchtete Zeugnisse für den Geist, der unter meist seltsam fremdartiger Hülle in jenen Häusern gewaltet hat. Wir haben daher zwei dieser charakteristischen und herrlich ausgeführten Scenen in gelungener Wiedergabe unseren Darlegungen beigefügt und heben zunächst die darin berührten Momente hervor, um dann später in einem zweiten Artikel noch einige andere Seiten des genannten Gebietes vorzuführen.

Noch anmuthiger fast als der eigentliche Sabbath macht sich der Rüsttag zu demselben, der alle jüdischen Herzen eigenthümlich anheimelnde Freitag, in jüdischen Gemeinden und Häusern bemerkbar. Während die Männer mit doppelter Emsigkeit in ihren Geschäften arbeiten, um „vor Schabbes“ noch fertig zu schaffen, was nothwendig ist und doch von einem genau bestimmten Augenblicke

[316]

Sabbathanfang.
Nach dem Oelgemälde von Moritz Oppenheim.

des Abends an vierundzwanzig Stunden hindurch nicht verrichtet werden darf, ist im Hause der Reichsten wie der Aermsten das weibliche Personal mit der Beendigung einer gewöhnlich schon am Donnerstag begonnenen gründlichen Säuberung – der Sonnabendsarbeit der christlichen Häuser – beschäftigt. Namentlich muß an diesem Tage in besonderm Glanze blitzen, was blank im Hause ist, vor Allem die bereits mit frischen Kerzen besteckten Leuchter, mögen sie nur von Blech oder Messing oder von schwerem Silber sein.

Schon am frühen Morgen ist die Hausfrau auf den Markt oder zum Fischer gegangen, um heute selber die Hechte oder Karpfen auszusuchen, die am Freitagabend zu den Lieblingsgerichten der Juden gehören. In der Küche geht es dann schleunig an die Bereitung der aus feinem Weizenmehl bestehenden, geflochtenen und mit Mohn bestreuten Weißbrode (Berches oder Barches genannt), über welche beim Beginne der verschiedenen Festmahlzeiten der Segen, d. h. ein Dankgebet für die Erschaffung der Feldfrüchte gesprochen wird. Da während des Sabbaths, der mosaischen Vorschrift zufolge, im Hause kein Feuer angezündet und also auch nicht gekocht wird, muß heute auch schon für den morgenden Mittagstisch gesorgt werden; es wird die wohlgemästete Gans in den Bratofen geschoben, es werden jene eigenthümlichen Mehlspeisen

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Am Sederabend.
Nach dem Oelgemälde von Moritz Oppenheim.

und Gemüse bereitet, welche die Bestimmung haben, über Nacht bis zum nächsten Mittage in einem gewöhnlich von der Gemeinde unterhaltenen Ofen zu brodeln, um dann aus demselben als jenes sabbathliche Nationalgericht hervorzugehen, das die Juden „Schalet“ oder „Scholent“ nennen und für dessen eigenthümlich pikante Reize, wenn es gut bereitet ist, auch die Zungen vieler christlichen Gourmands eine schwärmerische Vorliebe empfinden. Auch Heinrich Heine gedenkt der jüdischen Festtagsfische und des Schalet an verschiedenen Stellen seiner Schriften mit humoristischer Sehnsucht.

Die gute Frau – wir nehmen eine wohlhabende Familie an – erfüllt alle diese drängenden und nicht mühelosen Pflichten mit dem eifrigsten Ernste, wird aber in ihrem Geschäfte vielfach unterbrochen. Es kommen viele durchreisende arme Juden, Männer, Frauen und Kinder, meistens zerlumpte Jammergestalten, die eine Gabe oder eine Einladung zum heutigen Abend und morgenden Mittag erwarten, es kommen Männer und Frauen mit Büchsen der verschiedenen wohlthätigen Gesellschaften, z. B. der barmherzigen Brüder und Schwestern, welche in den Gemeinden für die Beerdigung der Todten und die Pflege der Kranken sorgen etc., es kommen die Armen und Gebrechlichen, die Lahmen und Blinden aus der Gemeinde. Mit Jedem muß ein freundliches [318] Wort gesprochen, Jedem nach Kräften gegeben werden und schon ist ein Körbchen mit Silbergeld, das abseits auf einem Tische steht, sowie manches Behältniß des Küchenschrankes seines Inhaltes ziemlich entleert. Auch bei dem Manne im Comptoir oder im Laden stellen sich heute viele solcher mündlicher und schriftlicher Gesuche, sogar manche ziemlich anspruchsvolle ein, und auch er hält für den Zweck eine Casse bereit. Denn am Sabbath soll in der Gemeinde Niemand Noth leiden, an diesem Tage der Ruhe und Freude Jeder wirklich ruhen und sich freuen können.

Im Laufe der Nachmittagsstunden sind endlich die Vorbereitungen beendigt. Kinder und Erwachsene haben die festlichen Gewänder angelegt, der große Eßtisch im Wohnzimmer ist mit blendend weißer Damastdecke belegt, die Weinflasche bereits zwischen den Leuchtern und den Vasen mit duftenden Blumen neben den Becher gestellt, der nur zum Segensspruch über den Wein benutzt wird. Auch die vom Bäcker zurückgekommenen Segensbrode mit der weißen Mohndecke auf der hellbraunen Kruste liegen appetitlich auf dem Tische. Bettler pflegen am Nachmittage nicht mehr anzuklopfen, es müßte denn ein verspäteter Reisender sein. Frauen und Töchter haben schon ihre Strickstrümpfe, Nähereien und Stickereien zur Seite gelegt und ausruhend irgend ein Buch zur Hand genommen; ein Geist der Stille, der Sammlung, der feierlichen und doch heiteren Erwartung zieht mit dem Nahen der Abendstunde in die festlich geschmückte Wohnung. Auch der Hausvater hat seinen letzten wichtigen Brief geschrieben, sein letztes Geschäft beendigt, seinen Laden oder sein Comptoir geschlossen und auch – seine letzte Pfeife oder Cigarre geraucht. Denn das alte Verbot des Feueranzündens erstreckt sich auch auf das moderne Tabakrauchen, und der altgläubige Jude, wenn er selbst der leidenschaftlichste Raucher ist, entbehrt in diesen vierundzwanzig Stunden mit immerhin bewundernswürdigem Heroismus den streng verpönten Genuß. Er wirft ihn mit den Kleidern, den Gedanken, Geschäften und Zerstreuungen der Woche hinter sich und läßt nun einen Blick freundlich musternder Zufriedenheit auf Weib und Kind und auf all’ den wohlthuenden Veranstaltungen ruhen, welche an diesem Tage selbst das dürftige Hüttchen des Aermsten zu einer Stätte des Ausruhens und der behaglichen Sammlung machen.

Der Sabbath der Juden geht bekanntlich, wie jedes ihrer Feste, von einem Abend zum anderen und beginnt ungefähr eine Stunde vor dem vollen Eintritt der Dunkelheit, eine Zeitbestimmung, die sich also nach der Jahreszeit richtet und genau in den Kalendern bezeichnet ist, so daß z. B. der Anfang im December schon zwischen drei und vier, im Juni erst gegen acht Uhr fällt. Dieser Wechsel ist natürlich auf das Colorit des Sabbathlebens nicht ohne Einfluß, da der Augenblick – selbstverständlich heutzutage nur bei denen, welche diese Gebräuche noch minutiös beobachten – mit strenger Genauigkeit eingehalten wird. Je näher er rückt, desto ernster pflegt in den frommen Häusern die Stimmung der Familienglieder zu werden. Endlich setzt der Vater seinen Hut auf, sieht nach der Uhr und winkt der Gattin freundlich mit den Augen, oder sagt wohl auch: es ist Zeit. Und die Hausfrau – es ist das eine ihrer durch das Gesetz vorgeschriebenen Pflichten – zündet nun langsam die Kerzen oder Lampen an, breitet segnend ihre Hände gegen dieselben und spricht: „O Gott, mögen wie diese Zündlichter einst leuchten und strahlen meine Kinder in deiner heiligen Lehre!“ Sofort nach Beendigung dieser andächtigen Ceremonie ist der Sabbath eingekehrt, die Arbeit muß ruhen, die Sorge soll schweigen, die Seele ganz nur sich, ihrem Gotte und den Familienfreuden leben: es ist der Moment, welchen Oppenheim auf dem nebenstehenden Bilde aus dem Hause einer jungen Familie so lebenswahr und anheimelnd dargestellt hat.

Sehe man sich in diesem Zimmer um; man bemerkt, die liebliche, jetzt von tief andächtiger Ergriffenheit umstrahlte Frau hat redlich ihre Freitagspflicht erfüllt. Der Mann trägt die Tracht des vorigen Jahrhunderts, wo diese Gebräuche, unberührt von dem Hauche einer neuen Zeit, in allen jüdischen Häusern bestanden; doch zeigt sein bartloses Gesicht und seine ganze Erscheinung schon die Ablegung mancher Vorurtheile und starke Hinneigung zu europäischer Eleganz und Bildung. Auch in dem schönen, sauber und geschmackvoll herausstaffirten Knaben begegnen wir dieser Mischung von deutsch-moderner und noch streng-religiöser Erziehung. Während der Vater noch einmal auf die Uhr sieht, befindet sich der Liebling schon in ungeduldig fortschreitender Stellung; er will mit seinem großen hebräischen Gebetbuche, das er bereits fertig zu lesen versteht, den Anfang des sabbathlichen Abendgottesdienstes nicht versäumen. Bald sind Beide auf der Straße, und je näher sie ihrem Gotteshause kommen, um so größer wird das Gewimmel der von allen Seiten in ihren besten Kleidern herbeiströmenden Glaubensgenossen. Alle haben sie in ihren Häusern soeben dieselbe Scene gehabt. Mancher, der verreist gewesen oder immer erst am Freitag von Märkten und Dörfern zurückkehrt, wird mit einem Händedrucke und dem alten Zurufe „Schalom alechem“ (Friede sei mit Euch!) willkommen geheißen. Aus dem Innern des Tempels strahlt bereits der Glanz einer reichen Erleuchtung. Draußen am Eingange stehen abseits einige gebeugte, nicht festlich gekleidete Gestalten; es sind Leidtragende, die in dieser Woche einen ihrer allernächsten Angehörigen begraben haben. Sie treten erst später bei dem Punkte des Gottesdienstes ein, wo das Gebet für die Gestorbenen gesprochen wird, und werden dann von der ihnen entgegengehenden Geistlichkeit mit einem biblischen Trostspruche empfangen. Der Gottesdienst hat bereits begonnen. Auf der Altarestrade, gegenüber der Bundeslade, die heute gleichfalls ihr Wochengewand abgelegt und mit einem kostbaren Vorhang geschmückt ist, steht der Vorsänger mit seinen Choristen und singt den Lechododi, wie der alte Sabbathhymnus heißt, der seit Jahrhunderten bis zum heutigen Tage um diese Stunde in allen Synagogen der Welt ertönt. Das schöne Lied, in welchem der Sabbath als eine Braut vorgestellt ist, hat durch Heine und andere Dichter eine poetische Berühmtheit erlangt.[WS 3]

Nach Beendigung des nicht langen Abendgottesdienstes gehen die Mitglieder der Gemeinde unter dem gegenseitigen Zurufe „gut Schabbes“ auseinander und Jeder eilt mit seinen Gästen – an denen es früher nur selten fehlte – dem heimischen Heerde entgegen, wo nun erst das einladende Sabbathstübchen winkt.

Beim Eintritte in dasselbe begrüßen sich auch die Familienmitglieder mit dem obigen Festgruße und dem Hausvater nahen sich seine Kinder und Enkel jedes Alters und halten ihm nach der Reihe das Haupt hin, auf das er sodann beide Hände legt und dazu jedes Mal den alttestamentlichen Segen spricht, wie er vom Judenthum aus auch in alle christlichen Kirchen übergegangen ist. Gegenseitige Küsse pflegen diese Feierlichkeit zu beschließen, und erst dann setzt man sich zu Tische, singt die Danksprüche über Wein und Brod – eine uralte Ceremonie, aus welcher unstreitig das christliche Abendmahl entstanden ist – und läßt dann je nach dem Bildungsgrade heiteren Gesprächen und einer urgemüthlichen Fröhlichkeit für den Rest des Abends freien Lauf. Was freilich außerdem an allem diesem Sabbathceremoniell noch von belastenden Erschwerungen, von peinlicher Casuistik und mancherlei Aberglauben hängt, soll hier keineswegs gelobt werden. Der Kern aber war sicher ein guter und edler und der Zweck, eine vollkommene Ruhe und Entwölkung der Seele, bei den edelsten wie bei den rohesten Naturen einen unumflorten Blick auf die tieferen und idealeren Seiten des Lebens zu ermöglichen, wurde allerdings durch das Heer vieler, uns jetzt seltsam und lächerlich erscheinenden rabbinischen Verbote in möglichster Vollkommenheit erreicht.

Der eigentliche Sabbath selbst erreicht die Weihe und den keuschen Glanz des Freitagsabend im Ganzen nicht wieder. Nach einer nochmaligen Versammlung der Gemeinde im Tempel und mit dem wiederholten Segnen der Kinder und dem gegenseitigen herzlichen Zurufe „gute Woche“ ist er beschlossen und der Werkeltag tritt wieder mit seinen Sorgen und Anforderungen an die Seelen heran. In wohlhabenden Familien ist gewöhnlich dieser Abend des Sonnabends den am Sabbath verpönten Vergnügungen, wie Spiel, Tanz u. s. w. bestimmt. Mancher arme Jude aber schnürt nach Beendigung des letzten Gebets und dem Anzünden der ersten Pfeife bereits seine Bündel zusammen, umarmt unter dem Wunsche einer guten Woche Weib und Kind und wandert seinem Erwerbe entgegen in die Nacht hinaus. Eine Woche hindurch wird er draußen sich mühen und abhetzen, von schwarzem Brode und Kaffee leben, um an seinem lieben Freitag in sein geschmücktes Haus zurückzukehren und wiederum vierundzwanzig Stunden ein Priester und ein König zu sein.

Hat auch der allwöchentlich wiederkehrende Sabbath bei den heutigen Juden durch den Fortschritt der Aufklärung und die Anforderungen der modernen Verhältnisse, besonders in einigen Theilen Deutschlands, viel von seinem alten poetischen Zauber eingebüßt, so daß es viele Häuser giebt, in denen er gar nicht [319] mehr gefeiert wird, so ist dies doch weniger bei den anderen Festen des jüdischen Kirchenjahres der Fall, vielleicht weil sie seltener erscheinen, vielleicht auch weil alte Traditionen, Erinnerungen und Beziehungen der Gemüther hier mächtiger wirken. Vor Allem zeigt sich dies an den ernsten Bußfesten im Herbste. Geht man an diesen Tagen z. B. durch die Straßen Berlins, so findet man in allen Gegenden der Stadt vom niedrigsten Trödler bis zu den prachtvollen Magazinen Gerson’s alle öffentlichen Geschäfte der Juden geschlossen. Ebenso ist es in Hamburg, Wien und Paris und besonders in den kleinen Städten. Allen europäischen Börsen sind diese Tage bekannt. Wo der Glaube ihre Beobachtung nicht mehr gebietet, wird sie von der ungebrochenen Sitte gefordert. Ein Einblick in Wesen und Feier gerade dieser Feste ist für die Kenntniß des jüdischen Lebens von großer Wichtigkeit; wir müssen darauf zurückkommen, wollen uns aber für dieses Mal nur noch mit einer und zwar mit der auf unserer zweiten Illustration dargestellten Scene beschäftigen, welche sich auf die Feier der jüdischen Ostern bezieht.

Dieses Passah- oder Peßach-(Oster-) Fest, das zum Gedächtniß an den Auszug aus dem Sclavenhause Aegypten begangen wird, ist aus diesen fast vorgeschichtlichen Zeiten her eines der hervorragendsten Hauptfeste der Juden geblieben und hat in den Jahrhunderten des Druckes und der Verfolgungen, durch das Gefühl des Triumphes und Trostes, welches die Verfolgten aus der lebendigen Erinnerung an jene Erlösung von Tyrannei und Knechtschaft schöpften, eine erhöhete und sehr poetische Bedeutung erhalten. Es weht, wie der bekannte Cremieux verschiedentlich hervorgehoben hat, ein volksthümlich-demokratischer Hauch in jener Wärme, mit dem wir Jahrtausende hindurch ein zerstreutes und so vielfach mißhandeltes Volk alljährlich unter allen Leiden zu einer Feier zurückkehren sehen, welche einer einstmaligen Befreiung aus den Banden eines übermüthigen Despotismus gewidmet ist. Doch neben dieser freundlichen Erinnerung bietet das Fest dem denkenden Juden der neueren Zeit auch eine sehr ernste und wehmüthige. Denn an diesem Tage sind zu verschiedenen Zeiten und an den verschiedensten Orten einst Tausende seiner Väter und Mütter in ihren Wohnungen überfallen und hingemordet worden, weil Fanatiker oder Böswillige das damals schon gründlich widerlegte Märchen ausgesprengt hatten, daß sie, die nicht einmal einen Tropfen Thierblut genießen dürfen, des Blutes christlicher Kinder zur Feier gerade dieses Festes bedürften!

Schon Wochen vorher beginnen die Rüstungen dazu und liegen den mit besonderer Scheu und Zähigkeit an dem betreffenden Ceremoniell hängenden Frauen ob, während die Männer nur recht weit ihre Geldbeutel zu öffnen haben. Denn es ist ein kostspieliges Fest, auch dadurch, daß den Mittellosen von den Einzelnen sowohl, als aus Gemeindemitteln Alles reichlich umsonst gegeben wird, was zur würdigen Begehung desselben nöthig ist. In jedem Hause ist für die ziemlich neuntägige Festzelt im Voraus der ausreichende Bedarf an ungesäuerten Kuchen (Mazzoth) zu schaffen, die sich in der traditionellen Form, wie wir sie jetzt noch sehen, gewiß aus dem allergrauesten Alterthum herschreiben; es muß ferner für dieselbe Zeit, als ob man eine Belagerung oder Hungersnoth erwarte, selbst in sonst sehr frugal lebenden Familien Küche und Keller mit hinlänglicher Proviantirung, namentlich von Allem versehen werden, was an Speisen und Getränken, an kostbaren Erfrischungen und Leckereien dem Genusse nicht verboten ist.

Das weitläufige Ceremoniell des Festes soll hier nicht berührt werden; die meisten Bestimmungen desselben, auf welche die Talmudisten all’ ihren Scharfsinn verwendet haben, erscheinen unserem heutigen Sinne unbegreiflich, unverständlich, ja lächerlich. Und dennoch war das beabsichtigte Gesammtresultat wiederum ein gutes, indem ein über die ganze Judenheit der Erde gleichmäßig sich verbreitendes, die Gemüther erhebendes, wahrhaftes Gemeinde- und Familienfest geschaffen und erhalten wurde. Und wenn ein Jude aus der Wüste Sahara oder von den Ufern des Mississippi, aus Persien oder aus Kairo und Tunis in dieser Zeit in eine Gemeinde tritt, wird er der Geschäftigkeit der jüdischen Frauen ansehen, daß sie „Peßach machen“, wie es eben überall beobachtet und hergerichtet wird.

Erst am Abend vor dem Rüsttage sind die Vorbereitungen beendigt, dieser selber gehört von Morgens neun Uhr an schon halb und halb zum Feste. Die Hausfrau ist nur noch im besten Zimmer ihrer Wohnung mit der Anordnung des Tisches für den Abend, den glänzendsten Abend des Judenthums, beschäftigt. Wie sehr auch der Sabbath und andere Feste durch freundlichen Schmuck geehrt werden, für dieses Fest und namentlich für diesen ersten Abend desselben wird in den Schränken des Reichsten wie des Aermsten doch das Kostbarste und Funkelndste an Leuchtern und Kelchen, an Gedecken und Geschirren bereit gehalten und nachher sorgfältig wieder verschlossen, um ein Jahr hindurch nicht benutzt zu werden. Wer jemals ein solches Zimmer, einen solchen Tisch gesehen, diesen Abend in einem „frommen“ Judenhause verlebte, wird gewiß den eben so ernsten wie freundlichen Eindruck nicht wieder vergessen und zu der Ansicht gelangt sein, welche einst Goethe in Bezug auf ihm fremde religiöse Gebräuche zur Fürstin Gallitzin geäußert hat: „Mir fällt es nicht schwer,“ sagte er, „mit einem klaren unschuldigen Blick alle Gegenstände zu beachten. Manches, was ich nicht gerade billige, mag ich gern in seiner Eigenthümlichkeit erkennen; da zeigt sich denn meist, daß die Anderen eben so recht haben, nach ihrer eigenthümlichen Art zu existiren, als ich nach der meinigen.“

Je näher der Abend (er heißt der Seder-Abend) kommt, desto freudiger schlagen ihm die Herzen entgegen. Endlich ist der Abendgottesdienst beendigt und der Hausvater – wir denken an einen schon bejahrten vermögenden Mann – tritt in das hell erleuchtete Zimmer, wo er von Söhnen, Töchtern, Enkeln und Gästen erwartet und herzlich begrüßt wird. Es beginnt die oben bereits erwähnte Ceremonie des Segnens, dann tritt Schweigen ein, der Greis wandelt langsam, leise Danksprüche murmelnd um die blinkende Tafel, an deren Mitte sich sein Patriarchenthron, ein reich und weich mit Teppichen, Decken und Polstern drapirter Sessel befindet, auf dem ein schneeweißes Gewand liegt, sein Sterbehemd, mit dem man ihn einst in die Erde legen wird und das er auch am Versöhnungstage in der Synagoge trägt, wie heut Abend an seinem funkelnden und strotzenden Tische. Und wenn der junge Enkel, überrascht durch diese Umkleidung, die Mutter nach der Bedeutung derselben fragt, erhält er sicher die Antwort: „Damit wir auch in unserer Freude nicht vergessen, daß wir einst sterben müssen.“

Hat das Haupt der Familie Platz genommen, so kommt eine Tochter des Hauses mit silbernem Becken und gleicher Kanne daher und begießt nach orientalischer Sitte dem Vater drei Mal die Hände. Dann, nachdem auch die Anderen sich niedergelassen und die auf ihren Plätzen liegenden Gebetbücher zur Hand genommen haben, deutet er mit der Hand auf die drei Osterkuchen, welche vor ihm auf einer Schüssel liegen, und sagt: „Solches Brod aßen unsere Väter im Lande Aegypten … wer Hunger hat, möge kommen, es mit uns zu theilen – wer es braucht, möge sich hier satt essen …“

Die rituelle Feier, welche in einer von symbolischen Gebräuchen begleiteten, von Beziehungen auf die spätern Schicksale der Juden unterbrochenen Erzählung des Auszugs aus Aegypten besteht und die zu schildern hier nicht der Ort ist, zerfällt in zwei Theile. Nach Beendigung des ersten wird unter fröhlicher Geselligkeit das gewöhnlich sehr splendide Mahl eingenommen und nachher wieder mit Psalmensingen und verschiedenen Ceremonien fortgefahren, so daß die Festlichkeit oft erst um Mitternacht beendigt ist. In angeregtester Stimmung und dem muntersten Geplauder gehen die Leutchen dann auseinander, als ob sie von einem Ball, einem lustigen Gelage kämen. Ist doch nach langem Winter und manchem Familienungemach der erste Act eines ihrer liebsten Feste mit erbaulicher Würde begangen worden. In dieser ungetrübten Weltfreude, bei aller Frömmigkeit und Innigkeit des Gemüths, liegt das Eigenthümliche, das Meister Oppenheim auch auf dem Bilde, welches die genannte Feier zeigt, so anmuthig zur Anschauung gebracht. Man sieht, es ist in diesem Augenblicke nicht von theologischen Dingen die Rede, es muß ein für das Familienleben und die liebliche Tochter sehr zartes Thema berührt worden sein, vielleicht eine artige Anspielung des als Gast anwesenden Rabbiners auf den leer neben ihr stehenden Stuhl, der im nächsten Jahre vielleicht schon einem neuen Mitgliede des Hauses bestimmt sein wird.

A. F–l.



[320]
Blätter und Blüthen.


Das Berliner Aquarium, ein auf die besten wissenschaftlichen und financiellen Grundlagen gestelltes Unternehmen einer Commanditgesellschaft mit zweihunderttausend Thalern Capital in Actien zu zweihundert Thalern, wächst mitten aus unruhigen Zeiten sicher und kräftig zu dem größten und glänzendsten lebendigen Museum der bis jetzt meistentheils noch unbekannten thierischen und pflanzlichen Gebilde der Wüsten und Wildnisse, der süßen und salzigen Wasser, der Sümpfe und Urwälder, der Tiefe und der Nacht empor zum hellen, lichten Tage und wird auch nach Sonnenuntergang, mitten im schönsten Stadttheile, der Million Menschen, die sich in der norddeutschen Hauptstadt aus der nächsten Umgegend und durch die sechs großen Eisenbahnen auch aus der Ferne fortwährend zusammendrängen, alle Tage bis tief in die Nacht hinein geöffnet sein. Es wird also nicht nur viel größer, als die Aquarien in London, Paris, Hamburg etc. zusammengenommen, sondern auch in naturwissenschaftlicher Beziehung viel umfangreicher, da es sich durchaus nicht auf die Wunder der Tiefe im Wasser beschränken, sondern auch die noch ziemlich geheimnißvollen amphibischen Creaturen und besonders die noch wenig beobachteten Raubritter der Nacht in seinen Kreis aufnehmen und in der schönsten künstlichen Beleuchtung allgemeiner Kenntniß und Offenbarung zugänglich machen wird. Wir sehen also nicht blos in malerischen Neptunsgrotten trockenen Fußes vom Meeresgrunde aus alle Arten von Fischen, Thierpflanzen und Pflanzenthiere, Ritter des Meeres in Harnischen und in Thürmen mit ihrem herrlichen Farben- und Formenspiel, Kopffüßler wie Tintenfische und fabelhafte Kraken, Süßwasser- und Meerschnecken, Muschel- und Weichthiere, strahlenförmige Geschöpfe, Helothurien, Seeigel und Meeressterne, die wunderbaren Baumeister der Korallenriffe und oberhalb des Wassers schön befittigte Insecten, die als Larven im Wasser lebten, Kerb- und Krustenthiere aller Art, sondern auch in einer künstlichen, trockenen Heimath Nacht- und Ohrenaffen, fliegende Hunde, fliegende Eichhörnchen, Flugbeutelthiere, Wiesel und Nörze, Springmäuse und andere nur des Nachts thätige und muntere Säugethiere, deren Lebensweise und Charakter selbst viele Naturforscher noch nicht aus eigener Anschauung kennen. Ebenso Reptilien und Amphibien, besonders aber in einer eigenen großen Abtheilung die Giftpflanzen, welche nur des Nachts aufleben und ihrem Geschäfte, ihrer Nahrung nachgehen. Ueber allerhand kriechendem, laufendem und springendem Gethier erwachen mit eintretender Nacht und künstlicher, mondscheinartiger Beleuchtung kleine, zierliche Eulen, welche vor unseren Augen die flinksten Springmäuse fangen und verzehren.

Prachtvoll geformte und gefärbte Eisvögel lauern von Meeresklippen aus auf harmlose Fische, stürzen sich in’s Wasser und kommen mit einem glänzenden, beschuppten Thiere wieder heraus. Strand- und Wasserläufer, kleine Steißfüßler, verschiedene Sumpf- und Wasservögel beleben die Ufer und künstliche Inseln, im Vordergrunde von malerischen Tropfsteingrotten, welche, von unsichtbaren Lampen beleuchtet, sich in geheimnißvolle Tiefen verlieren und mächtig die Phantasie erregen, wenn das leibliche Auge nicht weiter vordringen kann. Dieser beispiellos reiche Inhalt sieht vielleicht jetzt noch ziemlich fabelhaft aus, aber unsere zoologische Autorität Dr. Alfred Brehm, der Wortmaler des „Illustrirten Thierlebens“, der wissenschaftliche und poetische Sänger des „Lebens der Vögel“, hat in seiner tüchtigen Hand und seiner reichen Erfahrung bereits den Zauberstab, womit er alle diese Herrlichkeiten herbeirufen und in wissenschaftlicher und malerischer Ordnung ansiedeln kann. Unsere Leser und Leserinnen kennen ihn ja ohnehin schon aus der Gartenlaube ziemlich genau. Seine allgemein anerkannte Capacität wird durch solides und reichliches Capital kräftig unterstützt, so daß wir nicht die geringste Ursache haben, an dem Gelingen und glänzenden Gedeihen des großartig angelegten Unternehmens zu zweifeln. Es trat gerade zum ersten Male vor das Publicum, als die Luxemburgerei ganz Europa mit ernstlichen Kriegsbefürchtungen erschreckte und alle Capitalisten mit ihren Schätzen sich scheu zurückzuziehen suchten; aber dessenungeachtet wurden gleich während dieser ersten Wochen bei den Bankiers der Aquariumsgesellschaft, Rauff und Knorr, Oranienburgerstraße 62, und Eichhorn, Wilhelmstraße 57, zu Berlin über achtzigtausend Thaler gezeichnet und zwar mit sofortiger Deponirung von zehn Procent. Und als die elektrischen Telegraphen Friedensversicherungen von Börse zu Börse zuckten, mehrten sich die Zeichnungssummen, mit jedem Tage zunehmend, so daß gewiß schon in nächster Zeit die Unternehmer vor dem Handelsgericht erscheinen und die ganze Summe nachweisen können, um dann sofort frisch und kräftig an Ausführung des großen, schönen naturwissenschaftlichen Culturtempels zu gehen. Ein ausgezeichneter Baumeister und ein phantasiereicher Maler haben schon tüchtige Vorarbeiten geliefert, und die wissenschaftliche Seele desselben, Dr. Brehm, steht mit den besten Bezugsquellen für die Bewohner des Tempels nach allen Richtungen der Windrose hin in Verbindung. Außerdem hat er einen besonderen Behälter erfunden, um die verschiedenen Thiere auf der Reise vor Gefahren zu schützen. Somit läßt sich sicher hoffen, daß das Berliner Aquarium das größte und bedeutendste der Welt und durch seine innere und äußere Einrichtung ein Anziehungspunkt für alle gebildeten Menschen werden wird.




Deutschland in England. Bekanntlich erscheint bei B. Tauchnitz in Leipzig bereits seit vielen Jahren eine Sammlung englischer und amerikanischer Autoren, die wegen ihrer Billigkeit und guten Ausstattung sehr beliebt und unter dem Namen „Tauchnitz-Edition“ allgemein bekannt ist. Der Verleger hat neuerdings auch deutsche Autoren in guten Uebersetzungen der Sammlung eingereiht und mit Auerbach’s letztem Roman: „Auf der Höhe“ begonnen. Heute können wir unsern Lesern die angenehme Mittheilung machen, daß demnächst schon noch einige andere Werke deutscher Dichter folgen werden. Fritz Reuter’s „Aus der Franzosenzeit“ ist in einer trefflichen Uebersetzung von Lewes unter dem Titel: „In the Year 13“ bereits in der Presse. Darauf folgen Goethe’s Faust in der Uebersetzung von Dr. Aurtes, ein Band Paul Heyse, ein Band Zschokke, ein Band Lessing, Fouqué etc. etc.




Kleiner Briefkasten.

R. V. in W. Marlitt’s neue Erzählung „Das Geheimniß der alten Mamsell“ beginnt mit nächster Nummer.

K. S. in München. Sie haben mit Verstand gelesen und den Artikel ganz richtig aufgefaßt. Die Personen – ob sie auf der rechten oder linken Seite stehen – sind Nebensache, wenn nur der große Zweck: die Einheit und Größe des Vaterlandes, um etwas gefördert wird. Mit Recht wurde neulich in einer österreichischen Zeitschrift daran erinnert, daß Phidias, um die Größe des Zeus sichtbar zu machen, den Mächtigen sitzend darstellte, so daß er die Decke des Tempels fast mit dem Scheitel berührte und es jedem Beschauer klar würde, der Gott müsse das Gebäude sprengen, wenn er sich erhebe. Diesem Zeusbilde gleicht der deutsche Riese, den die Geschichte bisher nur in gebeugter Lage sah und der sofort das Staatsgebäude Europa sprengt, wenn er sich erhebt. Er sprengt es aber nur, wenn er aller seiner Glieder mächtig, wenn er ein geschlossenes Ganze ist. Deshalb müssen wir die Energie des Staatsmannes anerkennen, die es verstand, den Riesen zu schaffen und ein Stück deutsche Einheit aufzubauen, wie sie die Geschichte unseres Vaterlandes nur einmal in ihren Büchern verzeichnet hat. Der Fluch der Lächerlichkeit dem Auslande gegenüber ist von uns genommen und einer Anerkennung gewichen, wie sie zur Stunde nur noch dem Sternenbanner Amerikas gezollt wird. Wenn auch nur einen Schritt näher dem Ziele, wir müssen ihn thun, selbst wenn diese Einheit drückend und ungenügend wäre, wie es augenblicklich noch der Fall ist, und trotzdem ein politischer Gegner sie geschaffen hat. Freilich eine Einheit ohne Freiheit ist ein Unding, ein Leichnam, dem der belebende Athem, eine tönende Schelle, welcher der Inhalt fehlt. Die politischen Gnadenacte eines Czaren oder Cäsaren können nicht das Ziel unserer politischen Ideale sein, die vor Allem das volle Mitwirken des Volkes verlangen – des Volkes, das vor Jahresfrist wiederum in vielen Schlachten geblutet und zum Dank dafür nicht mit einer Beschränkung seiner Freiheitsrechte belohnt werden kann.

Deshalb – und der Mensch wächst ja mit seinen Zwecken – ist es vor Allem Pflicht eines jeden echten Patrioten, jetzt, wo die Einheit gesichert, den Fortbau der Freiheit wieder in kräftigster Weise zu beginnen und zu fördern, Jeder in seinen Kreisen und in seiner Weise, nur tüchtig und aufrichtig. Daß dabei die Gartenlaube nicht fehlen wird, wie Sie hoffen – und wir danken Ihnen für das Vertrauen – brauchen wir nicht besonders zu betonen.

Consul G. in W. P. Die in Ihrer Zuschrift vom 21. April erwähnte Geldsendung ist bei der Redaction nicht eingegangen.




Freiligrath-Dotation.


Bei dem Barmener Comité sind angemeldet: F. B. in Barmen 50 Thlr., Fritz R. das. 50 Thlr., C. G. das. 10 Thlr., F. F. das. 10 Thlr., Ed. S. das. 15 Thlr., J. S. das. 50 Thlr., L. E. das. 10 Thlr.

Bei der Redaction der Gartenlaube gingen wieder ein: Bruder B. in Wien 2 Thlr., dem freien Manne, von noch immer deutschen Oesterreichern in Mödling bei Wien 10 fl., Liedertafel Concordia in Wesel 5 Thlr., Karl Müller in Alsfeld 5 Thlr., E. Schneider in Torgau 3 Thlr., N…… in Chemnitz 1 Thlr., Molly in Leipzig 5 Thlr., A. Apel in Hamburg 10 Thlr., Liedertafel in Elbing 15 Thlr., erster Betrag der Sammlung der in Weimar erscheinenden Zeitung „Deutschland“ 11 Thlr., eine Wienerin und ihr Bruder 3 fl., Lesekränzchen in Oels 5 Thlr. 15 Ngr., Sammlung der Seminaristen in Plauen i. V. 15 Thlr., 1 Thlr. mit den Worten:

Dem Dichter gilt es, dem verbannten,
Geprüften eine Gab’ zu weih’n;
Ein Scherflein sei ihm zugestanden,
Für mehr ist meine Hab’ zu klein.

Wenn so wie ich nur sich verbände
Zu dieser nationalen That,
Wer je ‘nen Vers gemacht, da fände
Sich zu Millionen – freilich Rath.




Inhalt: Aus dem Merkbuche der Gartenlaube. Von Jacob Grimm. – Vater und Sohn. Aus dem Tagebuche eines Arztes. Von Max Ring. – Die Vorlesung eines weiblichen Doctors in London. Von Karl Blind. Mit Portrait. – Der Rauchmaler. Ein Bild aus dem Münchener Künstlerleben. – Im Frieden des Sabbathlichtes. Aus den vier Wänden des jüdischen Familienlebens. Von A. F–l. Mit Illustrationen. – Blätter und Blüthen: Das Berliner Aquarium. – Deutschland in England. – Kleiner Briefkasten. – Freiligrath-Dotation.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 19 enthalten: Dem Cäsar. Gedicht von Rudolf Gottschall. – Englands Todsünde. – Umschau: Ahnungen vom Völkerfrieden. – Aufschlüsse über die Kugelspritze. – Lessing bei den Amerikanern. – Auch ein Heiliger. – Vom österreichischen Zersetzungsproceß. – Methusalem unter den Malern. – Das schreiblustige Wien. – Die Cultur der Aquarien. – Die Deutschen in Paris. – Wie oft hat Jeder gesprochen?



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Bildchen.
  2. Seht Ihr jetzt ein.
  3. Dumme Kerle.
  4. Behüt’ Euch Gott.
  5. Können muß es Einer halt, dann ist so viel nicht dahinter.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Unfall
  2. Vorlage: Walter
  3. Heinrich Heine, Prinzessin Sabbath