Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[337]

No. 22.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


4.

Unterdeß stellte Friederike einen kleinen Zinnteller mit einem Kinder-Eßbesteck und einer frischen Serviette auf den Tisch. Zugleich klingelte es draußen, und gleich darauf öffnete Heinrich die Zimmerthür und ließ einen kleinen, ungefähr siebenjährigen Knaben eintreten.

„Guten Abend, Papa!“ rief der Kleine und schleuderte die Schneeflocken von seiner Pelzmütze.

Hellwig nahm den blonden Kopf seines Kindes zärtlich zwischen seine Hände und küßte es auf die Stirn.

„Guten Abend, mein Junge,“ sagte er; „nun, war es hübsch bei Deinem kleinen Freund?“

„Ja; aber der dumme Heinrich hat mich viel zu früh geholt.“

„Das hat die Mama so gewünscht, mein Kind… Komm her, Nathanael, sieh Dir einmal dies kleine Mädchen an – es heißt Fee“

„Dummheit! .. wie kann sie denn ‚Fee‘ heißen – das ist ja gar kein Name!“

Hellwig’s Auge streifte gerührt über das kleine Geschöpfchen, das Elternzärtlichkeit selbst mittels des Rufnamens poetisch zu verklären gesucht hatte.

„Ihr Mütterchen hat sie so genannt, Nathanael,“ sagte er weich; „sie heißt eigentlich Felicitas… Ist sie nicht ein armes, armes Ding? Ihre Mama ist heute begraben worden; sie wird nun bei uns wohnen und Du wirst sie lieb haben, wie ein Schwesterchen, gelt?“

„Nein, Papa, ich will kein Schwesterchen haben.“

Der Knabe war das treue Abbild seiner Mutter. Er hatte schöne Züge und einen merkwürdig klaren, rosigen Teint; aber er hatte auch die häßliche Gewohnheit, das Kinn auf die Brust zu drücken und mit seinen großen Augen unter der gewölbten Stirn hervor nach oben zu schielen, was ihm einen Ausdruck von Heimtücke und Verschlagenheit gab. In diesem Augenblick bog er den Kopf noch tiefer als sonst gegen die Brust, hob den rechten Ellenbogen wie zu trotziger Abwehr in die Höhe und sah unter demselben mit einem bösartigen Ausdruck nach dem fremden Kind hinüber.

Die Kleine stand dort und zog und zerrte verlegen an ihrem Röckchen; der bedeutend größere Junge imponirte ihr offenbar, aber allmählich kam sie näher, und ohne sich durch seine gehässige Stellung abschrecken zu lassen, griff sie mit leuchtenden Augen nach dem Kindersäbel, der an seinem Gürtel hing. Er stieß sie zornig zurück und lief seiner Mutter entgegen, die eben wiedereintrat.

„Ich will aber kein Schwesterchen haben!“ wiederholte er weinerlich. „Mama, schicke das ungezogene Mädchen fort; ich will allein sein bei Dir und dem Papa!“

Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und trat hinter ihren Stuhl am Eßtisch.

„Bete, Nathanael!“ gebot sie eintönig und faltete die Hände. Sofort fuhren die zehn Finger des Knaben in einander; er senkte demüthig den Kopf und sprach ein langes Tischgebet… Unter den obwaltenden Umständen war dies Gebet die abscheulichste Profanation einer schönen, christlichen Sitte.

Der Hausherr rührte das Essen nicht an. Auf seiner sonst so blassen Stirn lag die Röthe innerer Aufregung, und während er mechanisch mit der Gabel spielte, flog sein getrübter Blick unruhig über die mürrischen Gesichter der Seinen. Das kleine Mädchen ließ es sich dagegen vortrefflich schmecken. Sie steckte einige Bonbons, die er neben ihren Teller gelegt hatte, gewissenhaft in ihr Täschchen.

„Das ist für Mama,“ sagte sie zutraulich; „die ißt Bonbons zu gern; Papa bringt ihr immer ganze, große Düten voll mit.“

„Du hast gar keine Mama!“ rief Nathanael feindselig herüber.

„O, das weißt Du ja gar nicht!“‘ entgegnete die Kleine sehr aufgeregt. „Ich habe eine viel schönere Mama, als Du!“

Hellwig sah tieferschrocken und scheu nach seiner Frau, und seine Hand hob sich unwillkürlich, als wolle sie sich auf den kleinen, rosigen Mund legen, der das eigene Interesse so schlecht zu wahren verstand.

„Hast Du für ein Bettchen gesorgt, Brigittchen?“ fragte er hastig, aber mit sanfter, bittender Stimme.

„Ja.“

„Und wo wird sie schlafen?“

„Bei Friederike.“

„Wäre nicht so viel Platz – wenigstens für die erste Zeit – in unserem Schlafzimmer?“

„Wenn Du Nathanael’s Bett hinausschaffen willst, ja.“

Er wandte sich empört ab und rief das Dienstmädchen herein.

„Friederike,“ sagte er, „Du wirst des Nachts dies Kind unter Deiner Obhut haben – sei gut und freundlich mit ihm; es ist eine arme Waise und an die Zärtlichkeit einer guten, sanften Mutter gewöhnt.“

„Ich werde dem Mädchen nichts in den Weg legen, Herr Hellwig,“ entgegnete die Alte, die offenbar gehorcht hatte; „aber ich bin ehrlicher Leute Kind und hab’ in meinem ganzen Leben nichts [338] mit Spielersleuten zu schaffen gehabt – wenn man nur wenigstens wüßte, ob die Menschen getraut gewesen sind.“

Sie schielte hinüber nach Frau Hellwig und erwartete ohne Zweifel einen belobenden Blick für ihre „herzhafte“ Antwort, allein die Madame band eben Nathanael die Serviette ab und sah überhaupt drein, als sähe und hörte sie von dem ganzen Handel nichts.

„Das ist stark!“ rief Hellwig entrüstet. „Muß ich denn erst heute erfahren, daß in meinem ganzen Hause weder Mitleiden, noch Erbarmen zu finden ist? Und Du meinst, Du dürfest unbarmherzig sein, weil Du ehrlicher Leute Kind bist, Friederike? … Nun, zu Deiner Beruhigung sollst Du wissen, daß die Leute in rechtlicher Ehe gelebt haben; aber ich sage Dir auch hiermit, daß ich von nun an sehr streng mit Dir verfahren werde, sobald ich merke, daß Du dem Kind irgendwie zu nahe trittst.“

Es schien, als sei er des Kampfes müde. Er stand auf und trug die Kleine in die Kammer der Köchin. Sie ließ sich gutwillig zu Bett bringen und schlief bald ein, nachdem sie mit süßer Stimme für Papa und Mama, für den guten Onkel, der sie morgen wieder zu Mama tragen werde, und – für „die große Frau mit dem bösen Gesicht“ gebetet hatte.

Spät in der Nacht ging Friederike zu Bett. Sie war zornig, daß sie so lange hatte aufbleiben müssen, und rumorte rücksichtslos in der Kammer. Die kleine Felicitas fuhr jäh aus dem Schlaf empor; sie setzte sich im Bett auf, strich die wirren Locken aus der Stirn, und ihre Augen glitten angstvoll suchend über die räucherigen Wände und dürftigen Möbel der engen, schwach beleuchteten Kammer.

„Mama, Mama!“ rief sie mit lauter Stimme.

„Sei still, Kind, Deine Mutter ist nicht da; schlaf’ wieder ein,“ sagte die Köchin mürrisch, während sie sich entkleidete.

Die Kleine sah erschreckt zu ihr hinüber; dann fing sie an, leise zu weinen – sie fürchtete sich offenbar in der fremden Umgebung.

„Na, jetzt heult die Range auch noch, das könnte mir fehlen – gleich bist Du still, Du Komödiantenbalg!“ Sie hob drohend die Hand. Die Kleine steckte erschrocken das Köpfchen unter die Decke.

„Ach, Mama, liebe Mama,“ flüsterte sie, „wo bist Du nur? Nimm mich doch in Dein Bett – ich fürchte mich so … ich will auch ganz artig sein und gleich einschlafen… Ich habe Dir auch etwas aufgehoben, ich habe nicht Alles gegessen – Fee bringt Dir etwas mit, liebe Mama… Oder gieb mir nur Deine Hand, dann will ich in meinem Bettchen bleiben und –“

„Bist Du wohl still?“ schrie Friederike und rannte wie wüthend nach dem Bett des Kindes… Es rührte sich nicht mehr – nur dann und wann drang ein unterdrücktes Schluchzen unter der Decke hervor.

Die alte Köchin schlief längst den Schlaf des Gerechten, als das arme Kind, die aufgeschreckte Sehnsucht im kleinen Herzen, noch leise nach der todten Mutter jammerte.


5.

Hellwig war Kaufmann. Erbe eines bedeutenden Vermögens, hatte er dasselbe durch verschiedene industrielle Unternehmungen noch vermehrt. Er zog sich jedoch, weil er kränkelte, ziemlich frühe aus der Geschäftswelt zurück und privatisirte in seiner kleinen Vaterstadt. Der Name Hellwig hatte da einen gewichtigen Klang. Die Familie war seit undenklichen Zeiten eine der angesehensten, und durch viele Generationen hindurch hatte immer einer der Träger des geachteten Namens irgend ein Ehrenamt der Stadt bekleidet. Der schönste Garten vor den Thoren des Städtchens und das Haus am Markt waren seit Menschengedenken im Besitz der Familie. Das Haus bildete die Ecke des Marktplatzes und einer steil bergauf steigenden Straße, und an dieser Ecke lief die stattliche Fronte des Gebäudes in einen weit hervorspringenden Erker aus. In den zwei oberen Stockwerken hingen Jahr aus, Jahr ein schneeweiße Rouleaux hinter den Scheiben; nur dreimal im Jahr, und dann stets einige Tage vor den hohen Festen verschwanden die Hüllen – es wurde gelüftet und gescheuert. Die mächtigen, erzenen Drachenköpfe hoch oben am Dach, die das Regenwasser aus der Dachrinne hinunter auf das Pflaster spieen, die Vögel, die vorüber flatterten, sahen dann die aufgespeicherten Schätze des alten Kaufmannshauses, sahen die altmodische Pracht der Zimmer – jene hohen Schränke von kostbarer, eingelegter Arbeit mit den blitzenden Schlössern und Handhaben, die reichen, seidendamastenen Ueberzüge auf den strotzenden Daunenkissen der Kanapees und den hochgepolsterten Stühlen, die deckenhohen, in die Wand eingefügten venetianischen Spiegel, und in den Kammern die hochaufgestapelten Gastbetten, deren feinen Leinenüberzügen ein starker Lavendelduft entquoll.

Diese Räume wurden nicht bewohnt. Es war niemals Sitte in der Familie Hellwig gewesen, einen Theil des geräumigen Hauses zu vermiethen. Durch alle Zeiten hatte da droben vornehmes, feierliches Schweigen geherrscht, das nur unterbrochen wurde durch eine glänzende Hochzeit oder Kindtaufe, und im Lauf des Jahres dann und wann durch den hallenden Schritt der Hausfrau, die dort ihre Leinenschätze, ihr Silber- und Porcellangeschirr verwahrt hielt.

Frau Hellwig war als zwölfjähriges Kind in dies Haus gekommen. Die Hellwig’s waren ihr verwandt und nahmen sie auf, als ihre Eltern rasch hintereinander starben und sie und ihre Geschwister mittellos hinterließen. Das junge Mädchen hatte einen schweren Stand der alten Tante gegenüber, die eine strenge und stolze Frau war. Hellwig, der einzige Sohn des Hauses, empfand anfänglich Mitleiden für sie, später aber verwandelte sich die Theilnahme in Liebe. Seine Mutter war entschieden gegen seine Wahl, und es kam deshalb zu schlimmen Auftritten, allein der Liebende setzte schließlich seinen Willen durch und führte das Mädchen heim. Er hatte die mürrische Schweigsamkeit der Geliebten für mädchenhafte Schüchternheit, ihre Herzenskälte für sittliche Strenge, ihren starren Sinn für Charakter gehalten und stürzte mit dem Eintritt in die Ehe aus all’ seinen Himmeln. Binnen Kurzem fühlte der gutmüthige Mann die eiserne Faust einer despotischen Seele im Genick, und da, wo er dankbare Hingebung gehofft hatte, trat ihm plötzlich der crasseste Egoismus entgegen.

Seine Frau schenkte ihm zwei Kinder, den kleinen Nathanael und seinen um acht Jahre älteren Bruder Johannes. Den Letzteren hatte Hellwig schon als elfjähriges Kind zu einem Verwandten, einem Gelehrten, gebracht, der am Rhein lebte und Vorstand eines großen Knabeninstituts war.

Das waren Hellwig’s Familien-Verhältnisse zu der Zeit, wo er das Kind des Taschenspielers in sein Haus nahm. Das schreckliche Ereigniß, dessen Zeuge er gewesen war, hatte ihn tief erschüttert. Er konnte den flehenden, unsäglich schmerzlichen Blick der Unglücklichen nicht vergessen, als sie gedemüthigt in seiner Hausflur gestanden und seinen Thaler in Empfang genommen hatte. Sein weiches Herz litt unter dem Gedanken, daß es vielleicht sein Haus gewesen war, wo das arme Weib den letzten verwundenden Stachel ihrer unglückseligen Lebensstellung hatte empfinden müssen. Als daher der Pole ihm die letzte Bitte der Verstorbenen mittheilte, da erbot er sich rasch, das Kind erziehen zu wollen. Erst, als er auf die dunkle Straße hinaus trat, wohin ihm der letzte, herzzereißende Abschiedsruf des unglücklichen Mannes nachscholl und wo die Kleine, ihre Aermchen fester um seinen Hals schlingend, nach der Mama frug, erst da dachte er an den Widerspruch, der ihn voraussichtlich daheim erwartete; allein er rechnete auf den Liebreiz des Kindes und auf den Umstand, daß seiner eigenen Ehe ja ein Töchterchen versagt sei – er hatte trotz aller schlimmen Erfahrungen noch immer keinen vollkommenen Begriff von dem Charakter seines Weibes, sonst hätte er sofort umkehren und das Kind in die Arme des Vaters zurückbringen müssen.

War bis dahin das Verhältniß zwischen Hellwig und seiner Frau ein frostiges gewesen, so hatte es jetzt nach der Aufnahme der kleinen Waise den Anschein, als seien granitne Mauern zwischen dem Ehepaar aufgestiegen. Im Hause ging zwar Alles seinen Gang unbeirrt fort. Frau Hellwig wanderte täglich mehrere Mal durch die Haus- und Wirthschaftsräume – sie hatte durchaus keinen schwebenden Gang, und für ein feines, oder gar ein ängstliches Ohr hatten diese harten, festen Schritte etwas Nervenaufregendes. Fortwährend glitt dabei ihre rechte Hand über Möbel, Fenstersimse und Treppengeländer – es war ein unbezwinglicher Hang, eine Manie dieser Frau, die große, weiße Hand mit den kolbigen Fingerspitzen und den breiten Nägeln über Alles hinstreifen zu lassen und dann die innere Fläche sorgsam zu prüfen, ob nicht Staub-Atome, oder das verpönte Fädchen eines Spinnwebenversuchs daran hänge… Es wurde gebetet nach wie vor, und die Stimmen, die Gottes ewige Liebe und Barmherzigkeit priesen, die sein Gebot wiederholten, nach welchem wir selbst unsere Feinde [339] lieben sollen, sie klangen genau so eintönig und unbewegt wie vorher auch. Man nahm die Mahlzeiten gemeinschaftlich ein, und Sonntags schritt das Ehepaar einträchtig nebeneinander zur Kirche, aber Frau Hellwig vermied es mit eiserner Consequenz, ihren Mann anzureden. Sie fertigte seine Annäherungsversuche mit der knappesten Kürze ab und machte es möglich, stets neben oder über der kleinen Gestalt des Hausherrn hinwegzusehen. Ebenso wenig existirte der kleine Eindringling für sie. Sie hatte an jenem stürmischen Abend der Köchin ein für allemal befohlen, täglich eine Portion Essen mehr anzurichten und in die Kammer derselben einige Bettstücken nebst Leinzeug geworfen. Den kleinen Koffer mit Felicitas’ Habseligkeiten, den unterdeß der Hausknecht aus dem Löwen gebracht, mußte Friederike vor den Augen der Hausfrau öffnen und die äußerst sauber gehaltene kleine Garderobe, welcher der Hauch eines sehr feinen Odeurs entquoll, sofort auf einen offenen Gang zum Auslüften hängen… Hiermit begann und beschloß sie die ihr aufgedrungene Fürsorge für das „Spielerskind“, und als sie darnach wieder in das Zimmer trat, war sie mit diesem Capitel innerlich fertig für alle Zeiten. Nur ein einziges Mal schien es, als ob ein Funke von Theilnahme in ihr aufglimme. Eines Tages nämlich saß eine Nähterin im Wohnzimmer und fertigte aus einem dunklen Stoff zwei Kleider für Felicitas, genau nach dem strengen Schnitt, wie die Frau des Hauses sich trug. Zu gleicher Zeit preßte Frau Hellwig die widerstrebende Kleine zwischen ihre Kniee und bearbeitete deren Kopf so lange mit Bürste, Kamm und Pomade, bis das wundervolle Lockengeringel die erwünschte Glätte und Nachgiebigkeit erhielt und sich in zwei häßliche, steife Zöpfe am Hinterkopf zwängen ließ… Die Abneigung dieses Weibes gegen Grazie und Anmuth, gegen Alles, was wider die Gebote ihrer verknöcherten Ansichten stritt und was seine Linien und Formen aus dem Gebiet des Idealen entnahm – jener Widerwille war stärker noch als ihr Starrsinn, als der Vorsatz, die Anwesenheit des Kindes im Hause völlig zu ignoriren. … Hellwig hätte weinen mögen, als ihm sein kleiner Liebling so entstellt entgegentrat, während seine Frau nach der Sühne, die ihr schönheitsfeindlicher Sinn gebieterisch verlangt hatte, womöglich noch zurückweisender gegen das Kind war, als vorher.

Noch war indeß die Kleine nicht zu beklagen; noch konnte sie aus dem Bereich jener Medusenaugen flüchten an ein warmes Herz – Hellwig liebte sie wie seine eigenen Kinder. Freilich fand er nicht den Muth, dies offen auszusprechen – seinen Fond von Energie hatte er an jenem ereignißvollen Abend seiner Frau gegenüber völlig erschöpft – aber sein Auge wachte unablässig über Felicitas. Gleich Nathanael hatte sie ihr Spielwinkelchen in ihres Pflegevaters Zimmer; dort durfte sie ungestört ihre Puppen herzen und sie einwiegen mit den Melodieen, die sie noch gelernt hatte auf den Knieen der Mutter. Nathanael ging nicht in die öffentliche Schule; er erhielt seinen Unterricht von Privatlehrern unter den Augen des Vaters, und als Felicitas ihr sechstes Jahr erreicht hatte, begann dieser Unterricht auch für sie. Sobald. aber der Schnee schmolz und Crocus und Schneeglöckchen die noch leeren, schwarzen Rabatten besäumten, wanderte Hellwig täglich mit den Kindern hinaus in seinen großen Garten; da draußen wurde gelernt und gespielt, während man nur zur Essenszeit das Haus am Marktplatz aufsuchte. Frau Hellwig betrat sehr selten den Garten; sie zog es vor, mit dem Strickstrumpf in ihrer großen, stillen Stube, hinter dem makellos weißen, in regelrechte Fältchen gebrochenen Fenstervorhang zu sitzen, und zu diesem Vorzug hatte sie einen ganz besonderen Grund. Ein Vorfahr Hellwig’s hatte den Garten in altfranzösischem Stil angelegt. Es war sicher eine Meisterhand gewesen, von welcher die rings vertheilten, lebensgroßen mythologischen Figuren und Gruppen aus Sandstein herrührten. Freilich hoben sich die hellen Gestalten scharf ab von den düsteren, steifen Taxuswänden. Die reizenden, aber ziemlich unverhüllten Formen einer Flora, die entblößten, zarten Schultern und Arme der sich sträubenden Proserpina und die muskulöse Nacktheit ihres gewaltigen Entführers mußten den Blick des Eintretenden sogleich auf sich ziehen – und das waren in der That Steine des Anstoßes für Frau Hellwig. Sie hatte anfänglich die Hinwegschaffung dieser „sündhaften Darstellung des menschlichen Leibes“ gebieterisch verlangt, allein Hellwig rettete seine Lieblinge durch Vorzeigung des väterlichen Testamentes, in welchem ausdrücklich die Entfernung der Statuen untersagt wurde. Hierauf hatte Frau Hellwig nichts Eiligeres zu thun, als zu Füßen der mythologischen Zankäpfel eine Wildniß von Schlingpflanzen anlegen zu lassen, und nicht lange dauerte es, so erschien Herrn Pluto’s grimmiges Gesicht unter einer ehrwürdigen, grünen Allongeperrücke. Eines schönen Morgens aber riß Heinrich auf Befehl seines Herrn mit einem wahren Wonnegefühl die grünen Schmarotzer bis auf das kleinste Wurzelfäserchen aus der Erde, und seit der Zeit vermied es Frau Hellwig im Interesse ihres Seelenheiles, noch mehr aber darum, weil die Statuen hohnlächelnde Zeugen ihrer Niederlagen waren, den Garten zu betreten. Gerade deshalb wurde er aber auch die eigentliche Heimath der kleinen Felicitas.

Hinter den vornehmen Taxuswänden dehnte sich ein großer, prächtiger Rasenfleck. Riesige Nußbäume senkten die Stämme tief ein in das blumengesprenkelte Gras, und ein rauschender Mühlbach durchschnitt zum Theil die grüne Fläche; seine Borden umsäumte dichtes Haselgesträuch, und der kleine, beraste Damm, den man zum Schutz gegen das im Frühling reißende Gewässer aufgeworfen hatte, schimmerte im Mai gelb von Schlüsselblumen, und später lugten die rosenrothen Aeuglein der Feldnelken zwischen den wehenden Halmen.

Felicitas lernte unermüdlich und saß mit merkwürdig beherrschter Haltung in den Lehrstunden. Wenn aber Hellwig am späten Nachmittag den Unterricht für beendet erklärte, dann erschien sie plötzlich völlig umgewandelt. Noch hochroth vom Lerneifer war sie doch wie toll, wie berauscht von der Freiheit; sie konnte immer und immer wieder mit hochgehobenen Armen, wie ohne Zweck und Ziel über den Rasenplatz jagen, ungebändigt, in wilder Grazie, wie das junge Roß der Steppe. Dann glitt sie blitzschnell am Stamm eines Nußbaumes empor, tauchte den Kopf, umwogt von aufgelösten Haarmassen, jauchzend aus der höchsten Spitze des Wipfels und lag dann plötzlich wieder drunten am Mühlbach; die gefalteten Hände unter den Kopf gelegt und in das grüne Düster der droben leise auf und abwehenden, gefiederten Nußblätter schauend, träumte sie, träumte jene hellen, trügerischen Gebilde von Welt und Zukunft, die sich wohl hinter jeder lebhaft denkenden Kinderstirn aus gehörten goldenen Märchen und der eigenen Einbildungskraft zusammenweben… Drunten rauschte das Wasser eintönig vorüber; die Sonnenstrahlen taumelten auf den Wellen und drangen gedämpft durch die dunklen Haselbüsche, wie halbverschleierte, geheimnißvolle Gluthaugen; Bienen und Hummeln summten vorüber, und die Schmetterlinge, die im Vordergarten gelangweilt die sorgfältig gepflegten, exotischen Gewächse umflattert hatten, fanden hier das gelobte Land und hingen sich furchtlos an die Blumenkelche, dicht neben der Wange des kleinen Mädchens …

Es zogen wohl auch phantastisch geformte, weiße, leuchtende Wölkchen droben über den Baumwipfel – dann stand plötzlich eine räthselhafte Vergangenheit vor den Augen des tief sinnenden Kindes. Weiß und leuchtend war ja auch das Gewand der Mutter gewesen; das Kerzenlicht hatte sich förmlich in dem milchweißen Glanz des Stoffes gespiegelt, der lang und mit Blumen bestreut über das vermeintliche schmale Bett herabgeflossen war. Felicitas. wunderte sich noch immer, daß die Mutter Blumen in den Händen gehabt und ihr keine einzige geschenkt hatte; sie grübelte und sann, weshalb man ihr damals nicht erlauben wollte, die Mama wach zu küssen, was doch sonst jeden Morgen unter gegenseitiger Schelmerei, zum großen Jubel des Kindes hatte geschehen dürfen – sie wußte nicht, daß das bezaubernde Mutterantlitz, welches sich stets in leidenschaftlicher Zärtlichkeit über sie herabgeneigt, längst unter der Erde moderte. Hellwig hatte nie gewagt, ihr die Wahrheit zu sagen; denn wenn sie auch nach einem Zeitraum von fünf Jahren nicht mehr so bitterlich weinend und mit stürmischer Heftigkeit nach den Eltern verlangte, so sprach sie doch stets mit rührender Zärtlichkeit von ihnen und hielt ihres Pflegevaters doppelsinniges Versprechen, daß sie die Ihrigen dereinst wiedersehen werde, mit unzerstörbarer Ueberzeugung fest. Ebenso wenig kannte sie den Beruf ihres Vaters; er selbst hatte es so gewünscht, und deshalb sah Hellwig streng darauf, daß Niemand im Hause mit der Kleinen von der Vergangenheit spreche. Es fiel ihm nicht ein, daß der wohlthätige Schleier, den er vor ihren Augen festhielt, vor der Zeit seiner Hand entfallen könne – er dachte nicht an seinen eigenen Tod; und doch schritt dies furchtbare Gespenst längst unhörbar, aber sicher neben ihm. Er war unheilbar brustleidend, allein wie alle derartige Kranken hatte er die unerschütterlichsten Lebenshoffnungen. Er mußte bereits auf dem Rollstuhl [340] in seinen geliebten Garten gefahren werden – das nannte er vorübergehende Schwäche, die ihn durchaus nicht hinderte, großartige Bau- und Reisepläne zu entwerfen.

Eines Nachmittags trat Doctor Böhm in Hellwig’s Zimmer. Der Kranke saß an seinem Schreibtisch und schrieb emsig; verschiedene Kissen, die man hinter seinem Rücken und zu beiden Seiten in den Lehnstuhl gesteckt hatte, hielten die abgezehrte, gebrechliche Gestalt aufrecht.

„Heda!“ rief der Doctor, indem er mit dem Stock drohte; „Was sind denn das für Extravaganzen? … Wer, in’s Henkers Namen, hat Dir denn das Schreiben erlaubt? Willst Du wohl gleich die Feder hinlegen?“

Hellwig drehte sich um – ein heiteres Lächeln spielte um seine Lippen.. „Da hast Du wieder einmal das Exempel!“ erwiderte er sarkastisch. „Doctor und Tod gehören zusammen… Ich schreibe da an den Jungen, den Johannes, über die kleine Fee, und da fällt mir, der ich in meinem ganzen Leben nie weniger an’s Sterben gedacht habe, als gerade jetzt, in dem Augenblick, wo Du in’s Haus trittst, der Satz da aus der Feder.“

Der Doctor bog sich nieder und las laut: „Ich halte viel von Deinem Charakter, Johannes, und würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir anvertraute Kind in Deine Hände legen, falls ich früher aus der Welt gehen sollte, als –“

„Basta, und nun für heute kein Wort weiter!“ sagte der Lesende, während er einen Kasten aufzog und den halbvollendeten Brief hinein legte. Dann griff er rasch nach dem Puls des Kranken, und sein Blick glitt verstohlen über die zwei cirkelrunden, rothen Flecken, die auf den scharf hervortretenden Backenknochen glühten.

„Du bist wie ein Kind, Hellwig!“ schalt er. „Ich darf nur den Rücken wenden, so machst Du sicher dumme Streiche.“

„Und Du tyrannisirst mich himmelschreiend. Aber warte nur, mit nächstem Mai brenne ich Dir durch und dann magst Du mir meinetwegen bis in die Schweiz nachlaufen.“

Tags darauf standen die Fenster des Krankenzimmers im Hellwig’schen Hause weit offen. Ein durchdringender Moschusduft quoll heraus in die Straße, und ein Mann in Trauerkleidung schritt durch die Stadt, um den Honoratioren im Auftrag der trauernden Wittwe anzuzeigen, daß Herr Hellwig vor einer Stunde das Zeitliche gesegnet habe.


6.

Unter dem grünverhangenen, nach der Hausflur mündenden Fenster, da, wo vor fünf Jahren die schöne, unglückliche Frau des Taschenspielers die Pein tiefer Demüthigung erlitten hatte, stand der Sarg mit Hellwig’s sterblichen Ueberresten. Man hatte die Hülle des ehemaligen Kauf- und Handelsherrn noch einmal mit allem Glanz des Reichthums umgeben. Massiv silberne Handhaben schimmerten am Todtenschrein, und das Haupt des Heimgegangenen ruhte auf einem weißen Atlaskissen. – Schrecklicher Contrast! Neben dem eingefallenen Todtengesicht dufteten frisch abgeschnittene Blumen, junges, unschuldiges Leben, bestimmt, vor der Zeit zu sterben zur Ehre des Todten!

Viele Leute kamen und gingen, flüsternd und geräuschlos. Der da lag, war ein reicher, angesehener und sehr freigebiger Mann gewesen, aber nun war er ja todt. Fast Aller Augen huschten, scheu und rasch über die bleichen, zerstörten Züge und konnten sich nicht satt sehen an dem Prunk, dem letzten Aufflackern irdischer Herrlichkeit.

Felicitas kauerte in einer dunkeln Ecke, hinter den Kübeln mehrerer Oleander und Orangenbäume. Zwei Tage hatte sie den Onkel nicht sehen dürfen, das Sterbezimmer war fest verschlossen gewesen, und nun kniete sie da auf den kalten Steinfließen und starrte hinüber auf dies völlig fremde Haupt, dem der Tod selbst das Gepräge unbegrenzter Gutmüthigkeit weggewischt hatte. … Was hatte das Kind vom Sterben gewußt! Sie war in seinen letzten Augenblicken bei ihm gewesen und hatte doch nicht verstanden, daß mit dem Blutstrom, der über seine Lippen geflossen, plötzlich Alles enden müsse. Er hatte die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf sie geheftet, als sie aus dem Zimmer geschickt worden. Draußen in der Straße war sie tief besorgt und zornig vor den weit offenen Fenstern des Krankenzimmers auf und ab gelaufen – sie wußte ja, er hütete sich ängstlich vor jedem Zuglüftchen, und nun waren sie so rücksichtslos da drinnen. Sie hatte sich gewundert, daß Abends kein Feuer im Kamin gemacht werde, und auf ihre endliche Bitte, dem Onkel die Lampe und den Thee hineintragen zu dürfen, hatte Friederike ärgerlich gerufen: „Ja, Kind, ist’s denn nicht richtig bei Dir, oder verstehst Du kein Deutsch? Er ist ja todt, todt!“ Nun sah sie ihn wieder, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und jetzt erst fing das Kind an, zu begreifen, was Tod sei.

Sobald, ein frischer Strom Neugieriger die Hausflur füllte, kam Friederike aus der Küche, hielt den Schürzenzipfel vor die Augen und pries die Tugenden des Mannes, den sie zu ärgern gesucht hatte, wo sie konnte.

„Da seh’ Einer das Mädchen an!“ unterbrach sie sich zornig, als sie Felicitas’ blasses Gesichtchen mit den heißen, trockenen Augen zwischen den Orangenbäumen entdeckte. „Ob sie auch nur eine einzige Thräne vergießt! .… Undankbares Ding! Sie muß doch auch keinen Funken von Liebe in sich haben!“

„Du hast ihn nie lieb gehabt und weinst, Friederike!“ entgegnete die Kleine schlagend, aber mit völlig tonloser Stimme und zog sich tiefer in ihre Ecke zurück.

Die Hausflur leerte sich allmählich. Statt der Schaulustigen aus den niederen Ständen, die sich jetzt draußen auf dem Markt postirten, um den Leichenzug mit anzusehen, erschienen vornehme, schwarzbefrackte Herren; sie gingen, nach kurzem Aufenthalt am Sarge, in das Wohnzimmer, um der Wittwe ihr Beileid auszusprechen. In der großen, hochgewölbten Flur herrschte augenblickliche Stille, sie hätte eine feierliche genannt werden können, wäre sie nicht hier und da durch das Stimmengesurr drin im Zimmer unterbrochen worden.

Da fuhr die kleine Felicitas jäh aus ihrem tiefen Sinnen auf und starrte erschrocken nach der Glasthür, die in den Hofraum führte. Dort hinter den Scheiben erschien ein merkwürdiges Gesicht, – er lag doch hier mit den tiefeingesunkenen Augen und den unbekannten Zügen um den festgeschlossenen Mund, und dort blickte er forschend in die menschenleere Flur, wiedererstanden mit dem gütevollen Ausdruck des Gesichts, wenn auch der Kopf in fremdartiger Weise umhüllt erschien … War es doch fast gespenstig, als das Thürschloß sich leise bewegte und gleich darauf die Thür geräuschlos aufging. … Die seltsame Erscheinung trat auf die Schwelle. Ja, es waren Hellwig’s Züge in frappanter Aehnlichkeit, aber sie gehörten einem weiblichen Wesen, einer kleinen alten Dame, die in wunderlicher, dem Reich der Mode längst entrückter Tracht langsam auf den Sarg zuschritt. Ein sogenanntes Zwickelkleid von schwerem schwarzen Seidenstoff, vollkommen faltenlos, spannte sich förmlich über sehr eckige, magere Formen; es war kurz und ließ ein Paar wunderkleiner Füßchen sehen, die jedoch ziemlich unsicher auftraten. Ueber der Stirn kräuselte sich eine Fülle schöngeordneter, schneeweißer Locken, und darüber lag ein klar durchsichtiges schwarzes Spitzentuch, das unter dem Kinn gebunden war.

Die alte Dame bemerkte das Kind nicht, das unbeweglich und athemlos zu ihr aufsah, und trat an den Sarg heran. Sie fuhr bei Erblicken des Todtenantlitzes sichtlich entsetzt zurück, und ihre linke Hand ließ wie unbewußt ein Bouquet köstlicher Blumen auf die Brust der Leiche fallen. Einen Augenblick verbarg sie ihre Augen im Taschentuch, dann aber legte sie die Rechte tief erschüttert, in feierlich beschwörender Weise auf die kalte Stirn des Todten.

„Weißt Du nun, wie Alles zusammenhing, Fritz?“ flüsterte sie. „Ja, Du weißt es – Du weißt es, wie ja auch längst Dein Vater und Deine Mutter es wissen! … Ich habe Dir verziehen, stets verziehen, Fritz – Du wußtest ja nicht, daß Du Unrecht thatest! … Schlaf wohl – schlaf wohl!“

Sie nahm die wachsbleiche Hand des Verstorbenen noch einmal zärtlich zwischen ihre beiden Hände; dann trat sie vom Sarge zurück und wollte sich eben so geräuschlos entfernen, wie sie gekommen war. In diesem Augenblick öffnete sich die Thür des Wohnzimmers, und Frau Hellwig trat heraus. Ihr Gesicht erschien unter der schwarzen Krepphaube weißer als Marmor, aber die Unbeweglichkeit ihrer Züge trat auch schärfer hervor denn je – man suchte vergebens nach der leisesten Spur vergossener Thränen an diesen Augen. Sie hielt einen plumpen Kranz von Dahlien in den Händen, offenbar, um ihn als letzte ‚Liebesgabe‘ auf den Sarg zu legen.

[341]

Die Vorhalle des Nordbahnhofs in Wien.



Ihr überraschter Blick begegnete dem der alten Dame. Beide blieben einen Moment wie angewurzelt stehen, aber in den Augen der Wittwe begann es, unheimlich zu glühen, ihre Oberlippe hob sich ein wenig und ließ einen der weißen Vorderzähne sehen – es lag etwas wie von unauslöschlicher Rachsucht in diesem Ausdruck. … Auch die Züge der alten Dame verriethen eine tiefe Erregung; sie schien mit einem unsäglichen Widerwillen zu kämpfen, aber sie überwand ihn und mit einem sanften, [342] feuchten Blick auf den Verstorbenen hielt sie Frau Hellwig die Rechte hin.

„Was wollten Sie hier, Tante?“ fragte die Wittwe kurz, indem sie die Bewegung der kleinen Dame völlig ignorirte.

„Ihn segnen!“ lautete die milde Antwort.

„Der Segen einer Ungläubigen hat keine Macht.“

„Gott hört ihn – Seine ewige Weisheit und Liebe wägt nicht zwischen der armseligen Form – wenn er aus treuem Herzen kommt –“

„Und aus schuldbeladener Seele!“ ergänzte Frau Hellwig in beißendem Hohn.

Die alte Dame richtete sich hoch auf.

„Richtet nicht,“ begann sie und hob feierlich drohend den Zeigefinger – „doch nein,“ unterbrach sie sich mit unbeschreiblicher Milde und blickte auf den Todten, „auch nicht ein Wort mehr soll Deinen heiligen Frieden stören. … Leb’ wohl, Fritz!“

Sie ging langsamen Schrittes zurück in den Hofraum und verschwand hinter einer Thür, die Felicitas bis dahin stets verschlossen gefunden hatte.

„Nun, das war doch stark von der alten Mamsell!“ zischelte Friederike, die von der Küchenthür aus den Vorgang beobachtet hatte.

Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und legte den Kranz zu Füßen der Leiche. Noch war sie nicht Herr ihrer inneren Erregung. So ungeübt die Züge dieser Frau im Ausdruck weiblicher Milde und Sanftmuth waren, so unbeweglich und wandellos sie auch in ihrer eisernen Strenge erschienen, in Haß und Verachtung wurden sie unheimlich lebendig – wer einmal das schlimme Lächeln gesehen hatte, das in solchen Momenten ihre Mundwinkel tief herabzog, der traute der Ruhe dieses Gesichts nicht mehr. Sie bog sich über den Verstorbenen, anscheinend, um etwas an dem Arrangement zu ändern; ihre Hand stieß dabei an das Bouquet der alten Dame – es rollte über den Rand des Sarges und fiel zu Felicitas’ Füßen nieder.

Draußen schlug es drei. Mehrere Geistliche im Ornat traten in die Hausflur; auch die Herren kamen aus dem Wohnzimmer, und ihnen folgte Nathanael neben einer hochaufgeschossenen, schmächtigen Jünglingsgestalt. Die Wittwe hatte ihrem Sohn Johannes die Todesnachricht telegraphisch mitgetheilt, und heute Morgen war er gekommen, um der Begräbnißfeierlichkeit beizuwohnen. Die kleine Felicitas vergaß für einen Augenblick ihr Leid und sah mit der ganzen Neugier des neunjährigen Kindes zu ihm empor, welcher der Liebling des Vaters gewesen war. … Weinte er wohl hinter der schmalen, mageren, aber wohlgepflegten Hand, die er beim Anblick des Dahingeschiedenen über seine Augen gelegt hatte? … Nein, es rollte keine Thräne herab, und ein ungeübtes Auge, wie das des Kindes, konnte außer einer ungewöhnlichen Blässe auch sonst kein Merkmal der Erschütterung an dem ernsten Gesicht bemerken.

Nathanael stand neben ihm. Er vergoß viele Thränen, aber sein Kummer hinderte ihn nicht, den Bruder leise flüsternd anzustoßen, als er Felicitas in ihrem Schlupfwinkel entdeckte. Johannes’ Blick folgte der Richtung des brüderlichen Zeigefingers. Zum ersten Mal hefteten sich diese Augen auf das Gesicht des Kindes – es waren schreckliche Augen, ernst, finster, ohne das Licht des Wohlwollens und der inneren Wärme. In der Bibel war ein Bild des Evangelisten, des Lieblingsschülers Jesu, ein sanftes, schönes Gesicht mit fast weiblich weichen Linien – „das ist der Johannes am Rhein!“ hatte sie stets behauptet, und der Onkel hatte lächelnd dazu genickt. … Sie hatten nichts miteinander gemein, jene lieblichen, von hellem Gelock umrahmten Züge und dieser Kopf mit den schlichten, kurzgeschnittenen Haaren und dem tiefernsten, blassen, unregelmäßigen Profil.

„Geh’ fort, Kind, Du bist hier im Wege!“ gebot er streng, als er sah, daß man Anstalten machte, den Sarg zu schließen. Felicitas verließ beschämt und erschrocken, als habe sie Strafe verdient, den Winkel und schlich, ungesehen von den Anderen, in ihres Pflegevaters ehemaliges Zimmer.

Jetzt weinte sie bitterlich. … Ihm war sie nicht im Wege gewesen! Sie fühlte seine fieberhafte Hand wieder auf ihrem Scheitel und hörte seine gute, schwache Stimme wie in den letzten Tagen heiser flüstern: „Komm’, Fee, mein Kind – ich hab’ es so gern, wenn Du bei mir bist!“ …

Horch, was war das für ein Hämmern draußen? Es scholl mißtönig durch den hochgewölbten Raum, wo doch die vielen Menschen kaum zu flüstern wagten. Felicitas hob verstohlen den grünen Vorhang und sah hinaus in die Flur. … Schrecklich! Die Gestalt des Onkels war verschwunden; dort der schwarze Deckel lag auf seinem lieben Gesicht und hielt ihn für immer unerbittlich fest in der ausgestreckten Stellung. Wenn er nur ein wenig die Hand hob, stieß sie überall an harte, festzusammengefügte Breter … und dort klopfte der Mann abermals und rüttelte an dem Deckel, ob er auch fest säße, ob ihn nicht die Hand da drin zurückstoßen könne, – da drin, in der tiefen Dunkelheit des engen Kastens, da drin, wo man nicht athmen konnte, wo man so furchtbar allein war … die Kleine schrie laut auf vor Entsetzen.

Aller Augen richteten sich verwundert auf das Fenster, aber Felicitas sah nur die zwei großen, grauen, deren Blick sie vorhin so tief erschreckt hatte. Er blickte strafend herüber; sie verließ das Fenster und flüchtete sich hinter den großen, dunklen Vorhang, der das Zimmer in zwei Hälften theilte. Dort kauerte sie sich nieder und blickte furchtsam nach der Thür, wo er gewiß eintreten und sie scheltend hinausführen würde.

In ihrem Versteck sah sie nicht, wie draußen die Träger den Sarg auf die Schultern nahmen, wie der Onkel sein Haus verließ für immer. Sie sah nicht den langen, schwarzen, unheimlichen Zug, der dem Verstorbenen folgte, wie der letzte Schatten auf dem nun vollendeten Lebenswege. … Dort an der Ecke hob ein Luftzug alle die prächtigen, weißen Atlasbänder, die am Sarg niederhingen – sie flatterten hoch auf; war es der letzte Gruß des Geschiedenen für das verlassene Kind, das eine zärtlich besorgte Mutter dem trüben Sumpf der väterlichen Laufbahn entrissen hatte, um es unwissentlich an einen öden, unwirthbaren Strand zu werfen?


(Fortsetzung folgt.)




Der Nordbahnhof in Wien.
Mit Abbildung.


Die Krönung des Königs und der Königin von Ungarn hat so manchem Sohn des Vaterlandes, den der Strom der Bewegung in die Ferne geschwemmt, den Weg in die Heimath wieder gebahnt; auch einen unserer nahen Verwandten rief die endlich ertheilte Amnestie aus der Fremde und in unsere Arme zurück. Aus dem tiefsten Ungarn eilten wir nach Wien, um den lieben Amnestirten auf dem Bahnhof zu überraschen und dem daherschnaubenden feuerspeienden Ungethüm zu entreißen. Daß er im Monat Mai in Wien eintreffen würde, wußten wir, aber an welchem Tage und mit welchem Zuge, hatte uns der Wildfang nicht bekannt gemacht. Wir hatten demzufolge volle vierzehn Tage Zeit, uns in dem neuen Wien mit seinem lebhaften Völkchen, das wie die Ameisen in ewiger Thätigkeit und Bewegung neben und gegen einander läuft, herum zu tummeln.

Acht Jahre hatten wir Wien nicht gesehen. Wo ist sie hingekommen, die alte Kaiserstadt mit ihren grauen Mauern, Thürmen, Basteien, Stadtgräben und Hütten, in denen ewig heitere und harmlose Menschen schalteten und walteten? Wo früher bescheidene Häuser standen, erheben sich stolze Paläste, und mit den Mauern, Thürmen und Basteien fiel die Unbefangenheit und das Vertrauen früherer Tage. Man will sie dem Volke wiedergeben, die festen Mauern mit ihren Thürmen, Schießscharten und drohenden Feuerschlünden; die Stadt kann man befestigen, aber das Vertrauen der Bürger, das der Sturm der Zeit erschüttert, befestigt man mit allen Kanonen nicht mehr. Nur der heitere, lachende, übersprudelnde Humor des Volkes ist geblieben. Er ist die ewige Lampe, die viele Jahrhunderte in der politischen Finsterniß leuchtete, und kein Metternich, kein Bach und kein Benedek hat sie auszublasen vermocht. Fidele Brüder und Schwestern, Fiaker, Kappelbuben und Schusterjungen jodeln, witzeln, foppen [343] und treiben ihre tollen, lustigen Schnacken und Schwänke im neuen wie im alten Wien, in trüben wie in heitern Tagen, und die Zeit ist uns wahrlich nicht lang geworden, die wir in den belebten Gassen, auf allen Promenaden, im Stadtpark und Prater verbummelten, bis uns die Dampfpfeife und die Sehnsucht nach dem geliebten Rebellen zum Nordbahnhofe rief.

Schön und imposant ist dieser Bau, der an Kraft und Pracht alle Neubauten überragt und den der gewaltige Geist der Industrie mit gutem Recht eines seiner Meisterwerke nennen kann. Wir haben uns mit demselben in der kurzen Zeit unserer Anwesenheit in Wien so vertraut gemacht, um hier eine ziemlich umfassende Schilderung folgen lassen zu können. Während die jüngere Schwester Westbahn wie eine putzsüchtige Kokette ihr ganzes Capital auf prunkenden Flitter verschwendete, um nach kurzer Herrlichkeit in glänzenden Räumen Noth und Elend zu leiden, beschränkte sich ihre ältere Schwester Nordbahn auf das Nothwendigste, baute sich vor dreißig Jahren ein bescheidenes schlichtes Haus, hielt wie eine gute Hausfrau das Ihrige sorgsam zu Rathe, und erst als ihr der Ueberfluß erlaubte, der Kunst und dem herrschenden Luxus ohne Gefahr ein Opfer zu bringen, warf sie das alte Kleid von sich, schmückte sich mit dem Pomp einer Königin, und ihre verarmten und irregeführten Geschwister beugten sich beschämt im Staube vor ihr. Sie war das Aschenbrödel, und ihre weise Verwaltung der Schuh, dem sie den Purpur dankt.

Der Nordbahnhof, obwohl im Jahre 1836 gegründet, ist in seiner gegenwärtigen Gestalt vollkommen neu. Volle sieben Jahre dauerte der Umbau, bis endlich im vorigen Jahre die letzte Breterhülle fiel und der wunderbare Neubau, nach dem Entwurf des Bahnarchitekten Ingenieur Hofmann, eines reich begabten jungen Würtembergers errichtet, wie ein Phönix aus der Asche, in voller Kraft und Schönheit auferstand.

Wo ehedem ein schmuckloses Asyl für obdachlose Reisende bestand, erhebt sich jetzt, von vier dreistockhohen Pavillons flankirt, eine langgestreckte Personenhalle, die zierlichste und eleganteste, welche Wien besitzt, und wenn auch nicht die imposanteste, doch sicher die freundlichste und einladendste des Continents. Wenn wir uns dem historischen Prater mit seinen Ringelspielen, Schaubühnen, Wurstelbuden und Bierhallen nähern, winken uns, zwischen ihm und der Donau, die vier Pavillons, die an den vier Ecken der Halle ihre Hüter repräsentiren, gar anmuthsvoll entgegen. Frei im Rundbogenstil ausgeführt, mit einer zinnengekrönten Terrasse, steigen sie mit ihren schlanken und schmucken Thürmchen stolz aus der Erde empor. Von der Stadtseite aus liegt die Halle zur Linken des Praters. Die Verbindungsbahn der Nord- und Südbahn zieht sich in einer Reihe von Eisenbrücken über den sogenannten Praterstern, um in einen scharfen Bogen von der Stirnseite der Personenhalle einzumünden, denn der ganze Nordbahnhof bewohnt, so zu sagen, eine erste Etage, und die Passagiere haben über eine Treppe in die Warteräume hinabzusteigen. Leichte Glasdächer decken hier die großen Räume, welche der Gepäckausgabe, Revision und Verzollung zugewiesen sind. Zu beiden Seiten der Halle sind die früher erwähnten Pavillons durch eine anscheinend niedrige Gebäudeflucht verbunden.

Die Mitte dieses Längentractes steigt jedoch zu einem imposanten Aufbau empor, und sowohl der gewaltige Vorsprung als die große Säulenfronte verräth, daß dieser Mittelbau das Prachtstück des Bahnhofs birgt. Es ist die große Vorhalle für das abreisende Publicum, derselbe Raum, den unsere Abbildung darstellt. Wir treten durch eine der fünf Thüren in den üppigsten Säulenwald. Durch zwölf bis zur Decke ragende Granitmonolithe sehen wir, den Eingängen gegenüber, fünf Fenster, hinter welchen die Cassirer die Fahrkarten ausgeben. Belästigendes Gedränge ist hier unmöglich, denn jedem einzelnen Reisenden ist durch Eisenstäbe sein Raum zugemessen und der Zugang vorgezeichnet. Indem wir in die Mitte dieses Vestibules schreiten, erschließt sich uns ein neuer überraschender Anblick. Vier imposante Prachttreppen aus Granit führen paarweise zu jeder Seite hinauf, und die stattlichen rothglänzenden Pfeilerreihen aus Salzburger Marmor, welche sich hier erheben, lassen uns über diese großartige Schöpfung fast den harmonischen Bau der ganzen Halle vergessen.

Man erkennt an der ganzen Ausschmückung, an der vorsichtigen, liebevollen Sorgfalt, mit welcher jede Rosette, jeder Knauf, jedes Capitäl bedacht ist, daß dieses Werk ein praktischer kunstsinniger Bauherr geschaffen hat, der nicht den flüchtigen Effect des Augenblicks, sondern den Ruhm der Meisterschaft für Jahrhunderte zu erstreben suchte.

Drei der vier Treppen, die in die Wartesäle führen, sind dem Publicum zugewiesen, – die vierte, durch ein Gitter abgeschlossen, führt in die Gemächer, die nur den Mitgliedern des kaiserlichen Hauses geöffnet sind und weniger blendende Pracht als behaglichen Comfort zeigen.

Aus den Wartesälen tritt man in die Abfahrtshalle, dieses lichte, luftige Gebilde aus Eisen und Glas, das auf einer vierfachen Reihe von Eisensäulen ruht. Der Estrich dieser Halle ist zwar der gewöhnliche Eisenbahnboden, Schotter zwischen den Schienen und Asphalt auf den Perrons. Aber der prosaische Boden wird poetisch, wenn die Sonne aus den Wolken bricht und ihre Strahlen auf die farbigen Gläser in den Eisenfüllungen zwischen den einzelnen Säulen senkt. Dann breitet sich ein Teppich in bunter glänzender Farbenpracht über Schotter und Asphaltschichte, und der Riesensaal hat einen Mosaikboden, wie ihn die mächtigste Fee arabischer Märchen nicht herrlicher und reizender hinzaubern kann.

Prachtvoller noch als dieser Feeensaal ist der Ankunfts-Salon, ihm gegenüber. Von glänzend polirten Säulen getragen, mit Mosaikboden, kunstvollen Gemälden an den Wänden, Büsten, Statuen und Statuetten in den Nischen, kostbaren Kronleuchtern und blühenden Gesträuchen und Blumen rings umher, scheint dieser Salon einer der hängenden Gärten der Semiramis zu sein, durch dessen Pforten man die Aussicht in ein Paradies genießt.

Auch bei allen Nebenbauten hat man das Schöne mit dem Nützlichen im Auge gehabt, und überall offenbart sich die tüchtige und umsichtige Leitung dieses industriellen Instituts. Welche Resultate eine solche Leitung erzielt, beweisen Zahlen: Brutto-Einnahme im Jahre 1838: drei Millionen; im Jahre 1866, trotz Kriegs und schlechter Zeiten, siebenzehn und eine halbe Million. –

Schon war der fünfzehnte Tag des Hoffens und Harrens auf unsern lieben Rebellen gekommen. In der Halle ging es besonders lustig und lebendig zu – aber kein Gedränge, keine Verwirrung war zu spüren, denn der Geist der Ordnung überwacht das bunte und bewegte Bild. Hier herzt ein weinendes Mütterchen ihren scheidenden Sohn – dort eine schmucke Dirne einen lustigen Rekruten. Hier spitzt ein Ungar in zottiger Bunda seinen Schnurrbart und murmelt verächtlich sein Terremtete über die schwäbische Herrlichkeit – dort zieht ein Sohn des Slovakenlandes schüchtern und bescheiden vor jedem uniformirten Wächter seinen Hut. Hier zankt ein Jude mit einem Eckensteher, um ihm ein paar Kreuzerchen vom Trägerlohn abzuzwicken – dort jodelt ein fideler Bruder ein paar Gassenhauer herunter. Hier feilscht eine stämmige Bäuerin mit dem Cassirer und droht, auf der Südbahn statt auf der Nordbahn nach Hause zu fahren – dort fragt eine andere den Conducteur, ob sie ihren kleinen dicken Jungen nicht statt der fünfzig Pfund Gepäck taxfrei mit sich führen könne. Hier sprudelt ein Witzbold seine Wiener Bonmots – dort lispelt eine verschämte Dorothea ihrem scheidenden Hermann ein zärtliches Lebewohl zu. Hier bramarbasiren Soldaten von ihren Heldenthaten – dort füttern Kostweiber kleine schreiende Weltbürger, die sie sich aus dem Findelhause geholt, Lachen und Weinen, Jodler und Thränen, Zanken und Küssen, Trübsinn und Heiterkeit rings umher, – doch überall, unter Weinen und Lachen, feiert der alte unverwüstliche Wiener Humor seinen Sieg.

Da durchschneidet die markerschütternde Dampfpfeife die glänzenden Räume – es naht ein Zug – eine riesige Wagenschlange braust keuchend daher – das wimmernde Ungethüm hält – die Herzen der Harrenden schlagen ungestüm Freunden und Verwandten entgegen – es wird lebendig auf der Ankunftstreppe – ein jauchzendes „Eljen!“ erschallt, und der theure Amnestirte liegt in unsern Armen.



[344]
Der Herzog von Jerusalem.
Ein anderer „heiliger Herr“.
(Schluß.)

In Hamburg angekommen, stieg Proli im Hotel de Saxe ab und sendete seine Jünger aus, um in allen Wirthslocalen die Herrlichkeit des Meisters und seines Reiches kund zu thun. Auch ließ er gedruckte Zettel für diesen Zweck austheilen. Allein es fehlte ihm der Magnet, der in Cork Wunder gethan und auch in London zum Theil gewirkt hatte – Geld und brünstige Glaubensschwestern. Nur eine junge Brünette schloß sich an, deren Namen wir aber nicht kennen und die Proli bis nach Offenbach begleitete. Sein nächstes Ziel war aber das Schwabenland. In einem eleganten Wagen, den er sich in Hamburg gekauft hatte, reiste er nach Stuttgart. Allein dort hatte die Regierung bereits Kenntniß von seinem abenteuerlichen Leben, und schon nach wenigen Tagen des Aufenthaltes daselbst wurde ihm von der Polizei der strenge Befehl, daß er innerhalb vierundzwanzig Stunden das Weichbild der Stadt und in achtundvierzig Stunden das Land zu verlassen habe, widrigenfalls er per Schub in seine Heimath gebracht würde. Die Stadt seiner nächsten Wahl war Würzburg, und sie erschien als eine gelungene, denn nun begannen wieder die prächtigen Tage, wie in Cork und London, und viele Gläubige aus dem männlichen und weiblichen Geschlecht sammelten sich unter seinem Banner. Länger als ein Jahr dauerte hier dieses selige Glaubensleben. Mittlerweile hatte er seine Sendboten auf dem Lande, namentlich im Spessart und im Odenwalde herumgeschickt, um das neue Evangelium von der Menschen Seligkeit im tausendjährigen Reiche ankündigen zu lassen, wobei er von der Geistlichkeit in Stadt und Land sowie von den Ordensleuten der beiden Klöster in Würzburg eifrig unterstützt wurde.

Namentlich aber wird ein Pater Johannes genannt, der Proli’s eifrigster Anhänger war und den er zum Patriarchen des neuen Reichs ernannt hatte, mit der Vollmacht an die Stelle des Papstes in Rom zu treten, wenn das Werk der Erlösung beginne. Man sieht, wie ernstlich die Sache betrieben wurde. Außerdem fand noch eine Ceremonie in der Hauscapelle statt, darin bestehend, daß Proli vom besagten Pater Johannes in Gegenwart der Auserwählten im Sinne der Salbung Jesu zum Herzog und Herrn vom neuen Jerusalem gesalbt wurde. Noch hatte die Polizei wenig Kenntniß von der Sache, da sie sehr geheim gehalten wurde. Als aber mancherlei Gerüchte über geheime Orgien umliefen und Klagen über Verführungen von Frauenzimmern bei den Behörden eingingen, auch der Pater Johannes in seinem Eifer so weit ging, daß er öffentlich von der Kanzel herunter an drei hintereinander folgenden Sonntagen mit den heftigsten Ausdrücken die Wiederkunft Christi (natürlich in der Person Proli’s), die Gräuel der Verwüstung und die Aufrichtung des tausendjährigen Reiches als ganz nahe bevorstehend ankündigte, da war auch schon am letzten Sonntage Befehl von München da, den Zusammenhang der Sache gerichtlich zu untersuchen, in dessen Folge mehrere Geistliche in’s Verhör kamen, ein Zeichen, wie man hier die Triebfedern der geheimen Verbindung erblickt hat. Sofort wurde der Pater Johannes gefänglich eingezogen. Seine Gefangenschaft währte eine Reihe von Jahren. Auch gegen Proli war Personalarrest verfügt worden. Allein er muß zeitig von der drohenden Gefahr in Kenntniß gesetzt worden sein, weil er in demselben Augenblick, wo die Gerichtsdiener den Haftbefehl vollstrecken sollten, aus Würzburg entwichen war.

Noch von Würzburg aus hatte Proli zwei von seinen Jüngern nach Irland gesendet, um der Miß H. in Cork von den Fortschritten der Mission Kenntniß zu geben und sie um weitere Geldhülfe anzusprechen. Diese trafen ihn nach ihrer Rückkehr in Offenbach, wo er bis dahin in harter Bedrängniß gelebt. Zwar hatte er dort im Jahre 1822 unter dem staatsklugen Großherzog Ludwig dem Ersten von Hessen und bei Rhein Aufnahme gefunden, da er sich hier in seinem engeren Vaterland Hessen, wozu sein Geburtsort Kostheim gehört, befand, allein die Verfolgung der bairischen Regierung erstreckte sich auch bis nach Hessen und auf Requisition derselben erhielt Proli sogar von der darmstädtischen Regierung Hausarrest. Es muß jedoch eine mächtige Verwendung am darmstädter Hofe stattgefunden haben, da er bald wieder in Freiheit gesetzt wurde und sogar das Bürgerrecht in Offenbach erhielt. Von wem diese Protection ausging, ist ein Geheimniß geblieben. Kaum war Proli im Besitz der irischen Geldsumme, als er auch sofort Anstalt machte, eine bleibende Niederlassung in Offenbach zu gründen. Für diesen Zweck kaufte er den neben der Bibelsmühle gelegenen Metzler’schen Blumen- und Pflanzgarten ganz nahe bei Offenbach, erwarb viele umliegende Aecker und Wiesen, verwandelte solche in einen prächtigen Park, erbaute ein Landhaus mit eleganter Einrichtung, im vorderen Theil des Parks eine Grotte mit Bad, und wo der Park in das freie Feld hinausreicht, einen Gartensaal, der, wie man im Volke sagen hörte, zu den irischen verschlungenen Tänzen im Paradiesesstand bestimmt gewesen sein soll.

Mancher, der Abends auf der Chaussee von Offenbach nach Frankfurt an dem Park Proli’s vorüberging und durch die Baumgruppen eine Menge Lichter aus dem Landhause schimmern sah, der mußte um so mehr an einen Feensitz glauben, als ein tiefes Geheimniß die Umgebung verschleierte. Auch hier hatte er seine Hauscapelle, worin er als Prophet auftrat und viele politische Veränderungen, wie die Entthronung Karl’s des Zehnten von Frankreich, die Julirevolution von 1830, die Bewegungen der Völker gegen ihre Fürsten, die Cholera und den Aufstand in Polen, Ueberschwemmungen, Theurung und andere Naturereignisse, voraussagte, weshalb er als Orakel für seine Gläubigen galt.

In seiner Lebensweise berührten sich die seltsamsten Extreme: ein geheimes, welches den strengsten Ordensregeln in gewissen Richtungen unterlag, und ein sichtbares, welches der Außenwelt sogar frivol erschien. Denn in seinem Cabinet hielt er abgeschlossen seine Offenbarungsstunden, lag auf den Knieen, kasteite sich, litt Hunger Tage lang, rang im Gebete, erwartete die Strahlen des Urlichtes aus der Höhe und wollte mit solchen Kasteiungen, nach dem Beispiele Jesu, Gott mit den Menschen versöhnen, Gottes Zorn von der Welt abwenden, ein Mittler zur Erlösung sein und überhaupt der Gerechtigkeit Gottes genug thun. Nach tagelangem Fasten und Ringen aß er nur Milch- und Wassersuppe, während seine Dienerschaft Ueberfluß hatte. Von diesen geheimen Offenbarungsstunden durfte Niemand wissen, der nicht geweiht war; hier fand sein Umgang mit Gott statt, hier fragte er ihn und hörte ihn antworten. Wenn er dagegen in Gesellschaft bei Tische war, aß und trank, lachte und scherzte er wie alle anderen Menschenkinder und gab keinerlei Merkmale seiner geglaubten überirdischen Mission zu erkennen.

Nachdem Proli etwa ein Jahr in Offenbach sich angesiedelt hatte, gelang es ihm, Proselyten zu finden. Zu den ersten zählt Johann Georg Göntgen, Doctor der Theologie und Philosophie, ein Pfarrerssohn aus Frankfurt, ein Mann von wissenschaftlicher Bildung, eine Zeit lang der freisinnigen Richtung zugethan und jetzt zur mystischen Tiefe Proli’s bekehrt. Man hat sich wundern müssen, wie ein Mann von Intelligenz seine angesehene Stellung als Oberbibliothekar an der Stadtbibliothek zu Frankfurt aufgeben und der buntfarbigen Seifenblase des tausendjährigen Reiches nacheilen konnte. Uebrigens hat er als ein sittlicher Charakter gegolten. Er wurde des Propheten Geheimsecretär und nahm zur Unterscheidung von der profanen Welt den geheimen Ordensnamen Samuel a sancta Sion, Archidiakonus des himmlischen Reiches, an, wie er auch auf seinen Erlassen unterzeichnete. Merkwürdig ist es, daß dieser Dr. Göntgen seinem Meister und Propheten Proli das Zeugniß ausgestellt hat: „Seit den Propheten des alten Bundes und mit Einschluß der Kirchenväter habe noch nie ein sterblicher Mensch eine so übernatürliche Sehergabe und einen solchen Schatz von Erkenntnissen Gottes und der Natur gehabt, als Proli.“ Gewiß ist, daß durch den Beitritt dieses Mannes und seiner Familie und Verwandtschaft Proli’s Sache an Ansehen sehr viel gewann. Auch wurde eine hohe Persönlichkeit am darmstädter Hofe als Protector der Proli’schen Gesellschaft genannt. Die Zahl der Mitglieder derselben mochte einschließlich der Frauen über fünfzig Personen betragen haben, ungerechnet die Dienerschaft, welche indessen weder zahlreich noch glänzend war, weil Proli darauf keinen Werth legte.

Während seines neunjährigen Aufenthaltes in Offenbach gab [345] Proli notorisch jedes Jahr eine ständige Summe von eintausend zweihundert Thalern an die Stadtcasse zur Unterstützung der Armen, ungerechnet die zahlreichen Wohlthaten, welche er unmittelbar auf seinem Landgute den Hülfesuchenden spendete. In dem kalten Winter von 1829 bis 1830 unterhielt er ein Vierteljahr hindurch mindestens dreihundert Menschen mit Nahrung, Kleidung, Holz und anderen Bedürfnissen. Daher war Proli bei den Armen eine ungemein beliebte Persönlichkeit.

Woher Proli diese sehr bedeutenden Geldsummen bezog, ist ein Räthsel geblieben, sowie überhaupt Alles, was diesen Mann betrifft. Man kommt immer zu der Vermuthung eines jesuitischen Unternehmens zurück, da ein Pater nebst Collegen in Cork, ein Pater nebst Ordensleuten in Würzburg dem Plane Proli’s so wesentlichen Vorschub geleistet haben. Kaum ist es glaublich, daß Proli mit seinem Riesenplane allein gestanden hätte, oder nur auf eigene Kräfte angewiesen gewesen wäre, ohne eine schützende und nachhelfende Macht im Verborgenen hinter sich gehabt zu haben.

Seitdem Proli in Offenbach lebte und wegen seines reichen Geldbesitzes einen großen Namen hatte, fand sich auch die Familie Müller von Kostheim mehrmals ein, um als seine nächsten Verwandten sich in den Strahlen seines Reichthums zu sonnen. Allein das war dem Propheten sehr lästig; er wollte von einer irdischen Blutsverwandtschaft, absonderlich von Kostheim, nichts wissen. Deshalb trug er im Jahre 1826 bei dem Großherzog von Hessen darauf an, daß der Name „Maximilian Bernhard Ludwig Müller“ in „Maximilian Proli“ verwandelt würde, – in welcher Bedeutung, wissen wir schon aus Cork in Irland. Diese Namensveränderung wurde auch genehmigt und im Regierungsblatt vom 22. October desselben Jahres öffentlich verkündigt.

Immer näher schritt der Prophet seinem Ziele zu, und gestützt auf geheime Protection, konnte er einen Schritt wagen, in welchem jeder Andere eine Gefahr für Leib und Leben erblickt haben würde. Wie nämlich Christus, dem er so gern nachahmte, siebenzig Jünger zur Verkündigung seines Evangeliums in die Welt gesendet hatte, so erließ Proli, dem es an siebenzig geeigneten Sendboten fehlte, um dieselben zu ersetzen, wenn wir nicht irren, im Jahre 1828, siebenzig gleichlautende Manifeste an alle Regentenhäuser Europa’s, mit Ausnahme des R..… und Pr..… Hofes (soll wohl heißen des Russischen und Preußischen Hofes), die er schon von vornherein aus der Regentenliste gestrichen hatte, sowie an sonstige hohe Häupter und Fürstbischöfe, selbst an den Papst in Rom, worin er dieselben bei Meidung seines Fluchs und der Strafgerichte Gottes aufforderte, sofort von ihren Thronen und Stühlen zu steigen und ihre Völker zum Eintritt in das tausendjährige Reich frei zu lassen, sich selbst aber dem Propheten zu Füßen zu legen. Zugleich entband er die Völker vom Eid der Treue und des Gehorsams und bedrohte auch sie mit dem Fluche Gottes, wenn sie nicht sofort gehorchen würden. Diese Manifeste, eines wie das andere, trugen die Aufschrift: „Ich, im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes Jesu Christi und des heiligen Geistes, Maximilian Bernhard Ludwig, Gesalbter und Gesandter des Herrn aller Herrn, Herzog von Jerusalem, Groß-Imperator des tausendjährigen Reichs, Fürst auf Zion etc., entbiete hierdurch Allen, den Gewaltigen und Großen auf Erden, so wie den Niederen und allen Völkern meinen Gruß und die Gnade Gottes des Heilandes Jesu Christi.“

Diese Manifeste sind nach ihrem Inhalt bei den damaligen Censurverhältnissen in keine öffentliche Zeitung gekommen, sondern vielmehr in den Händen der Adressaten verborgen geblieben. Dasselbe Schicksal erfuhr Proli’s Aufforderung an die Völker zum Abfall von ihren Fürsten.

Voll Erbitterung darüber, daß seine Manifeste wie die Tauben aus der Arche Noah zur Zeit der Sündfluth ausgeflogen seien und nicht ein grünes Blatt im Schnabel zurückgebracht hätten, erließ Proli im folgenden Jahre 1829 sein zweites Manifest, aber noch geharnischter mit Schild und Speer, und zwar nicht an alle Fürsten, sondern hauptsächlich an Oesterreich, auf das er das größte Vertrauen hatte, weil er in den zahlreichen Klöstern und Ordensleuten des Reiches seinen Hauptstützpunkt zu finden glaubte, und forderte den Kaiser geradezu auf, die übrigen Fürsten verdrängen zu helfen. Auch das wurde ignorirt.

Es ist aber begreiflich, daß solche Bestrebungen nicht ohne Folgen für den Bestand der Gesellschaft bleiben konnten. Proli sah die Zeichen eines ihm drohenden Sturmes und überlegte daher, ob es nicht besser sei, in den freien Westen überzusiedeln, weil das neue Jerusalem sich dort freier entwickeln könne. Das Ergebniß dieser Berathung war, daß man sich vorläufig an die Colonie des bekannten Würtembergers Rapp[WS 1] wendete, welcher im Jahre 1803 seine Heimath verlassen hatte, um sich in Nordamerika niederzulassen. Diese Rapp’sche Colonie führte den Namen Harmonia zu Economy, Beaver-County im Staate Pennsylvanien. An diese erging noch im Jahre 1829 eine bogenlange Epistel, welche mit den Worten anfängt: „Friede, Gnade und Barmherzigkeit, wie auch Heil und Segen werde dem alten Patriarchen Georg Rapp und seinen Mitvorstehern, wie auch der ganzen in Gott vereinigten Gesellschaft der Harmonie zu Theil.“

Dieses Schreiben war angefüllt mit bitteren Klagen über den Despotismus und die Gottlosigkeit der Gewaltigen und Herrscher dieser Welt, welche keine Herrschaft Gottes und seiner ewigen Rathschläge über sich anerkennen wollten, wie über die Verwilderung der Völker und den Verfall der wahren Kirche etc. und spricht die Ansicht Proli’s aus, daß Amerika das Land sei, wohin sich alle wahren Kinder Gottes vor dem drohenden Verderben retten müßten; daß auch der Gesalbte Gottes (Proli), der vergeblich seine prophetische Stimme in Europa erhoben, sich dorthin begeben müsse, um die zwölf Stämme Jakob’s sammt allen Confessionen in Mittel- und Südamerika zu sammeln und mit einem Heere von einhundertvierundvierzigtausend christlichen Streitern nach Europa zurückzukehren, die Herrschaft der Antichristen zu stürzen und den Thron des neuen Jerusalem aufzurichten. Dieses Schreiben gelangte auch wirklich in die Rapp’sche Colonie nach Economy und wurde günstig aufgenommen. In der Rückantwort wurden einige Bedingungen der Aufnahme gestellt, die der Prophet annehmbar fand.

Im folgenden Jahre starb der sehr tolerante Großherzog Ludwig der Erste von Hessen, und auf ihn folgte sein Sohn Ludwig der Zweite, unter welchem die Maßregeln strenger wurden. Denn wenn wir nicht irren, noch in demselben Jahre kam der Befehl von Darmstadt, den Propheten und seinen Anhang mit Hülfe der bewaffneten Macht gefänglich einzuziehen. Der Prophet hielt eben nach beendigter Mittagstafel seine Siesta in seinem Cabinet, als eine der Priesterinnen durch die Baumgruppen des Parks eine Compagnie Soldaten von der Offenbacher Garnison unter Führung eines Hauptmannes anrücken sah, die sofort das Landgut nach allen Richtungen besetzte. Sogleich rief dieselbe die übrigen Glaubensschwestern herbei, die darüber nicht wenig erschrocken waren. Auch Dr. Göntgen gesellte sich dazu und diese stürzten in das Cabinet, um den Propheten zu wecken.

Dieser erhob sich voll scheinbarer Ruhe und Würde und sprach den Seinen biblischen Trost zu. Nicht lange darauf kamen der Landrath von Offenbach, ein Regierungscommissär von Darmstadt und ein Brigadier mit Gensd’armen die Treppe herauf. Aber zu den zitternden Glaubensschwestern gewendet, sagte der Prophet, dem es durchaus nicht an Muth fehlte: „Meine Stunde ist noch nicht ‘kommen!“ und ging den Ankommenden mit vieler Gravität entgegen. Diese zeigten den Verhaftsbefehl vor im Namen „des Großherzogs von Hessen und bei Rhein“.

„Was Großherzog von Hessen,“ versetzte der Prophet mit Nachdruck „es steht keine Macht auf Erden über mir,“ fügte er mit himmelwärts gerichteten Blicken hinzu.

Als aber der Regierungscommissär auf der Verhaftung bestand, gerieth der Prophet in heiligen Zorn und rief: „Wie sie – die Knechte des Herodes und Pilatus, es wagen könnten, das heilige Gebiet Gottes und seines Gesalbten zu betreten; sie sollten sich entfernen, oder es würden andere Mächte gegen sie aufgerufen.“

Nun nahm auch der Commissär eine drohende Miene an, worauf der ergrimmte Prophet den Augenblick wahrnahm, einem Gensd‘armen den Säbel zu entreißen und damit auf den Regierungscommissär einzudringen. Allein die bewaffnete Macht sprang dazwischen und entwand ihm den Säbel. Es entstand ein ungeheurer Tumult im Hause und Proli wurde überwältigt. Andere Bewaffnete folgten dem Geheimsecretär Dr. Göntgen, der sich in das Zimmer begeben hatte, wo die Kanzlei des himmlischen Reiches sich befand. Im Augenblick, wo die Bewaffneten eintraten, soll Dr. Göntgen, wie man gesagt hat, mehrere Actenstücke verschluckt haben, um keine Beweismittel in die Hände der Verfolger fallen zu lassen. Sofort wurde Dr. Göntgen auf die Wache gefangen weggeführt. Proli aber erhielt merkwürdiger Weise nur [346] Hausarrest, während die Priesterinnen des Hauses über die Gefangenschaft Juda’s durch die gottlosen Hände Babels wehklagten.

In dieser kritischen Sachlage muß wieder eine hohe und einflußreiche Vermittelung stattgefunden haben, weil die gerichtliche Untersuchung stecken blieb, Dr. Göntgen seiner Haft entlassen wurde und nur den Befehl erhielt, als ein Ausländer das Land zu räumen, obschon ihm bald nachher gestattet wurde, wieder seinen Aufenthalt in Offenbach zu nehmen. Proli aber behielt Hauswache, angeblich auf sein eigenes Verlangen, um vor den Armen geschützt zu sein, denen er nichts mehr geben könne. Proli’s Entschluß, nach Amerika auszuwandern, soll den Grund abgegeben haben, den Staatsproceß niederzuschlagen.

Daß Proli mehr als ein listiger Betrüger, daß er ein wirklicher Schwärmer war, beweist seine Kühnheit, womit er Alles that und Alles wagte, um sein Bundesideal zu verwirklichen. Dem entsprach auch sein Aeußeres. Er war groß und schön von Gestalt, mit starkem blondem Haupthaare, das in reichen Naturlocken bis auf die Schultern herabfiel, mit einem langen blonden Vollbart, frischen Colorit des Angesichts und dunkelblitzenden Augen. Den Hals trug er entblößt und einen Rock von schwarzer Farbe, oben am Halse ausgeschnitten, der mit den Röcken der Jesuiten einige Aehnlichkeit hatte. In Haltung und Sprache hatte er etwas Gewinnendes. Leute und besonders Damen, die Proli’s lockenumwalltes Haupt gesehen, haben gemeint, einen Christuskopf zu erblicken.

Als die bewaffnete Macht in Offenbach gegen Proli vorgeschritten war, mußte an die Auswanderung ernstlich gedacht werden. Es wurde deshalb ein Mitglied des himmlischen Reiches nach Bremen geschickt, um dort ein Fahrzeug zur Ueberfahrt nach Amerika („Isabella“) als Eigenthum zu erwerben. Die darmstädtische Regierung gestattete aber noch Zeit genug, um die Vorbereitungen zu treffen. Erst Mitte des Jahres 1831 verkaufte Proli sein Landgut mit einem Verlust von einhundertsechsunddreißigtausend Gulden (es befindet sich jetzt im Besitz des Rentiers du Fay von Frankfurt) und zu Anfang des Monats Juli war die himmlische Gesellschaft reisefertig. Noch am Tage vor seiner Abreise übersendete Proli zweitausend Thaler der Stadtcasse zur Unterstützung der Armen, die über den Verlust ihres Wohlthäters laute Klagen führten. Mit sechsundvierzig Köpfen langte er in Bremen an und reiste von da am 17. Juli 1831 auf der „Isabella“ ab. Die Fahrt ging glücklich von Statten und währte fünfzig Tage.

Schon tauchte in nebelgrauer Ferne die Landzunge von New-York aus den Wogen des atlantischen Oceans empor, da wurde auf dem Schiffe das Schauspiel eines Huldigungsactes aufgeführt. Die Gesellschaft war auf das Verdeck zusammen berufen und Proli prächtiger als jemals gekleidet und mit goldenen Ketten behangen, als Dr. Göntgen mit einer Urkunde in der Hand vortrat und der gläubigen Heerde ankündigte, daß der anwesende Herr Proli, welcher seither in der Niedrigkeit gelebt, von sehr hoher Geburt sei und sich vorläufig den Namen Maximilian Graf von Leon beigelegt habe, daß das neben ihm stehende Fräulein Häusser, welche schon seit sechs Jahren ihm angetraut sei (wahrscheinlich nach den Formen des himmlischen Reiches ohne kirchliche Trauung, die in Proli’s Augen unwirksam war), zu gleichen Ehren und Würden als Gräfin Leon erhoben würde und daß die Gesellschaft dem hohen Paare ihre Huldigung darzubringen habe. Zu gleicher Zeit wurden auch die Hofchargen zur Verherrlichung des hohen Paares vergeben: Dr. Göntgen, Proli’s Schwager, wurde Conferenzminister, nachdem er seither Cabinetssecretär gewesen; Zickwolf geheimer Finanzrath und Obercassendirector; Häusser (wahrscheinlich Proli’s Schwiegervater) wurde Oekonomierath; Nettelroth (ein Ladendiener) wurde Oberhofmeister; Boson (dessen Stand und Herkunft wir nicht genauer kennen) wurde Haushofmeister; Kahl (ein Bäckerssohn von Darmstadt) erhielt den Titel Consul; Blankenstein (Gärtner bei Proli) wurde zum Domänen-Verwalter erhoben, dessen Sohn zum Secretär und dessen Tochter zum Hoffräulein und zur Gouvernante ernannt. Ein gewisser Erbs wurde zum Leibkammerdiener befördert etc.

Am 3. September 1831, als kaum der erste Morgenstrahl den Osten röthete, landete die „Isabella“ im Hafen von New-York und der neue gräfliche Hof betrat das Land. Es erging nun ein umfangreiches Schreiben an Rapp’s Harmonie zu Economy ab, welches mit den Worten beginnt:

„Friede, Heil und Segen von der Dreieinigkeit Gottes werde dem alten Patriarchen Georg Rapp und seiner gläubigen Gesellschaft in Jesus Christus auf ewige Zeiten zu Theil!

Im Namen und Auftrag Seiner königlichen Hoheit des Erzherzogs Maximilian von Este,[WS 2] als Gesalbten Gottes vom Stamme Juda und von der Wurzel David, welcher Euch im Jahre 1829 (am 14. Juli, siehe oben) durch den Unterzeichneten die Rückkunft Christi zum Gericht und zur Bereitung des Reiches Gottes verkündigte, als der Grund zur Philadelphier Kirche in Nordamerika gelegt wurde, gebe ich Euch hiermit zur Nachricht, daß er nun persönlich und zuerst incognito unter dem Namen Graf Leon den Boden der Vereinigten Staaten berührt hat, etc.“

In dieser Epistel werden die Reiseeffecten erwähnt, welche die Proli’sche Gesellschaft mitbringe, bestehend aus mathematischen und physikalischen Instrumenten und einer beträchtlichen Bibliothek aus allen Fächern der Literatur, sowie auch zwischen den Zeilen zu erkennen ist, daß sie im Besitze großer Geldmittel sei. Sie schließt mit der Bitte um Ueberlassung so vieler Wohnungen und Localitäten, als zur Beherbergung der hohen Gesellschaft nöthig sei.

Acht Tage später, am 19. September, setzte sich die Proli’sche Gesellschaft in Bewegung und reiste über Albany, Buffalo und Erie nach Pittsburg, von wo die Landreise nach Economy geht. Viele Bewohner dieser Städte, welche durch Zeitungsnachrichten hiervon in Kenntniß gesetzt waren, brannten vor Begierde den Mann zu sehen, der von so hohem Range sei, angeblich über sechs Millionen spanische Thaler im Besitze hätte und das himmlische Reich der Herrlichkeit bringe. Allein Proli vermied es, sich öffentlich sehen zu lassen. In Pittsburg angekommen, wurde der Conferenzrath Dr. Göntgen sammt dem Oberhofmeister Baron Nettelroth (Ladendiener) nach Economy vorausgeschickt, um die Ankunft des gräflichen Hofes vorzubereiten. Der alte Patriarch Rapp, der ebenfalls nicht frei von Schwärmerei war, hatte den Glauben, daß Graf Leon ein Prophet sei, dem der Engel die sieben goldenen Leuchter, welche er Johanni gezeigt, anvertraut habe und daß derselbe bei seinem hohen Range auch ein kolossales Vermögen in die Colonie bringe. Dies war der Grund, warum er zur Aufnahme des gräflichen Hofes sich sehr bereitwillig zeigte.

Im October 1831 kam die Gesellschaft auf zahlreichen Wagen in Economy an und wurde auf Rapp’s Veranstaltung mit Pauken, Trompeten, Hörnern und Zwerchpfeifen, sowie durch aufgestellte Kinder mit Blumenkränzen und Vivatrufen an der Grenze der Colonie empfangen und nach Economy geleitet, wo sie zuerst in Rapp’s Castell prächtig bewirthet wurde und dann die für sie bestimmten Wohnungen bezog. Der nächste Sonntag war zu einer kirchlichen Feier für die eingesiedelte Gesellschaft bestimmt. Für den Zug in die Kirche hatte Graf Leon Alles aufgeboten, um einen nach seiner Ansicht imponirenden Eindruck zu machen, bewirkte aber damit, wie mit seiner Prophetenrede nur das Gegentheil und gab den einfachen Harmonisten den ersten Anlaß zum Mißtrauen. Dieses Mißtrauen wuchs in dem Maße, als man wahrnahm, daß die eingewanderte Gesellschaft jene Geldmittel nicht besaß, welche man vorausgesetzt hatte. Da die Proli’sche Gesellschaft nicht an Arbeit, sondern an Lebensgenuß gewöhnt war, so befürchtete man sich eine schwere Last aufgeladen zu haben. Das empfand der alte Rapp am tiefsten. Denn seine Colonie bestand aus etwa achthundert Gliedern und war nach philadelphischen Grundsätzen so eingerichtet, daß sie eine große Familie bildete, die ihren Centralpunkt in dem Patriarchen Rapp hatte. Jedes Glied dieser Colonistenfamilie mußte für die Gesammtheit arbeiten und aus dem Gesammtvermögen erhielt jedes seinen Unterhalt. Die Harmonisten waren in allen Stücken gänzlich von ihm abhängig, weil er während seiner achtundzwanzigjährigen Bewirthschaftung der Colonie einen Schatz von fünf Millionen Dollars aufgehäuft hatte, den er für sein Eigenthum ansah, obschon derselbe aus den Arbeiten der Harmonisten zusammengebracht war.

So waren Rapp und Proli ganz verschiedene Charaktere, die sich unmöglich vertragen konnten. Rapp war Egoist von der starrsten Consequenz; Proli Socialist in der weitesten Bedeutung. Rapp forderte blinde Unterwürfigkeit und angestrengte Arbeitsamkeit für das gemeine Beste, das freilich ihm zu gute kam; Proli verhieß Wohlsein, Vergnügen, Freiheit. Nur in dem einen Stück trafen sie zusammen, daß Beide sich zum Herrschen berufen glaubten: Rapp durch einfache Befehle; Proli durch den Glauben an seine göttliche Mission; Rapp durch Androhung barbarischer Strafen; [347] Proli durch Ankündigung des göttlichen Zorns oder durch Verheißung der göttlichen Gnade. Bei diesen entgegengesetzten Polen konnte die Einigkeit nicht lange bestehen und es ist begreiflich, daß Rapp bei seinen praktischen Consequenzen und bei der langen Dauer seiner patriarchalischen Regierung das Feld behaupten mußte.

In Proli’s Gesellschaft stellte sich bald der Mangel an Geld ein, der in Rapp’s Augen die größte Sünde war, und dieser war nicht zu bewegen, aus seinem reichen Schatze irgend etwas zum Unterhalt der aufgenommenen Proli’schen Gesellschaft abzulassen. So riß der Zwiespalt immer tiefer ein und selbst die Harmonisten ergriffen Partei, von welchen ein gutes Drittheil sich für Proli erklärte. Dieser abgefallene Theil wurde von Proli so wirksam unterstützt, daß Rapp sich der Besorgniß nicht erwehren konnte, es könnte die Rotte der Abgefallenen unter Proli’s Anführung sein Castell stürmen und sich des aufbewahrten Schatzes gewaltsam bemächtigen. In der That waren auch alle Anzeichen eines bewaffneten Aufruhrs vorhanden, so daß Rapp sich entschließen mußte, den Abgefallenen als ihren Antheil am Gesammtvermögen die Summe von hundertundfünftausend Dollars in drei Terminen zu entrichten, wogegen Proli sich anheischig machen mußte, innerhalb vier Wochen mit seinem ganzen Hofstaat die Colonie zu verlassen.

Mit diesem Gelde erwarb die Gesellschaft zu Philippsburgh,[WS 3] etwa neun englische Meilen unterhalb Economy auf dem linken Ufer des Ohio, einen kleinen Weiler mit zerstreuten Hütten, wo Proli siebenhundert Acker Land erstand. Dort fing er auch seinen Geschäftsbetrieb damit an, daß er eine Wirthschaft und einen Schmelzofen erbaute, letzteren in der Absicht, um aus dem dortigen Gestein Gold herauszuschmelzen. Aber alle Versuche der Goldmacherei scheiterten und es kamen nur glasirte Schlacken heraus. Die übrigen Prolianer mußten Waldland klären, mauern, zimmern, Steine und Kohlen herbeitragen, den Boden roden, während der weibliche Hof die Küche zu besorgen, das Vieh zu füttern, Thon anzurühren, Ziegel zu streichen und sich den beschwerlichsten Arbeiten zu unterwerfen hatte, welche mit dem früheren Wohlleben einen sehr traurigen Contrast bildeten.

Durch die kostspieligen Versuche im Goldmachen und mancherlei Bauten waren die Geldmittel bald erschöpft, und die Gesellschaft kam immer mehr herunter, weil neue Geldquellen nicht hinzukamen. Um dieser Noth abzuhelfen, unternahmen sogar die Prolianer einen bewaffneten Einfall in die Colonie des alten Rapp zu Economy, um von diesem eine weitere Summe zu erpressen. Dieser Einfall wurde von den Harmonisten, die ihrem Patriarchen getreu geblieben waren, mit Hülfe anderer Nachbarn glücklich abgeschlagen. Daß Proli hartnäckig leugnete, um diese Meuterei gewußt zu haben und auch derselben nicht überführt werden konnte, machte seine gefängliche Einziehung durch den dortige Friedensrichter sehr schwierig. Es scheint, daß er auf freiem Fuß geblieben ist.

Vergeblich erfolgten jetzt Aufrufe über Aufrufe an die Deutschen in Nordamerika, sich den Prolianern anzuschließen, wobei freilich zwischen den Zeilen zu lesen war, daß sie Geld – vornehmlich Geld begehrten. Unter diesen zahlreichen, von Dr. Göntgen verfaßten Aufrufen befand sich auch ein Ausschreiben in Nummer 304 des Amerikanischen Volksfreundes vom 25. April 1832, worin in bogenlangen Ausführungen versichert wird, daß Proli ein vertauschtes Fürstenkind aus einem der ältesten Regentenhäuser Europas und ein Schützling des Fürsten Primas[WS 4] sei.

Zu jener Zeit, da Proli als das gesalbte Oberhaupt im neuen Jerusalem zu Philippsburgh eines Tages vor seinem Schmelzofen stand, vom Ruß geschwärzt, von Schweiß bedeckt und sehr bekümmerten Herzens über die Zukunft seiner Gesellschaft, sah er eine Gestalt auf sich zukommen, die ihm bekannt zu sein schien. Näher gekommen, erkannte er mit Schrecken den Jesuiten Martin, seinen Mephistopheles in Cork, den Gewissensrath der reichen Miß H. daselbst, den Banknotendieb in London, der aber auch sehr heruntergekommen aussah. Anfangs war Proli sprachlos vor Erstaunen. Allein der Jesuit trat auf ihn zu, reichte ihm die Hand und erzählte unbefangen und beredt seinen vielgestaltigen Lebenslauf seit ihrer Trennung, ohne jedoch in seiner Erzählung den Banknotendiebstahl in London zu berühren. Er schien die That zu bereuen, und Proli, dessen Natur überhaupt eine sentimentale und versöhnliche war, that dessen eben so wenig Erwähnung und führte den Jesuiten in sein Blockhaus, wo derselbe als Proli’s Gefährte geblieben zu sein scheint.

Proli’s Leben und Schicksale gestalten sich seit 1833 immer mühseliger und kümmerlicher. Auf ihm ruht die ganze Kraft der Colonie und alle Kunstgriffe, Geld beschaffen, erweisen sich nutzlos. Alle seine schönen Träume von einer beglückten Menschheit, von einem Elysium auf Erden zerfließen wie Silberschaum im Wogensturz, wenn die Strömung weiter geht und ruhiger wird. Auch erlahmt die Spannkraft seiner Seele allmählich, und wo man darüber erbittert war, daß er so manche ehrenhafte und gläubige Familie in den Strudel seiner seltsamen Bestrebungen gezogen, jetzt trat das Gefühl des Mitleids in seine Rechte ein.

Von allen Seiten bedrängt richtet er sein Augenmerk auf eine Gegend am Missouri, wo 1,200,000 Acker Landes, per Acker einundeinviertel Dollar, feil sind. Allein wie dieselben erwerben, ohne Geld und Credit zu haben? Er strengt sein seltsames Genie an, um Hülfsmittel zu finden, wie ein Schiffbrüchiger den rettenden Balken zu erfassen sucht – Alles umsonst. Im Monat Juli 1833 läßt er die ganze Colonie zusammenrufen und erklärt derselben, daß die Gesellschaft sich auflösen müsse, weil kein Geld mehr da sei, daß er nichts mehr für sie thun könne und daß alle Mitglieder nur für sich selber sorgen und zusehen müßten, wie sie sich künftig ernähren könnten. Es entsteht ein furchtbarer Tumult gegen Proli. Man droht ihm den Tod, während er sich einschließt. Das neue Jerusalem fällt auseinander wie ein Kartenhaus, wenn es von einem Hauche berührt wird. Was man über den letzten Act dieses Dramas in Erfahrung bringen konnte, ist sehr unsicher und mangelhaft. Nach einigen Nachrichten soll Proli zur Absicht gehabt haben, mit achtzehn Personen nach Kentucky zu gehen, aber noch in demselben Jahre 1833 an der Cholera gestorben sein. Nach Anderen ist er in den Staat Arkansas übergesiedelt und hat bald darauf seinen Tod in den Wellen des Missouri gefunden, wobei es unbestimmt geblieben ist, ob dieser Tod ein zufälliger oder absichtlicher war.[WS 5]




Die „Zierlichen“ der Steppe.
Von R. Hartmann.


Unvergeßlich sind mir die Tage, die ich im tropischen Afrika verlebte, dort wo ich auf den unermeßlichen Steppen eine ebenso eigenthümliche, wie vielgestaltige Thierwelt sich tummeln sah. Da jagt der doggenähnliche, schön gefärbte Sémechhund rudelweise die scheue Antilope, brüllend umkreist der Löwe das Lagerfeuer des Nomaden, der Ameisenscharrer und das Schuppenthier durchwühlen den bald sandigen, bald lettigen, mit hohen Gräsern, mit verschränktem Buschwerk und mit Baumgruppen bedeckten Boden. Alle lebenden Geschöpfe nicht blos dieser Region, sondern auch der ganzen Erde übertrifft aber an Sonderbarkeit der Gestalt die Giraffe, diese echte Bewohnerin der Steppe. Ein feiner, schmaler Kopf mit knotig aufgewulsteter Stirn und kurzbehaarten Spießhörnchen paßt sich an den langen, seitlich zusammengedrückten Hals, der sich seinerseits weit absetzt von der breiten, gewölbten Brust. Den kurzen Rumpf mit abschüssigem Rücken tragen die langen, in den Kniegelenken sehr starken, in den Hufen breiten Beine. So baut sich der fünfzehn bis achtzehn Fuß hohe Riese empor. Auf dem weißlich- oder bräunlichgelben Grunde des Felles zeichnen sich röthlichbraune Dreiecke, Trapeze und Vielecke mit fast mathematischer Regelmäßigkeit ab und vervollständigen so das angenehmste Colorit. Die Bewegungen des Thieres sind nicht ohne Zierlichkeit, es geht einen auch in der Ruhe sehr fördernden Paß und stürmt, erschreckt, mit gewaltiger Schnelle über die Ebene dahin.

Die Araber nennen das seltsame Geschöpf El-Seráfeh, die Zierliche, woraus der Name Giraffe entstanden. Die Denka-Neger des weißen Niles aber nennen es Mir, die Hohe, Erhabene. Ich beobachtete im Sennar einige Wochen lang eine zwar noch junge, jedoch bereits sechs Fuß hohe Giraffe. Sie war ein Geschenk [348] Redjib-Adlán’s, des Königs der Fungi-Neger, und sehr zahm, sie fraß aus der Hand und rieb aus Liebkosung ihre Schnauze an Wangen und Schultern des Fütternden. Der Ausdruck ihrer großen, braunen Augen war ein unendlich sanfter, seelenvoller. Sie war daran gewöhnt gewesen, ganz frei im Hofraume der Königswohnung am Berge Gule umherzuspazieren, daher machte es später Schwierigkeit, sie mittels mehrerer um Hals und Oberschenkel geschlungener Stricke zu transportiren. Drei starke Männer hatten ihre Mühe, das edle, schon so mächtige Thier fortzubringen. Leider erlag es auf dem Transporte der Ungunst der Witterung.

Nie werde ich den aufregenden Eindruck vergessen, welchen einmal fünf lebende, wild im Freien befindliche Giraffen auf mich machten. Es war am 16. Juni 1860 zwischen Hedebát und Roséres am blauen Nil, auf einer weiten, dicht mit hohem, wildem Sorghumgrase bestandenen Lichtung des Urwaldes. Regungslos verharrten wir einen Augenblick und staunten die sonderbaren Wesen an, die gravitätisch zwischen den langbeblätterten, knotigen Halmen einherschritten, kleine Zweige von Akazien und Tamarinden des Waldrandes brachen oder mit ihren Zungen am Boden umhertasteten. Die Jagdlust übermannte uns. Wir spannten unsere Gewehrhähne und suchten, von Graswerk und niedrigem Gestrüpp gedeckt, die Entfernung von ungefähr fünfhundert Schritten, welche uns noch von den Giraffen trennte, angemessen zu verringern. Allein die Thiere bemerkten unser Anschleichen nur zu bald. Sie witterten uns, äugten aufmerksam mit vorgerecktem Halse; plötzlich scharrte das eine den Boden mit den Vorderfüßen, warf sich herum und sofort ergriffen alle fünf stürmenden Laufes die Flucht, das Halmgewirr mit den gewaltigen Schenkeln theilend und niederknickend. Bald waren sie uns aus dem Gesicht.

Die Giraffe kommt im Gebirge und im dicht verwachsenen Tropenwalde nicht fort, sie zieht daher die offenen, mit Akazien- und Bauhiniengebüsch bewachsenen Ebenen der Südhälfte von Afrika, die Grasfelder und lichten Dorngebüschhaine Südnubiens und die an Spargelbüschen, Liliengewächsen und Nachtschattenstauden reichen Waldwiesen Sennars vor. Sie ist im Stande, die von beinahe fingerlangen Dornen strotzenden Akazienschosse, welche sie so sehr liebt, mit ihrer wurmförmigen Zunge zu ergreifen und an ihrem stahlharten Gaumen zu zerkauen. Sie frißt nicht allein stehenden Fußes von den leicht erreichbaren Bäumen, sondern sucht auch mit gespreizten Beinen die Nahrung von der Erde auf.

Im Sennar nun machen der männliche Fungi-Neger und der Abu-Rof-Beduine fleißig Jagd auf das stattliche Thier. Hat man ein Rudel derselben in der Steppe erkundet, so vereinigen sich die Jäger an einem Orte zum Aufbruche. Jeder besteigt sein schlankes, ungesatteltes Dromedar, auf dessen gewölbtem Rücken er sich nur durch den Druck seiner muskulösen Schenkel hält. Der dunkelerzfarbene, von Butter glänzende Körper ist nackt bis auf das locker um Hüfte und Schulter geworfene Baumwollentuch, über der linken Achsel hängt in rothlederner Scheide das lange, breite Schwert mit Kreuzgriff. Ein Mann folgt der Jagdpartie von fern, am Sattel seines Reitkameeles sind ein lederner Wasserschlauch und ein Lederfaß mit Belíleh, d. i. rohen, in Wasser gequellten Sorghumkörnern, befestigt. Eine Hand voll Belíleh und ein Schluck Wasser bilden die ganze Erquickung des genügsamen Steppenjägers. So geht es auf lange Stunden hinaus in die Ebene, hindurch zwischen sperrigen, mannshohen Gräsern, zwischen dornigem Buschwerk und Zwergpalmgehegen, zwischen Asclepiasstauden, cactusähnlichen Baumeuphorbien und dichtem Lianengewirr. Von der Kimmung scheinbar emporgerückt, tauchen die blauen Fungiberge über dem trügerischen Spiegel der „Teufelswasser“, dieser entsetzlichen Täuschung für den verdurstenden Steppenbereiser, empor.

Nach langem Suchen hat man das Rudel erspäht. Zwischen der Buschdickung sich möglichst sichernd, nähert man sich langsam und vorsichtig. Das Schwert der Jäger fliegt aus der Scheide, seine scharfe, blanke Klinge glänzt im Sonnenstrahl. Ein Zungenschnalzen des Reiters, ein Ruck mit der linken, den Halfterstrick führenden Faust, und sein Dromedar rennt laut schnaubend, weitausgreifend, gegen die dem Untergang geweihten Giraffen an. Diese bemerken die ihnen drohende Gefahr zeitig und nehmen die Flucht. Die langen Hälse wiegen perpendikelartig vor- und rückwärts, die trockenen Halme und Aeste krachen unter dem Tritt der schnellen Hufe, empor fliegen Steine und Erdschollen, hochauf wirbelt der Staub. In toller Jagd rasen Giraffe und Reiter hintereinander her. Nichts hilft dem gehetzten Thiere seine Schnelligkeit, nichts hilft ihm sein Kreuzen und Hakenschlagen. Röchelnden Athems, die Zunge bleifarben aus dem schäumenden Maule hängend, die Augen hervorquellend, entsetzte, verzweiflungsvolle Blicke schießend, eilt die „Zierliche“ dahin.

Ein Jäger ist nahe an ein schönes Stück gedrungen, einige Sätze noch und er ist seiner Beute unmittelbar auf der Ferse. Der schwankende, unsichere Tritt der Giraffe läßt auf ihre sinkenden, unter dem Eindrucke der Angst noch schneller schwindenden Kräfte schließen. Jetzt beugt sich der Jäger auf dem Rücken seines Dromedars vornüber, mit Gedankenschnelle erspäht er die augenblickliche Stellung eines Hinterbeines, weit holt er aus, da – ein flammender Streich seines Schwertes, vielleicht noch einer und zuckend läßt sich der geschlagene Riese auf das blutende Hintergestell nieder, zuckend stürzt er zur Seite und krampfhaft um sich schlagend, wühlt er das lockere, staubige Erdreich auf. Der Jäger hat ihm mit wohlgezieltem Schwerthiebe die Bänder am Sprunggelenke eines oder beider Hinterbeine durchhauen und ihn somit wehrlos in seine Hände gebracht. Ein donnerndes Jachú el-Hami-lilláhi, Allah-Kerím (Gott sei Dank, Gott ist barmherzig), jenes Halali des nubischen Waidmannes, tönt durch die stille Luft. Man reitet von allen Seiten herzu, springt von den Dromedaren und fällt die edle Beute bald gänzlich mit Schwerthieben und Schwertschnitten in Beine und Kehle. Das Stück wird enthäutet, das Fleisch vertheilt. Letzteres wird sofort in riemenartige Streifen geschnitten, welche, in der Sonne gedörrt, einen beliebten Reiseproviant bilden. Nur wenn die Gesellschaft sehr hungrig, macht man mittels Reibhölzchen flugs ein Feuer von dürrem Astwerk und Steppengras, brät einige Fleischstücke leicht hin und schlingt sie noch halb roh mit behaglichem Geschmatze hinein. Dann geht es zurück nach Hause.

Die Haut der Giraffe dient diesen Leuten zur Verfertigung von Schilden und Sandalen, die buschige Schwanzquaste als Fliegenwedel. Das knöcherne Becken reinigt der Hammégneger von Fleisch und von Sehnen, bespannt es mit Darmsaiten und benutzt es als Leier bei Aufführung seiner Kriegs- und Liebesgesänge.

Befinden sich Junge bei einem Giraffenrudel, so werden diese, nach Tödtung oder Versprengung der Mutterthiere, meist ohne Mühe gefangen. Diese Geschöpfe, noch unbeholfen wie sie sind, ergeben sich ohne Widerstand den Jägern, wenn sie nur vorher etwas müde gehetzt worden sind. Bei vorgerückterem Alter gerathen sie leicht in die Wurfschlinge des Jägers, die dieser, ganz wie der südamerikanische Steppenreiter den Lasso, geschickt zu gebrauchen versteht. Jung eingefangene Giraffen sind beliebte Zuchtthiere der äthiopischen Häuptlinge, sowie der türkischen Gewalthaber des Landes und ein gesuchter Artikel für europäische Speculanten. Ihre Aufzucht im Lande mit Kameelmilch, später mit Korn und Stroh von Sorghum macht sich sehr gut, und ihre Grazie, ihre Sanftmuth stempeln sie zum schönsten Schmuck eines äthiopischen Hoflagers.

Die Hadéndua und andere Nomadenstämme des Taka jagen die Giraffe zu Pferde und verfahren dann ganz so, wie vorhin beschrieben. Die Jagd auf Pferden soll früher auch bei den Fungi Mode gewesen sein. Allein König Redjib-Adlán, selber ein leidenschaftlicher Waidmann, theilte mir mit, die Pferdejagd sei in seinem Gebiete abgeschafft und mit der zu Dromedar vertauscht worden. Die gehetzte und in die Enge getriebene Giraffe, meinte er, setze sich nämlich manchmal zur Wehr, schlage wüthend mit den gewaltigen Hinterbeinen aus und zerschmettere dann leicht den Brustkasten des verfolgenden Pferdes. Das höher gebaute Dromedar dagegen treffe sie nicht so leicht. Sei dem nun, wie ihm wolle, die Giraffe besitzt in ihren Hinterbeinen keineswegs verächtliche Waffen, mit welchen sie selbst Löwen betäuben oder gar tödten soll. Man erzählte mir auch, die Mária und andere Stämme Ostabyssiniens, wie des Barka, jagten die Giraffen in dichte, mit Seilwerk künstlich durchflochtene Buschdickungen, in denen sie sich leicht verwickelten und so zu Fall kämen.

Die beifolgende Abbildung stellt eine Giraffenjagd auf den zwischen den Bergen der Fungi gelegenen Steppen dar. Ein Jäger, Namens Othmán, hat mir die Art und Weise der Jagd zu Dromedar selbst vorgespielt. Gegend, Tracht etc. sind treu nach der Natur dargestellt worden.



[349]

Giraffenjagd in Afrika.
Nach der Natur aufgenommen von R. Hartmann und auf Holz gezeichnet von Rob. Kretzschmar.

[350]
Ein zeitgemäßer Schritt zur deutschen Einheit.


Jeder weiß und sagt es gelegentlich, und der Herausgeber der Gartenlaube hat es mit großen Lettern auf seinem Comptoir angeschlagen: Zeit ist Geld. Aber wir wissen diese Quelle des Reichthums, des wirklichen und geistigen Wohlstandes immer noch nicht recht zu benutzen und verwüsten durch allerhand unwirthschaftliche Sitten und Gebräuche und ohne unsere persönliche Schuld wegen mangelhafter Zeitmessung jährlich wohl viele Tausende von Thalern in der versteckten Form des Zufrüh- und Zuspätkommens. Daran sind wir nur insofern schuld, als wir den Werth der Pünktlichkeit noch nicht zu schätzen wissen, aber unschuldig, weil auch unsere besten Uhren nicht nur an verschiedenen Orten, sondern auch in derselben Stadt mehr oder weniger bedeutend von einander abweichen. Es handelt sich dabei oft nur um wenige Minuten, aber wenn man diese zusammenzählt und jedem Geschäftsmanne und jedem Eisenbahnreisenden eine Jahresrechnung daraus zusammenstellt, kommt schon ein ziemlich ansehnliches verlorenes Capital heraus.

Es ist höchste Zeit, uns gegen diese Verluste zu sichern. Das Hauptmittel dagegen ist jedenfalls eine richtige Zeitmessung, eine oder mehrere Normaluhren in jeder Stadt, auf jeder Eisenbahnstation, an allen wichtigen Geschäftsplätzen, so daß auch kleinere Ortschaften und Dörfer ihre Uhren danach stellen können. Was ist aber richtige Zeit? Was eine Normaluhr? Wir wollen diese Fragen so leicht und praktisch wie möglich beantworten und dabei auf die betreffenden vollkommensten Einrichtungen in England hinweisen.

Wir entlehnen bekanntlich unsere Zeiteintheilung aus den scheinbaren Ortsveränderungen der Sonne, welche dieselbe in Folge wirklicher Bewegungen unserer Erde am Himmel zeigt. Diese Bewegungen sind doppelter Art. Erstens dreht sich die Erde wie ein Kreisel um seine Achse, und zweitens bewegt sie sich in einer großen, nahezu kreisförmigen Bahn um die Sonne. In Folge der ersten Bewegung sehen wir die Sonne täglich im Osten auf- und, nachdem sie einen großen Bogen am Himmel beschrieben hat, im Westen wieder untergehen. Die Zeit, welche zwischen den beiden Zeitpunkten verfließt, wo die Sonne in jenem Bogen am höchsten steht, nennen wir einen Tag und theilen ihn in vierundzwanzig gleiche Theile, die wir Stunden nennen. In Folge der zweiten Bewegung unserer Erde scheint die Sonne ebenfalls am Himmel fortzurücken, aber viel langsamer und fast gerade nach der entgegengesetzten Richtung, als sie es bei der täglichen Bewegung thut. Die Zeit nun, welche verfließt, damit die Sonne in Folge dieser zweiten Bewegung wieder an dieselbe Stelle des Himmels gelangt, nennen wir ein Jahr. Während jedoch die tägliche Umdrehung der Erde um ihre Achse zu jeder Tageszeit stets genau mit gleicher Geschwindigkeit erfolgt, so ist dies bei der jährlichen Bewegung der Erde um die Sonne in den verschiedenen Jahreszeiten nicht der Fall. Die Folge davon ist, daß das kleine Stückchen Weges, welches die Sonne täglich in der nahezu entgegengesetzten Richtung ihrer täglichen Bewegung am Himmel zurücklegt, in verschiedenen Zeiten des Jahres verschieden groß ist. Aus diesem Grunde kann nun auch der Zeitraum zwischen zwei höchsten Stellungen der Sonne nicht zu allen Zeiten des Jahres derselbe sein.

Um den Einfluß dieses Unterschiedes aufzuheben, hat man im Gegensatz zu der oben erwähnten wahren Zeit eine sogenannte mittlere Zeit eingeführt, bei welcher die Dauer des Tages durch die Zwischenzeit zweier aufeinanderfolgender höchster Stellungen der Sonne unter der Annahme bestimmt wird, daß die scheinbare jährliche Bewegung der Sonne eine gleichförmige sei. Hierdurch wird also das oben erwähnte Stückchen Weg, um welches die Sonne täglich im entgegengesetzten Sinne ihrer täglichen Bewegung am Himmel fortrückt, als gleich und von mittlerer Größe des wirklichen vorausgesetzt, so daß eine nach mittlerer Zeit richtig gehende Taschen- oder Wanduhr zu verschiedenen Zeiten des Jahres einer Sonnenuhr entweder vor- oder nachgehen muß. So gehen z. B. im Februar alle mittleren Uhren den Sonnenuhren fast um eine Viertelstunde nach, im November über sechszehn Minuten vor. Deshalb enthalten auch in der Regel die Kalender eine Tabelle, welche die Größe dieses Unterschiedes für alle Tage des Jahres, als sogenannte Zeitgleichung, angiebt und dazu dient, die Uhren nach einer richtig aufgestellten Sonnenuhr stets auf mittlere Zeit zu stellen.

Die Sonne legt während eines Tages ihren scheinbaren Lauf am Himmel wie ein großer Sonnenuhrzeiger von Osten nach Westen zurück. Je weiter östlich also ein Ort liegt, desto eher geht sie für denselben auf, desto eher wird es Mittag und Abend etc. Es können folglich nicht alle Orte auf der Erde dieselbe Zeit haben, sondern nur diejenigen, für welche die Sonne in ihrem täglichen Bogen am Himmel genau um dieselbe Zeit des Mittags am höchsten steht. Denken wir uns alle Orte, für welche dies der Fall ist, durch Linien miteinander verbunden, so sind dies die sogenannten Meridiane oder Mittagslinien. Es sind große Kreise auf der Erdkugel und gehen durch beide Pole derselben, wie man dies auf einem jeden Globus verzeichnet findet. Alle Orte, welche in derselben Mittagslinie liegen, müssen demnach gleiche sogenannte Orts- oder locale Zeit haben.

Will man nun für ein größeres Land an allen Orten dieselbe Zeit einführen, so muß man sich zunächst darüber vereinigen, für welche Mittagslinie dieselbe gelten solle. So hat man in England für diesen Zweck die Mittagslinie gewählt, welche durch die berühmte Sternwarte in Greenwich geht; die Franzosen haben den Meridian von Paris gewählt; und die Deutschen?

Ja, das weiß ich nicht. Ich glaube wirklich, sie haben noch nicht einmal in Bezug auf ihre Zeitmessung einen Einheitspunkt gefunden, so daß man sich nicht wundern kann, warum sie in Münze, Maß und Gewicht noch in der größten Anarchie leben. Was unsere Zeitmesser betrifft, so kann man selbst durch den großen, geraden Längengrad der norddeutschen Hauptstadt, die Friedrichstraße von Berlin, hindurch gehen und an zehn bis zwanzig öffentlich ausgestellten Chronometern der Uhrmacher studiren, daß nicht zwei genau miteinander übereinstimmen. Von den Eisenbahnuhren heißt es nur im Allgemeinen, daß sie absichtlich etwas nachgehen, um den Reisenden Gelegenheit zu geben, jedesmal mit Verwüstung von so und so viel Minuten für jeden Einzelnen noch zu rechter Zeit zu kommen. Diese Zeitverluste zusammengerechnet geben wohl für diese Stadt allein täglich ein paar Hundert verlorene Stunden. Wie viele im Jahre und in ganz Deutschland?

Es wäre interessant, diese Verluste von allen einzelnen Eisenbahnstationen in ganz Deutschland nach Stunden, Tagen und Jahren zusammenzurechnen und, da Zeit Geld ist, dieses Deficit in Thalern auszudrücken. Wir würden sicherlich davor erschrecken, selbst wenn man nur den niedrigsten Tageslohn zu Grunde legte.

Da wir in unseren Sternwarten und den vielen Tausenden von Meilen elektrischer Drähte bereits die Mittel haben, diese Verwüstung von kostbarer Zeit zu sparen und einheitliche, richtige Zeitmessung ein- und durchzuführen, so würden wir im Schrecken vor dieser Verschwendung, zu welcher jeder gebildete Mensch unwillkürlich mehr oder weniger große Summen beitragen muß, gewiß nicht länger anstehen, das in England am vollkommensten durchgeführte System einheitlicher, richtiger Chronometrie auf deutschen Boden zu verpflanzen. Dieses System besteht wesentlich in folgenden Einrichtungen. In der Sternwarte von Greenwich weiß man zu jeder Tages- und Nachtzeit stets mit der größten wissenschaftlichen Genauigkeit bis auf den kleinsten Theil einer Secunde, welche Zeit es nach der Sonne und den Sternen und wie groß der Unterschied zwischen der Sonnen- und der richtigen mittleren Zeit ist. Die Wunder von Instrumenten und Einrichtungen dafür würden, beschrieben, eines der interessantesten und dicksten Bücher füllen. Wir wollen hier nur so kurz wie möglich angeben, auf welche Weise die richtige Greenwich-Mittelzeit von hier aus regelmäßig und genau bis auf die Secunde nach allen Theilen des Landes angezeigt und verbreitet wird. Die populärste Zeittelegraphie besteht in einer großen Kugel, welche allemal punkt ein Uhr mehrere Fuß tief auf der Spitze des Sternwartenthurmes an einem eisernen Stabe herabfällt. Die Kugel ist an hellen Tagen Tausenden von Schiffen auf der Themse und in den Docks und Millionen von Menschen sichtbar. Aber Nebel und Entfernung machen diese Mahnung oft ziemlich unbrauchbar, so daß die Sache nur noch wie eine Spielerei gelten kann.

Die Pulse der Zeitschläge gehen von hier aus in regelmäßigen Zuckungen und in vielen Tausenden von elektrischen Adern durch das ganze Land. Die berühmte Uhr der Greenwich-Sternwarte, welche immer bis auf die Secunde genau die richtige chronometrische Mittelzeit [351] zeigt, telegraphirt zunächst jeden ersten Schlag der Stunde in die verschiedensten Theile Londons, ganz besonders in das Hauptbureau der elektrischen und internationalen Telegraphen-Compagnie, wo ein merkwürdiges Instrument, der sogenannte Chronophor, diese Meldung blitzschnell nach den verschiedensten Theilen des Landes zuckt. Dieses Instrument hat eine solche Zauberkraft, daß es alle aus dem Bureau auslaufenden Telegraphendrähte mitten in ihrer gewöhnlichen Arbeit augenblicklich unterbrechen und den von Greenwich erhaltenen Zeitschlag sofort nach allen Enden des Königreichs telegraphiren kann. Dies geschieht ohne alle menschliche Zuthat durch bloße mechanische Mittel. Die ausgedehnteste Vertheilung des Greenwicher Zeitsignals findet alle Tage um zehn Uhr Vormittags statt, wo viele Hunderte von Eisenbahnen etc. wie mit einem einzigen Blitz in derselben Secunde bis in die nördlichsten Einöden Schottlands die Nachricht erhalten, daß eben in Greenwich die berühmte Normaluhr den ersten von den zehn Schlägen der Stunde gethan hat. Die anderen Uhren werden dann sofort bis auf die Secunde gestellt und auch die Kirchenuhren in den betreffenden Städten und der Nachbarschaft, so wie Tausende von Taschenuhren erhalten danach einen verhältnismäßigen Schub.

Außerdem sorgen die Sternwarten von Liverpool, Edinburgh und Glasgow auf ihre eigene Weise, aber in genauer Uebereinstimmung mit Greenwich für Verbreitung und Einhaltung der richtigen Zeit in diesen Städten und den benachbarten Gegenden. Hier ist besonders die elektrische Controle der verschiedensten Uhren von den Sternwarten aus bemerkenswerth und jedenfalls von großer Wichtigkeit für Deutschland, wenn es sich ermannen und vereinigen sollte, seine Zeit richtiger zu messen und besser zu benutzen. Diese elektrisch-controlirten Uhren unterscheiden sich von gewöhnlichen Pendeluhren in ihrer Construction gar nicht und haben statt der üblichen Scheibe am Secundenpendel eine Rolle übersponnenen und isolirten Draht, in welchen mit jeder Secunde von einer Normaluhr der Sternwarte ein galvanischer Strom fließt. Während dieses Augenblickes, und nicht länger, wird der Draht jedesmal magnetisch. Ein neben dem Pendel angebrachter immerwährender Eisenmagnet wirkt dadurch auf die Schwingungen desselben so regulirend, daß der Pendel zu jeder Schwingung genau nur eine Secunde braucht. Durch diese lebendige Verbindung mit der betreffenden Normaluhr wird jede andere, wenn sie einmal gehörig eingerichtet ist, ebenfalls zu einer Normaluhr, auf die man sich jederzeit bis auf die Secunde verlassen kann. Dadurch ist besonders die große Rathhausuhr in Liverpool wegen ihrer seit Jahren untrügerischen Richtigkeit, ihres weithin leuchtenden Gesichts und ihrer fernhintönenden Glockenschläge berühmt geworden. In ähnlicher Weise werden viele Eisenbahn- und Kirchenuhren Liverpools, Edinburghs und Glasgows bis in die Segel- und Dampfschiffsregionen am Meere und auf dem stets belebten Clyde-Flusse regulirt, und in Edinburgh besteht außerdem eine geniale Einrichtung, nach welcher in dem Augenblicke, wo der große Ball auf der Greenwich-Sternwarte fällt, allemal eine Kanone von selbst losgeht. Dicht neben der Kanone befindet sich eine elektrisch controlirte Uhr, welche dieselbe immer auf die Secunde richtig abfeuert, indem sie ein Gewicht auf den Zünder fallen läßt. Diese Uhr wird auf die angegebene Weise elektromagnetisch von der astronomischen Normaluhr der Sternwarte aus controlirt. Ebensolche Uhrenkanonen gehen allemal punkt ein Uhr in Newcastle und Shields los und werden aus hundertmeiliger Entfernung von der Sternwarte zu Greenwich aus allemal in der richtigen Secunde vermittels des galvanischen Stromes und eines sogenannten chemischen Zünders mit der größten Sicherheit und Pünktlichkeit abgefeuert. Der Donner derselben pflanzt sich in weite Ferne fort und mahnt jedesmal Millionen von Menschen an die Richtigkeit und Wichtigkeit der Zeit.

Man nimmt es dabei mit dieser donnernden Mahnung so genau, daß man den Leuten, welche sie in der Ferne hören, den Rath giebt, für jede englische Meile Entfernung vier und eine halbe Secunde (so viel Zeit braucht der Schall für jede Meile) an ihrer Uhr hinzuzurechnen. Dadurch haben sich die Leute bereits gewöhnt, es mit der Zeit und der Benutzung derselben überhaupt genau zu nehmen. Dies ist ein wirthschaftlicher und zugleich sittlicher Vortheil, von welchem in Deutschland nur erst sehr wenige Menschen eine richtige Vorstellung haben. Man kennt und liebt diese täglich pünktlich wiederkehrenden lauten Mahnungen der friedlichen und belebenden Kanonen, deren viele Tausende von Collegen vielleicht einmal in späteren Jahrhunderten ähnliche bürgerliche und nützliche Anstellungen finden werden. Nur manchmal findet sich in diesen englischen Städten ein Fremder oder Matrose ein, der nicht weiß, was dieser täglich wiederkehrende Kanonenschuß bedeutet. So ging einmal die Zeitkanone von Newcastle los, als just ein Matrose über die Brücke unterhalb derselben schritt. Er erschrak furchtbar vor dem Donner derselben dicht über ihm. „Was war das?“ fragte er ganz erstaunt. „Es schlug eben ein Uhr,“ war die Antwort. „Ein Uhr?“ rief der Matrose. „Gott sei Dank, daß ich nicht um zwölf Uhr gekommen bin!“

Die vollkommenste und riesigste Zeitkanone und Normaluhr donnert ihre Stundenschläge, auch die Viertel und Hälften, mit unübertroffener Pünktlichkeit von dem Victoriathurme des Parlamentsgebäudes herunter. Sie gilt nicht nur für das riesigste, sondern auch das vollkommenste Uhrmacherkunstwerk und verläßt sich für ihre secundengenaue Pünktlichkeit weder auf astronomische, noch elektrische Controle, sondern auf ihr eigenes Räder- und Federwerk. In telegraphischer Verbindung mit der Sternwarte zu Greenwich steht sie nur deshalb, um diesem Hauptbureau der Normal-Zeitmessung von selbst die Regelmäßigkeit ihres Ganges anzuzeigen. Von da aus wird sie genau beobachtet und ihr nie erlaubt, mehr als zwei Secunden von der wahren Mittelzeit abzuweichen. Ueber die Grenzen dieser Erlaubniß ist sie nach einem officiellen Berichte der königlichen Sternwarte noch nie hinausgegangen und während einer Woche niemals nur um eine Secunde zurückgeblieben oder vorgegangen. Wenn wir bedenken, was eine Secunde ist und daß dieses Riesenwerk sich wochenlang bis auf diesen Zeittheil richtig fortbewegt, so haben wir wohl Grund, sie als das größte Meisterstück horologischer Kunst anzuerkennen. Das Uhrwerk steckt in einem Rahmen fünfzehn und einen halben Fuß lang und vier Fuß sieben Zoll breit; der Pendel, der immer grade zwei Secunden zu einer Schwingung braucht, wiegt siebenhundert Pfund, und die vier, nach entgegengesetzten Himmelsrichtungen, auch des Nachts weithin leuchtenden Gesichter oder Zifferblätter haben jedes einen Durchmesser von zweiundzwanzig und einem halben Fuß. Ein starker Mann hat im Schweiße seines Angesichts jedesmal eine volle Tagesarbeit, die Uhr aufzuziehen. Die Bevölkerung Londons hat in diesem Riesenwerke Tag und Nacht fortwährend für Augen und Ohren die zuverlässigsten, weithin leuchtenden oder donnernden Normal-Chronometer. Die große Glocke (Big Bell) donnert die Stundenschläge mit einer so furchtbaren Gewalt in alle Richtungen der Windrose, daß der ungeheure massive Thurm in allen Fugen zittert und selbst die benachbarten Häuser unten oft Gläser und Teller klirren hören.

Da es nun auch in allen Theilen Londons, auf Hunderten von über- und unterirdischen Eisenbahnstationen, in der Bank und Börse, in kaufmännischen Bureaux, an den Schaufenstern von Uhrmachern und durch ganz England hindurch bis nach den äußersten Spitzen eine sehr große Menge solcher einheitlichen Normaluhren giebt, welche von der Sternwarte zu Greenwich aus durch die angedeuteten Mittel in pünktlichster Harmonie erhalten werden, so ist man überall im Lande in Bezug auf Geschäft und die ununterbrochen hin und hereilenden Dampfzüge zu Wasser und zu Lande, auf und unter der Erde der Zeit und ihrer Benutzung bis auf die Secunde sicher und erzielt dadurch Ersparnisse, die sich nach vielen Tausenden von Pfunden berechnen lassen und welche uns wegen der Willkür und Anarchie unserer Uhren und der dadurch gepflegten oder oft unvermeidlich gewordenen Unpünktlichkeit auf eine barbarische Weise verloren gehen.

Dies sollte uns eine ernste Mahnung sein, es auch in Deutschland mit der Zeit genau zu nehmen und von den Sternwarten aus Einrichtungen zu treffen, durch welche auf allen unseren Eisenbahnhöfen, in Bureaux, Fabriken etc. eine einheitliche Zeitmessung gesichert würde. Diese zeitgemessene Einheit ist eine wirthschaftliche Nothwendigkeit und zugleich eine gute Vorbereitung zu der schon längst erstrebten Einheit in Münze, Maß und Gewicht, welcher die politische, mercantile und sociale Harmonie des deutschen Volkes hoffentlich bald folgen wird, zumal wenn es sich jeder anständige und gebildete Mann in seiner eigenen Sphäre ernstlich angelegen sein läßt, locale, persönliche, kleinstädtische und kleinstaatliche Besonderheiten aufzugeben und sein Herz und seinen Gesichtskreis für die großen, gemeinsamen Ideen und Bestrebungen des kosmopolitischen deutschen Volkes zu erweitern und zu erwärmen.
H. B.



[352]
Blätter und Blüthen.


Aus den Erinnerungen einer Hebamme. 1. Am Abgrund. In einer schönen, mond- und sternehellen Winternacht verließ ich ein Haus in der Vorstadt. Der Anblick des herrlichen Himmels fesselte mich; ich wandte deshalb meine Schritte dem Freien zu und ließ mich endlich dort auf einer Bank am Wege nieder, um mich an dem prachtvollen Firmamente zu weiden. Wie ich so dasaß und schaute, trat mir meine Kinderzeit vor die Seele, jener Abend, wo mein seliger Vater mir zuerst den Orion am Sternenhimmel gezeigt, und unwillkürlich suchte ich ihn auch jetzt und labte mich an seinem Anblick. Endlich fühlte ich meine Augen vom Glanze geblendet und ließ die Blicke über die Schneefläche irren, um irgend einen dunklen Punkt zum Ausruhen für dieselben zu suchen. Und wirklich fand ich einen solchen, aber einen, der plötzlich alle meine Ruhe vertrieb.

In ziemlicher Entfernung von mir lag es am Boden wie ein schwarzer Haufen, aber plötzlich streckten sich zwei Arme daraus empor und gleich darauf vernahm ich stöhnende Laute. Wie ein Blitz durchfuhr mich ein schrecklicher Gedanke. An jener Stelle, wußte ich, gähnte steil und tief der Abgrund eines verlassenen Kohlenschachtes; ich hatte einmal am Tage hinabgeblickt und mir schauderte noch vor der unheimlichen Tiefe. Wer um diese Zeit dort jammert, kann es nur auf einen Schritt der Verzweiflung abgesehen haben.

Hier mußte ich dazwischen treten, das sagte ich mir sofort, aber wie? Wenn das unglückliche Wesen mein Nahen bemerkte, so beschleunigte ich vielleicht nur den Selbstmord. Da erinnerte ich mich eines Grabens, der von meinem Wege sich bis in die Nähe der Kohlengrube hinzog, und ich erkannte nun auch den dunklen Strich desselben am Boden. Ich schlich dahin, allein der Graben war so voll Eis und Schnee, daß er mich nicht ganz verborgen hätte. So that ich denn meinen Mantel ab und kroch nun auf allen Vieren, mit angstvoll verhaltenem Athem und doch laut pochenden Herzens, den Graben entlang. Endlich nahe genug gekommen, sah ich eine Frauengestalt in schwarzen Gewändern, auf den Knieen liegend, weinend und laut betend, daß Gott ihre That verzeihen und sich ihrer Kinder erbarmen möge. Sie hörte mich nicht, als ich aus dem Graben stieg und mich ihr näherte. Nur ein paar Schritte von uns gähnte die schwarze Todespforte, daß mich ein Grausen überlief. Und da erhob sich langsam die Gestalt und schlug die Capuze des seidenen Mantels vom Kopfe zurück; diese ergriff ich rasch mit der einen Hand, und als sie nun auch den Mantel loshaken wollte, offenbar um ihn vor dem Sprung in den Abgrund abzuwerfen, faßte ich mit der andern ihren Arm und riß sie rückwärts. Ein entsetzlicher Schrei – wir starrten uns an – lautlos, zitternd: ich erkannte sie, sie mich. – Vor mir stand eine der angesehensten Damen der Stadt, reich und schön, noch nicht dreißig Jahre alt und Mutter von mehreren prächtigen Kindern. Ich hatte sie in ihrem letzten Wochenbett gepflegt und so Tage lang die Gelegenheit gehabt, sie nur glücklich und zufrieden zu sehen. Und jetzt! – Welch’ ein Ringen um ein Wort! Endlich stieß sie’s hervor: „Was wollen Sie?“ keuchte sie. „Was haben Sie mir nachzuschleichen? Warum halten Sie mich fest?“ – „Lassen Sie mich los!“ schrie sie endlich außer sich und versuchte, sich loszureißen. Ich widerstand mit aller Kraft, und so begann ein Zerren und Ringen zwischen uns an dem Abgrund. Sie wehrte sich wüthend und biß mich sogar, aber mein besserer Muth siegte. Sie fest umschlingend, zog ich sie vom Schachte hinweg, ihr Widerstand erlahmte; langsam, zögernd, aber doch still ergeben ließ sie sich von mir den Graben entlang führen, während ich mit zitterndem Herzen in sie hineinredete, wie ich auf jene Bank gekommen und sie gesehen, und daß Niemand von dem Vorfall wisse, gar Niemand, außer Gott. – „O, wenn Sie wüßten!“ seufzte sie endlich. - „Ich will nichts wissen,“ entgegnete ich. „Vielleicht sind Sie unglücklich – sehr unglücklich – ich will nicht danach fragen. Ich weiß nur das Eine, daß es Pflicht aller Menschen ist, sich in das Unvermeidliche zu fügen, und daß meine gute selige Mutter mich gelehrt hat, bei Allem, was mir Uebles begegnet, zu allererst den Grund in mir selber zu suchen, und da bin ich oft dahinter gekommen, daß ich selbst die Ursache meiner eigenen Widerwärtigkeiten war; wo ich aber schuldlos litt, habe ich’s mit Gottvertrauen getragen.“

Die Dame schwieg. Ich half ihr den Mantel wieder umlegen, hüllte mich in meinen eigenen Mantel, und so machten wir uns auf den Weg zu ihrer sehr entfernten Wohnung. Kein Laut wurde zwischen uns gewechselt. Als wir in die Nähe ihres Hauses kamen, schlug es drei Uhr. Sie hatte beim Fortgang den Hausschlüssel unter die Thür geschoben und fand ihn noch an derselben Stelle. Da hörte ich sie bewegt sagen: „Er ist noch nicht zu Hause!“ –

Sie konnte doch nur ihren Gatten gemeint haben, und eine Ahnung vom Zusammenhang dieser Nachtschwärmerei und ihres nächtlichen Gangs stieg in mir auf. Deshalb flüsterte ich ihr zu: „Das ist ja gut! Nun können Sie sich bei seiner Heimkehr schlafend stellen und ihn morgen früh recht freundlich empfangen.“ Sie aber seufzte tief und sagte: „Das Heucheln bin ich nicht gewohnt; ich habe noch immer und jederzeit gesprochen und gethan, wie es mir um’s Herz ist.“

Ich sah nun klar in das Verhältniß, schwieg jedoch und begleitete die Dame in ihr Wohnzimmer, versicherte sie, weil sie das beruhigen konnte, nochmals meiner tiefsten Verschwiegenheit und wollte mich eben entfernen, als wir den Herrn Gemahl die Treppe herauf kommen hörten. Als er das Zimmer betrat, sah ich nicht blos sein Staunen über meine Anwesenheit, sondern auch seinen überreizten Zustand. Jeder Frage zuvorkommend erklärte ich ihm, daß seine Gemahlin plötzlich sehr unwohl geworden, daß man vergeblich nach einem Arzt geschickt, daß ich auf meinem Heimgang von einem Geschäftsweg dies zufällig erfahren und hierher geeilt sei, damit seine Gattin in ihrem leidenden Zustand nicht ganz allein habe sein müssen. Darauf empfahl ich mich.

Wie kleinlich sind oft die Ursachen unsäglichen Unglücks! Die Heftigkeit der Frau und die Empfindlichkeit und rücksichtslose Genußsucht des Mannes haben einen Auftritt herbeigeführt, und in Folge dessen läuft er in’s Wirthshaus und sie zum Kohlenschacht, – und hätte mich meine Mondnacht-Seligkeit nicht dazwischen geführt, so war ein Selbstmord geschehen, ein Mann vernichtet und das Leben unschuldiger Kinder für immer getrübt!

Lange Zeit erfuhr ich nichts über das Ehepaar, und ich muß gestehen, das verletzte mich, denn ich hätte doch gern etwas Näheres gewußt. Wohl ein halbes Jahr nach jener Nacht wohnte ich einer großen Tauffeier bei, unter deren zahlreichen Gästen ich auch meine Gerettete wieder fand. Ich beobachtete sie erst, von ihr unbemerkt, und staunte über ihre Frische und Schönheit und über die Einfachheit und doch Eleganz ihres Anzugs. Sie strahlte von Glück und Freude. Als sie mich endlich sah, kam sie zu mir, ergriff meine beiden Hände und flüsterte mir zu: „Theure Freundin, was denken Sie von mir, daß ich Ihnen noch keinen Dank gesagt? Würdigen Sie das Gefühl, das mich immer zurückhielt, Ihnen wieder unter die Augen zu treten. Heute kann ich’s Ihnen nun sagen, daß ich jetzt glücklich bin, und Ihnen allein verdanke ich das und den Worten Ihrer guten seligen Mutter! Ja, ich habe Ihre Mahnung befolgt, ich habe mich und mein Betragen geändert, habe meine Heftigkeit und Vorwürfe in Milde und sanfte Bitten verwandelt, und seitdem ist auch mein Mann die Güte selbst, giebt mir nie mehr Ursache zu einer Klage, und unsere Liebe ist wieder so innig, wie in den ersten Tagen unserer Vermählung. Und das Alles, Alles verdanke ich Ihnen, und“ – hauchte sie mir tief erröthend zu – „das Leben selbst!“

Ich winkte ihr ab, um kein Aufsehen erregen zu lassen, aber so selig wie ich ist gewiß keines von all’ den Reichen und Glücklichen dieses Festes gewesen. – Vor ganz kurzer Zeit pochte es an meine Thür und herein trat meine Dame mit ihrem Gemahl. Sie theilten mir mit, daß ich bald zu einem freudigen Ereigniß bei ihnen würde gerufen werden. Aus den Blicken und Worten des nun von ganz anderem Reiz, als damals, belebten Gatten erkannte ich deutlich, daß er in mir die Bewahrerin eines ewig mahnenden Geheimnisses ehrte. Auch das that mir wohl.




Freiligrath-Dotation.


Bei dem Barmer Haupt-Comité sind wiederum eingegangen: Von Freunden in Hattingen durch Dr. Vondram 15 Thlr., von einem Verehrer des Dichters in Dresden 100 Thlr., vom siebenzigjährigen Secretair der Krankencasse des Hörder Bergwerksvereins 1 Thlr., von Freunden in Hagen, gesammelt durch Eduard Schulte 252 Thlr. 15 Ngr., N. N. in Hattingen 1 Thlr., N. N. in Witten 1 Thlr., N. N. in Dresden 2 Thlr., Schumacher in Arolsen 1 Thlr., H. B. S. in Barmen 10 Thlr., H. O. das. 5 Thlr., J. S. das. 5 Thlr., J. D. S. das. 3 Thlr., E. B. das. 25 Thlr., G. G. das. 10 Thlr., W. G. das. 5 Thlr., N. N. das. 25 Thlr., A. B. das. 25 Thlr., L. L. H. das. 10 Thlr., W. M. das. 10 Thlr.

Gesammte Einnahme bis heute 1643 Thlr. 15 Ngr.

Bei der Redaction der Gartenlaube: L. Hugo in Carlsruhe 5 fl., eine lustige Gesellschaft im Wilden Mann zu Annaberg 19 Thlr. 10 Ngr., Sammlung im Handwerker- und Gewerbeverein in Halberstadt 10 Thlr., Fortbildungsverein in Altenburg 10 Thlr., aus Schkölen 2 Thlr., aus Leipzig 1 Thlr. mit den Worten: „Erbärmlich sei gescholten, – Wer aus Erbarmen giebt; – Doch jeder As ist golden, – Von dem gebracht, der liebt“, gesammelt bei einer Waldpartie auf den Eisenberg bei Holzhausen 5 Thlr., E. R. in Geithain 2 Thlr., kleine Spielgesellschaft in Glauchau 1 Thlr., im Kieler Hafen in Hamm von einigen Freunden des Dichters 10 Thlr. 22 ½ Sgr., bei der Hochzeit von J. B. mit P. S. in Grosburg 8 Thlr., Wilh. B. S – (Name unleserlich) in Eybau 5 Thlr., gesammelt von L. Poppenberg in Rheda 5 Thlr., J. M. Meißner 1 Thlr., Heymann Welter und Comp. in Leipzig 5 Thlr., A. P. in N. bei Bahn in Pommern 2 Thlr., aus Wehrsdorf 2 Thlr., P. M. in Würzburg 10 fl., 20 Ngr. aus Leipzig mit den Worten:

Könige beneid’ ich nicht,
Die auf gold’nen Thronen sitzen,
Mag auch Diamantenlicht
Rings ihr Diadem umblitzen;
Aber Dich, ja Dich beneid’ ich,
Dichterfürst, Dich nur allein,
Dich, dem Deutschland, voll des Dankes,
Will ein Angedenken weih’n!

Volkesdank für Lied und Wort,
Seltnes Kleinod, höchste Ehre!
Köstlicher als wenn er blüht
Einem Heros in dem Heere.
Nimm das Scherflein von mir an
Aus der Hand des deutschen Mann’s;
Als des Dankes kleine Blume
Blüh’s im großen Dankeskranz!

Erster Beitrag der Wickrather Börse von Mitgliedern und Freunden gesammelt 100 Thlr.

Die Redaction.


Inhalt: Das Geheimniß der alten Mamsell. Novelle von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der Nordbahnhof in Wien. Mit Abbildung. – Der Herzog von Jerusalem. Ein anderer „heiliger Herr“. (Schluß.) – Die „Zierlichen“ der Steppe. Von R. Hartmann. Mit Illustration. – Ein zeitgemäßer Schritt zur deutschen Einheit. Von H. B. – Blätter und Blüthen: Aus den Erinnerungen einer Hebamme. 1. Am Abgrund. – Freiligrath-Dotation.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Georg Rapp (1757–1847); deutscher Pietistenführer
  2. Erzherzog Maximilian Joseph von Österreich-Este (1782–1863); österreichischer Fachmann für Artillerie und Festungswesen und Hochmeister des Deutschen Ordens
  3. heute Monaca, Pennsylvania (englisch)
  4. Fürstprimas (einziger Titelinhaber 25. Juli 1806 – 19. Oktober 1813): Karl Theodor von Dalberg (1744–1817)
  5. hierzu Berichtigung und Ergänzung im Heft 43, Seite 688.