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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[289]

No. 19.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Die Herrin von Dernot.
Von Edmund Hoefer.
(Fortsetzung und Schluß.)


Die Tante erging sich in anerkennenden und klagenden Worten. Heimlingen tröstete sie nach Kräften und amüsirte sich dazwischen an dem ab- und zugehenden Tobias, der voll plötzlich erwachten kriegerischen Geistes die „Werke“ des Schlosses untersucht hatte und über ihre „Widerstandsfähigkeit“ rapportirte. Die beiden Mädchen waren still, aus dem gleichen und dennoch innerlich tief verschiedenen Grunde: Beide dachten über die Veränderung nach, die mit Heimlingen vorgegangen zu sein schien, – die eine zürnend, die andere dankbar. Esperance ging jedoch bald wieder zu ihrem Vater, dessen Zustand ihr verhältnißmäßig erträglich zu sein schien; so bequem man ihm unterwegs auch zu betten versucht, mochte die lange Fahrt den anscheinend fast unempfindlichen Körper doch ermüdet haben. Es war eine Art von Schlummer über ihn gekommen.

In ihrer Wache bei ihm wurde Esperance bald von der Tante abgelöst, die, wie es den Anschein hatte, jetzt wirklich und nachhaltig Besinnung und Fassung wiedergewonnen und mit großem Eifer und noch größerer Würde sich der Pflichten einer Frau vom Hause annahm. Zur Ruhe freilich ging das Mädchen darum doch nicht. Stunde auf Stunde saß sie mit dem Gutsverwalter, den man aus seiner Wohnung herauf gerufen, um sich von ihm über die Vorfälle, welche bisher die Ruhe in der Gegend gestört, über die Stimmung der Bewohner, über das Treiben der Partei des Müllers unterrichten zu lassen und zu bereden, was zur Beruhigung und Stärkung der Treuen und zur Besiegung der Gegner dienen könne. Der Mann bestätigte Burgsheim’s Angabe: es gab unter den Menschen dieser Gegend eine eigenthümliche, liebevolle und treue Erinnerung und eine fast phantastische Anhänglichkeit an die ‚Herrin von Dernot‘, und seit sie wußten, daß eine solche wieder da sei, und dieselbe im Herbst obendrein, wenn auch nur von ferne, kennen gelernt, hatten sie. Zuneigung und Hoffnung, obgleich in seltsam dringlicher Weise, dieser zugewendet. Es war obendrein nicht unbekannt geblieben, was an jenem Morgen auf dem Schloß vorfiel. Man sah dadurch einerseits Esperancens Ansprüche gesichert und fing andererseits an, den Müller zu hassen, der das Recht der ‚Herrin‘ bestreiten und beeinträchtigen wollte. Augustin hatte seit dem Herbst mehr Anhänger verloren als gewonnen und nur in der letzten Zeit durch kluge Benutzung der allgemeinen Aufregung auch in weiteren Kreisen wieder mehr Einfluß erlangt.

„Das will aber wenig bedeuten,“ meinte der Verwalter zum Schluß. „Wenn sie erfahren, daß das gnädige Fräulein hier ist und vollends hier bleiben will, und wenn sie obendrein sehen, daß der alte Streit um die Höfe nicht fortgeführt wird, so hat der Monsieur Augustin verspielt. Sie hoffen von ihrer ‚Herrin‘, wie unser gutes Deutschland vom alten Rothbart, so etwas wie das goldne Reich,“ fügte der Mann lächelnd hinzu. „Nur,“ und er wurde wieder ernster, „der Herr Baron darf nichts damit zu thun haben, – verzeihen das gnädige Fräulein, aber als ehrlicher Mann und treuer Beamter muß ich’s sagen: von dem wollen sie nichts. Und es wäre gut, wenn Excellenz für’s Erste noch nicht herkämen.“

Er hatte es nicht erfahren, daß der Baron bereits im Hause, und Esperance erkannte schon jetzt, welche Gefahr der Kranke auch hier laufen und mit welcher Vorsicht man das Geheimniß hüten müßte. Selbst des Verwalters Auge hatte von noch entschiedenerer Abneigung geredet, als seine Worte dieselbe erkennen ließen.

Von Leopold wußte Frau Katharine nichts. Etwa bis Weihnachten hatte er in seiner früheren Weise still und ernst im Schlosse fortgelebt. Dann war er aufgebrochen und man hatte seither keine Kunde mehr von ihm erhalten. – Esperancen ging es nicht anders. Statt seiner war aber ein Andrer ein häufiger Besucher des alten Hauses geworden – Burgsheim, der sich von der Matrone gern über die alte Zeit und die Jugend seines Vaters erzählen ließ. Die Frau war, schlicht und ernst wie immer, seines Lobes voll: er sei ein wackerer, tüchtiger, ehrenhafter Mann von, wie es ihr scheine, reichen Gaben und erinnere sie häufig ganz wunderbar an seinen Großvater, den Baron August. Vollends seit er sich von seinem Verwandten, dem Müller, der ihm neuerdings grimmig gänzlich abgesagt haben solle, mehr und mehr getrennt habe, seien all die löblichen Eigenschaften immer erfreulicher hervorgetreten.

Die Nacht schritt weiter und weiter vor, und der Tag fing an, über die Berge herab in die Thäler zu steigen, als der Arzt anlangte und den Kranken in seine Behandlung nahm. Ueber dessen Zustand wußte er den Angehörigen nichts Tröstliches zu sagen und verhehlte nicht, wie gering seine Hoffnung auf die Wiederherstellung des geistigen Theils. Von einem Weitertransport dürfe unter keinen Umständen die Rede sein, und da auch er zugestehen mußte, daß die Aufregung in der kleinen Stadt groß und der Haß gegen den Minister und sein hartes Regiment ein außerordentlicher, so fand er die strengste Verbergung des unglücklichen Mannes gerechtfertigt und traf mit Esperance und Heimlingen alle Vorkehrungen und Verabredungen, um das Geheimniß zu bewahren und seine öfteren Besuche in Dernot zu erklären. Er brachte überdies die Nachricht mit, welche Abends [290] zuvor in die Stadt gelangt war, daß der Minister für ewige Zeiten aus dem Lande verbannt und sein Eigenthum eingezogen werden sollte. Die großen Einkünfte hatten schon eine Bestimmung erhalten.

Der Zustand des Barons wurde immer trauriger, da der bisherigen todtenhaften Ruhe eine Aufregung folgte, welche für den Leidenden so gut wie für seine Umgebung um so qualvoller sein mußte, als man Körper und Geist vergeblich gegen die Lähmung ringen sah, die sie gefesselt hielt. Der Arzt blieb im Schloß; er behauptete, in der Stadt habe man jetzt weder Zeit noch Stimmung zum Kranksein.

Und wenn es so im kleinen Schlosse stand, die Nachrichten, die aus Ferne und Nähe kamen, lauteten gleichfalls ernst genug und ließen noch Schlimmeres nicht unmöglich erscheinen. Die Bauernunruhen im Odenwald, kaum unterdrückt, schienen sich von neuem erheben und fortpflanzen zu wollen, und es war vorauszusehen, daß sie in diesen Gegenden immerhin Anklang finden würden, wäre es auch nur bei einer Partei gewesen, welche auf Seiten des Müllers stand und von ihm in Aufregung und Haß gegen die bisherigen Zustände im Allgemeinen und gegen die Herrschaft auf Dernot im Besonderen erhalten wurde. Es ging doch nicht ganz, wie der Verwalter es gemeint. Die Nachricht von der Anwesenheit der Damen, zumal der sogenannten „Herrin von Dernot“, und eines Herrn, der zum Hofe gehörte, war in diesen Kreisen und von Augustin Besseling selber nicht mit der Gleichgültigkeit aufgenommen worden, deren wir ihn damals im Herbst sich rühmen hörten, sondern erregte große Erbitterung. Die Versicherung, welche Esperance durch den Verwalter an den Müller und die übrigen Hofbesitzer gelangen ließ, daß der alte Streit von ihr nicht fortgeführt und sie nicht ein fremdes Recht ableugnen oder angreifen werde, wurde mit Hohn und mit der Antwort des Müllers aufgenommen: er wolle dem Dämchen trotz seines feigen, treulosen und verrätherischen Verwandten schon zeigen, wer in Dernot das Recht habe, Anderen ihr Recht zu gewähren oder zu verweigern. Sie solle sich auf den Kehraus rüsten.

Wie der Müller war, konnte man sich trotz seines Alters schon noch einer wilden That zu ihm versehen. Und daß er seit Esperancens Anwesenheit bei den Insassen der Herrschaft wirklich auf jene, von mehreren Seiten in Aussicht gestellte Theilnahme für die junge Gebieterin stieß und mehr als einmal nicht blos eine derbe Abweisung, sondern auch noch derbere Erwiderung auf seine Anfeindungen, Intriguen und wirklichen Pläne fand, reizte den finstern Greis nur noch mehr und ließ ihn mit allen möglichen Mitteln nach neuen Anhängern in der Umgegend, in Stadt und Land suchen. Mit seinem Neffen, wie er Burgsheim geheißen hatte, war er in der That gänzlich auseinander. Ja er sollte in diesen Tagen auf die ernste Erklärung des jungen Mannes, daß er unwankbar zum Recht und Gesetz und zu der angestammten Herrschaft Dernots stehen werde, mit einer wilden Verfluchung des Verräthers geantwortet haben.

Esperance selbst verleugnete solchen Stürmen von draußen und den Leiden und den Wirren im Innern des Schlosses gegenüber nicht einen Augenblick die Ruhe und Klarheit, die Kraft und Entschlossenheit, die bisher schon so bewunderungswürdig sich an dem schönen jungen Wesen offenbart hatten und täglich mehr von ihm verlangt wurden. Denn von dem alten Loos der Familie von der Not ward ihr nicht einmal der Unfriede zwischen den eigenen Angehörigen erspart: das Verhältniß zu Eugenie wurde eher schlimmer als besser, und die Dame schien selbst gegen den Verlobten immer mehr zu erkalten.

Esperance blieb ungebrochen, und ungebrochen empfing sie heute nun auch die Kunde, mit der Burgsheim erregt in’s Schloß geeilt kam, daß von der Stadt eine Commission unterwegs und bereits nahe sei, welche sich über die Insassen Dernots vergewissern und sie nöthigenfalls aus dem beanspruchten Besitz setzen wolle. Man gedenke sogar den Baron zu finden und zu fangen, von dessen Anwesenheit man Kunde erhalten habe. Dazu sei drunten in der Mühle eine Versammlung. Man dürfe auch von dort etwas erwarten.

„Bringen wir den Vater in Sicherheit, das Uebrige findet sich,“ sagte Esperance ruhig besonnen und ging mit Burgsheim hinüber, um den Kranken und seinen alten Kammerdiener in ein längst vorbereitetes, allen Schutz verheißendes Versteck zu bringen.

Sie bedurfte ihrer Fassung und Entschlossenheit wohl, denn ein neuer, der härteste Schlag erwartete sie im Krankenzimmer. Da sie eintraten, winkte der Arzt, der sich über das Lager gebeugt hatte, mit einem: „Gottlob, zur rechten Zeit!“ heran. Der Baron hatte sein Bewußtsein plötzlich, wenn auch nur zum Theil, wieder erhalten. Seine Augen wandten sich mit dem Ausdruck des Erkennens auf Esperance und ihren Begleiter. Ein Lächeln lief durch die bleichen Züge, seine Lippen regten sich, seine Hand zuckte der seines niederknieenden Kindes entgegen, und mit einemmal wurden die geflüsterten Worte vernehmbar: „Esperance – mein Kind – August – Franz Dernot –“

Und von neuem zuckte es in den Zügen, durch den Körper, und die Glieder streckten sich. – Leopold, Freiherr von Treuenstein und Herr zu Dernot war zu seinen Vätern versammelt worden.




10. Die Herrin von Dernot.

Burgsheim war aus dem Sterbezimmer bald geschieden; er hatte den Kammerdiener mit der Nachricht von dem Geschehenen an die anderen Familienglieder gesendet, welche zu dieser Stunde wie gewöhnlich beim Frühstück im kleinen Saale versammelt waren und von dem Kommenden noch nichts ahnten. Dann war er hinabgestiegen, um mit Frau Katharine und Jonas zu conferiren; man schickte einen von den beiden Kutschern zu Pferde fort, und Jonas eilte in’s Dorf hinab, um den Verwalter zu benachrichtigen und womöglich ihn nebst einigen treuen Leuten auf’s Schloß zu bringen. Den Förster und ein paar andere hatte Franz nach seiner Angabe schon selber unterrichten lassen; sie würden nicht fehlen, meinte er. Der Förster habe einen großen Grimm gegen Augustin’s Sohn und zwei oder drei von dessen Genossen, in denen er die frechsten Wilddiebe wisse, ohne sie, wie die Sachen augenblicklich ständen, gehörig zur Rechenschaft ziehen zu können. Schon um dessentwillen, sprach Franz aus, werde er mit tausend Freuden dabei sein, wo man dem Gelichter einen Strich durch die Rechnung machen könne.

Heut dachte man wieder an die kleine Hinterpforte, deren die Leser sich noch entsinnen; sie wurde wirklich aufgeschlossen und Frau Katharine selber setzte sich unter die Wölbung zur treuen Hut und um die Freunde von drunten hereinzulassen, welche man, um alles Aufsehen zu vermeiden, auf diesen Weg verwiesen hatte. Wie man diese verwenden wollte, was man überhaupt zu befürchten hatte, darüber konnten Burgsheim und die Uebrigen sich nicht recht einigen. „Bis zur wirklichen Gewalt wird’s der Augustin doch nicht treiben,“ meinte selbst Frau Katharine und erwartete dergleichen noch weniger von den „Herren“ aus der Stadt. Franz schüttelte den Kopf. Es wäre immer gut, Freunde und Hülfe in der Nähe zu haben, sagte er.

Aber es war kaum einer von diesen da, als die angekündigte Commission in zwei Wagen und begleitet von ein paar Landreitern beim Thore anfuhr. Jonas, der eben vom Dorf zurückgekommen war, öffnete ihnen dasselbe – Meister Tobias war, seit er mehr aus den Anordnungen als aus wirklichen Mittheilungen erfahren hatte, daß dem Schloß und der Herrschaft ein bewegter, wo nicht gefahrvoller Morgen bevorstehe, in eine Art von andauerndem Zittern und Stammeln verfallen, die ihn für jeden andern Platz als seinen alten Lehnstuhl untüchtig machte.

„Schließt ihr hier immer das Thor – am hellen Tage – wie in einer Raubburg?“ fragte einer von den Herren, aus dem Wagen steigend und mit verächtlichem Blick sich umschauend in dem düstern alten Hof.

„Wenn die gnädige Herrschaft da ist und das Gesindel sich im Lande breit macht – wie jetzt – ja,“ erwiderte Jonas mit finsterm Blick.

„Ah, die betreßte Lakaienseele gesteht’s ja bereits zu!“ rief ein Anderer, in dem man seiner außerordentlich gepflegten Coiffure nach zu schließen – er hatte den Hut abgenommen – einen Friseur oder Kellner vermuthen konnte. „Geschwinde, Mann, führ’ Er uns hin zu dieser Herrschaft, daß wir –“

„Meine Herrschaft heißt mich Du, weil ich seit fünfzig Jahren in ihrem Dienst. Andere Leute nennen mich Sie,“ unterbrach ihn der Jäger barsch. „Will meine Herrschaft fragen, ob sie die Herren annehmen kann.“ Und er wandte sich ab und schritt in’s Schloß hinein.

„Meine Herren,“ sprach ein ältlicher Mann, in dessen Zügen nichts weniger als Gleichgültigkeit oder gar Vergnügen über das [291] Geschehene und noch Bevorstehende sichtbar war, „ich habe Sie schon in der Stadt und auch unterwegs gebeten: lassen Sie uns unseren, für alle Theile peinlichen Auftrag zum mindesten so schonend wie möglich erfüllen. Wir wissen von den Insassen dieses Hauses noch nichts, als daß es vermuthlich ein paar Damen der Familie Treuenstein mit ihrer Bedienung sind, gegen die wir dann keinenfalls mit Härte oder gar Unhöflichkeit aufzutreten hätten. Ein Gesetz, das dem frühern Minister und seiner Familie ihre Besitzungen abspricht, existirt meines Wissens nicht.“

„Sie wissen es wohl, Bürger Landrath,“ fiel der schön frisirte Sprecher ein, „daß gerade Dernot diesem entmenschten Tyrannen ohnehin nicht gehört – bestritten wird von jenem prächtigen, treuen Volksmann, dem Müller Besseling, an dem die gewissenlosen Gewalthaber uns ein furchtbares Beispiel ihrer –“

„Herr Kiskel,“ unterbrach ihn der ‚Landrath‘ geheißene Mann mit gerunzelter Stirn, „Sie sagten eben selbst, daß das Recht auf Dernot nur bestritten wird. Die Entscheidung ist also noch nicht da, und wir haben sie am allerwenigsten zu fällen oder sie dem zu überlassen, der seine Ansprüche doch erst zu beweisen haben dürfte.“

„Das Zujauchzen des armen unterdrückten Volks wird diesen Beweis den Söldlingen der Tyrannei in die schreckensbleichen Gesichter donnern,“ rief Herr Kiskel pathetisch aus. „Diese alberne mittelalterliche Fratze, diese sogenannte Herrin von Dernot –“

„Mann, lassen Sie dies Gezänk und die albernen Worte,“ fiel ihm ein Anderer in die Rede. „Der Herr Landrath hat ganz Recht: wir müssen unseren Auftrag erfüllen, aber grob wollen wir nicht sein, wie vorhin Sie, und uns nicht um Dinge bekümmern, die uns nichts angehen. Kommt hinein, es ist kalt, heut Morgen.“

„Ich brauche von Ihnen weder Rath noch Lehre in Betreff meines Benehmens,“ rief Herr Kiskel heftig. „Ich stehe hier im Namen –“

Jonas’ Rückkehr unterbrach unglücklicherweise die so schön angelegte Rede. „Die Herrin von Dernot erwarte die Herren droben im Saal,“ meldete der alte Jäger und schritt ihnen voran der Treppe wieder zu.

„Man muß dies Feudalnest umstellen, daß der versteckte Tyrann nicht entwischt!“ rief Herr Kiskel lebhaft. „Bürger Landrath; ich mache Sie –“

„Ich gab den Landreitern den Auftrag, die Ausgänge zu bewachen,“ sagte der alte Herr ungeduldig, „und nun vorwärts.“

Die Einrichtung im Saale war seit jenem denkwürdigen Morgen im Herbst nicht verändert worden. Der Tisch stand noch in der Nähe eines der großen Fenster, die Stühle zeigten sich um ihn im Kreise aufgestellt. In der Fensternische, wo damals der Kammerherr gestanden, waren jetzt Heimlingen und der Arzt im leisen Gespräch nebeneinander; links von ihnen, nicht fern von der Thür, welche in die bewohnten Räume führte, befanden sich Burgsheim und der Verwalter nebst einigen Anderen, welche dem Letzteren vom Dorf herauf gefolgt waren.

Esperance stand allein, vor dem Tisch und beinah in der Mitte des großen Raums, in ruhiger, ernster, ja würdiger Haltung; denn so schlank diese Gestalt war und so jugendlich schön das sehr blasse Gesicht, – man sah in ihr in diesem Augenblick schwerlich auf das junge Mädchen, sondern erkannte diejenige, welche ein Recht auf den Platz und auf die Haltung hatte, in welcher sie ihren unerwarteten Gästen entgegentrat, die Vertreterin der Familie und die Gebieterin des Hauses. In Trauerkleidern erschien sie noch nicht, die Zeit hatte zu solchem Wechsel nicht gereicht; allein ihre Kleidung war dunkel und einfach und paßte völlig zu dem Ernst des Moments und zu dem gleichen Ausdruck in ihren Zügen.

„Meine Herren,“ sprach sie, den Kopf von einer leichten Verneigung gegen die Eintretenden wieder erhebend, und ihre Stimme war klar und gleichfalls voll Würde, „meine Familie ist heut’ von einem schweren Leid heimgesucht worden. Trotzdem habe ich Sie, die man mir als eine Commission der Regierung meldete, nicht zurückweisen wollen. Darf ich Sie um Mittheilung des Auftrags oder Befehls bitten?“

„Derselbe geht nicht an Sie, Bürgerin,“ rief Herr Kiskel mit einer graciösen, abweisenden Handbewegung, „sondern an das Haupt derjenigen, welche sich in diesem der Nation –“

„Sie sehen das gegenwärtige Haupt und die Gebieterin dieses Hauses vor sich,“ unterbrach sie ihn mit ruhiger Entschiedenheit. „Man heißt mich in Folge meines Erbrechts und der testamentarischen Bestimmung meines Vaters, des Barons von –“

„Des Exministers, Landes- und Volksverräthers, der sein Leben und Eigenthum verwirkt hat!“ schrie Kiskel, sichtbar sich erhitzend.

Ein dunkler Blick ihres Auges maß den Rufer stolz von oben bis unten und dann fügte sie ihrer Rede im vorigen Ton hinzu: „Des Barons von Treuenstein, meines Vaters, sage ich, die Herrin von Dernot. – Ihr Auftrag, meine Herren, wenn ich bitten darf.“

„Mein Fräulein,“ redete der Landrath jetzt mit ernster Höflichkeit, „ein Theil desselben ist dadurch erledigt, daß wir in der Bewohnerin des Schlosses auch seine rechtmäßige Besitzerin erkennen. Es halten sich, der Sage nach, fremde Familien in diesen Gegenden auf und treibt sich allerlei Gesindel an der Grenze umher; das Land ist voll von Unruhe und Gerüchten. Man wollte wissen, daß sich an dieser abgelegenen Stelle hochstehende Flüchtlinge mit einer Verschwörung –“ der alte Herr brach lächelnd ab.

Selbst durch Esperancens bleiche Züge flog ein leises, trübes Lächeln, und sie erwiderte: „Wir mußten aus der Residenz und von Heitersberg flüchten und gingen hierher, um Ruhe zu finden. Fremde sind keine bei uns.“

„Was zu beweisen ist! Wer sind diese ‚wir‘?“ fragte ein anderes Mitglied der Commission in grobem Tone.

„Ich, die Sie vor sich sehen,“ versetzte das Mädchen unerschrocken, „meine Tante, welche sehr leidend ist; meine Cousine, welche bei ihr weilt, und endlich“ – sie deutete flüchtig auf Heimlingen – „der Verlobte meiner Cousine, Kammerjunker, Baron von Heimlingen, nebst unserer Dienerschaft. Genügt das? Sonst freilich müssen Sie sich von der Richtigkeit meiner Angabe durch eigenen Augenschein überzeugen.“

„Und der Volksverräther, der Tyrann – der Wütherich!“ schrie Kiskel, der sich bisher nur mühsam durch einen der neben ihm Stehenden hatte zurückhalten lassen, zornig heraus.

„Wenn Sie so – ich weiß nicht, mit welchem Recht! – meinen Vater zu heißen wagen …“ sagte Esperance stolz.

„Ja, ihn, ihn – den man hier verbirgt! den die Rache der Nation –“

„Sie sind jetzt still, Herr Kiskel,“ fiel der Landrath ihm barsch in’s Wort, „ich bin der Sprecher dieser – sagen wir Commission, und ich erkläre, wie ich denke, auch im Namen der anderen Herren, daß wir weder den Auftrag, noch ein Recht haben, gegen diese Dame in einer so brutalen, jedes Gefühl verhöhnenden Weise aufzutreten. Mein Fräulein,“ redete er gegen Esperance gewendet, weiter, „wir haben allerdings den Auftrag, nach Ihrem Herrn Vater zu sehen, von dem behauptet wird, daß er sich in diesem Schlosse aufhält. Und da unsere Stände seine Verhaftung und Anklage beschlossen haben, so müssen wir uns leider allerdings überzeugen, ob das Gerücht die Wahrheit sagt.“

Sie schaute den sichtbar bewegten Mann einen Augenblick lang sinnend an, bevor sie entgegnete: „Nochmals, meine Herren, wenn Sie mir nicht glauben, müssen Sie selber nachsehen. – Mein Vater ist nicht mehr hier.“

„Nicht mehr – hört Ihr’s – nicht mehr!“ schrie Kiskel wieder, und auch zwischen den Uebrigen zeigte der Eine und Andere die Spuren großer Aufregung. „Also hat man dennoch gewagt, den Verfehmten –“

Er wich vor der rasch vortretenden Esperance und vor ihrem blitzenden Auge verstummend zurück. „Ja, mein Herr,“ sagte sie in einem fast drohenden Ton, „ich habe meinen Vater hierher geflüchtet und habe ihn hier verborgen. Kennen Sie ein Gesetz, eine Macht der Welt, die mich von einer solchen Pflicht zu entbinden vermöchte? – Jetzt ist das nicht mehr nöthig. Er ist der Strafe oder Rache entrückt. Kommen Sie mit, mein Herr,“ wandte sie sich an den Landrath, „und Sie,“ und sie winkte mit stolzer Bewegung gegen Kiskel, – „die übrigen Herren kann ich nicht einladen, aber diese beiden werden genügen.“ Und mit festem Schritt ging sie durch die zurückweichende Gruppe, den Genannten voran, aus der großen Thür. Die Eingeweihten schauten ihr ergriffen, die Uebrigen bestürzt nach.

Im nächsten Augenblick jedoch eilten Burgsheim und Heimlingen, denen sich auch der Arzt anschloß, rasch hinterdrein, an den verblüfft zurückweichenden Mitgliedern der Commission vorüber. [292] Denn vom Hofe herauf erschallte ein wilder Lärm, und auch aus dem Hause klang durch die offen gebliebene Thür das Toben schon Eingedrungener. Sie hatten sich nicht getäuscht, denn da sie die Drei beinah eingeholt hatten, kam ein Haufe die große Treppe herauf, ein paar Bauersleute, Knechte, Tagelöhner und Buben, und vor den Anderen voraus der alte Müller, begleitet von seinem Sohn, dem finsteren, trotzigen Mann, den Esperance seit ihrer Einkehr in der Mühle nicht wieder gesehen.

„Hollah,“ rief der Erstere, auf der letzten Treppenstufe anhaltend, in ungewöhnlich erregtem Ton, „da seid Ihr ja, Monsieur Kiskel! Und der Herr Landrath und das Dämchen! – Holt Ihr den Landverderber und Leuteplager?“ – Und da Herr Kiskel ihm etwas ins Ohr flüsterte, schlug er eine hohnvolle Lache auf und fügte hinzu: „Flausen, Flausen! Wenn er da war – und er war’s – so ist er auch noch da! Unsere Augen sind sicher.“

Die ungestüme Unterbrechung hatte die junge Herrin nur zu einem kurzen Zögern und einem ernsten, fast traurigen Blick auf den zornigen Greis vermocht. Dann schritt sie, dem Landrath winkend, bereits wieder vor. Herr Kiskel lud Augustin durch eine Geberde gleichfalls zum Folgen ein, und dem vorschreitenden alten Mann drängten die Anderen, welche bisher einen Augenblick verstummt waren, mit lauteren und lauteren Rufen und Drohungen nach.

Aber sie schwiegen jählings und wichen sogar zurück, als Esperance nun vor einer Thür plötzlich von neuem Halt machte, sich stolz zu ihnen wendend, als die dunklen Augen sie anblitzten und das Mädchen mit wunderbarer Hoheit sagte: „Zurück! Hier bin ich die Herrin, und ich will keinen Lärm und keine Ungebühr in meinem Hause, im Hause des Todes. Sie Beide treten ein, und der alte wilde Mensch da kann uns folgen. Vielleicht bändigt’s ihn, was er sehen wird. – Ihr Anderen – geht!“

Es war wunderbar, wie still es auf diese kühnen, herausfordernden Worte blieb. Von den älteren Leuten ging sogar mehr als einer wirklich zurück und von den Jüngeren schlichen sich einige ihnen nach. Es mochte auf sie einen unbehaglichen Eindruck machen, daß nicht nur die drei Herren, welche Esperancen vorhin nachgeeilt waren, sich in ihrer Nähe hielten und augenscheinlich entschlossen waren, etwaigen Ausschreitungen kräftig zu begegnen, sondern daß sich allmählich auch noch der Verwalter und ein paar Andere zu ihnen gesellten, welche ganz danach aussahen, daß sie einem Streit nicht ausweichen würden. Dazu vernahm man durch die verhältnißmäßige Stille das Geräusch von schweren Schritten, welche die Treppe herauf zu kommen schienen, und endlich verband sich damit jenes Summen und Tönen, das einer sich ansammelnden Volksmenge zu entsteigen pflegt. Die Herren und die zu ihnen hielten, wurden dadurch sichtbar nicht gestört, aber die Begleiter Augustin’s zeigten sich von Secunde zu Secunde unruhiger.

Von Secunde zu Secunde sagen wir, denn es war nur eine kurze Zeit verflossen, als die Thür wieder aufging und Esperance, von den Anderen gefolgt, heraustrat. Das Haupt ein wenig gesenkt, schritt sie stumm an der Gruppe vorüber, dem Saale wieder zu. Der Landrath erschien tief ergriffen, selbst Herr Kiskel trug ein ernstes, beinah etwas verstörtes Gesicht zur Schau, und es wurde nichts laut als die paar Worte, die Augustin in grollendem Ton zu seinem Sohn und den andern Begleitern sagte: „Ja, todt ist er. So geht’s denn an’s Andere. Kommt.“ –

Und wieder stand Esperance auf ihrem Platz und ihr gegenüber, neben den verlegen darein schauenden Herren von der Commission, drängten sich um Augustin’s trotzige Gestalt die Seinen – es waren nicht alle mehr, die so lärmend mit ihm gekommen; und er sah das grimmigen Blicks und noch grimmiger brach’s unter der starren weißen Braue hervor und zu Denen hinüber, die drüben bei dem Verwalter und Burgsheim standen – die waren zahlreicher geworden. Hier im Saal war jenes Summen und Tönen, dessen wir vorhin gedacht, deutlich genug zu vernehmen, und wenn man aus dem Fenster schaute, sah man den Schloßhof von einer Menge erfüllt, zu der sich jeden Augenblick noch andere, durch das Thor heraneilende Trupps gesellten.

Es war etwas Drohendes nicht in den Gesichtern allein, sondern auch und mehr noch in der Haltung und sogar in dem Schweigen dieser Menschen, grobknochiger und hagerer, wetterharter und trotzig d’rein blickender Gesellen, wie sie in den Bergen heranwachsen, derb und fest, wie die Bäume, deren Wurzeln zwischen dem rauhen Gestein sich mühsam Nahrung suchen müssen. Und Heimlingen und der Arzt, ja selbst der Verwalter und der gleichfalls angelangte Förster fingen an, besorgt zu blicken. Wer, der die Aufregung kannte, welche nicht bloß die Partei des Müllers, sondern mehr oder minder alle Bewohner dieser Gebiete erfaßt hatte, konnte bestimmen, wie schrankenlos sie plötzlich herausbrechen, gegen welche Seite sie sich wenden möchte?

Nur Zwei waren im Saal, die durch Alles weder besonders erregt, noch beunruhigt zu werden schienen; das war Esperance, welche ihre Bewegung schon wieder besiegt hatte und, bleich und stolz am Tisch stehend, festen, klaren Blicks die Gruppen umher überschaute; und es war, trotz des Grimms in den Zügen, der alte Augustin, Zagen und Zweifel gab es für den da nicht, und seine Stimme klang so hart wie je, da er nun plötzlich sprach: „Nun ja, so ist’s recht. Da sind wir alle, von Deuffingen und Moosberg und aus Dernot mit seinen Höfen – da kann alles gleich kundbar und fest werden. Der sich bisher den Herrn von Dernot nannte und uns zwang mit Gewalt und Unrecht, der liegt drinnen todt und die Gewalt ist zu Ende. Und sie reden uns jetzt von einer Herrin, aber das sind Flausen. Wen geht die Tochter was an, wo der Vater nichts galt? Und Dernot hat seinen Herrn, dem es gehört nach Gottes- und Menschenrecht. Sag’ an, Franz Dernot,“ und er wandte sich gegen den jungen Mann, der ruhig neben dem Verwalter und Förster stand, „ich frage Dich heut noch einmal: willst Du Dein Recht aufnehmen, das Dir überkommen ist –“

„Haltet inne, Ohm,“ unterbrach Franz ihn mit klingender Stimme und sein Auge begegnete fest wie damals dem Blick des Greises, – „die Sache ist abgethan! Ich habe Euch allein und auf dieser Stelle vor Zeugen erklärt: ich habe kein Recht auf Dernot, so wenig wie mein Vater es hatte, und wieder wie er, beanspruche ich auch keines. Da,“ und er wies mit rascher Handbewegung auf Esperance, „das ist der rechte Erbe und die Herrin von Dernot.“

Und durch das Gemurmel und die einzelnen Rufe: „Die Herrin von Dernot!“ – welche aus allen Gruppen hervordrangen, klang des Müllers Stimme heiser vor Zorn. „So geh hin und sei verflucht, Feigling, Verräther an Deinem Recht!“ rief er, die geballte Faust gegen Franz schüttelnd. „Aber helfen soll es Dir nichts! Dernot soll seinen Herrn haben und müßte –“

Weiter kam er nicht. Denn aus einer jener Gruppen trotziger Gebirgler trat ein großer alter Mann hervor, eisenfest die hagere Gestalt und wie aus Stein gehauen das tiefdurchfurchte Gesicht. Nur die lichtblauen Augen lebten und blitzten; und nun gingen auch die schmalen Lippen auseinander und er redete: „Ja, gelt, alter Fuchs, darauf läuft’s schon lange hinaus! Möchtest selber der Herr von Dernot sein und unser Herr! Aber Hand vom Sack, das Mehl ist verkauft. Was Du Dich zankst mit dem alten Baron und dem Franz da – was geht’s uns an? Wir wollen nicht diesen und nicht den – der eine ist todt, und der andere hat kein Recht, sagt er selber! – Und einen Bauern, sei’s auch ein Müller, den wollen wir nun gar nicht. Wir wollen die, die uns gehört und der wir gehören, die da die Herrin ist über uns, wie die alte Euphemia. Da steht sie, guckt sie an – das sind die Dernoter Augen! Die braucht kein Document! Das ist unsere Herrin von Dernot!“

Und da er die letzten Worte lauter sprach, klangen sie wie ein Ruf, und im Saale stimmten sie jauchzend ein, und vom Hofe herauf klang es brausend nach: „Die Herrin von Dernot!“

Der Mann sprang zum nächsten Fenster und riß es auf. „Ihr da,“ rief er schallend, „wollt Ihr den Augustin zum Herrn oder unsere Herrin?“

Und donnernd schallte es zurück: „Die Herrin! Die Herrin! Hinaus mit dem tollen Müller! Hinaus!“

Der Mann wandte sich wieder zurück, und wieder klang seine Stimme durch die Stille der Betäubung, mit welcher das Unerwartete die meisten Anwesenden und selbst Augustin erfaßt zu haben schien. „Da hört’ Ihr’s,“ sagte er, „und so ist’s. Ihr seid ja da, Herr Landrath, laßt es zu Protokoll nehmen – ich, der Schultheiß von Deuffingen, sag’s für mich und alle: Das Fräulein da ist unsre Herrin und niemand sonst. Sie ist, wie man’s uns von der Euphemia sagte, die wir d’rum noch lieb

[293]

Glückliche Menschen.
2. In der Hütte.
Nach einem Oelgemälde von C. E. Böttcher.

[294] haben, wie unsre Großväter thaten, welche sie von Angesicht zu Angesicht schauten. Und wenn sie zu uns hält, wie die, und uns so lieb hat und uns schützt gegen fremde Gewalt, voll Segen, wo sie hintritt – da halten die Dernoter zu ihr. Und der Augustin mag drohen, und das tolle Volk in der Stadt und im Lande umher kann schwatzen und hetzen, wir lassen nicht von ihr.“

Aus Esperancens Augen stürzten die Thränen. „Womit hab’ ich Eure Liebe verdient,“ rief sie „und Eure Treue?“ Und sich aufraffend und die Thränen zurückdrängend, trat sie vor und nahm die harte Rechte des Sprechers zwischen ihre Hände. „So wahr mir Gott helfe,“ sprach sie mit erhobener Stimme, „ich will Eure Liebe zu verdienen suchen, wie Ihr sie meiner Ahnfrau weih’t, und Euch eine gute und gerechte, getreue Herrin sein.“

„Das glauben wir Euch und Euren Augen, Fräulein,“ erwiderte der Mann, ihre Hände drückend, und in den rauhen Zügen zuckte es vor innerlicher Bewegung. „Sie haben uns schon im Herbst bis ins Herz geblickt, darum sind wir Euer. Der Herrgott segne Euch und uns und mache Euch glücklicher, als es die Euphemia war. Hoch – hoch, die Herrin von Dernot!“

Es war überwältigend, wie der Ruf Alle hinriß, im Saal drinnen und draußen auf dem Hofe; selbst von den bisherigen Gegnern widerstand mancher nicht und zwischen den Commissionsherren war sicherlich mehr als einer glücklich, durch diesen ‚Volksbeschluß‘ aus der zum mindesten unbehaglichen Situation erlöst zu werden. Nur Augustin stand zwischen der Menge unerschüttert, die erhobenen Fäuste schüttelnd und Flüche und Drohungen hinausschleudernd, die das Getümmel und der Jubel verschlang. Einige, die noch zu ihm hielten, rissen ihn endlich fort. –

Auf Esperancens Besitz wurde nur einmal ein, noch dazu kaum recht ernst gemeinter Angriff gemacht. Als es nach einiger Zeit angenommen werden mußte, daß das Treuenstein’sche Majorat wirklich von Leopold nicht beansprucht würde, – es ging eine Sage, er sei bei dem Aufstand in Baden]] um’s Leben gekommen, während die trauernde Schwester vermuthete, daß die Entdeckung seiner illegitimen Geburt den Unglücklichen für immer in die Ferne gebannt und auch von ihr getrennt habe, – dachte die erbende Nebenlinie auch an Dernot. Aber der Nachweis, daß dasselbe niemals zum Majorat gehört, war so leicht und die Bestimmung im Testament des Barons so klar, daß selbst bei dem Mißtrauen und der entschiedenen Abneigung, deren die junge Herrin zu jener Zeit der Reaction in den herrschenden Kreisen genoß, kein Erfolg von einem wirklichen Processe zu hoffen war.

Im Innern, wie wir sagen möchten, das heißt in der Herrschaft Dernot selber, erstand ihr seit Augustin’s bald erfolgtem Tode kein neuer Feind wieder. Ihr Besitz und ihr Recht waren auf das gegründet, was in unserer Zeit des Schwankens und Wechsels das einzig Sichere ist und zugleich das Schönste: auf die Liebe der Ihren; denn in diese verwandelte sich jene traumhafte, oder sagen wir abergläubische Anhänglichkeit, welcher sie den Besitz der Herrschaft verdankte, unter ihrem Walten bald immer herzlicher und enthusiastischer. Es giebt sicherlich wenig Frauen, auf die so viel Augen mit Verehrung und Liebe blicken, für die so viel Herzen mit voller Treue und unbegrenztem Vertrauen schlagen, wie sich die Herrin von Dernot dessen rühmen darf.

Aber auch das alte Dernoter Geschick, dem die arme Euphemia so jung erlegen, ist an der jetzigen Herrin erlahmt: ihre hellen Augen und ihr starkes Herz haben es gewonnen und sie ist eine glückliche Frau geworden. Darin haben die Schläge, die sie immerhin getroffen, wie jedes Menschenkind, nichts zu ändern vermocht, wie traurig sie die schöne Frau auch machten – die Ungewißheit über das Loos ihres Bruders ist noch heut ein tiefer Schatten in dem Sonnenschein ihres Lebens.

Leichter nahm sie’s, daß Eugenie und Joseph sich auf das Starrste von ihr gewandt und daß Heimlingen’s Versuche einer Wiederannäherung an dieser Starrheit stets scheiterten. Noch leichter fällt es ihr, daß man sie in der ‚Gesellschaft‘ und in ihren früheren Kreisen bald für eine Unwürdige oder Abtrünnige, bald sogar für eine Halbnärrin erklärt. Man kann es ihr nicht verzeihen, daß ihr Gatte einfach Franz Dernot heißt – den Namen Burgsheim hat er mit hoher Erlaubniß gegen den ursprünglichen seines Vaters wieder vertauscht, aber den Adel hat er nie gewollt, ja er hat ihn sogar direct abgeschlagen –, und daß sie selbst sich nicht mehr Esperance heißen läßt, sondern Marie, wie ihre Mutter. Denn sie meint, daß wir in Deutschland der Fremde nirgends gebrauchen, nicht einmal in unseren Namen.

Was fragt sie nach solchem Tadel an der Seite des Gatten, im Kreis ihrer Kinder, verehrt, bewundert und geliebt, wo sie sich den Ihren zeigt, die segensvolle und gesegnete

‚Herrin von Dernot‘!




Der erste Schritt.[1]


Das muß ich preisen überaus,
     Daß noch zu jeder Frist
Das größte Glück im kleinen Haus
     Auf Erden möglich ist.

5
Und nichts kommt diesem Wunder gleich:

     Von aller Schätze Pracht
Wirst du im Herzen nicht so reich,
     Als wie ein Kind dich macht.

Ein kleines Kind mit Lächelmund

10
     Mit Aeuglein hell und klar,

Mit Aermchen und mit Beinchen rund,
     Am Häuptchen Seidenhaar.

Die Lust, wenn’s froh sich dehnt und reckt!
     Und wenn’s zum ersten Lauf

15
Die Händchen Dir entgegenstreckt,

     Wie geht das Herz Dir auf!

Der Vater kommt! Wie mit dem Kind
     Sie ihm entgegen tanzt!
Grüß Gott, Papa! Nun zeig’ geschwind,

20
     Lieb Herzchen, was du kannst!


Der Vater spricht: Herzkindchen mein,
     So komm’ doch her zu mir!
Der schöne Apfel! Der ist dein!
     Ei komm’ und hol’ ihn dir!

25
Die Mutter sinnt: O gingen heut

     Doch alle Engel mit!
Du meines Lebens Stolz und Freud’,
     Es ist dein erster Schritt!

Ein Schrittchen nur – von Arm zu Arm!

30
     Das Wagniß war nicht groß:

Vom Mutterherzen liebewarm
     Zum treuen Vaterschooß

Und doch welch’ Glück! Der Jubel klingt
     Empor aus voller Brust,

35
Und hell durch Thür und Fenster dringt

     In’s Freie ihre Lust

Ja, preisen muß ich’s überaus,
     Daß noch zu jeder Frist
Das größte Glück im kleinsten Haus

40
     Auf Erden möglich ist!
Friedrich Hofmann.



[295]
„Gegenüber dem Jülichs-Platz“.


Eigenschaften des Kölnischen Wassers. – Der Erfinder desselben und sein Stammbaum. – Absatz. – „Das Schlagwasser“. – Nachahmer und falsche Farina’s. – Der Name Farina als Handelsartikel. – Zahl der Kölnisch-Wasser-Fabriken. – Die Klosterfrau. – „Gegenüber“, „an“ und „bei“ dem Jülichsplatze. – Concurrentenkniffe.


Unter den unzähligen Gegenständen, welche zum Toilettetisch der feineren Welt gehören, nimmt das Kölnische Wasser (Eau de Cologne), zusammengesetzt aus den gewürzhaftesten, geistigsten Riechstoffen, welche die Pflanzenwelt erzeugt, den vornehmsten Rang ein. Während alle anderen Odeurs unter demselben Geschicke seufzen, welches von der Unbeständigkeit des schönen Geschlechts seinen Ursprung ableitet, weiß das Kölnische Wasser sich in der Gunst der Damen mit einer Beständigkeit zu behaupten, die den Neid eines verschmähten Liebhabers zu erwecken wohl im Stande ist. Worin liegt das Geheimniß dieser Erscheinung? Einzig und allein in jener Fülle guter Eigenschaften, welche sich in ihm gleichsam wie in einem Brennpunkte vereinigen, so daß man kühn behaupten darf: was der Diamant unter den Edelsteinen, das ist das Kölnische Wasser unter den Wohlgerüchen. Es hat zwar anscheinend etwas Triviales, wenn wir demselben eine echte Künstlernatur zuschreiben, und dennoch paßt dieser Vergleich gar trefflich; denn wie der Künstler die verschiedensten Stufen der Entwickelung und Abklärung durchmachen muß, bis er zur schlichten Einfalt der Natur zurückkehrt, gerade so ergeht es diesem Erzeugnisse einer noch in den Schleier des Geheimnisses gehüllten Destillirkunst: die mannigfaltigsten Düfte, welche die Blüthenkelche in ihrem Schooße bergen, nimmt es in sich auf, keinem dem Vorzug gebend, alle zu einem Strauße vereinigend, dessen Gesammtwirkung, jede vielleicht schädliche Einzelwirkung aufhebend, die Lebensgeister erfrischt und erquickt, und zwar leicht, rasch, feenhaft, denn kaum hat man seine Wohlthat empfunden, und jede Spur seines Daseins ist entflohen. Diese rasche Verflüchtigung, ohne einen bestimmten Geruch zurückzulassen, ist das charakteristische Merkmal der Echtheit des Kölnischen Wassers, während bei den unechten Sorten dieser oder jener Bestandtheil der Mischung so vorherrscht, daß seine Atome sich noch längere Zeit bemerklich machen. Von dem wirklich echten Wasser wird denn auch nur eine einzige Sorte verkauft, während die nachgemachten Fabrikate unter verschiedenen Qualitätsbezeichnungen in den Handel kommen.

Aber nicht allein seine Annehmlichkeit ist es, welche die große Gunst erklärt, in die sich das Kölnische Wasser hineingelebt hat, es besitzt auch neben denjenigen Eigenschaften, welche es zum erkorenen Liebling der feineren Welt machen, solidere, von Jedermann geschätzte. Es erfüllt eben so gern seine galante Mission auf dem Toilettetisch, wie seine humane am Krankenbette. Läßt man die kostbare Flüssigkeit in siedendem Wasser abdampfen, so reinigt sie den uns umgebenden Luftkreis von schädlichen Beimischungen, ohne daß, wie es bei anderen ähnlichen Mitteln der Fall ist, die Lungen durch verderbliche Gasarten vergiftet werden. Außer der Abdampfung in siedendem Wasser wird neuerdings auch noch eine sehr praktische Vorrichtung in Anwendung gebracht, welche in einem Fläschchen besteht, aus dessen Hals mittels eines luftgefüllten Guttaperchaschlauches und kleiner gläserner Röhrchen die aromatische Flüssigkeit herausgepumpt wird, welche sich als ein ganz feiner Staubregen verbreitet und die Atmosphäre würzig und wohlthuend für die Athmungsorgane macht; eine für Krankenstuben nicht genug zu empfehlende kleine Maschinerie. Und nun endlich in den eigentlichen Pflanzstätten der Ohnmachten und sonstigen Nerven-Affectionen, in den feineren Damen-Cirkeln, in denen oft vor einem einzigen unvorsichtig hingehauchten Worte die weiblichen Lebensgeister die Flucht ergreifen – was würde man in diesen wohl anfangen, wenn das Kölnische Wasser nicht sofort als Lebenswecker in die Schranken träte?

Wie man nun bei einem berühmt gewordenen Menschen gern nach seiner Herkunft und seinen Lebensschicksalen zu forschen pflegt, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist, so wünscht man auch über den Ursprung einer Erfindung Aufklärung, welche von einem so großen Erfolge begleitet ist.

Wir befinden uns in der Lage, auf authentische Forschungen gestützt, den Wissensdurst des geneigten Lesers und die leider schon zu lang unbefriedigt gebliebene Neugierde der geneigten Leserin so vollständig zu befriedigen, daß es in unserer denkmalsüchtigen Zeit nicht unwahrscheinlich wäre, es bildete sich, durch unsere warmberedten Worte angefeuert, ein Damen-Comité, um dem Erfinder jenes weltberühmten Odeurs ein Denkmal zu setzen. Wir hätten zunächst also die Frage zu beantworten, wer als der eigentliche Erfinder anzusehen ist oder doch das Recht der Anciennetät in Bezug auf die Erfindung nach den vorhandenen Documenten zu beanspruchen hat.

Die Archive der Stadt Köln, in früheren Jahrhunderten bei weitem nicht mit der Gewissenhaftigkeit geführt, welche auf subtile Streitfragen kommender Zeiten gebührende Rücksicht nimmt, geben erst im Jahre 1709 zuverlässige Kunde über den Familiennamen, mit welchem die Berühmtheit des Kölnischen Wassers unzertrennlich verbunden zu sein scheint. In jenem Jahre lebte nämlich in Köln gegenüber dem Jülichs-Platz der als Bürger aufgenommene Italiener Johann Maria Farina, geboren 1685 zu Santa Maria Maggiore im Thale Vigezza, District Domo d’Ossola, handelte mit Kurzwaaren, Kunstsachen, Seidenwaaren und Parfümerieen, verfertigte und verkaufte auch „Kölnisches Wasser“ und machte bald diesen Handelszweig, der, wie notorisch erwiesen ist, durch ihn zuerst bekannt wurde, zu seinem Hauptgeschäfte. Man kann also wohl nicht anders annehmen, als daß er auch der Erfinder des berühmten Arcanums gewesen ist.

Gleichzeitig mit dem oben angeführten Johann Maria Farina finden wir in den Archiven der Stadt Köln einen daselbst eingewanderten und als Bürger aufgenommenen Paul Feminis, in der kleinen Sporergasse wohnend, verzeichnet, welcher sich, jedoch erst später, als Johann Maria Farina, gleichfalls mit dem Verkauf von Kölnischem Wasser befaßte, so daß, wenn auch die Frage nach dem eigentlichen Erfinder angezweifelt werden kann, weil ihre endgültige Feststellung eben nur eine, obschon sehr sichere, Wahrscheinlichkeit hat, Johann Maria Farina doch als der erste Verbreiter des „echten“ Kölnischen Wassers bezeichnet werden kann. Wie sehr aber schon zur damaligen Zeit der Glaube an die Echtheit des neuen Handelsartikels in dem Namen „Farina“ Wurzel geschlagen hat, beweist der Umstand, daß wir die Firma Paul Feminis erlöschen und die Nachkommen dieses Namens eifrig bestrebt sehen, ihre Waare unter dem schon berühmt gewordenen Namen „Farina“ auf den Markt zu bringen. Auf diese Weise sind bedeutende Kölnisch-Wasser-Firmen entstanden, die noch heute eifrige Concurrenten desjenigen Geschäftes sind, welches sich mit Recht als das älteste in dieser Branche bezeichnet und die Firma trägt: „Johann Maria Farina gegenüber dem Jülichs-Platz“.

Vom Jahre 1709 an, in welchem, wie bereits erwähnt, der Gründer dieser Firma in die rheinische Metropole einwanderte, läßt sich der Stammbaum desselben bis auf den gegenwärtigen Chef des Hauses genau verfolgen, und um auch den Wissensdurst der Genealogen zu stillen, geben wir hierüber folgende authentische Mittheilungen.

Johann Maria Farina associirte sich im Jahre 1725, nachdem sein Geschäft bereits eine Ausdehnung gewonnen hatte, welche seine Kräfte überstieg, mit seinem Bruder Johann Baptist Farina, den er aus Italien hatte kommen lassen. Dieser starb jedoch schon sechs Jahre später, worauf sich Johann Maria mit dem Sohne desselben verband, welcher damals zweiundzwanzig Jahre alt war und die Vornamen seines Oheims Johann Maria führte, der zugleich sein Pathe war. Der Neffe überlebte den Oheim, welcher 1766 das Zeitliche segnete und seinem Compagnon einzig und allein seinen Handel und das Geheimniß der Bereitung des Kölnischen Wassers testamentarisch hinterließ. Johann Maria setzte das Geschäft seines Oheims bis zu seinem im Jahre 1792 erfolgten Tode fort und vererbte dasselbe auf seine drei Söhne: Johann Baptist, Johann Maria und Karl Anton Hieronymus. Im Jahre 1806 starb Johann Maria, nachdem er seinen Geschäftsantheil den beiden ihn überlebenden Brüdern vererbt hatte, und im Jahre 1830 trat Johann Baptist seinen Antheil seinem Sohne Johann Maria ab, welcher jedoch schon drei Jahre später starb, worauf die Wittwe desselben ihm als Geschäftstheilhaberin folgte. Karl Anton Hieronymus übertrug im Jahre 1841 seinen Geschäftsantheil seinem Sohne Johann Maria, dem jetzigen Chef des Hauses.

[296] Der Absatz des echten Kölnischen Wassers ist anfänglich und bis die vorzüglichen Eigenschaften desselben zu allgemeiner Anerkennung gelangt waren, ein beschränkter gewesen; derselbe wuchs indeß allmählich mit seinem Rufe. Eine höchst günstige Epoche für diesen Industriezweig führte hauptsächlich der siebenjährige Krieg herbei. Die Franzosen nämlich, welche damals die Rheinlande besetzt hatten, bedienten sich, leidenschaftlich nach allen Galanteriegegenständen haschend, sofort des Kölnischen Wassers bei der Toilette und verbreiteten seinen Ruf rasch nach Frankreich und über einen großen Theil Deutschlands. Von da ab wurden die Versendungen immer allgemeiner, erstreckten sich bald über ganz Europa und endlich nach allen Weltgegenden, so daß also auch in dieser Hinsicht jene traurigen Kriegsjahre der Stadt Köln zum Segen gereichten, denn das Kölnische Wasser bildete allmählich im Laufe der Jahre einen der bedeutendsten Handelsartikel der Stadt, wenn auch die Berichte der Handelskammer keine bestimmten Ziffern über den Verkauf angeben, weil die Fabrikanten eine erklärliche Furcht vor der Statistik haben, welche jedenfalls von der Concurrenz in der einen oder anderen Weise benutzt werden würde. Unsere westlichen Nachbarn sind bekanntlich bestrebt, im fremden Lande Alles nach ihrer Schablone umzumodeln, und so mußte sich auch das Kölnische Wasser durch sie eine Art Wiedertaufe gefallen lassen und sich nunmehr Eau de Cologne nennen, eine Bezeichnung, die jetzt eben so verbreitet, wenn nicht verbreiteter ist, als die ursprüngliche deutsche, neben welcher es wegen seiner günstigen Wirkungen bei Schlaganfällen auch noch die mehr locale Bezeichnung „Schlagwasser“ führte.

Wie aber die Lorbeeren Philipps von Macedonien seinen Sohn nicht schlafen ließen, so erweckte auch die enorme Verbreitung und der vortheilhafte Ruf, welchen sich das echte Kölnische Wasser rasch erwarb, die kaufmännische Speculation und ließ dieselbe alsbald auf Herstellung eines ähnlichen Fabrikates sinnen. So kam es, daß viele Nachahmer, theils in Köln, theils auswärts, entstanden sind und sich die Meisten einer Firma „Farina“ bedienen, welche sie sich durch allerlei Kunstgriffe zu verschaffen gewußt, ohne je mit dem Erfinder oder dessen Nachfolgern in der mindesten Verbindung gestanden zu haben. Welche Mittel im Einzelnen hierzu angewandt worden sind, erhellt aus Folgendem.

Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts verkaufte und übertrug ein damals in Düsseldorf wohnender Karl Franz Farina seinen Namen einem Kölner Handelsmann, der nun sofort unter dieser neuen Firma seine Waare an den Markt brachte. Kaum war dieses eine Beispiel statuirt, als auf gleiche Weise nach und nach durch denselben Farina noch sechs andere Häuser unter ähnlicher Firma mit verschiedenen Vornamen entstanden. Von nun an begann, sowohl in Köln selbst, als auch auswärts, der Mißbrauch, den Namen „Farina“ zu verkaufen und zu übertragen, in größerem Maßstabe, wozu später auch ein gewisser Johann Georg Maria Farina von Düsseldorf und neuerdings dessen Söhne wesentlich die Hand boten; ja, Viele bedienten sich sogar dieses Namens, ohne auch nur irgend einen Schein von Berechtigung dazu zu haben. Im Jahre 1819 bestanden, laut Amtsblatt der Regierung zu Köln, sechzig Fabriken von Kölnischem Wasser, die meistens unter dem Namen „Farina“ betrieben wurden, während nur drei Fabrikanten diesen Namen zum Familiennamen hatten. Nicht nur das Kölnische Wasser, sondern auch der Name „Farina“ war Gegenstand der Industrie und des Handels geworden.

Die Verfertigungsweise des echten Kölnischen Wassers in der Zusammensetzung des „Johann Maria Farina“ ist jedoch nie, weder von diesem selbst, noch von einem seiner Nachfolger anderen Personen mitgetheilt worden, als denen, die das Geschäft ererbt und fortgeführt haben, und das Vorgeben, als sei das Geheimniß der Fabrikation durch chemische Zerlegung bekannt geworden, verdient keinen Glauben, weil es feststeht, daß die Wissenschaft noch nicht dahin gelangt ist, auf analytischem Wege eine Mischung ätherischer Oele nach Qualität und Quantität zu bestimmen.

Gleichzeitig mit dem Gründer des Hauses Johann Maria Farina gegenüber dem Jülichs-Platz oder wenige Zeit nachher waren auch andere Mitglieder der Familie Farina – ein Name der in Italien sehr häufig vorkommt – in die Gegend von Köln gezogen und hatten sich in Maestricht und hauptsächlich in Düsseldorf niedergelassen. Von letzterem Orte siedelte zu Ende des Jahres 1750 Johann Anton Farina nach Köln über und ließ sich im Hause zur „Stadt Mailand“ nieder. Nach seinem Tode setzte sein ältester Sohn Joseph Anton das Geschäft „zur Stadt Mailand“ fort, während der jüngere, Johann Maria, die Firma „Johann Maria Farina, zur Stadt Turin“ gründete. Ein Mitglied dieses Familienzweiges, Johann Maria Farina, errichtete 1806 eine Kölnisch-Wasser-Fabrik in Paris.

Im Jahre 1828 entschieden die preußischen Gerichte, daß es ungesetzlich sei, einen bloßen Namen wie eine Waare zu verkaufen. Einige der bis dahin entstandenen Pseudo-Farinas setzten nun ihren Handel unter eigenem Namen fort, Andere ließen denselben, der ohne die frühere Firma keinen Werth für sie hatte, eingehen; die Meisten aber sannen auf neue Mittel, den richterlichen Erlaß zu umgehen und sich dem todten Buchstaben des Gesetzes gegenüber sicher zu stellen. Man ging nach Italien und veranlaßte Leute mit dem Namen Farina, entweder selbst oder durch Bevollmächtigte in Köln zu erscheinen und Gesellschaftsverträge zur Gründung von Kölnisch-Wasser-Fabriken unter der Firma „Johann Maria Farina“ oder auch mit anderen Taufnamen zu vollziehen, wobei die gedachten Italiener – meist Landleute und oft sogar des Schreibens unerfahren – nichts als eben den Namen „Farina“ herzugeben hatten. Da jedoch die meisten dieser Gesellschaftsverträge durch die Art ihrer Fassung unverkennbar den Charakter von Scheinverträgen offenbarten, so ist es auch bereits vorgekommen, daß die Gerichte solche Verträge auf Anrufen der Parteien für ungültig erklärten. Die meisten derselben wurden aber schon kurz nach ihrem Abschlusse wieder aufgelöst, und in dem Auflösungsvertrage dann stipulirt, daß dem Kölner Associé die Firma verbleiben solle, der Italiener dagegen mit einer geringen Summe Geldes abzufinden sei.

Auf diese Weise nun entstanden aufs Neue eine Menge Firmen „Farina“. Aber auch außerhalb Köln, und namentlich in Staaten, deren Gesetze dem Ausländer keinen Schutz gegen solchen Mißbrauch gewähren, ist der Name „Farina“ fast mit dem „Kölnischen Wasser“ identisch geworden und wird auf jede beliebige Weise zur Täuschung der Consumenten gebraucht. Von den jetzt in Köln bestehenden achtundvierzig Kölnisch-Wasser-Fabriken handeln allein sechsunddreißig unter dem Namen Farina. Zu denjenigen Fabriken, welche unter anderen Firmen auftreten, gehört wohl in erster Reihe die Firma „Maria Clementine Martin, Klosterfrau.“ Das Gebäude, in welchem das Geschäft sich befindet, liegt dem Westportale des Domes gegenüber und gehört zu den Prachtbauten der Stadt. Es ist in spätgothischem Styl mit einigen Anklängen an das Niederländische nach dem Plane des Professors und Oberbaurathes Schmidt, früher in Mailand, jetzt in Wien, ausgeführt. Eine Filiale dieses Geschäftes befindet sich in der Nähe des Südportals der Metropolitan-Domkirche. Nach einer etwas romanhaft klingenden Erzählung soll eine Carmeliter-Nonne, Schwester Maria Clementine Martin, in den zwanziger Jahren von einer Italienerin Namens Paula Feminis das Recept zur Anfertigung des echten Kölnischen Wassers erhalten haben. Der Vater dieser Paula Feminis soll die Erfindung im Kerker gemacht, jedoch später nicht die Kraft gehabt haben, dieselbe auszuführen. Als die Klagen der Franzosen während des siebenjährigen Kriegs in den Rheinlanden über den schlechten Geruch in den Straßen Kölns (ein Uebelstand, welcher, nebenbei bemerkt, auch deutsche Nasen noch heutzutage sehr empfindlich berührt) überhand nahmen, bereitete die Nonne das Recept im Hause des damaligen Bürgermeisters Adrian von Scheven, in welchem sie wohnte, und der Bürgermeister besänftigte durch das neue Parfüm, das den feinen Nasen der Franzosen sehr behagte, den Zorn des commandirenden Generals. Es bestätigt diese Erzählung jedenfalls, daß die Franzosen es gewesen sind, welche vorzugsweise den Anstoß zu der enormen Verbreitung des Fabrikates gegeben haben.

In einem ähnlichen Prachtbau in dem gothischen Style, wie sich derselbe nach zahlreichen in Köln befindlichen Vorbildern zu einem specifisch kölnisch-gothischen entwickelt hat, wird gleichfalls eine Kölnisch-Wasser-Fabrik betrieben, und zwar unter der Firma: „Franz Maria Farina.“ Das Gebäude liegt in der Glockengasse, in der Nähe der Post und des Polizei-Präsidiums. Leider beeinträchtigt die Enge der Straße den Eindruck dieses schönen Bauwerkes.

Wir haben oben von der Usurpation des Namens Farina gesprochen; dabei ist jedoch die Concurrenz nicht stehen geblieben: auch der langjährig ausschließliche Zusatz „gegenüber dem Jülichs-Platz“ [297] wurde zu Täuschungen benutzt. Um das mit den Localitäten und Verhältnissen nicht vollkommen vertraute Publicum zu hintergehen und irrezuleiten, klammerte sich die Concurrenz an das Wörtchen „gegenüber“ an, und ließen sich Mehrere in der nächsten Nachbarschaft vom Jülichs-Platz nieder, um so den vollen Zusatz „gegenüber dem Jülichs-Platz“, wenn auch der Wahrheit zuwider, zu benutzen. Gerichtlich verfolgt, sahen sie sich den Gebrauch des Wortes „gegenüber“ untersagt; der Zusatz „gegenüber dem Jülichs-Platz“ wurde als ausschließliches Eigenthum der Firma „Johann Maria Farina“, welche jenen Zusatz zuerst gebraucht hat, in höchster Instanz zuerkannt. Seitdem sucht man durch andere Wörtchen, wie „an“ oder „bei dem Jülichs-Platz“ und unter Hinzufügung einer Hausnummer das Verlorene möglichst zu ersetzen. Eine zwar weiter liegende, aber wohl nicht minder auf Irreleitung abzweckende Erfindung ist es ferner, daß verschiedene Fabrikanten ihre Geschäfts-Locale an anderen öffentlichen Plätzen der Stadt etabliren, um so auf ihren Adressen und Etiketten den Zusatz: „gegenüber dem und dem Platze“ gebrauchen zu können, hinsichtlich des Eigennamens „Jülich“ auf die Vergeßlichkeit oder Unachtsamkeit der Consumenten speculirend, und dies um so mehr, als sie ihre Etiketten in Form, Papier, Schrift etc. denjenigen der Firma „Johann Maria Farina gegenüber dem Jülichs-Platz“ gänzlich nachbilden.

Die Einführung des allgemeinen deutschen Handels-Gesetzbuches, welches bekanntlich am 1. März 1862 in Kraft trat, hat durch die im dritten Titel „Von Handelsfirmen“ handelnden Bestimmungen, Art. 15 bis 27, dem Handel mit Firmen allerdings Einhalt gethan und auch Bestimmungen getroffen, durch welche die rechtmäßigen Inhaber bestehender Firmen geschützt sind. Nichts desto weniger werden auch diese Bestimmungen umgangen, und es entstehen nach wie vor neue Firmen „Farina“. Alle neuen Firmen jedoch, und wenn sie auch selbst den Namen „Johann Maria Farina“ tragen, müssen sich deutlich von der Firma „Johann Maria Farina gegenüber dem Jülichs-Platz“ unterscheiden. Dieselben Bestimmungen gelten in Oesterreich, Frankreich, Belgien und England.

Aber nicht allein die genannte Firma ist der Gegenstand unausgesetzter Nachahmungen, sondern auch deren Familienwappen, Fabriksiegel, sowie das Facsimile der Unterschrift und selbst die Abbildung des Wohnhauses, ja man hat geradezu die Firma „Johann Maria Farina gegenüber dem Jülichsplatz“ auf die Etiketten gedruckt mit dem über derselben in kleinster Diamantschrift angebrachten Wörtchen „nach“. Leider hat hier unsere Handelsgesetzgebung eine bedauerliche Lücke; sie tritt zwar für den Firmen-Schutz, nicht aber für den sogenannten „Marken-Schutz“ in die Schranken. Der Unbefangene, der die Flaschen, Etiketten und Umschlagzettel, kurz, die ganze äußere Erscheinung des Fabrikats des „ältesten Destillateurs“ mit denjenigen vieler seiner Concurrenten vergleicht, wird, wenn er sie nicht beim ersten Anblicke für ganz gleichartig hält, jedenfalls über die auffallende Aehnlichkeit staunen.

Wer der freien Entwickelung des Handels und der Industrie, wie wir, im ausgedehntesten Sinne des Wortes zugethan ist, der achtet gewiß jede ehrenhafte Concurrenz, allein die Art und Weise, wie die Concurrenz, mit wenigen löblichen Ausnahmen, in der Kölnisch-Wasser-Fabrikation auftritt und durch Lug, und Trug das Publicum täuscht, wird von keinem Ehrenmanne gebilligt werden können und steht in der Geschichte des Handels zweifelsohne einzig da.

Ein Mittel aber, und wohl das gehässigste, welches viele Concurrenten in Köln zu ihrem Nutzen und zum Nachtheile der Firma „Johann Maria Farina, gegenüber dem Jülichs-Platz“ anwenden, ist die übermäßige Bezahlung von Lohndienern, Droschkenkutschern und anderen sich dem Reisenden anbietenden Führern, welche unkundige Fremde, die sich mit „echtem“ Kölnischen Wasser versehen wollen, ihrem Hause zuführen. Nicht selten wird dem Fremden irgend ein Verkaufslocal als eine Niederlage, ja sogar als die Fabrik des ältesten Destillateurs bezeichnet. Diese anscheinend nicht unerlaubten Mittel führen nicht minder als die früher aufgezählten Lug und Trug im Gefolge, denn da dem Führer nicht selten der dritte Theil des Verkaufspreises als Provision zufällt, so ist ein solcher Erwerb, welchen man als den eines modernen Wegelagerers bezeichnen könnte, zu verlockend, als daß der Reisende nicht unter allerlei Vorspiegelungen und falschen Ortsangaben häufig irre geführt würde. Fast täglich bewährt sich diese Thatsache.

Schließlich noch einige Worte über die Bereitung der berühmten wohlriechenden Flüssigkeit.

Es ist im Grunde zwar eine sehr einfache und stets sich gleich bleibende Manipulation, welche man die Fabrikation des Kölnischen Wassers nennt, wie dies auch nicht anders sein kann bei einem Artikel, welcher seinen Hauptruhm in die Stabilität seiner vortrefflichen Eigenschaften setzt. Von einer Verbesserung der Qualität durch fortgesetzte Analysen und Versuche kann gar keine Rede sein. Man kann von verschiedenen Qualitäten nur in Bezug auf die Mischung besseren oder schlechteren Spiritus mit den feinsten oder geringeren Sorten von Essenzen sprechen, dann aber auch noch in Bezug auf das Alter des Kölnischen Wassers, denn es steht notorisch fest, daß sich dasselbe, wenn es gut verschlossen verwahrt wird, durch längeres Lagern verbessert, indem die ätherischen Oele sich immer mehr im Spiritus auflösen und enger mit demselben verbinden und der eigentliche Weinsprit sich in seinem Geruch ebenfalls durch das Alter mildert, d. h. verfeinert. In dem Hause „Johann Maria Farina, gegenüber dem Jülichs-Platz“ wird, wie schon bemerkt, nur eine einzige Sorte, aus dem besten französischen Weinsprit und den feinsten Essenzen bereitet und gerade durch jahrelanges, Lagern verbessert. Die Mischungen sind es, welche in ihren ersten Instanzen das eigentliche Geheimniß der Fabrikation bilden. Das Recept zu denselben wird denn auch mit Recht wie ein Kleinod vom seltensten Werthe unter Verschluß gehalten, und das Laboratorium, in welchem die geheimnißvollen Arbeiten der ersten Mischungen eigenhändig vom Chef des Hauses vorgenommen werden, macht auf den mit einiger Phantasie begabten Fremden, dem es gestattet ist, dieses Allerheiligste des Geschäftes zu betreten, einen eigenthümlichen, fast möchte man sagen feierlichen Eindruck.

Daß auch manche Concurrenten des „ältesten Destillateurs“ in Köln ein Fabrikat produciren, bei welchem nur ein fein unterscheidender Geruchssinn einen wesentlichen Unterschied in der Qualität herausriechen kann, geben wir gern zu. Der regelmäßige und daher wählerische Consument wird wohl wissen, welchem Fabrikanten er den Vorzug zu geben hat, während bei der großen Masse leider noch immer der Spruch gilt: „Mundus vult decipi, ergo decipiatur.“ (Die Welt will getäuscht sein, also werde sie getäuscht.)




Beim kleinen Thiers.
Thiers’ Lebens- und Bildungsgang. – Sein Palais. – Sein Arbeitszimmer. – Die Abfassung seiner Reden. – Seine Diners und sein Salon. – Frau Thiers. – Thiers’ Schwägerin und Schwiegermutter. – Seine Persönlichkeit und äußere Erscheinung. – Sein Kunstsinn und seine Kunstsammlungen.


Die Rheingrenze! Das war vor Kurzem das Feldgeschrei der meisten französischen Blätter und ist es mehr oder weniger noch.

Im Jahre 1821 kam ein junger Franzose aus dem Mittag des Landes nach Paris, wie alle Provincialen mit der ausgesprochenen Absicht, in der alle Kräfte und Talente anziehenden und absorbirenden Hauptstadt sein Glück zu machen. Er hatte sich auf der Universität von Aix in der Provence eben sein Advocatendiplom geholt und dachte in Paris eher zu Praxis und Clienten und damit zu Geld und Einfluß zu gelangen als in seiner Heimath. Der junge Jurist, der im Passage Montesquieu ein auf das Einfachste möblirtes Stübchen bezog, war Niemand anders als der nachmalige allmächtige Minister, der Geschichtschreiber und Akademiker Adolph Thiers, derselbe, welcher, wie er als der eigentliche Urheber jenes von Zeit zu Zeit immer von Neuem auftauchenden französischen Feldgeschreis anzusehen ist, auch neuerdings wieder in seiner vielbesprochenen Kammerrede diese alte Losung der französischen Eitelkeit und Ueberhebung auf’s Tapet brachte und so als der Hauptanstifter der sich in Frankreich gegenwärtig so laut und [298] ungestüm äußernden lächerlichen Deutschenfresserei, betrachtet werden muß. Es wird daher unsern Lesern sicher willkommen sein, sich mit uns den berühmten „kleinen Mann“ etwas näher anzusehen und uns auf einem Besuche zu ihm zu begleiten.

Kaum der Schulbank in Marseille entronnen, weiß Thiers schon, daß er Minister sein wird. In Aix sieht er die arme, alte Frau, die vor dem Facultätsgebäude Früchte feil hielt, sich eines Tages mühsamer als sonst, hinschleppen und tröstet sie mit den Worten: „Geduldet Euch, Mütterchen, wenn ich Minister sein werde, sollt Ihr in meinem Wagen fahren.“ In Paris wird er bald inne, daß der Journalismus rascher zu Namen und Ansehen führt, als die Advocatur. Durch Vermittelung eines Deputirten gelangt er zur Mitwirkung an dem, damals freisinnigen kirchenfeindlichen „Constitutionnel“. Ausgestattet mit allen Eigenschaften, die den vollkommenen Journalisten ausmachen: mit wunderbarer Leichtigkeit des Stils, blitzschnellem Verständniß, gedrängter Beweisführung, nimmt er rasch eine der ersten Stellen an dem Blatte ein, und durch Lafitte öffnen sich ihm bald sämmtliche Salons der Opposition. Kurz darauf erscheinen die ersten Bände seiner Geschichte der französischen Revolution; schon liegt das Mansardenstübchen auf dem Passage Montesquieu weit hinter ihm, er hat eine elegante Wohnung in einem fashionablen Viertel, hält sich sein Reitpferd und speist bei Tortoni.

Infolge der Julirevolution zuerst Unterstaatssecretär im Finanzministerium geworden, ist er, nach geschickter Schwenkung zur Rechten, binnen Kurzem im Besitz des langerstrebten Ministerportefeuilles. Neun Jahr hindurch, von 1832 bis 1841, ist er, von einem Ministerium zum andern übergehend, fast unausgesetzt am Ruder der Geschäfte, „der Goethe der Politik“, wie ihn Heine in einem seiner Briefe an die Allgemeine Zeitung nannte, „der König von Frankreich“, wie ihn der geistvolle Karr in seinen „Wespen“ bezeichnete, als Thiers, zum zweiten Male Ministerpräsident, 1840 im Zenithe seines Ruhmes stand. Damals war es, als er zuerst in die Kriegstrompete stieß und von der Eroberung des Rheines sprach. Vielleicht besser als sonstwer wußte er, daß eine solche Eroberung ein Ding der Unmöglichkeit sei, aber er schmeichelte damit einem Schooßkinde der französischen Eitelkeit und Ruhmsucht, und die Deutschen haben vielleicht ebenso Unrecht, Thiers darüber zu grollen, als die Franzosen im Unrecht sind, sich über die Hinweise in patriotische Aufregung zu setzen, die hie und da wegen des Elsasses und Lothringens von deutscher Seite laut geworden sein mögen.

Wie Thiers bei Gelegenheit des Staatsstreiches, am 2. December 1851, mitten in der Nacht gefangen genommen und nach Mazas abgeführt wurde; wie er darauf ein Jahr in der Verbannung und dann, nach Frankreich heimgekehrt, eilf Jahre in stiller Zurückgezogenheit lebte, ausschließlich mit der Vollendung seiner Geschichte des Consulats und des Kaiserreichs beschäftigt; wie er endlich 1863 von den Parisern zu ihrem Vertreter in den gesetzgebenden Körper gewählt wurde, – das Alles ist bekannt.

Trotz eines Alters von siebenzig Jahren immer thätig, hat Thiers sich die Frische, man möchte sagen, den Uebermuth der Jugend bewahrt und ist noch heute ein unermüdlicher Arbeiter. Als solcher wird er in’s Grab sinken, jenen dauerhaften Bauten vergleichbar, die von Wind und Wetter unberührt, wenn endlich die Zeit sie umwirft, ein ganzes Stück bleiben. Uebrigens denkt Thiers kaum an diese verhängnisvolle Stunde, und wenn er ja auf sein nahes Ende anspielt, wie neulich in der Kammer, so geschieht es in einer wohl sehr natürlichen und gerechtfertigten Anwandlung von Stolz; es klingt etwas heraus, das an die Gefallsucht einer Frau erinnert, die, über die Jahre schön geblieben, hin und wieder mit ihrem hohen Alter zu prahlen beliebt. Wie zur Zeit seiner kräftigsten Jugend steht Thiers tagtäglich früh um fünf Uhr auf und geht sofort in sein Arbeitszimmer, das, von sehr bedeutender Größe, eine Art Galerie bildet und von fünf Fenstern erleuchtet wird, deren vier auf die Place St. Georges hinaussehen, das fünfte nach dem Garten des Hotels, einem schönen Garten, wie man einen solchen noch selten in Paris antrifft, mit großen Bäumen, mit einem weiten Rasenplatz und unzähligen Rosenstöcken. Die Rose ist die Lieblingsblume Thiers’. Er bleibt bis gegen Mittag bei der Arbeit und nimmt dann in seinem Arbeitszimmer ein leichtes Frühstück ein. Wie alle Männer die mit dem Kopfe arbeiten, ißt er des Morgens nur wenig und raucht nicht, was er mit allen sehr Thätigen gemein hat.

Sehr sorgfältig schreibt Thiers seine Reden nieder, nicht blos ein und zwei, ja drei und vier Mal, und lernt sie auswendig, ehe er sie hält. Alle bedeutenden Redner übrigens verfahren nicht anders und es ist ein gewaltiger Irrthum zu glauben, daß sie aus dem Stegreif sprechen. Dies findet wohl bei Gegenreden statt und in ganz besonderen Umständen, aber nie bei eigentlichen Reden, welche einen ganzen, großen Gegenstand besprechen, Zwischen jedem Male Niederschreiben läßt er eine angemessene Zeit verstreichen, schreibt die zweite Rede, ohne die erste, und die dritte, ohne die zweite zu lesen, und wenn dann der Tag heranrückt, an dem er zu sprechen hat, liest er die drei Reden durch, zergliedert sie, prüft, welche Entwickelungen oder Einschränkungen sein Gedanke in jeder dieser drei Ausarbeitungen erfahren hat, und schreibt nach dem so angestellten Vergleiche die vierte, das heißt diejenige Rede nieder, die er wirklich hält. Diesem Verfahren verdankt Thiers die wunderbare Ordnung und geschlossene Kette seiner Beweisführung, die Klarheit des Gedankens, die in jeder seiner Reden anzutreffen sind. Er hat eine dicke, fette Handschrift und säet beim Arbeiten die vollgeschriebenen Seiten um sich her, um sie trocknen zu lassen. Ich begegnete eines Tages Pelletan, da dieser eben aus dem Hotel der Place St. Georges heraustrat. „Thiers bereitet irgend eine große Rede vor,“ sagte er mir, „ich habe ihn eben inmitten eines großen Haufens nasser Blätter angetroffen, die das Kaminfeuer kaum zu trocknen vermag.“ Es war dies in den ersten Tagen des Monats December 1865, und die Rede, an der Thiers bereits arbeitete, war seine berühmte Rede über die Grundsätze von 1789, die erst in der Sitzung vom 26. Februar 1866 gehalten wurde.

Daß Thiers, der schon so früh auf ist, noch vor der Nacht das Bedürfniß nach einiger Unterbrechung und Ruhe fühlt, wird Niemand Wunder nehmen. Er verläßt denn auch die Kammer mit Ausnahme der Tage, an denen er spricht, regelmäßig um sechs Uhr und fährt in seinem Wagen schnellsten Laufes in sein Hotel zurück, wo er bis gegen sieben Uhr auf einem Ruhebette ausgestreckt liegt. So erklärt sich, warum man bei Thiers erst um acht Uhr speist. Es ist dies vielleicht das einzige Haus in Paris, wo so spät gegessen wird. Dafür ißt man aber sicherlich nirgends besser, als bei dem berühmten Geschichtsschreiber Napoleon’s. Alle gekannten und von vielen Gästen sehr oft nicht gekannten Weine werden hier gereicht und der Koch Thiers’ kann für einen Meister seiner Kunst selbst unter einem Volke gelten, das sich rühmt, der Menschheit das Geheimniß der einzig wahren Küche geoffenbart zu haben. Man könnte eine Seite voll Rührung über den Aufwand der Tafel, die Feinheit des Porcellans, den Glanz der Krystallgläser und den Reichthum der Credenza oder des Büffets schreiben, das mit dem wundervollsten Silbergeschirr besetzt ist, aber es ist mir wohl gestattet, mich über diese Herrlichkeiten nicht weiter auszulassen und nur mit Mirabeau’s Worten zu sagen: „Das Tafelgeschirr der Großen kann mir keine Rührung abgewinnen.“

Thiers hat jeden Tag der Woche, einen einzigen ausgenommen, an dem er außer dem Hause ißt, einige Gäste zum Diner. Dies ist keine geringe Aufgabe für Jemand, der wie er bewirthet, allein der alte Ministerpräsident ist reich, und einhundertundfünfzig- oder zweimalhunderttausend Franken, die das jährlich kostet, sind für ihn nicht erheblich. Ein fast tagtäglicher Gast bei Thiers ist Mignet. Eine alte und aufrichtige Freundschaft verbindet diese beiden Männer, die, in derselben Stadt geboren, zusammen studirten, zugleich nach Paris kamen, ihr Glück hier zu suchen, und nebeneinander in dem Eingangs erwähnten Winkel der Passage Montesquieu gewohnt hatten. Ihre gegenseitige Freundschaft ist weder durch das Glück und das Vermögen des Einen, noch durch das hervorragende Talent des Andern auf einem verwandten Gebiete je gestört worden. Sollte sich Thiers nie eingestanden haben, daß er zwar ein großer Chronikenschreiber, sein Freund Mignet aber ein großer Geschichtsschreiber sei? Daß er ohne Neid und der unveränderte Freund Mignet’s geblieben, ehrt ihn und dient denen zur Antwort, die mitunter behauptet haben, er sei herzlos.

Herr und Frau Thiers sehen alle Abende Gesellschaft bei sich. Frau Thiers, die Tochter eines sehr reichen Generaleinnehmers, ist eine Frau von fünfzig- bis fünfundfünfzig Jahren, die zu ihrer Zeit hübsch gewesen. Schon seit mehreren Jahren leidend, liegt sie jetzt auf einer chaise longue ausgestreckt und erhebt sich für Niemand, wer es auch sei, sich darauf beschränkend, die Leute, die kommen und gehen, mit [299] einer stummen Kopfbewegung zu begrüßen, denn sie öffnet überhaupt nur selten den Mund. Kinder hat sie nicht gehabt. Ihre Schwester, ungefähr von gleichem Alter, war nie verheirathet und lebt bei ihr. Fräulein Dosne ist groß und muß bemerkenswerth schön gewesen sein. Sie ist eine seltsame Erscheinung, eines jener Gesichter, deren Linien durch ein geheimnißvolles Drama so heftig erschüttert worden zu sein scheinen, daß davon eine Art zitternder Bewegung zurückgeblieben, welche selbst die Zeit nicht zum Stillstand bringen konnte. Auch sie spricht ebensowenig, wie Frau Thiers. Man sieht, daß eine etwas frostige Luft in den Sälen des Hauses der Place St. Georges wehen würde, wären nicht Thiers und Frau Dosne, dessen Schwiegermutter. Diese Letztere ist nicht mehr jung, wie sich leicht denken läßt, aber sie hat keinen der Fehler an sich, durch die so oft das Alter unliebenswürdig wird. Wenn sie spricht, sieht man den Schnee der Jahre an der Wärme eines immer jungen Herzens schmelzen und die glänzenden Blumen eines ewigen Frühlings aufblühen. Es gelingt ihr, ihr Alter vergessen zu machen, wie sie es selbst gern vergißt. Ein Charakter aus dem Ganzen, äußert sie rückhaltlos ihre natürlichen Abneigungen. Der Kaiser gehört nicht zu ihren Freunden, und wenn Thiers, der wohl auch für ihn keine besondere Zuneigung fühlt, über Louis Napoleon gleichwohl in gemessenen Ausdrücken spricht, so ist dies bei der Schwiegermutter etwas ganz Anderes. Man muß, will man sie nicht stark erzürnen, sich wohl hüten, irgend etwas vorzubringen, das einem Lobe des Mannes vom 2. December entfernt ähnlich sähe. Einer meiner Freunde, der ungeschickt genug dies unbeachtet gelassen, hielt es für rathsam, durch die Flucht den Wirkungen des Zornes sich zu entziehen, den er erregt hatte. Frau Dosne ist auch in ihrem Anzug jung geblieben und zeigt sich gern im ausgeschnittenen Kleide.

Man trifft bei Thiers Vertreter aller Parteien an, mit Ausnahme der Bonapartisten, die freilich auch kaum eine Partei zu nennen sind. Man ist Bonapartist aus Brauch, nicht aus Ueberzeugung. Es war die volle Wahrheit, die Picard obwohl scherzend aussprach, als er am Büffet des gesetzgebenden Körpers einem Deputirten der Majorität die Worte zuwarf: „Bonapartisten! Wo sind sie denn? Kennen Sie welche?“ – Hin und wieder sieht man auch Demokraten, die sich durch den ultraaristokratischen Aufwand nicht haben abschrecken lassen, der sich von der Schwelle an in dem Hotel der Place St. Georges ankündigt. Beim Eintritt in das Vorhaus befindet man sich gegenüber vier prächtigen Lakaien in Frack, kurzem Beinkleid und in Schuhen mit Schnallen, von dem Schlage derer, welche die demokratische Galle Thackeray’s so heftig in Bewegung setzten. Thiers ist nun einmal ein wenig „snob“, und ich würde ihm wohl den Rath geben über das Buch des berühmten englischen Humoristen etwas nachzusinnen, wenn er nicht zu alt wäre, um sich zu bessern, und wenn ich nicht wüßte, daß er hinlänglich von sich eingenommen ist, um sich, so wie er ist, für vollkommen zu erachten.

Dies führt mich darauf, Thiers’ äußere Person näher zu schildern, was ich absichtlich auf den Augenblick verspart habe, in dem der Mann in seinem Salon mehr sich selbst angehört und sich am unmittelbar menschlichsten giebt. Bei der Arbeit konnten wir ihn wohl belauschen, aber zum Lesen und Schreiben schicken sich alle Menschen so ziemlich auf gleiche Weise an, Victor Hugo etwa ausgenommen, der sich nie setzt und in seinem Zimmer nichts duldet, das einem Sessel irgend ähnlich sieht; allein Thiers setzt sich wie wir andern auch. Ebensowenig vermag die Rednerbühne uns Thiers von dieser Seite zu zeigen, sie verschlingt ihn und läßt kaum seinen Kopf sehen. Bei Tische? Da ist er auf seinen Stuhl gebannt, er ist unfrei und fühlt sich nicht heimisch. Aber in seinem Salon, das ist der rechte Ort; da sehen wir ihn schalten und walten, von dem Einen zum Andern gehen, sich unterhaltend, hüpfend, nie einen Augenblick ruhend. Um in zwei Worten sein Bild zu entwerfen: Thiers ist ein Mann, der fortwährend in Eile ist und zu laut spricht.

Er ist weder schön von Gesicht, noch von Wuchs. Er ist klein, untersetzt, von gewöhnlichem Aussehen; der übertriebene Ausdruck seiner Gesichter schneidenden Züge erinnert unwillkürlich an die bekannten Nürnberger Figuren. Wenn die geistvolle Frau von Girardin, die mit der scharfen Spitze ihrer Feder so viele Gesichter gezeichnet, Thiers „Mirabeau-mouche“ (Mirabeaufliege) nannte, ein Spitzname, den dieser ihr nie verziehen hat, so kann die Bezeichnung gewagt erscheinen, denn Thiers hat nichts von der Zierlichkeit dieses kleinen Insects. In ganz anderem Sinne gewagt ist freilich die soldatisch derbe Bezeichnung, welche den Marschall Soult zum Urheber hat und die hier nicht wiederholt werden kann. Thiers ist also nicht schön – und, was noch mehr heißt, wie ebenfalls Frau von Girardin, als weibliche Richterin hier doppelt beachtenswerth, anmerkt: Haltung und Manieren sind gewöhnlich. Aber bei genauerer Beobachtung wird sich das Urtheil doch umstimmen. Das Gesicht zeigt eine hohe, breite Stirn, ein lebhaftes, glänzendes Auge, das leider hinter einer mächtigen, goldenen Brille versteckt ist, einen Mund, der durch den Ausdruck leichten Spottes nicht verunziert wird; Thiers soll nur zu sprechen anfangen und man wird ihn allerliebst finden. Seine Unterhaltung ist, wie die aller Männer, die viel wissen, reich durchwirkt mit Thatsachen, die sein feiner Geist lichtvoll zu beleben versteht. In seiner Jugend ein unermüdlicher Frager, wußte er, wie keiner, die Leute zum Sprechen zu bringen und hätte wie Sokrates sich den Geburtshelfer der Geister nennen können – nur trug er nach geleisteter Hülfe das Kind mit sich fort. In dieser Weise verfuhr er, da er an seiner Geschichte der Revolution schrieb, wiederholt mit dem General Jomini. Dieser, der Thiers recht wohl durchschaute und es müde war, sich so auspressen zu lassen, hatte seiner Tochter eines Tages sogar anbefohlen, durch ihre Dazwischenkunft zur rechten Zeit ihn aus dem umstrickenden Zauber der Schlange zu befreien, doch siehe da – als die Tochter dem Befehle des Vaters gemäß handeln wollte, wurde dieser ganz aufgebracht und hieß sie die Unterhaltung nicht stören.

Viel hat Thiers durch seine unersättliche Wißbegierde auf diese Weise wie spielend gelernt, wobei ihm noch das wunderbarste Gedächtniß zu Statten kam. Die Zahlen für die statistischen Belege seiner Finanzreden stehen ihm bis in die größten Einzelheiten reichlich zu Gebote und er trägt sie alle in seinem Kopfe. Erwähnenswerth erscheint mir auch ein kleiner Vorfall, mit dem ich erst vor einigen Tagen bekannt gemacht wurde. Es war im Jahre 1840. Das Gesetz über die Festungswerke von Paris wurde eben verhandelt und man wußte, daß Thiers dasselbe in langer Rede vertheidigen sollte. Ein Journalist, der den Inhalt der Ministerrede an sein Provincialblatt zuerst berichten wollte, begiebt sich deshalb am Morgen der Sitzung selbst zu Thiers. „Ich fand Thiers“ – so erzählte mir derselbe Journalist – „im Anziehen begriffen. Während er sich wusch, rasirte, die Beinkleider anlegte etc., hat er mir aus dem Gedächtniß in einer halben Stunde seine ganze Rede, an der er vier Stunden in der Kammer sprach, auszugsweise in die Federn dictirt, und als ich die Rede selbst mit dem Auszuge verglich, überzeugte ich mich, daß er nicht einen einzigen Gedanken zu entwickeln vergessen und die Reihenfolge seiner Entwickelung nicht einen Augenblick verlassen hatte.“

Thiers ist öfters ein Schwätzer genannt worden, und man hat sein Geplauder sogar mit dem einer alten Klatschgevatterin verglichen. Der Vergleich trifft nur insofern, als er allerdings oft einen übereilten Vortrag hat und der Ton seiner Stimme scharf und verstimmt klingt. Im Uebrigen ist seine Unterhaltung stets auf die Sache selbst eingehend und höchst anziehend. Man unterhält sich gern mit Thiers, aber mit ihm zu streiten, das soll man bleiben lassen. Der kleine Mann ist Feuer und Flamme, duldet keinen Widerspruch und wird, was man ihm auch vorbringt, eher absurd finden, als bemüht sein, dies zu beweisen. Es ist das nicht eben das Zeichen eines guten Geschmacks und spricht vielmehr für das Urtheil der Frau v. Girardin, wie auch der Umstand, daß Thiers, wenn ihm die Unterhaltung seines Salons nicht zusagt, zuweilen auf seinem Lehnstuhl einschlummert. Dafür begleitet er aber auch hinwiederum die Leute, die ihm gefallen, bis an die Thür seines Vorhauses.

Trotz solcher gelegentlichen Ausbrüche von Heftigkeit in der Rede, die man auf Rechnung eines nicht genug bekämpften südlichen Temperaments zu setzen hat, wird Thiers gleichwohl als ein Mann von leichtem und in den Beziehungen des Lebens angenehmem Umgange betrachtet. Der Ton geringschätzender Höhe, die gebieterische Haltung des großen Mannes, der dem gemeinen Sterblichen wohl erlaubt, sich dem Fußgestelle seiner Größe zuweilen zu nähern, aber selbst von demselben nie herabsteigt, sind ihm durchaus fremd; er ist im Gegentheil voller Leutseligkeit und Natürlichkeit, keine Spur von dem stolzen Ernste, den die Franzosen so wenig lieben und den sie „morgue“ nennen, vielmehr [300] scheint er ganz das, was sie mit dem „bon enfant“ bezeichnen. Ob er das wirklich ist, wage ich nicht zu behaupten, aber es ist schon ein großes Verdienst, in den Augen der Franzosen dafür zu gelten. Nichtsdestoweniger hält sich Thiers für einen Mann von Genie, und die Leutseligkeit der Form vermag, wenn er von sich selbst spricht, nicht immer den im Hintergrunde thronenden Stolz zu verdecken. Als er am 1. März 1840 wieder an das Staatsruder gelangte, zu einer Zeit, da wohl viele Staatsmänner vor den Schwierigkeiten zurückgeschreckt sein würden, die sich der französischen Politik entgegenstellten, zeigte er ein heiteres Gesicht und sagte lächelnd: „Die Vorsehung muß ein großes Vertrauen in mich gesetzt haben, denn so oft ich die Staatsgeschäfte übernehme, scheint sie die schwierigsten Verwickelungen mir vorbehalten zu haben!“

Das Hotel der Place St. Georges hat nichts gemein mit den reichen Wohnungen der Emporkömmlinge, in denen in Ermangelung wirklichen Geschmacks ein grober Luxus herrscht, so daß König Midas selbst dort nichts mehr in Gold zu verwandeln fände. Vielmehr kündigt Alles hier den künstlerischen Sinn an, der Thiers auszeichnet. Sein Arbeitszimmer enthält mehrere Meisterwerke, um die der Louvre ihn beneiden könnte. So das Bronze-Modell der heiligen Jungfrau von Michel Angelo, die, irre ich nicht, die Florentinische genannt wird, und das der Reiterstatue des Ludovico Sforza von Leonardo da Vinci, aus dessen Hand nur wenige, aber darum um so werthvollere Sculpturwerke hervorgegangen sind; eine Andromeda in Marmor von Benvenuto Cellini, die, kaum einige Zoll hoch, ein Meisterstück zart durchgeführter Arbeit, durch das Vergrößerungsglas betrachtet werden muß. Außerdem besitzt Thiers noch mehrere sehr große chinesische Porcellanstücke, die an Alter sowohl wie an Schönheit mit den etrurischen Vasen wetteifern. Die Figuren sind von so reiner Zeichnung und leichter Bewegung, daß die etrurische Kunst kaum etwas Vollkommneres wird aufweisen können.

Man sieht, er hat errungen, wonach er von Jugend auf gedürstet: er ist ein berühmter, ein reicher, ein vornehmer Mann geworden. Daß der glückliche Erfolg bei Weitem sein Verdienst überholt hat, wird er sich kaum eingestehen, und wenn auch, sich dadurch sicher nicht in seiner äußern und innern Behaglichkeit stören lassen.




Auch eine Industrie-Ausstellung.


„Sind Sie schon im Bazar bei’m Kronprinzen gewesen?“ – Das war die stehende Frage, die in der vorletzten Woche vor Ostern alle gesellschaftlichen Kreise Berlins durchlief. Die Antwort war verschieden. Unter Leuten von Rang war damit sogleich ein Gespräch über hunderterlei famose Einzelheiten und Beobachtungen eröffnet; im Bürgerstande aber hörte man wohl die Gegenfragen: „Ja, kann denn da wirklich jeder für fünf Groschen so ungenirt hingehen? ohne besondere Einladung? so wie man geht und steht, ohne Frack und weiße Binde? und der Kronprinz und die Kronprinzessin sind da und verkaufen selbst?“

In der That, so oft auch gekrönte und fürstliche Häupter bei festlichen Gelegenheiten zu ihrem Volke hinabgestiegen, das war doch neu und überraschend, daß der Thronerbe eines europäischen Großstaates die Bewohner seiner Residenz ohne Unterschied zu sich einlud, in sein eigenes Haus, in so freundlicher Weise und so edler Absicht. Schon das war den Berlinern neu, daß auf der Rampe, die zu dem Palaste Friedrich Wilhelm’s des Dritten führt, neben wappengeschmückten Carossen auch die schlichte Droschke vorfahren durfte; aber das Leben und Treiben im Innern war noch viel merkwürdiger.

In der Vorhalle wachen an zwei Tischen Invaliden über die Casse, bei der man seinen Tribut, fünf Groschen oder mehr, wie man will, erlegt. Auf breiter Marmortreppe steigen wir zu den Sälen empor welche in langer Flucht zu der Gedenkhalle des verstorbenen Königs führen. Durch Blumenduft und rauschende Gewänder kommt man endlich zum Büffet und darf sich, gegen Erlegung eines blanken Thalers, zur Stärkung einen Maraschino oder Chartreuse von der Gräfin von H. einschenken lassen. Nun ist der Zauber gelöst. Noch wenige Schritte, und man steht mitten in einer bunten Kunst- und Industrieausstellung, bei der es sich freilich fragt, was interessanter ist, die ausgestellten Dinge oder die verkaufenden Personen. Schöne und reiche Fürstinnen, Gräfinnen, Hofdamen, Generalinnen, Ministerinnen und Damen aus den Kreisen der Geheimen Commerzienräthe, die man sonst nur im Theater oder auf der Promenade von Weitem bewundert, bemühen sich hier, Geschäfte mit uns zu machen.

Immer mehr füllen sich die fürstlichen Räume mit Schau- und Kauflustigen; selbst einen Weg suchend, versperren wir Andern die Passage. „Bitte, lassen Sie uns ‘mal hier durch,“ sagt da ein Herr im einfachen militärischen Interimsrock hinter uns und klopft uns freundlich auf die Schulter – es ist der Kronprinz, der seine „Frau“, wie er die Kronprinzessin in bürgerlich-schlichter Weise am liebsten nennt, nach ihrem Verkaufsstande geleitet. Denn sie hat es sich vorbehalten, den Müttern ihre Bedürfnisse an Kindergarderobe zu liefern; die Gedenkhalle, eine geräumige Rotunde, ist mit Kleidchen, Mützchen, Schuhchen, Strümpfchen, Puppen etc. ganz angefüllt, für welche die hohe Verkäuferin reißenden Absatz erzielt. Hier beginnt denn auch der König seine reichen Einkäufe. Man denkt vielleicht, wenn man den ehrwürdigen, stattlichen Herrn so mitten in einer dichten und „gemischten“ Gesellschaft sieht, wie er nach allen Seiten hin freundlich grüßt und sich unterhält, an die kühle Zurückhaltung, mit der ein Anderer wenige Tage vorher eine andere Industrieausstellung eröffnet hat – aber da ist schon wieder der Kronprinz, diesmal allein und mit einem Sacke bewaffnet, auf dem die geflügelten Worte zu lesen: „Ein kühner Griff zehn Silbergroschen“. Wer danach aussieht, als könnte er den Griff vor seinem Geldbeutel verantworten, der wird herangezogen – doch „erst das Geld her!“ Der Gegenstand, den man auf gut Glück erwischt, hat vielleicht nur durch das witzige Motto Werth, das ihm der Prinz angeheftet hat; aber man bewahrt ihn doch wohl auf und erzählt vielleicht noch in späten Tagen: „Das hat mir Friedrich Wilhelm der Fünfte für zehn Groschen verkauft.“

Wozu das Alles? Für einen sehr, sehr schönen Zweck; die Mildthätigkeit tritt eben unter allerlei Gestalt auf. Dieser Bazar nun ist recht eigentlich von der Kronprinzessin von Preußen erfunden worden, wie auch das Institut, welches ihren Namen trägt, die Victoria-National-Invaliden-Stiftung, zuerst von ihr angeregt wurde. „Nur den vereinten Kräften des ganzen Volkes kann die nationale Sache gelingen. Möge Keiner es an sich fehlen lassen, möge jeder Einzelne dazu beitragen, daß auch jene Tapferen, die ihre beste Kraft dahingaben für die Ehre und den Ruhm des Vaterlandes, daß auch die ihrer Stützen und Ernährer beraubten Familien mit uns Allen über die Leiden und Opfer des Krieges hinweg auf die Thaten unseres Heeres mit Stolz und Genugthuung blicken können!“ So schloß der Aufruf des Kronprinzen aus Brünn vom 3. August 1866, und mit richtigem Tacte berief er in das Comité zur Verwirklichung des Planes einflußreiche Männer aller politischen Parteien.

Bis jetzt sind der Stiftung von Privaten und Vereinen, aus dem In- und Auslande nahe an eine halbe Million Thaler zugeflossen. Es ist diese Summe in Anbetracht der großen Opfer, welche das vorige Jahr sonst gekostet hat, immerhin beträchtlich, wenn sie auch noch lange nicht ausreicht, den durch den Krieg Verunglückten über die Fürsorge des Staates hinaus den letzten Kummer zu nehmen. Wenn sich die Hoffnung verwirklicht, durch eine in Aussicht stehende größere Schenkung das Capital auf eine Million zu bringen, so würde die Stiftung, einschließlich der laufenden Beiträge, jährlich über etwa siebenzig- bis achtzigtausend Thaler verfügen und damit manche Thräne trocknen können. Nicht mit in Anschlag kommen hierbei die Mittel und die Thätigkeit der zahlreichen Zweigvereine, von denen jeder seinen besonderen Wirkungskreis behält.

Wie glücklich die Idee der Kronprinzessin war, einen Bazar zum Besten der Stiftung zu veranstalten, beweist der Erfolg: es sind nahe an vierzigtausend Thaler eingenommen worden. Die Theilnahme war allerdings eine überaus große. Reiche Gaben

[301]

Die Victoria-Ausstellung in Berlin.
Nach der Natur aufgenommen von O. Wisnieski.

waren von sämmtlichen Mitgliedern und Verwandten der preußischen Königsfamilie eingegangen, zum Theil Gegenstände von hohem Werthe, so u. A. von der Königin Victoria von England kostbare englische Shawls, vom Kaiser von Rußland prachtvolle Mosaikvasen, von der Großherzogin von Baden eine Schwarzwälder Uhr in reichgeschnitztem Holzgehäuse, und den Wohlhabendern der Residenz Berlin war es eine Ehrensache, wenigstens etwas beizusteuern; Die Fülle von Geschenken aller Art, die man in den Ausstellungsräumen [302] aufgestapelt sah, war ebenso ein Beweis für den Wohlthätigkeitssinn der Geber, als für die Beliebtheit der Kronprinzessin, die nicht nur zwei von ihr selbst gemalte Bilder (vom Könige angekauft) und eine Masse von kleineren Dingen gespendet, sondern auch die Einrichtung des Ganzen mit vielem Geschick überwacht hatte. Im Bürgerstande fiel es namentlich sehr angenehm auf, daß unter den Damen des Bazarcomités neben den Trägerinnen altadliger Namen sich gleich viele bürgerliche befanden.

An heiteren und interessanten Episoden waren die Tage vom 8. bis 13. April überaus reich. Die Form, unter der hie und da gegeben wurde, hörten wir von Jemand als „raffinirte Liebenswürdigkeit“ bezeichnen; jedenfalls erinnerte es an Tausend und Eine Nacht, wenn der türkische Gesandte im Bazar ein Veilchenbouquet für tausend Thaler kaufte und sich dann von der Kronprinzessin die Erlaubniß erbat, ihr dasselbe als ein Zeichen der Verehrung seines Herrn und Sultans zu überreichen. Weniger orientalisch, aber nicht minder sinnig, zahlte ein Bankier der Gräfin O. für einen Liqueur fünfzig Thaler.

Die Aufzählung auch nur der bedeutendsten unter den Tausenden von Geschenken würde uns zu weit führen. Nur eines, das leider ziemlich unbeachtet blieb, aber den Autographen der königlichen Familie würdig zur Seite stand, wollen wir hervorheben: ein Album, in dem dreiundzwanzig unserer beliebtesten lebenden Schriftsteller auf Putlitz’s Anregung sich verewigt hatten. Kein Wunder, daß es die Kronprinzessin alsbald für sich erwarb – es sind einzelne Perlen darin, die bleibenden Werth haben werden.

In directem Bezug auf den Zweck des Bazars steht Dingelstedts launiger Vers:

„In uns’rer Zeit des Kampfs und der Zerklüftung
Ist der Soldat und der Poet zu neiden:
Als Ziel der Laufbahn winkt ja ihnen beiden
Die Invaliden- und die Schillerstiftung.“

Den patriotisch-begeisterten Worten Tempeltey’s:

„– – Und eine Zukunft seh’ ich,
Schaut meines Geistes Auge durch die Schleier,
Die noch das Ungesehene verhüllen,
So groß, so herrlich, daß mein Herz aufjubelt
In Dank zu Gott, daß ich ein Deutscher ward“ –

gegenüber klingt Grillparzer’s, des edlen Deutsch-Oesterreichers, Stimme wie eine wehmüthige Klage:

„Als Deutscher ward ich geboren,
– Bin ich noch einer?
Nur was ich Deutsches geschrieben,
Das nimmt mir Keiner.“

Und wie sinnig ist endlich, was Paul Heyse geschrieben hat:

„Ein scheues Wild die Gedanken sind.
Jagst du danach, flieh’n sie geschwind;
Sieh’st du sie hellen Auges an,
Zutraulich wagen sie sich heran.
Ein stiller Wandrer kann sie zähmen,
Das Futter ihm aus der Hand zu nehmen.“

G. H–h.




Lust und Leid aus dem Amts- und Geschäftsleben.[2]
Nr. 1. Ein officieller Frack.

Es ist noch nicht allzulange her, als das kleine –sche Städtchen Jokker einige Jahre hindurch mehr als sonst belebt sich zeigte, denn für gewöhnlich war es todt, da weder Fabriken noch sonstige hervorragende Erwerbszweige dort existirten. Ein Jeder lebte so schlecht und recht hin von der Hand in den Mund, und so geschah es auch, daß von gedachtem Städtchen in der großen Tagespresse wenig oder gar nicht gesprochen wurde, obgleich es sonst ein höchst ehrenwerther Ort war.

Was war es nun aber, was gerade in den Jahren, in denen unsere Geschichte spielt, diese Alltäglichkeit durchbrach? Nichts mehr und weniger, als eine kleine Anzahl in den ersten Stadien der Praxis stehender Themisjünger, welche in dem den geistigen Culminationspunkt bildenden dortigen Amte theils seit kurzer Zeit angestellt waren, theils, nachdem sie nur eben an dem Busen der alma mater ihren brennenden Durst nach den Grundstoffen ihrer dereinstigen juristischen Größe gestillt hatten, nach jenem Ziele noch strebten. Hinwiederum war es aber nicht allein die erhabene Stellung der jungen Herren Goldmann, von Zehren, von Gohse und Reh, welche die besondere Belebung ermöglichte, sondern hauptsächlich ihre – wenigstens ist dieses in Betreff der drei Ersten zu sagen – geistige Gewecktheit, ihre häufig von Jugendlust überströmende, durch Liebenswürdigkeit der äußeren Erscheinung unterstützte Jovialität und, was wohl der Haupthebel war, die schätzenswerthe Fähigkeit, mit klingenden Mutterhellern in den Taschen spielen zu können, welche es vermochten, daß sie mitunter, wie man zu sagen pflegt, das ganze Städtchen umdrehten. Jedoch keineswegs von dem damaligen flotten Leben, den kleinen Abenteuern, Jagdvergnügungen, Partieen, der kostspieligen Gründung und Redaction eines Wochenblattes und was sonst die Chronik von dazumal weiß, soll hier erzählt, nein, nur ein Ereigniß jener goldenen Tage soll dem Alles verschlingenden Meere der Vergessenheit entrissen werden: Die tragische Geschichte vom officiellen Frack.

Wie schon angedeutet, konnte man die genannten Vorzüge der jungen Herren keineswegs allenthalben auch auf den mitgenannten Reh beziehen, obgleich er die Hauptfigur der Handelnden bildet. Reh nämlich, eine etwa dreißig Jahre alte brünette Gewöhnlichkeit, war wohl, was man im gewöhnlichen Leben un bon enfant nennt, allein, obgleich seine geistige Befähigung unter Null stand, so hatte sich dennoch seine Selbstüberzeugung von seiner außerordentlichen Tüchtigkeit bis in die höchsten Hitzegrade verstiegen und ihm den Glauben eingeimpft, daß man oben seine Verdienste entweder nicht kenne oder verkenne. Obgleich er schon seit Jahren den Acceß machte, hatte er sich doch noch nicht zu einem Examen entschließen können, und wenn er nicht durch besondere Verwendung einen kleinen Gehalt bezogen hätte, so wäre er in Ermangelung aller Mutterpfennige in der drückendsten Lage gewesen. Bei seinen geistigen Vorzügen war es kein Wunder, daß er häufig das Stichblatt des Witzes der Andern abgeben mußte.

Zur Beurtheilung seiner Gewandtheit und Untrüglichkeit im praktischen Geschäftsleben nur ein Beispiel: Einst war ihm die Untersuchung wider einen Dienstknecht übergeben worden, welcher im zweifellosen Verdachte stand, seinem Dienstherrn einen Pelz gestohlen zu haben. In der That, als ob Reh den Geist der auf alle mögliche Kürzung bei Ausübung der Rechtspflege gerichteten Jetztzeit bereits erkannt hätte – selten noch wurde eine Untersuchung schneller beendet, denn am andern Tage zwei Uhr Nachmittags erschienen in den Hallen der Themis Dieb und Bestohlener, und noch bevor die Kirchthurmglocke die dritte Stunde verkündet hatte, saßen Beide in süßer Vereinigung auf dem Rathskeller zu Jokker, um aus mächtigen Bierkrügen auf das Wohl des „weisen Richters“, des „zweiten Daniels“ zu trinken. Reh hatte nämlich, die Abwesenheit des sonst seine Geschäfte leitenden Beamten benutzend, in selbsteigenstem Rechtsgefühle die Parteien „in Güte“ dahin vereinigt, daß der Thäter nach abgelegtem kurzen Geständnisse dem Damnificaten den Pelz zurückzugeben versprochen, Damnificat hingegen die geringen Kosten übernommen hatte. Die Beurtheilung dieser menschlich schönen That von Seiten des Dirigenten gehört nicht hierher, hat aber den Untrüglichen in indignirtes Erstaunen gesetzt, und es steht fest, daß ihm deshalb das fatale [303] examen pro praxi nicht erlassen worden ist. Dieser Dirigent, um es gleich hier zu erwähnen, eine imponirende Persönlichkeit, war zwar in Geschäftssachen, wiewohl ohne Pedanterie, streng, aber doch höchst beliebt, denn er hatte das Herz auf dem rechten Flecke und hielt auf seine Leute, sie, wo thunlich, in Schutz nehmend. –

Eines Abends, Sonnabends, saßen die vier Bekannten in ihrem gemüthlichen Stammkneipchen, der „Falle“, bei einem duftenden Glase Grog, und Reh, welcher, wie bei fast allen Gelegenheiten, wo der Geldbeutel in Frage kam, auch hier der Gast der Andern war, mußte, wie schon oft, als Zielscheibe mancher humoristischen Bemerkung herhalten.

Nun hatten die anderen Drei schon längst die edle Absicht gehabt, Reh mit einem ebenso kostbaren wie eigenthümlichen Geschenk zu überraschen. Sie wußten nämlich, daß derselbe auf das Allerdringlichste eines neuen Frackes bedurfte, da sein gegenwärtiger, welcher an die Zeit der Confirmation des Besitzers erinnerte, ein jeder Mode hohnsprechendes Gebilde war, auf welchem auch ohne Mitwirkung von Molten das nachsichtigste Freundesauge vergebens nach einem in Vergessenheit hängen gebliebenen Restchen Wolle suchte, daß Reh aber ebensowenig im Stande war, dieses immer unentbehrlicher werdende Stück sich aus eigenen Mitteln anzuschaffen. Der heutige Abend war daher bestimmt worden, die Ermöglichung der Ausführung des schönen Vorhabens in einer nicht verletzenden Form anzubahnen. So kam man denn bei dieser Gelegenheit auf das Capitel der Verkennung der Verdienste und Befähigungen Reh’s, welcher heute, wahrscheinlich in Folge des edlen Getränkes, hierdurch nicht in den gewöhnlichen Zorn, sondern ausnahmsweise in eine mehr melancholische oder elegische Stimmung verfiel.

Im weiteren Verlaufe des Gespräches wurde ihm dann von dem Einen der Rath gegeben, sich an die Quelle zu wenden, um durch den Eindruck seiner persönlichen Erscheinung – auf welche er sich übrigens nicht wenig zu Gute zu thun pflegte – und durch Darstellung des wahren Sachverhaltes die Stimmung der Herren seines Schicksals ihm günstig umzuwandeln, da man wohl wußte, daß eben der Mangel eines Frackes dies nicht zuließ. Je mehr man in Reh auf Realisirung des Reiseplanes drang, desto mehr erklärte er zwar, daß er von der günstigen Wirkung überzeugt sei, mußte aber doch endlich, durch die Gewandtheit seiner Bekannten in die Enge getrieben, wehmüthig den wahren Grund der Behinderung angeben.

Kaum war das längsterwartete Losungswort gefallen, als auch sofort Goldmann mit dem Vorschlage hervortrat, Reh möge doch beim Ministerium unmittelbar in geziemender Bittschrift um allergnädigste Gewährung eines Frackes anhalten. Mit wahrer Begeisterung wurde diese Idee von den beiden anderen Eingeweihten aufgenommen und, wenn die Sache richtig angegriffen würde, als jedenfalls von günstigstem Erfolge dargestellt, wobei es nicht an ein paar erfundenen ähnlichen Beispielen zum Belege fehlte.

Lange widerstand Reh, von einem ihm wohl selbst unerklärlichen Etwas gehalten, den Lockungen, aber endlich, durch die Alles bewältigende Ueberredungskraft der Uebrigen bezwungen, ertheilte er sein concedo, und Zehren übernahm mit der Versicherung, mit derartigem Formenwesen vertraut zu sein, die Anfertigung des Gesuchs. Hierauf bestimmte man beim Scheiden, am andern Vormittag zehn Uhr in der gemeinsamen Wohnung Zehren’s und Gohse’s zur Vorlesung, Prüfung und resp. Absendung des Gesuchs zusammenzukommen.

Es war ein heller Sonntagsmorgen aufgegangen, die Sonne schien hell und Glück verkündend. Der zehnte Glockenschlag hatte kaum ausgeklungen, als schon das vierblättrige Kleeblatt, wie verabredet, in der fashionablen Stube um den mit entsprechendem Frühstücke besetzten Tisch saß. Die Gläser klirrten, das Bittgesuch, ein mit Händen und Füßen versehenes stylistisches Meisterwerk, wurde seelenvoll vorgetragen, mit dem wohlverdienten ungetheiltesten Beifall aufgenommen und, nachdem Gohse Reh’s letztes Bedenken, „daß der Frack wahrscheinlich nicht passen würde“, mit der festen Versicherung: „das Ministerium habe von allen seinen Beamten die genaueste Personalkenntniß“, beseitigt hatte, versiegelt. Der Aufwärter Stiefel erschien und das welthistorische Document wurde ihm zur Beförderung übergeben – selbstverständlich nicht in die Hände des Ministeriums.

Vierzehn lange Tage gingen unserm Reh hin in „Hangen und Bangen in schwebender Pein“, dreihundertundsechsunddreißig Stunden der Furcht und Hoffnung, ob die Angelegenheit für ihn „himmelhoch jauchzend“ oder „zum Tode betrübt“ enden werde.[WS 1]

Während dieser Zeit waren, in’s Geheimniß gezogen, zwei weitere Personen eifrigst in der Sache beschäftigt, Reh’s Leibschneider nämlich und ein Copist. Ersterer fertigte mit kunstgerechter Hand nach dem ihm wohlbekannten Maße den Gegenstand der Petition, Letzterer verwerthete seine Kunst, Handschriften täuschend nachzumachen, in der Ausführung der ihm von den Alliirten hierzu anvertrauten, zum Gelingen des Werkes unentbehrlichen Verordnung, welche mit dem von einem alten Couvert abgenommenen Officialsiegel gehörig verschlossen und adressirt wurde. Text und Unterschrift waren treu nachgeahmt.

Wieder schritt Reh – es war Sonntag – im Geiste mit dem immer unheimlicher drohenden Gespenste der Ungewißheit kämpfend, die Hände sinnig auf den Rücken gelegt, mit großen Denkerschritten in der bescheidenen Stube auf und ab, da erscheint Stiefel und überreicht ihm einen Brief, „den er beim Holen der Postsachen ‚für die Herren‘ nebst einem Paket aus Gefälligkeit mitgenommen habe. Das Paket hätten die Herren zurückbehalten, Herr Reh sollte nur bald hinkommen, er würde schon wissen warum.“ – Ein zündender Blick auf den Brief – die bekannte Handschrift – das Siegel des Ministeriums – die Rechte zuckt – und eines der letzten Viergroschenstücke wandert aus der Tasche des Adressaten in Stiefel’s Tasche, welcher hiermit von der Bühne dankend abtritt.

Kaum schließt sich hinter demselben die Thür, so guckt auch die fiebernde Hand nach dem Siegel. Aber nein! Mit wunderbarer Selbstbeherrschung tritt Reh zu dem Einzehntel-Kistchen „Echter“, einem Geschenk seiner Gönner, aus welchem er nur bei ganz besonderen Gelegenheiten raucht, nimmt bedächtig eine Duftende heraus, zündet sie mit gehobenem Sonntagsgefühle an und streckt sich, soweit es dessen Länge zuläßt, auf das Canapee, den porösen Schlafrock über den Knieen übereinanderschlagend. Nun erst löst die bebende Hand das Siegel und er liest deutlich geschrieben und üblich vollzogen:

„Daß man dem Bittsteller in Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse, jedoch nur ausnahmsweise, das Gesuch zu bewilligen beschlossen.“

Nachdem der Beglückte das Gnadendocument oft genug von oben nach unten und umgedreht durchgelesen, tritt er ein halbes Stündchen später strahlenden Angesichts in die Wohnung der Freunde, wo auch Goldmann sich bereits eingefunden hat und wo auf dem Tische neben dem unvermeidlichen Frühstücke das wohlversiegelte und verschnürte Paket liegt. Nach Anhörung der den feierlichen Act würdig eröffnenden Anrede Goldmann’s thut Jeder einen Schnitt durch den Bindfaden – die Hülle löst sich mehr und mehr und „aus der Hülse blank und eben schält sich“ – ein moderner, feiner schwarzer Tuchfrack mit braunseidnem Futter!

Es wäre vergeblich, die Freude Reh’s und seine Bewunderung der Personalkenntnisse, denn der Frack saß wie angegossen, zu schildern. Es mag nur bemerkt werden, daß manches Glas auf die Generosität des Ministers und des Ministeriums geleert worden und Reh an diesem Tage nicht zu Tische gegangen sein soll. Am glücklichsten aber waren die edlen Geber über das gelungene Werk.

‚Doch mit des Geschickes Mächten
Ist kein ew’ger Bund zu flechten –
Und das Unglück schreitet schnell.‘ –

Noch waren kaum acht Tage in’s Land gegangen, Reh war seit zwei Tagen unwohl zu Hause geblieben und unsere drei Bekannten befanden sich in gewöhnlicher Thätigkeit auf ihren Expeditionsplätzen, Zehren unmittelbar am Zimmer des Chefs. Letzterer war eben mit Oeffnung der Postsachen beschäftigt. Plötzlich hört ihn von Zehren lebhaft den Stuhl zurückschieben und – ein Beweis großer Erregtheit – mit raschen Schritten auf- und abgehen. Unmittelbar darauf wurde die Thür schnell geöffnet und seine scharfe kurze Stimme rief: „Herr von Zehren, einen Augenblick!“ Das war bekanntes Wetterleuchten!

‚Ahnungsgrauend, todesmuthig‘ tritt Herr von Zehren ein. Der Dirigent überreicht ihm lakonisch zwei Schriften: „Was wissen Sie hiervon?“ – Zehren durchfliegt die erste und es wird ihm immer unheimlicher, denn in der Hand hält er eine Ministerialverordnung: „sofortige Bewandtnißanzeige über die Originalbeilage zu erstatten.“ Und diese Beilage? O Schrecken! Wie ‚Rehfüße‘ grinsen ihn drei Seiten lang die bekannten Schriftzüge an!

[304] Der überglückliche Beschenkte hatte leider, ohne Jemandem ein Wort davon zu sagen, in einem an das Ministerium gerichteten und diesmal wirklich abgesandten ersterbenden Danksagungsschreiben seinen zersprengenden Gefühlen von wegen des ihm laut hoher Verordnung d. d. allergnädigst gewährten außerordentlich gut passenden Frackes gründlich Luft gemacht!

Ein den Lippen unwillkürlich entflohenes: „Hat Der das für sich gemacht!“ bestätigte dem Beamten den Verdacht der Mitschuld und mit einem reuigen „pater peccavi!“ folgte dem Verlangen des Vorgesetzten gemäß – jedoch ohne Nennung des Copisten – eine ebenso offene wie specielle Darstellung des Sachverhaltes: daß man Reh, um ihn nicht zu verletzen, auf diesem (allerdings gewiß selten betretenen) Wege aus seiner Noth habe helfen wollen.

Das Wetter klärte sich, die beiden Mitinculpaten wurden gerufen und nachdem ihnen in wohlwollender Weise ihr in der Nachahmung des officiellen Weges und der Verordnung mit Unterschrift bestehender Fehler vorgehalten worden war, ihnen vom Dirigenten eröffnet, daß derselbe, da er ohnehin nächster Zeit den Minister habe aufsuchen wollen, dieses nun sofort thun und die Angelegenheit soweit möglich vermitteln wolle.

Es bleibt nur noch zu erwähnen, daß die mündliche Bewandtnißanzeige von gutem Erfolge gewesen sein muß, denn man hörte nichts wieder von der Sache. Ob Reh überhaupt den wahren Hergang erfahren hat, ist dem Verfasser, der kurz darauf versetzt wurde, unbekannt; er kann nur noch sagen, daß jener stets mit einer gewissen Ehrfurcht auf den ‚braunseiden Gefütterten‘ sah.
W.




Blätter und Blüthen.


Erzherzog Stephan und der Oberlieutenant. Der Erzherzog hielt sich still und zurückgezogen einige Zeit in einer Garnisonstadt Ungarns auf. Der vor Kurzem dort angekommene neue Commandant ward bald wegen seiner drakonischen Strenge sehr gefürchtet. Unter Anderm drang er auch unerbittlich auf die unter seinem Vorgänger etwas lax gehandhabte Verordnung, daß der Officier unter keiner Bedingung in Civilkleidung ausgehen dürfe, und in mehreren Fällen waren die Zuwiderhandelnden bereits mit geschärftem Arrest bestraft worden, dennoch ließ sich der Oberlieutenant von L. durch diese abschreckenden Beispiele nicht abhalten, dem Gebote eines Tages zuwider zu handeln. Die Frühlingssonne lockte so lieblich zu einem Ausflug auf ein nahes Dorf. Da vertauschte der junge Krieger, nachdem er von der Parade nach Hause gekommen war, die schwere unbequeme Militärkleidung mit dem leichten Oberrock und wanderte wohlgemuth dem Ziele seiner Wünsche zu, an dem er auch, ohne daß ihm ein Verräther begegnet wäre, glücklich ankam. Als er auf dem Rückweg begriffen, in die Nähe der Stadt gelangte, sah er zu seinem großen Schrecken den gestrengen Obersten aus der Ferne auf ihn zukommen. Was war da zu thun? Schon fühlte er im Geist, wie sich das Donnerwetter des oberstlichen Zornes über seinem Haupte entlud. Vergebens sah er sich nach einem Ausweg um. Es schien keiner zu finden, während der Gefürchtete immer drohender nahte. Doch halt – jetzt zeigte sich einer. Unmittelbar vor ihm wandelten zwei Spaziergänger in freundlichem Gespräch. Rasch drängte der Lieutenant sich zwischen sie, erzählte ihnen unter vielen Entschuldigungen den Grund seiner großen Verlegenheit und schloß die Bitte an, daß sie ihm gestatten möchten, in ihrer Mitte und im Gespräch mit ihnen den Weg fortzusetzen. Es wurde ihm freundlich gewährt.

Jetzt nahte der gefürchtete Oberst und der Herr Lieutenant wendete sich mit einem so angelegentlichen Gespräch an seinen Nachbar zur Rechten, daß er das tiefehrerbietige Compliment nicht gewahr wurde, mit welchem der Oberst die drei Wanderer begrüßte. Und so kam er denn, wie er wähnte, von den Argusaugen des Obersten unbemerkt in die Stadt und glaubte sich, da bis zum späten Abend keine Vorforderung vom Commando erfolgte, über alle Berge.

Doch er hatte sich getäuscht. Am andern Morgen wurde er bei guter Zeit durch eine Ordonnanz zum Obersten befohlen. Er folgte mit beklommenem Herzen.

Auf das Aergste gefaßt, war er nicht wenig erstaunt, als ihn der Oberst bei seinem Eintritt freundlich begrüßte und dann zwar ernst, aber nicht in leidenschaftlicher Hitze, wie er es vorausgesetzt hatte, ihm die Frage vorlegte:

„Wie haben Sie sich gestern unterstehen können, meinem ausdrücklichen Befehl entgegenzuhandeln?“

„Ach, entschuldigen Euere Gnaden,“ erwiderte darauf etwas ermuthigt der Uebelthäter, „entschuldigen Sie mich nur diesmal mit den vorliegenden Umständen. Es kamen gestern Nachmittag zwei Verwandte, die auf einer Reise begriffen sind, zu mir und forderten mich auf, sie auf einem Spaziergange zu begleiten. Da sie bald wieder von hier abreisen wollten, so war nicht lange Zeit zu verlieren, und so ging ich mit ihnen, wie ich gerade war. Wohl weiß ich, daß ich gefehlt habe, bitte aber nochmals um Ihre gnädige Entschuldigung.“

„S – o,“ entgegnete der Oberst, „das waren also ein paar Verwandte von Ihnen?“

„Ja wohl, Herr Oberst, sehr nahe Verwandte von meiner seligen Mutter her.“

„Das freut mich ungemein, daß Sie so angesehene Verwandtschaften haben, und um dieser Verwandten willen will ich diesmal Gnade für Recht ergehen lassen; aber hüten Sie sich vor einer ähnlichen Ausschreitung, sonst dürften Ihnen Ihre Verwandtschaften nicht wieder helfen; Ihre Strafe würde dann eine um so strengere sein.“

Der Lieutenant beurlaubte sich mit der Frage: „Haben der Herr Oberst noch etwas zu befehlen?“

„Allerdings,“ sagte derselbe in freundlichem Ton, „Sie sind heute mit mir zu Seiner kaiserlichen Hoheit dem Erzherzog Stephan zur Tafel befohlen. Stellen Sie sich pünktlich um drei Uhr ein.“

Unser Lieutenant war wie aus den Wolken gefallen; aber noch größer war seine Ueberraschung, als er bei dem Erzherzog eintrat und in ihm und seinem Adjutanten seine beiden gestrigen Spaziergangsgenossen, seine angeblichen nahen Verwandten, erkannte.

In großer Verlegenheit nahte er sich dem fürstlichen Gastgeber; dieser indessen ermuthigte ihn durch eine huldvolle Ansprache, schloß dann aber mit den Worten: „Na, es hat halter das Mal noch so gut gethan; hüten Sie sich aber vor einer Wiedervorfallenheit der Art, sonst werden’s ohne Gnade und Barmherzigkeit eingespiert.“




Berichtigung. In einem Theile der Auflage von Nr. 17 sind durch Irrthum unsers Berliner Berichterstatters vom Reichstage die Herren Stauß und Streit aus Sachsen der socialdemokratischen Partei zugezählt worden, während dieselben der nationalliberalen angehören und auf dem Reichstage überhaupt nicht mitgewirkt haben.




Freiligrath-Dotation.

Der unheimliche Druck der Befürchtung einer neuen Vernichtung des Völkerfriedens, einer Erschütterung des Volkswohlstandes und des Familienglücks von Millionen, der seit Monaten auf uns lastete, ist endlich gewichen, die Herzen sind wieder leichter, Regungen für wahrhaft Edles und Menschenwürdiges wieder zugänglich geworden. Darum wiederholen wir jetzt unsere Bitte an die deutschen Familien, an alle Bildungs-, Poesie- und Sangesfrohen deutschen Stammes und Gemüths, ihre Theilnahme dem Volksdank für Ferdinand Freiligrath, den treuen Volksmann und Dichter, nur um so wärmer zuzuwenden. Eine deutsche Stimme aus England ruft uns zu: „Alle, die sich an Freiligrath’s phantasievollen und gesinnungsstarken Dichtungen erfreut haben, Alle, welche die Gluth seiner farbenreichen Schilderungen, die Kraft seiner aus tiefem Born quellenden Gefühle, den tragischen Schwung seines Freiheitsgesanges zu bewundern fähig sind, werden freudig die Ueberzeugung aussprechen, daß ein Volksdank dem Dichter gebührt.“ Wir brauchen unseren Lesern nicht erst die Versicherung zu geben, daß Freiligrath trotz Verbannung und Lebenssorgen den Bestrebungen des deutschen Volks und des Fortschritts keinen Augenblick untreu geworden, daß er es endlich verdient hat, daß am nahenden Lebensabend mit dieser Anerkennung auch das Glück der Sorgenruhe ihn erfreue.

Bei der Redaction unsers Blattes gingen wieder ein: N. N. in Borna 1 Thlr., H. K. R. u. B. in Hamm 5 Thlr., Kleine Abendgesellschaft in Höchst a. M. 10 fl., dem wackern Streiter für die Rechte des Volkes, ein Arbeiter in Dresden 1 Thlr., Z. in Luckau 1 Thlr., N. N. in Meerane 10 Thlr., Friedr. Seiferdt in Plauen 1 Thlr., C. Zs. in Braunschweig 2 Thlr., E. B. M. in Leipzig 2 Thlr., B. S. in Leipzig 1 Thlr., dem überzeugungstreuen Sänger und Verbannten ein deutsches Mädchen 1 Thlr. – Ein Verehrer Freiligrath’s in Neustadt a. W. N. 20 fl. rhn.




Inhalt: Die Herrin von Dernot. Novelle von Edmund Hoefer. (Fortsetzung und Schluß.) – Der erste Schritt. Von Fr. Hofmann. Mit Illustrationen nach C. E. Böttcher. – „Gegenüber dem Jülichs-Platz“.– Beim kleinen Thiers. – Auch eine Industrie-Ausstellung. Mit Abbildung. – Lust und Leid aus dem Amts- und Geschäftsleben. Nr. 1. Ein officieller Frack. – Blätter und Blüthen: Erzherzog Stephan und der Oberlieutenant. – Berichtigung. – Freiligrath-Dotation.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 18 enthalten: Auch ein deutscher Erfinder. – Umschau: Der weibliche Beruf und die heutige Mode. – Das furchtbarste Mordgewehr. – Ein politischer Proceß. – Heilige der allerjüngsten Tage. – Ein Andenken an den ersten norddeutschen Reichstag. – Lamartine und die Caricatur. – Pietistische Moral und Logik.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir geben mit unserer Illustration „Glückliche Menschen in der Hütte“ das S. 128 versprochene Seitenstück zu dem in Nr. 8 mitgetheilten Bilde der „Glückliche Menschen im Schloß“. Der Künstler, „C. E. Böttcher“ in Düsseldorf, liefert damit den Beweis, wie trefflich er seine Augen darauf abgerichtet hat, das wahre Glück auch in den verborgensten, unscheinlichsten Winkeln zu suchen. Das Original auch dieses Bildes befindet sich in Liverpool.
    D. Redaction.
  2. Unter dieser Rubrik eröffnen wir eine Reihe wahrer Erzählungen, die das Leben auf dem Bureau und in der Geschäftsstube charakterisiren. Da einige der bei dieser ersten Skizze betheiligten Personen, wenn auch nicht die Hauptperson mehr, noch am Leben sind, so hat der Verfasser die wirklichen Namen der Betheiligten und des Ortes durch andere ersetzt.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Nach Johann Wolfgang von Goethe, Egmont, 3. Akt:

    „Langen
    Und Bangen
    In schwebender Pein,
    Himmelhoch jauchzend,
    Zum Tode betrübt,…“