Die Gartenlaube (1865)/Heft 9
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No. 9. | 1865. |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Was ist der Leere, der Oede vergleichbar, die ein Raum auf
uns macht, aus dem auf ewig die Gestalt geschieden, welche ihn einst
belebte, wo Jedes und Alles nicht allein in Zusammenhang mit
ihr stand, sondern einzig Halt und Werth durch sie erhielt? Diese
traurige Leere, diese gräßliche Oede lag mit Centnerschwere auf
Erich Larsson’s Herzen und in dem ausgestorbenen Hause seiner
Mutter war ihm zu Muthe, wie wenn die Welt selbst ausgestorben
sei. –
Es war der letzte Tag, den Erich auf Sylt zubringen sollte; gesenkten Hauptes trat er in das Gemach, das der Dämmerschein des Abends umhüllte. Wie schrak er aber zusammen, als aus diesem ungewissen Licht sich plötzlich eine Frauengestalt hervorhob und leise seinen Namen rief.
„Wer ist da?“ rief er wild.
„Ich! Ingeborg Fordenskiöld!“
Wie gebannt blieb er stehen, und trotz des Dunkels sah sie das Funkeln seiner Augen, noch mehr aber fühlte sie die Schärfe dieses Blickes. Nach kurzer Pause fragte er mit schneidender Kälte: „Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, Baroneß Fordenskiöld?“
„Um Gott – Erich, nicht so, nicht so!“
„Nicht so?“ wiederholte er scharf, „ah, ich verstehe, gestern war der Hochzeitstag des gnädigen Fräuleins, und ich habe demnach die Ehre, die Frau Baronin nach ihren Befehlen zu fragen.“
„Um des Himmels Barmherzigkeit, Erich, sei anders!“ rief sie schmerzlich, und sich an die Lehne des Stuhles klammernd, setzte sie hinzu: „hättest Du mir einmal aufgemacht in den langen acht Tagen, wo ich so oft an Deine Thüre klopfte, oder hättest Du die Briefe angenommen, die ich und mein Vater Dir sandten, dann, Erich, dann würdest Du wissen, daß man in unserm Hause nicht an Hochzeit dachte!“
„Nicht? Dann haben der Herr Bräutigam sich wohl erkältet? Ich spreche mein innigstes Mitleid aus, gnädigstes Fräulein, den frohen Tag hinausgeschoben zu sehen.“
Sie rang einen Moment die Hände, erfaßte dann seinen Arm und fragte leidenschaftlich, während sie ihm fest in die Augen sah: „Wolltest Du so gegen mich sein, Erich, o, warum ließest Du mich dann nicht sterben?“
„Ihr Herr Vater, Baroneß Fordenskiöld, bat mich, Sie zu retten; ich würde mir sonst schwerlich erlaubt haben, in Ihr Schicksal einzugreifen, nachdem ich einmal so unglücklich gewesen, es in ungeschicktester Weise zu thun.“
„Da Du mir nun aber das Leben gerettet –“
„Verzeihung, gnädigstes Fräulein, daß ich sie unterbreche: mein Großvater ist wohl vielmehr der Glückliche, dem’s gelang, Ihr Boot zu erreichen.“
„Nun gut, Erich, hat Dein Großvater mir das Leben geschenkt, so gieb Du mir – nicht den Tod!“
Er machte einen Gang durch das Zimmer, blieb in ihrer Nähe stehen und sagte kühl:
„Sie kamen wohl nicht, um Derartiges mir zu sagen. Darf ich daher noch einmal fragen: was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“
„Allmächtiger Gott!“ stieß sie mühsam heraus, „so, so bist Du geworden?!“
„Ich habe drei Jahre in der Residenz gelebt, Baroneß Fordenskiöld, und die Zeit benutzt, mir einige Formen anzueignen, um nicht abermals Fiasco zu machen, wenn mich mein Glücksstern noch einmal wieder in Berührung mit Damen der vornehmen Welt bringen sollte. Es würde mich freuen, wenn Sie mir das Zeugniß geben wollten, daß ich mindestens Etwas gelernt und nun weiß, was man einer Tochter aus so edlem Hause schuldig ist, wie das der Fordenskiöld’s sich rühmen kann zu sein.“
„Erich!“ sagte Ingeborg langsam, „hast Du gelernt, das Wort zum Pfeile zu spitzen und diesen in Gift zu tauchen – dann ist Dein Studium von glänzendem Erfolg begleitet worden. Hab’ ich, Dir einst mit einem Wort das Herz zerrissen – Du hast mir's reichlich heimgezahlt. Laß es genug sein, Erich!“
Er schwieg eine Secunde, dann lachte er bitter auf. „War das ein Wort,“ fragte er spottend, „als Sie Schmach und Schande über mich riefen? War’s nicht das Gift der Gifte, als Sie mein Herz falsch, mein Gewissen belastet, meine Ehre befleckt nannten und mir die furchtbarste aller Beleidigungen zuschleuderten, indem Sie sagten, der Ruhm unseres Volkes bestände in falschen, glatten Worten?“
„Alles das habe ich gethan, Erich, ja! Aber Erich, willst Du gerecht sein, so hab’ ich wiederum nichts von dem Allen gethan, denn ich wußte nicht, was ich sprach, ich war aufgeregt und heftig. Du, Erich, Du bist aber jetzt kalt, ruhig, leidenschaftslos und häufst Hohn auf Hohn.“
Sie wandte sich traurig ab, sah nicht das tiefe, dunkle Roth sein bleiches Gesicht überströmen, sah nicht die Leidenschaft, die in dem Antlitz dessen aufflammte, den sie kalt, leidenschaftslos nannte. Er preßte die Hand über Stirn und Augen, die kurze, aber gewaltige Aufregung war vorüber. Ruhig kühl war sein Ton, verbindlich wie das eines Weltmannes sein Wesen, als er mit unbefangenem [130] Lächeln sprach: „Sie vergessen eine Hauptbeschuldigung, gnädiges Fräulein, die der Unhöflichkeit! Bot ich Ihnen doch noch nicht einmal einen Stuhl, holte ich nicht einmal Licht, obschon ich dadurch der Freude beraubt werde, Sie, die Jugendgespielin, wiederzusehen. Unsere Begegnung auf dem Meere war zu tragischer Art, als daß sie Zuspruch auf den Namen ‚Wiedersehen‘ machen könnte, und als Zeit war, Sie zu begrüßen, wir festen Boden unter unsern Füßen hatten, mußte ich eilen, hierher zu kommen.“
Er stockte, überwältigt von einer Erinnerung, und sie rief bewegt:
„Du rettetest mich, während Deine Mutter starb, und ich habe Dir noch nicht einmal danken können.“
„Gnädigstes Fräulein,“ sagte er rauh, „ich bemerkte Ihnen schon einmal, Ihr Herr Vater veranlaßte mich zu der That, er dankte mir auch, und ich gehöre nicht zu den Menschen, die übermäßige Ansprüche machen, bin demnach vollkommen befriedigt! – Erlauben Sie mir, jetzt Licht zu holen.“
Erich Larsson verließ das Zimmer. Ein genauer Beobachter der Zeit würde vielleicht gefunden haben, daß er ungewöhnlich lange ausblieb, ehe er mit der Lampe zurückkehrte.
Als er eintrat, sah er Ingeborg auf den Knieen am Boden liegen, das zarte Antlitz weißer denn der Schnee, die Augen auf den letzten bleichen Schimmer des Abendroths gerichtet, das durch das dunkle Grün der Taxusbäume zitterte; in ihren lieblichen Zügen, die einst so freudig geleuchtet, lag ein Schmerz, ein an tiefste Seelenqual grenzendes Weh, daß die Eisrinde geschmolzen sein würde, die sich in den drei Jahren bittern Grames um sein Herz gelegt, wenn Erich sie ein wenig länger betrachtet hätte. Er that das aber nicht, er wandte sich an das entgegengesetzte Fenster, das die Aussicht nach der schäumenden See bot, starrte düster auf die dichten Nebelmassen, die aus dem Meere aufstiegen, und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, während in seinen wie aus Granit gemeißelten Zügen sich einzig Ruhe, entsetzliche Ruhe und kalte, strenge Entschiedenheit ausprägten. Er regte sich auch nicht, als Ingeborg sich erhob; bewegte sich nicht, als sie leise, wie ein Geist, durch’s Zimmer glitt; sah sie fest, unverwandt an, ohne daß eine Muskel seines Gesichts zuckte, als sie die gefalteten Hände auf seine Arme legte, mit trüben, verweinten Augen flehend zu ihm emporblickte und flehend sagte:
„Um der alten Zeiten willen, sei anders, sei wieder gut, Erich!“
Wie dehnte sich jede Secunde, die sie, seiner Antwort bang entgegenharrend, dastand, zu Ewigkeiten!
Hätte sie aber auch so bis an’s Ende der Welt vor ihm gestanden – er würde ihr keine Antwort auf diese Bitte gegeben haben, denn gerade die alten Zeiten machten ihn zu Dem, der er heute war. Die lange, furchtbare, qualvolle Pause unterbrach endlich seine ernste Mahnung:
„Gehen Sie nach Hause, Baroneß Fordenskiöld!“
Sie schüttelte verneinend den Kopf, es war, wie wenn sie nicht sprechen könnte, dann rief sie plötzlich:
„Ich kann so nicht fort! Ich muß Dir erst Alles sagen!“
Er näherte sich dem Tische, aber nichts als Ungeduld lag in seinem Blicke, als er kurz und gleichgültig sagte, wie Jemand, der sich in sein Schicksal zu ergeben hat:
„So nehmen Sie mindestens Platz, Baroneß Fordenskiöld.“
Ob sie ihn nicht hörte? fast schien’s so. Den Kopf gesenkt, die schlaff herabhängenden Hände ineinander faltend, schritt sie im Zimmer auf und nieder und bemerkte nicht, wie er ihr aus dem Wege trat, den vorgeschobenen Stuhl bei Seite stellte und sich selbst aus dem Bereich ihres Ganges brachte, indem er in der entferntesten Ecke des Gemachs, sich an den Kachelofen lehnend, seine alte Stellung wieder einnahm, die Arme über der Brust verschränkt. Sein Blick mied sie, der ihre suchte ihn, und zu ihm tretend, sagte sie, wie in Gedanken verloren:
„Das Leben ist so lang, wenn man unglücklich ist! Die Tage dehnen sich zu Jahren und die Nächte – o, die sind entsetzlich!“
„Seit wann machten Sie diese trüben Erfahrungen, gnädigstes Fräulein?“
Sie sah ihn ernst an und antwortete ruhig: „Seit jenem Abend, Erich, wo Du mich im Groll an der Mooshütte verließest und auf meinen Flehensruf nicht zurückkehrtest!“
Alle Ruhe wich ihm aus Blick und Zügen, hastig wandte er sich ab und durchmaß rastlos das Zimmer. Sie lehnte sich bleich und erschöpft an die Wand. Aber wiederum hatte er die flüchtige Aufregung schnell beherrscht, seine Stimme war nur weniger hart, als er ernst sprach:
„Was Sie auch thun und sagen – es ist vergebens! Hier, hier, Ingeborg, wo einst ein Herz für Sie schlug, ist’s todt! Darum genug und – leben Sie wohl.“
„Dein Herz todt!“ rief sie mit aufleuchtendem Blick, „o nein, Erich! Meinst Du, ich hätte Deine Augen vergessen, als Du mir neulich die Hand entgegenstrecktest, um Dein rettend Boot zu betreten; als uns im selben Moment die Wogen wieder auseinander rissen, wo kaum unsere Schiffe sich genähert und der Sturm von Neuem mit unserem Leben spielte? Meinst Du, Erich, ich hätte jenen Blick vergessen, als, endlich vereint, Du mich umfaßtest und schützend hieltest im Toben der Wogen? O nein, Erich, vergessen hab’ ich das nicht und nie wird es aus meiner Erinnerung schwinden! Du nimmst mir auch nicht den Strahl dieses Lichts, den nach drei endlos langen Jahren voll Nacht und Finsterniß ein Gott mir sandte in seinem Erbarmen, den Strahl dieses Lichts, der mir auch als Stern leuchtet im bangen Dunkel dieser Stunde.“
Auch bei diesen Worten des Mädchens blitzte es in ihm auf; es war ein anderer Blick, als vorhin, aber rasch verglomm der Schein.
„Sie täuschen sich, Baroneß Fordenskiöld,“ entgegnete er kühl, „wenn Sie in meinem Blick Etwas lasen, wovon das Herz nichts weiß. Bewundert, ja, bewundert hab’ ich Sie, von der Minute ab, wo wir, Ihrem Boote nah, Sie so muthig mit Wog’ und Welle am Steuer ringen sahen, während der Mann neben Ihnen, dem Ihre Stelle gebührt hätte, in Todesangst und Verzweiflung den Mast umklammert hielt, den der Sturm schon gebrochen hatte. Doch, ich will dessen nicht spotten, den Sie lieben, da ja möglich, daß die Rücksicht auf die beglückende Erkenntniß, wie theuer Ihnen sein Leben ist, ihn zu all den angewendeten Vorsichtsmaßregeln getrieben hat und –“
„Still, Erich!“ rief Ingeborg leise und wie von heftigem Frost geschüttelt, „was an ihm ist, das habe ich nicht erst neulich im Kampfe mit den Elementen gesehen, das weiß ich schon lange; jetzt aber, Erich, wollen wir ihn einzig Dem überlassen, vor dessen Richterstuhl er nun steht und der die Fehler der schwach gebornen Menschheit milder beurtheilt, als wir.“
„Wie hab’ ich das zu verstehen? Was geschah?“
„Oscar Fordenskiöld ist gestern Abend, am achten Tage nach unserer unsel’gen Meeresfahrt, am Nervenfieber gestorben.“
„Jene wahnsinnige Angst trieb ihn in den Tod!“ rief Erich rasch; „doch, um Gott – wo ist Nanna?“
„Sie war bei ihm bis zum Tode! Sie hoffte von Stunde zu Stunde auf einen Moment erwachenden Bewußtseins, um seine Verzeihung anzuflehen, vergebens! er starb besinnungslos, wie er die ganze Zeit gewesen.“
„Wo ist sie jetzt?“
„Noch immer bei uns.“
„Was macht sie?“
„Sie sitzt still da und sagt nur: ,In acht Tagen!‘“
„So ist sie irrsinnig?“
„Der Doctor fürchtet es.“
„Entsetzlich!“ rief er schaudernd.
„Erich, trage ich Schuld daran?“ rief sie bebend.
„Welcher Gedanke, welch’ unseliger Gedanke!“
„So meinst Du nein, und Gott sei Dank dafür!“
„Tausendmal nein, Ingeborg!“ rief Erich lebhaft und voll warmen Eifers. „Du warst ja schuldlos, denn Niemand von uns hatte eine Ahnung von dem Verhältnisse der Beiden.“
„Doch als – ich’s wußte, Erich?“ fragte sie bange.
„Da hatte sie ihn bereits aufgegeben, Ingeborg! Das weiß ich genau.“
„Sie schlug mindestens meinem Vater gegenüber seine Hand aus.“
„Ich weiß, ich weiß; doch darum eben ist’s mir so unfaßlich, daß sie nach alledem, was geschehen, ihn noch lieben konnte und so in Verzweiflung gerathen, als sie ihn in Gefahr auf dem Meere wußte.“
„Ja, siehst Du, Erich! Die starren Friesinnen sind auch nicht anders, als jedes andere Weib. Wo Eine einmal erst tief und innig liebt, ist’s mit dem Hasse nicht weit her.“
[131] Wie ein Lächeln wollte es um seinen Mund gleiten, doch der finstere Geist in ihm behielt die Oberhand..
„Ja, das weiß Gott!“ sprach er bitter, „und Sie, Baroneß Fordenskiöld, gaben in Wahrheit den ausgiebigsten Beweis, was tiefe, innige Liebe nicht Alles zu ertragen vermag! In plötzlicher Erinnerung all dessen erlauben Sie mir jetzt, Ihnen mein aufrichtiges Bedauern über das traurige Ende Ihrer so bewährten Liebe auszudrücken!“
Sie sah ihn ruhig an und sprach dann ernst: „Ja, Du hast Recht, Erich; ich gebe den Beweis, was wahre Liebe erträgt. Trotz Allem, was Du mir heute angethan an Hohn und Bitterkeit, an bösem Wort und harter Rede, liebe ich Dich doch! lieb’ Dich so heiß, wie all die langen, langen Jahre!“
„Ingeborg!“ schrie er wild, drohend, voll Zorn und Leidenschaft.
„Ja, Erich, ich liebe Dich! Die Probezeit Oscar’s war auch die meine, für jene Liebe zu Dir, die in mir erwachte an dem Abend, wo Du die Deine mir vergebens bekanntest. Nie, Erich, nie wär’ ich Oscar’s Weib geworden! Dem Vater sagt ich’s, eh’ dieser kam, und er bat mich, noch seine Rückkehr abzuwarten. Am Tage, eh’ wir auf’s Meer fuhren, fragte er mich, wie’s nun sei, nachdem ich Oscar wiedergesehen, und war nicht böse, als ich sagte, ich sei entschlossener denn zuvor, mit ihm zu brechen, und würde nach der Wasserfahrt noch am nämlichen Abend mit ihm sprechen. Als ich von ihm schied, rief er mir zu: ,Geh’ mit Gott!’ und, Erich, ,Geh’ mit Gott!’ waren auch vorhin meines Vaters Worte, als ich ihm eröffnete, daß ich Dich aufsuchen, mit Dir reden wolle.“
Erich Larsson schwieg, schwieg zu Ingeborg’s Jammer auch jetzt. Gesenkten Blicks sah er zu Boden, sah sie erst wieder an, als sie leise zu seinen Füßen niederglitt und angsterfüllt fragte: „Ging ich mit Gott, oder – kam ich vergebens?“
Wie anders war das Schicksal dieser beiden Menschen, hätte sie vor drei Jahren nur den tausendsten Theil dessen empfunden, was jetzt so mächtig ihr ganzes Wesen durchströmte! Spurlos, mindestens äußerlich spurlos gingen jetzt die Worte an ihm vorüber, die einst ihn in den Himmel erhoben haben würden.
„Ingeborg!“ sagte er, „fern sei’s von mir, Dich mit solchen harten Worten zu entlassen, wie Du sie einst, in gleicher Lage, für mich hattest; aber dringend, inständig bitte ich Dich, steh auf! Du kamst vergebens! Verlaß ein Haus, Ingeborg, das so verödet, leer und ausgestorben ist, wie das Herz, das Du einst zermalmtest.“
„Kannst Du denn nicht vergessen, Erich?“
„Nein! doch um dieser Stunde willen – werde ich versuchen, Dir zu verzeihen, was Du in jener Stunde thatest.“
„Erich, eine letzte Bitte: laß mich in Jahren wiederkehren, vielleicht hast Du den Groll besiegt, vielleicht lernst Du vergessen im Vergeben.“
„Nie! und kämst Du tausend Mal, es wär’ vergebens!“
Sie schauderte, sah ihn an mit erloschnem Auge, mit schmerzzerrissenen Zügen, fühlte die trostlose Wahrheit dessen, was er gesagt, nur noch tiefer beim Anblick seines strengen, fest entschlossenen Gesichts und verließ langsam das Zimmer. – –
Sehr langsam durchschritt Ingeborg auch den kleinen Hof, den hübschen Garten und immer und wieder hielt sie inne, stand, mit angehaltenem Athem wartend, lauschend da.
Auch diese Hoffnung vergebens! Auch hier bitterste Enttäuschung. Sie vernahm nicht, was sie von Moment zu Moment mit immer lauterem, immer bangerem Herzschlag ersehnte: den Ruf ihres Namens von seiner Stimme!
Sechs Jahre sind vergangen. Der letzte Krieg in Schleswig-Holstein
hatte seine ersten schweren Opfer bei Missunde gefordert.
Zu den schwer Verwundeten, die wochenlang wenig Hoffnung gegeben
hatten, gehörte Erich Larsson. Er hatte gekämpft, wie
Einer, der unter dem Donner der Kanonen aufgewachsen, nicht
wie ein Neuling, dem dieser Krieg erst die Feuertaufe des Soldaten
gegeben hatte.
Vorsichtig war der Verwundete von einigen jungen Kieler Studenten aus dem heftigen Feuer getragen, wohin diese sich während des ganzen Kampfes mit Aufopferung ihres eigenen Lebens gewagt, um jene stillen Heldenthaten der Menschenliebe zu vollbringen, die so schwer wiegen, wie die tapfersten Thaten auf dem Schlachtfelde. Gleich allen andern Verwundeten wurde Erich so schnell wie möglich von dem ersten, nur provisorisch errichteten Verbandplatz im Schulhause zu Kosel fortgeschafft und für seine Pflege alle jene Sorge getragen, die Pflicht und Menschenliebe nur denkbar machten.
Wochen waren vergangen. Er hatte lange im Fieber gelegen, endlich erwachte er nach glücklich überstandener Krisis zum ersten Male wieder zu vollem klarem Bewußtsein. Aufmerksam blickte er die ernste Nonne an, die an seinem Bette saß und zu der Anzahl jener barmherzigen Schwestern gehörte, die aus weiter Ferne zum Kriegsschauplatz geeilt waren und dort in Lazarethen und Privathäusern zur Pflege der verwundeten Krieger verwendet wurden. Der Doctor bemühte sich augenscheinlich, seinen nachdenkenden Patienten vom Anblick der frommen Schwester abzuziehen, sprach von den Kriegsereignissen mit großer Lebendigkeit, verstummte aber völlig, als Erich Larsson ruhig, klar und ernst fragte: „Wo ist die Andere, die mich während der vergangenen Wochen gepflegt hat?“
Eine tiefe Pause trat ein, Arzt und Nonne wechselten inhaltschwere Blicke, Erich Larsson wartete scheinbar sehr geduldig; doch als der Doctor anfing die anwesende Krankenpflegerin als ganz vorzüglich anzupreisen, rief er laut und heftig:
„Wo ist jene Andere, die mich pflegte?“
„Nun, Gott sei Dank, Brust und Lungen wären wieder gesund!“ sprach lachend der Arzt, „und regten Sie sich nicht auf, so könnten Sie bald ganz genesen sein.“
„Wollen Sie mir auf meine Frage antworten?“
„Wenn Sie gesund genug zum Reden sind, ja! jetzt sind Sie krank.“
„Ich will aber jetzt Antwort haben, jetzt! und sage Ihnen, daß, fürchten Sie von Aufregung für mein Leben, mir eben an diesem Leben ohne Nachricht von ihr Nichts liegt.“
„Diese Versicherung ist überflüssig nach Ihrem Benehmen, bester Herr Larsson; denn schreien Sie noch zehn Minuten so fort, so sind Sie vielleicht schon morgen aller Erdensorgen überhoben.“
„Und wenn ich gleich nach Ihrer Antwort sterben sollte, so frage ich doch nur wieder: Wo ist sie?“
„Von wem reden Sie denn eigentlich?“
„Von der, von welcher Sie nicht reden wollen.“
„So – nun – hm – es waren so Manche bei Ihnen.“
„Ich meine nur Jene, die ich zuerst hier sah, die ich immer und wieder erblickte, ob ich am Tage oder in der Nacht erwachte.“
Erich Larsson hatte sich aufgerichtet und sah den Arzt mit solchen Blicken an, daß dieser hastig entgegnete:
„Sie ist hier im Hause.“
„Wird sie wieder kommen?“ fragte er leise und kraftlos in die Kissen zurücksinkend.
„Ja, ja! Doch nun – Ruhe!“
„Ruhe? Ruhe werde ich erst haben, wenn ich sie gesprochen. Sagen Sie ihr das!“
Der Doctor ging; der Kranke wandte seine großen dunkeln Augen mit allen Anzeichen heftigster Spannung nach dem Eingang. Seine Züge nahmen mehr und mehr den Ausdruck banger Erwartung an und die bleichen Wangen begannen sich tief und dunkel zu röthen. Die, auf welche er harrte, trat nicht ein, und nach kaum drei Stunden lag er von Neuem im Delirium.
Während seiner wilden Fieberphantasien beugte sich ein anderes Antlitz über ihn, als das der ernsten Nonne, ein Gesicht mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes und dazu völlig farblos.
Der Arzt, der sinnend am Bette stand, sagte, nachdem der Kranke immer und wieder den Namen „Ingeborg“ gerufen:
„Wollen Sie sein Leben vollends retten, so bleiben Sie bei ihm, wenn das Bewußtsein zurückkehrt.“
Ein Ausdruck höchster Seelenpein glitt über das bleiche Gesicht der Angeredeten und erst nach langer Pause entgegnete sie ernst: „So werde ich denn bleiben.“
Der Arzt verordnete Verschiedenes und setzte hinzu: „Will er sprechen, so lassen Sie ihn reden. Ermahnungen helfen bei dem Nichts und er scheint einen Kopf von Eisen, einen aus Ez gegossenen Sinn zu haben.“
Die schlanke Gestalt am Bett des Kranken erzitterte bei den Worten, die lichten Augen wurden dunkel und über das durchsichtig zarte Antlitz verbreitete sich ein schwacher Schein von Farbe.
„Gott mit Ihnen!“ rief der davoneilende Arzt herzlich.
[132] „O dieses Wort!“ murmelte die Zurückbleibende.
Sie faltete die Hände, blieb so, den Blick auf den Kranken gerichtet, stehen und schreckte nur zusammen, wenn durch die wilden Fieberphantasien der Ruf: „Ingeborg! Ingeborg!“ als tiefster Klagelaut ertönte. – – –
Dies „Ingeborg“, einst vergebens erwartet, wurde es jetzt vergebens gehört?
Fast schien es so, als Erich Larsson endlich den Namen mit Bewußtsein aussprach und angsterfüllt auf die Gestalt an seinem Lager schaute, die bewegungslos gleich einer Statue am Bette saß und ihm kein Zeichen von Leben, von Liebe gab.
„Ingeborg, ich danke Dir, daß Du gekommen bist!“ rief er warm und herzlich.
Wie tonlos und wie trostlos klangen Stimme und Wort, als sie darauf entgegnete: „Der Arzt sagte mir, es sei Pflicht zu kommen.“
Trotz dieser äußeren Ruhe schlug ihr Herz laut und stürmisch, zitterte jede Fiber ihres Wesens, und um zu verbergen, was in ihr vorging, beeilte sie sich ihm den verordneten Trank zu bereiten. Als sie ihm den Becher reichte, wies er ihn zurück und sprach ernst:
„Wie ich auch nach diesem Trnnke schmachte, Ingeborg, noch mehr lechze ich nach dem einen Wort, um das ich Dich schon seit Jahren gebeten haben würde, wenn ich gewußt hätte, wo Dich finden! Sprich jetzt diese Wort aus, Ingeborg! sei der Engel der Milde, der Du einst warst, sage, daß Du mir vergeben hast, was ich in blinder Rache Dir und, ach, noch mehr mir selbst angethan! Gieb mir Ruhe, Frieden, Glück, gieb mir Leben durch Deine Verzeihung!“
„Ich vergab Dir lange, Erich! vergab Dir Alles, als ich aus dem Leben schied und – dies Gewand anlegte.“
Er sah sie starr, entsetzt an, sah erst jetzt, daß sie eine ihm bekannte geistliche Ordenstracht trug, und fragte tonlos: „Wann geschah das?“
„Nach meines Vaters Tode.“
„Ingeborg, wenige Monate nach seinem Tode war ich an der Pforte Eueres Gartens! ich fand sie verschlossen, Läden und Thüren des Hauses verriegelt und erloschen auch jenes kleine Licht, den Stern meiner Kinderjahre!“
„Es verlöschte in dem Augenblick, Erich, als ich das stille Asyl ,der Gestrandeten’ verließ, um in einem andern Bekenntniß – im Hafen des Klosters die Ruhe zu suchen.“
Beide schwiegen lange Zeit. Sie saß still an seinem Lager, er blickte unverwandt auf sie.
Wie klagte diese stumme Gestalt ihn so laut an! Welche tiefe Reue empfand er beim Anblick dieses farblosen Gesichts mit den verweinten Augen, mit jenem bittern Schmerzeszuge um die feinen Lippen, die einst so fröhlich gelacht, einst so flehend gebeten: „Laß mich wiederkehren!“
Nicht, wie Nanna Hansen, rief der laute Donner inmitten des Tobens der Elemente ihm zu: „Dies ist Dein Werk!“ nein, in stiller einsamer Nacht legte sich das drückende Bewußtsein: „Dies ist Dein Werk!“ immer furchtbarer um seine Seele und immer entsetzlicher wurde ihm der Gedanke, nicht ändern zu können, was einmal ohne Gnade und Erbarmen geschehen.
„Ingeborg!“ rief er plötzlich lebhaft, „wie ich mich auch darnach gesehnt, von Deinen Lippen das Wort der Vergebung zu hören, fast glaub’ ich, ich trüge es leichter, wenn Du mir grolltest.“
Sie schrak zusammen: sie heftete einen andern, seltsamen Blick auf ihn, in dem Nichts von Erbarmen lag, und griff, immer heftiger erbebend, nach dem am Gürtel befestigten Rosenkranze. In tiefes Sinnen verloren, ließ sie eine Perle nach der andern durch die schlanken Finger gleiten, da kam sie an’s Kreuz! Wieder auf Erich blickend, hob sie das Sinnbild des Christenthums empor und sprach feierlich: „Erich, ich will Dir beichten, was ich so oft meinem Gotte gebeichtet habe: wohl legte ich einst das Gewand stillen Friedens an, aber Frieden fand ich bis jetzt nicht! Tagtäglich betete ich vor dem Crucifix, an dem die Gestalt Dessen sich uns zeigt, der sterbend am Krenz noch voll Erbarmen gerufen: ‚Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!‘ und trotzdem lernte ich kein Erbarmen! Ich verzieh Dir nur der Form nach, Nichts drang in’s tiefinnerste Wesen; ich grolle Dir fort und fort, klage Dich an, Tag und Nacht!“
Erich Larsson bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und rief trostlos: „So ist’s denn gekommen, wie ich es stets gefürchtet!“
Dann noch einmal auf sie blickend, die in dem dunkeln Nonnenschleier so ernst, so düster vor ihm stand, setzte er leise hinzu: „Nein, schlimmer noch, als ich gefürchtet, weit schlimmer, als ich gedacht!“
In den nächstfolgenden Wochen hatte die Kunst der Aerzte
Erich Larsson wieder hergestellt und seine gesunde Natur ihre Bemühungen
wirksam unterstützt. War er auch noch bleich und noch
schwach, im Vergleich zur frühern vollen, ungebrochnen Körperkraft,
so sehnte er sich doch fort und hinaus auf den Tummelplatz
des Kampfes, wo er leichter und besser die rastlosen Kämpfe
seiner Seele zu besiegen hoffte. Ingeborg hatte er nicht wieder
gesehen. Der Arzt hatte ihm gesagt, sie sei krank, was er indessen
keinen Augenblick geglaubt. Gern hätte er sie noch einmal
gesprochen und ihr ein letztes Lebewohl gesagt, wagte aber nicht
darum zu bitten.
Alles war zu seiner Abreise gerüstet, denn er stand im Begriff, zu seinem Regimente zurückzukehren, das in den Laufgräben vor Düppel arbeitete. Jetzt hatte er auch die letzten Vorbereitungen vollendet und stand, des Wagens harrend, am Fenster, als Ingeborg zu ihm eintrat. Auf den ersten Blick sah er, wie krank sie gewesen sein mußte, um sich so verändern zu können. Die feinen Augenbrauen schienen jetzt wie auf Marmor gemalt, die Schatten unter den Augen waren tiefer und dunkler geworden, jedoch aus ihren lieblichen Zügen war jener erschütternde Ausdruck von Schmerz und Seelenpein gewichen.
„Du hast’s nicht geglaubt, daß ich krank bin,“ sprach sie freundlich, „doch sieh, man kann auch ohne Kugeln und Säbelhieb auf’s Krankenlager geworfen werden. Wär’ es nicht der Fall gewesen, so war ich längst wieder bei Dir, nicht allein, um Dir zu sagen, wie froh ich bin, Dich wiedergesehen zu haben, sondern auch, um einen Auftrag meines Vaters an Dich zu bestellen und Dir einen Brief von ihm zu geben. Hast Du Zeit mich anzuhören, so nimm Platz.“
Er setzte sich ihr gegenüber. Seine Hand ihr reichend, sprach er bewegt: „Könnte ich doch Etwas für Dich thun, Ingeborg!“
Ein zarter Anflug von Farbe überhauchte ihr klares, fast durchsichtiges Antlitz und sie sprach lebhafter: „O, Du thatest viel, Erich, ich fühlte es neulich nur nicht so tief. Du hast ja gethan, was Du einst verweigertest: vergeben und vergessen, und ich bin darüber so glücklich.“
„Ingeborg, Erbarmen! Mahne mich nicht an den Wahnsinn jenes Abends!“
„Ich thu es jetzt ohne Groll!“ entgegnete sie mit flüchtigem Lächeln.
„So grollst Du nicht mehr?“
„Nein, Erich, nun endlich habe ich Frieden.“
Er sprang auf und durcheilte das Zimmer. Dann blieb er vor ihr stehen und rief heftig: „Was ist Frieden? ein langsamer Tod! Ich aber möchte Dir so gern den vollen Pulsschlag des Lebens – Glück – geben und vermag’s nicht!“
Sie verbarg ihr mehr und mehr erglühendes Antlitz in den Händen. Rasch aufblickend, sagte sie danach mit feuchten Augen: „Sei jetzt zufrieden, Erich, denn Du hast mir jetzt Glück gegeben!“
„O Ingeborg!“ rief er erschüttert und wollte zu ihren Füßen hinsinken, da fiel sein Blick, der an dem Antlitz des geliebten Mädchens gehangen, auf das Gewand der Nonne und er wich zurück.
„O Leben! o Schicksal!“ rief er düster.
„Erich, es war licht und wir, wir haben es dunkel gemacht; doch traure darüber nicht also, schaue wieder froher in das Leben und, Erich, erfülle meine Bitte: schone jetzt Dein Leben mehr!“
„Wozu? und für wen?“ fragte er bitter.
Sie schwieg einige Secunden und sagte dann ruhig: „Willst Du mich jetzt anhören, Erich?“
Er nahm seinen Platz wieder ein, und sie fuhr fort:
„Mein Vater trug mir auf, Dir sein Schicksal zu erzählen, ehe Du den Brief hier liesest. – Als junger Mann kam er in das Haus des Grafen Adlersparre, um die ihm von seinem Vater zugedachte Braut, meine Tante Alma, kennen zu lernen. Diese hatte eine jüngere Schwester, Ulrike Eleonore, die so reizend, wie Alma schön, so liebenswürdig war, wie Jene klug und gebildet.
[133][134] Graf Adlersparre hatte Alma für meinen Vater, der als geistig sehr bedeutend galt, ausbilden und erziehen lassen, während die heitere Ulrike Eleonore alles Wissen nur für Plunder erklärte, der frühzeitig alt mache. Sie war seit Kurzem heimlich, ohne Vorwissen ihres Vaters, mit einem armen dänischen Officier verlobt, der aber Aussicht auf die Erbschaft eines reichen Onkels besaß. Trotz dieser Verlobung nahm Ulrike Eleonore mit Freuden die Huldigungen meines Vaters an, der sich ihr anstatt der ernsten Schwester zuwandte. Es stachelte ihre Eitelkeit, einen solchen Triumph zu erringen und einen Mann zu besiegen, dessen Name ein so geachteter, dessen Ruf tadellos und der mit Reichthum und Schönheit Liebenswürdigkeit und Herzensgüte einte. Sie feierte diesen Triumph. Mein Vater liebte, vergötterte sie, und an dem Tage, wo sie sein Weib wurde, bat sie ihre Schwester Alma, die ebenfalls nichts von ihrer heimlichen Verlobung wußte, den ihr ursprünglich bestimmten Bräutigam davon in Kenntniß zu setzen, daß sie Baron Fordenskiöld geheirathet habe. Alma that Alles für die Schwester. Sie beschwichtigte den Zorn des Verrathenen und bewog ihn, Abstand zu nehmen von dem unglücklichen Gedanken, den jungen Ehemann über die Thaten und den Charakter der angebeteten Gemahlin aufzuklären. – Ein Jahr ging Alles gut; da starb der reiche Onkel des Officiers, dieser kam nach Schweden und trat seiner frühern Braut überall entgegen. Sie schwach, er leichtsinnig, verriethen Beide meinen armen Vater. Wenige Monate nach meiner Geburt verließ meine verblendete Mutter Gatten und Kind, um sich in die Arme dessen zu werfen, den sie einst aufgegeben. Von dem Schmerz und Jammer, den ihre Untreue, ihr schmählicher Verrath über meinen unglücklichen Vater gebracht, brauche ich Dir wohl nichts zu sagen, Du hast ja die Spuren seiner Leiden in den gramdurchfurchten Zügen gesehen! Nach der erfolgten Scheidung verließ er sein Heimathland und kam nach Sylt; ihm folgte Alma Adlersparre, die ihn angefleht, mir Mutter, ihm Freundin sein zu dürfen. Beider Leben kennst Du auch. Du weißt, welch ein Engel meine Tante war und wie sie treu ausgeharrt an der Seite des unglücklichen Einsiedlers.“
„Sie hat Deinen Vater geliebt?“ rief Erich.
„Ja, seit dem Tage, wo sie ihn zuerst gesehen, bis zur letzten Stunde ihres Lebens! Diese treue, tiefe Liebe hätte wohl andern Lohn verdient, als fort und fort zu sehen, wie seine Liebe fest an die gekettet blieb, die ihn verrathen und verlassen.“
„So liebte er Deine Mutter noch?“
„Ja, trotz des Hasses, mit der er stets von ihr gesprochen. Und hätt’ er sie nicht geliebt, würde er dann nicht ein neues Leben an Tante Almas Seite begonnen haben? Sein Bruder, auch Graf Adlersparre beschwor ihn, Alma’s Treue mit Liebe zu lohnen, vergebens! In starrem, unbeugsamem Willen hat er dabei beharrt, der die Treue zu halten, die sie ihm gebrochen, mit eben solcher Starrheit verharrte er auch in seinem Groll über ihren Verrath, und kein Flehensbrief, kein Flehenswort hat ihm Vergebung abgerungen.“
Erich Larsson dachte an eine Scene aus seiner Kindheit und sprach nachdenklich:
„Ich höre noch immer sein hartes ,Nie‘, als Deine Tante ihm einmal sagte, er würde vergeben und vergessen.“
„Und es hat sich erfüllt, denn noch auf dem Sterbebette hat er Tante Alma die Bitte abgeschlagen, endlich der zu verzeihen, die so bitter bereut.“
„So hat sie also bereut?“ fragte Erich leise.
„Ja, doch spät! Lange Jahre war sie glücklich und lebte ohne Reue und Buße, und Du wirst Dich noch der Worte meines Vaters gegen Nanna Hansen erinnern, als er sagte: ,Am Schuldigen rächt sich nicht immer das Unrecht!‘ Damals lebte meine Mutter noch in Glanz und Freuden, erst später sollen Armuth, Tod ihrer Kinder und anderes Mißgeschick sie einsichtsvoller und besser gemacht haben.“
„Lebt sie noch?“
„Nein!“
„Wie verlassen und allein Du in der Welt stehst!“
„Standest!“ sagte Ingeborg sanft; „denn im Kloster hab’ ich mir Viele zu Freunden gewonnen.“
Sie sah ihn mild an und gab ihm das Schreiben ihres Vaters. Es enthielt nur folgende Worte:
„Führt Euch die Gnade eines Gottes noch einmal zusammen, so laßt die Fügung des Geschicks nicht vergebens an Euch herantreten! Laßt ab von Haß und Groll – eint Euch in Liebe – wahrt Euch die Treue und seid meines Segens gewiß.“
Tief erschüttert las Erich die ernste Mahnung. Er gab sie Ingeborg zurück und sprach mit feuchtem Auge: „O Ingeborg, Ingeborg, hättest Du nicht gewaltsam in das Walten des Schicksals eingegriffen, wir konnten auf Erden noch glücklich sein!“
Sie las den Brief, sie hörte die Worte des Geliebten, Gluth und Blässe wechselten in ihrem Antlitz, und kaum hörbar waren ihre Worte, als sie sagte:
„Ich gelobte meinem Vater, nicht eher mein Noviziat im Kloster zu beenden, bis ich Dich noch einmal gesprochen hätte, und Erich – ich habe Wort gehalten!“
„So bist Du noch nicht Nonne?“
„Nein!“
Wie war dies eine „Nein“ ein tausendfaches „Ja“ für die Bestätigung des heißersehnten Wunsches – der lang genährten Hoffnung! – Kurz, nur sehr kurz war für jetzt das Glück der endlich Vereinigten, es war aber so groß, daß seine Momente ihnen die Jahre des Leids aufwogen. Wie schwer, wie bitter auch jetzt die unvermeidliche Trennung, nicht den tausendsten Theil so schwer, so bitter, wie einst, denn Beide schieden in Glück und in Hoffnung!
Diese Hoffnung, die mit Sonnenglanze Ingeborg’s Zukunft durchwob und selbst verklärend über dem Dunkel ihrer Vergangenheit zitterte – dieses Licht, dieses neue Leben, das mächtig ihr ganzes Sein durchströmte, umnachtete sich noch einmal. Es war in jenen verhängnißvollen Tagen, wo der Donner der Kanonen nicht nur vernichtend über dem festen Bollwerk der Düppler Schanzen dahinrollte, sondern auch vernichtend in das Leben von Tausenden eingriff, um den schwarzen Boden, auf dem das goldene Banner der Freiheit sich erheben sollte, erst mit dem rothen Blute Derer zu weihen, deren Loos es war, für diese Befreiung, für die heiligen Rechte eines Bruderstammes zu sterben.
Mit Tausenden zitterte Ingeborg in diesen Stunden der Gefahr, in diesen Stunden der Entscheidung; ihre Gebete einten sich mit tausend und aber tausend heißen Gebeten zagender, hoffender Herzen. Wie sie aber auch zu Gott flehte und vertrauend aufblickte zu seiner unendlichen Gnade, in die Hoffnung mischte sich stets von Neuem die Furcht, daß all ihr Bitten vergebens sein, daß sie verlieren könnte, was sie kaum erst gefunden. –
Der Sieg war errungen. Angsterfüllt harrte Ingeborg der vom Geliebten verheißenen Kunde und stand täglich am Fenster – die Straße hinausschauend, auf der er kommen mußte, wenn das Glück mit ihr war. Und eines Nachmittags – schon in der Dämmerungsstunde – rollte ein Wagen dem Städtchen zu, ein weißes Tuch winkte heraus, ein Schrei des Jubels und der Freude entrang sich Ingeborg’s Brust – er kommt – er ist mein, so stürzte sie nach der Thür – –
Wo ist die Feder, die diesen Augenblick schildern möchte!
(Mit Abbildung.)
Sollen wir unserm Bilde noch eine besondere Erklärung beifügen?
„Halt auf! Brrrr! Ach Gott, meine Milch!“ – So hören wir den Jungen von seinem Karren herunter schreien. Aber – hurre hurre hopp hopp hopp – geht’s fort in sausendem Galopp! Der gewaltige Zug der Natur erringt einen fröhlichen Sieg über das eingepeitschte Gefühl der Pflicht.
Die Tücke ist groß, mit der hier von der gepriesenen Waidmannslust das Milchgeschäft heimgesucht wird. Sie verließen so harmlos und so zufrieden mit dem Morgenfutter die heimische Hundehütte; sie gingen in’s Joch mit einer deutschen Geduld, die einen Clavierlehrer entzückt hätte; sie zogen ihre Tageslast unverdrossen jenseits den Berg hinauf und wedelten auf der Hochebene mit den Schwänzen beglückwünschend einander an, weil in ihnen [135] hier tagtäglich die erquickende Betrachtung aufstieg, daß es bald bergab gehe, wo der Milchjunge sich lustig aufsetze und der Wagen für sich laufe und sie sich einmal nach Herzenslust aufspringen könnten. Und wie freuen sie sich immer auf das wohlbekannke Ziel! Denn dort kommt dann die alte gute Frau, welche die Wursthaut für sie sammelt, und warten gewiß schon des Nachbars Kinder, die sie streicheln und ihr Butterbrod mit ihnen theilen. In so friedlichen Gedanken waren sie ihre Straße dahin getrollt, die beiden braven Karrenhunde. Und Altes war gekommen genau nach ihrer Betrachtung: der Weg bergab, der Milchjunge auf dem Wagen – da rannte das Schicksal in Gestalt eines gejagten Hasen quer über ihren Lebenspfad!
Welcher ehrliche Hund kann einen gejagten Hasen sehen, ohne ihm nachzuspringen? Diese Frage legen wir der ganzen Menschheit vor, und sie wird antworten: Keiner, es müßte denn ein fetttriefender Schoosmops sein – und der ist kein Hund mehr, sondern ein Damenmöbel, das den ganzen Tag getragen wird und die Füße nur zum Flohjucken hat. Wer nicht ein richtiges Flinkbein ist, soll sich keinen Hund nennen. Die Berechtigung der beiden Karrenzieher zu ihrem ursprünglichen Beruf ist somit dargethan; nur ungerechtes Pochen auf menschliche Satzungen ist es, welche diese Jagd mit so bedeutenden Hindernissen eine „unbefugte“ nennt.
Wer hat aber den Vorfall so eifrig belauscht und so getreu wiedergegeben? Unsere Leser werden einen so sinnigen Künstler kennen lernen wollen, und so gestatte er denn, ihn hiermit vorzustellen.
Otto Eberlein ist ein geborener Göttinger, der vor nunmehr achtunddreißig Jahren das Licht der Welt erblickte. Sein Vater war ein geschickter Landschafts- und Figurenzeichner, der besonders durch seine Illustrationen zu den naturwissenschaftlichen Werken von Blumenbach und Langenbeck bekannt geworden ist; er war auch der erste Lehrer des Sohnes, der wiederum im Jahre 1845 als Zeichenlehrer am Göttinger Gymnasium sein Nachfolger wurde. – Was des Vaters Hand an Otto Eberlein glücklich begonnen, bildete Professor Oesterley weiter aus; namentlich in der Oelmalerei.
Die Hauptschule für die Ausbildung seiner eigenthümlichen humoristischen Begabung fand er in Düsseldorf, wohin ihm, mit Unterstützung des königl. hannöverschen Ministeriums, zweimal, in den Jahren 1851 und 1853, zu längerem Aufenthalt zu reisen gestattet ward. „Die Zeit,“ – schreibt er uns – „die ich in Düsseldorf verlebte, war mir sehr kurz zugemessen, weshalb ich sie nach Kräften zu benutzen suchen mußte, da mich außerdem der an meine Fersen geheftete Schulmeister oft genug daran erinnerte.“ Er verbrachte sie mit eifrigen Studien, bald auf der Akademie, bald im Atelier, aber auch vernünftigenveise im Malkasten, wo bekanntlich der Thron des Düsseldorfer Künstlerhumors steht. – Hier fand er einen Kreis kunstfördernder und das Leben erfrischender Freunde; vor Allem aber erhielt sein Studium unter Hildebrandt’s Leitung die wahre Weihe, die seitdem aus allen seinen Werken hervorschimmerte, wobei er jedoch nichts weniger, als purer Nachahmer ist, sondern seine Originalität allezeit zur Geltung bringt.
Noch in Düsseldorf hatte er den „Lotterie-Juden“ vollendet; diesem folgte nun eine Reihe größerer Compositionen, wie „Großvaters Leibgericht“, „der kleine Kanonier“, „Er ist nicht so bös, wie er aussieht“, „Großvaters neue Brille“, „die Wiedergefundenen“ etc. Die „Sonntagsjäger“ wurden durch die Kunstausstellungen, auf denen sie allgemeine Heiterkeit verbreiteten, zuerst in weiteren Kreisen bekannt. Somit ist diese tüchtige, gesunde, frische Kraft noch in ihrer vollsten Blüthe und läßt uns noch manches Herzerfreuende auf dem jetzt so sterilen Felde des Humors hoffen.
(Schluß.)
Von Tag zu Tage stieg die Noth auf Belle-Isle, von Tag zu Tage wuchs der Hunger, so daß die Gefangenen die Knochen zerbissen, die sie etwa im Kehricht fanden; daß sie froh waren, wenn sie eine Ratte erjagen und verspeisen konnten; daß sie sich der Lumpen entäußerten, mit denen sie noch ihre Blöße deckten, um dafür einen Bissen Brod einzutauschen und dann nur um so mehr zu frieren und zu hungern. Blos noch Haut und Knochen, konnten sehr Viele nicht mehr gehen; bis auf’s Aeußerste entkräftet, fielen sie schwindelnd um, so wie sie sich zu erheben versuchten. Diarrhöe, Scorbut, Hungertyphus begannen furchtbar zu grassiren und Woche um Woche zahlreichere Opfer zu fordern. Welche Hungerqualen die Gefangenen erduldet haben müssen, zeigt u. A., daß sie, nach ihrer Auswechselung in den Hospitälern der Föderirten untergebracht, oft flehentlichst baten, ihnen nur den Anblick eines Apfels oder eines Stückes Fleisch zu gönnen, damit ihnen wenigstens im Gedanken ein Genuß zu Theil würde, welchen die Aerzte den Leidenden vorläufig noch versagen mußten.
Wo Tausende von Menschen auf so engem Raum zusammengedrängt und dazu noch aller Mittel zur gehörigen Reinigung beraubt waren, mußten sich zu den geschilderten Qualen bald noch andere gesellen, die von Vielen am Peinlichsten empfunden werden mochten, Qualen der abschreckendsten Art, die sich eigentlich der Beschreibung entziehen, aber hier doch nicht unerwähnt bleiben dürfen, damit der Leser das volle Bild der südstaatlichen Barbarei erhalte.
Der St James floß zwar in nächster Nähe der Station, aber die Grausamkeit der Aufseher verbot den Gefangenen selbst die Benutzung des Wassers. Von den vielen Tausenden, die auf Belle-Isle schmachteten, durften täglich nicht mehr als einige siebenzig sich der Wohlthat eines Bades theilhaftig machen, so daß auf diese Weise der Einzelne etwa alle sechs Wochen einmal zu der heißersehnten Reinigung und Erfrischung gelangte! Was die Folgen solcher Entbehrung waren, kann man sich denken.
In kurzer Zeit gab es nicht Einen, dessen Körper nicht dick incrustirt war mit Schmutz und Ungeziefer, nicht einen Einzigen, an und auf dem es nicht wimmelte von Läusen; überdies waren Alle wund und blutrünstig von den scharfen Sandkörnern, die ihre Lagerstatt bildeten. Zu welchem Grade das Ungeziefer von ihnen Besitz ergriffen hatte, – davon nur ein Beispiel. Einer der gefangenen Soldaten war ausgewechselt und wurde nun vor allen Dingen gebadet. Man wusch ihn mit möglichster Gründlichkeit, schor ihm den Kopf bis auf die Haarwurzeln, zog ihm frische Wäsche an, aber kaum lag er zehn Minuten in einem reinen Bette, und Laken und Decken und Kissen waren schwarz von sechsfüßigen Ungethümen. Und – auch das darf nicht verschwiegen werden, ekelhaft wie es ist – trotz des herrschenden Durchfalls durfte während der Nacht Niemand die Latrinen aufsuchen. Jeden Morgen war der Erdboden mit Koth überzogen und zur Jauchenlache geworden, welche die Luft verpestete und die Brunnen vergiftete. „Nur dann und wann war uns erlaubt, zu den Abtritten unsere Zuflucht zu nehmen,“ heißt es in einer der beschworenen Zeugenaussagen; „ja, es kam vor, daß sie uns drei volle Tage, einmal sogar sechs Tage lang, verschlossen blieben! Wir wälzten uns Alle im Unflathe und allmorgentlich trug die ganze Umgebung von Belle-Isle einen Charakter, der sich anständiger Weise nicht einmal andeuten läßt. Wagenladungen von Unrath wurden tagtäglich vom Erdboden abgefahren; dessenungeachtet blieb dieser noch immer ein Sumpf von Schmutz und Unflath.“
Eine Art von Hospital befand sich allerdings auf der Insel, das nie leer wurde von Patienten, allein es war nichts weiter als ein großes Zelt ohne Dielen, ohne Betten, ohne alle und jede Bequemlichkeit, wie sie für Kranke unerläßlich sind. Holzscheite und Holzblöcke waren die einzigen Kopfkissen, die man den Leidenden unterbreitete. „Wenn Sie einen Gaul sterben sähen,“ bemerkte einer der Vernommenen zu dem ihn fragenden Commissar, [136] „würden Sie dem armen Thiere nicht wenigstens ein Bündel Stroh unter den Kopf schieben? Würden Sie ihm im Todeskampfe sich die Glieder an den harten Holzblöcken zerschlagen lassen?“ Erst wenn dies Zelt so voll war, daß absolut Niemand mehr darin Platz fand, wurde die Uebersiedelung der Todkranken in das Hospital zu Richmond angeordnet; meist aber erst im letzten Augenblicke, wo menschliche Hülfe nichts mehr fruchtete. Ueber die Hälfte erlag schon auf dem Transporte, ja Viele starben in dem Augenblicke, wo die Träger sie zur Abbolung bereit machten. Auch in dem Richmonder Hospitale war von angemessener Behandlung und ordentlicher Pflege übrigens nicht im Entferntesten die Rede. „Die Unsauberkeit der Betten, auf welche man die blessirten Gefangenen brachte,“ berichtet ein Arzt, der selbst zu den letztern gehört hatte, „kann nirgends in der Welt ihres Gleichen haben. Eiter und andere Körpersecretionen, von verschiedenen Generationen von Kranken herrührend, besudelten Decken und Kissen, so daß schon der bloße Anblick übel und krank machte.“ Daß unter solchen Umständen das Sterblichkeitsverhältniß ein außerordentlich hohes war, wird Niemanden befremden. Von zweitausendachthundert Kranken starben in Richmond eintausendvierhundert, also gerade die Hälfte. –
Noch gräßlicher lauten die Nachrichten, die von einer andern südstaatlichen Militärstation einliefen. Seit längerer Zeit waren aus dem Gesammtgebiete der Rebellen die Kriegsgefangenen vorzugsweise nach Georgien zusammengeschleppt worden, die Officiere nach Macon, die gemeinen Mannschaften nach Andersonsville. In dessen Nähe befindet sich Camp Sumter, und daselbst war auf einem Areale von einigen dreißig preußischen Morgen, in dessen Mitte ein tiefer Morast pestilenzialische Dünste aushauchte, die ungeheuere Anzahl von fünfunddreißigtausend Gefangenen zu gleicher Zeit untergebracht, wenn man überhaupt von „unterbringen“ sprechen kann, wo von dieser ganzen Menge höchstens für ein paar Tausend Obdach – Obdach der jämmerlichsten Art – vorhanden war. Ueber Dreißigtausend besaßen nicht das geringste Obdach, keine Hütte, kein Zelt, gar keinen Schutz, Tag und Nacht dem Regen und dem Sturm wie der Gluth der hier schon mit nahezu tropischer Macht niederbrennenden Sonne preisgegeben. Die Meisten hatten nicht einmal eine Decke, in die sie sich einhüllen konnten, um sich gegen den kalten Thau zu schützen, der allnächtlich den Erdboden feuchtete und in diesen Klimaten lebensgefährlich wirkt.
Nirgends wurde die Ausplünderung der Gefangenen systematischer betrieben, als in Camp Sumter. Man kann sich daher wohl den kläglichen Aufzug vorstellen, in welchem die Unglücklichen einhergingen. Tausende waren ohne Rock, Tausende selbst ohne Beinkleider, Viele trugen nichts als ein in Fetzen herabhängendes Hemd auf dem Leibe. Die Verpflegung war alledem ebenbürtig: die täglichen Rationen, aus drei Viertel Pfund Brod oder Mehl und einem Achtel Pfund Fleisch bestehend, konnten den Hunger nicht stillen, der bald mit unaufhaltsamer Gewalt zu wüthen und Tag für Tag seine Opfer zu fordern begann. Ueberdies war das Mehl in der Regel schon in Gährung übergegangen und stets voller Unreinigkeiten, das Fleisch von einer Beschaffenheit, die es mehr für den Seifensieder, als zum Lebensmittel qualificirte. Wie dem Vieh ward diese Ration den Gefangenen vorgeworfen von hohen Wagen herunter, welche jeden Nachmittag die Portionen herbeifuhren: Anfangs hatten die Armen weder Topf noch Schüssel noch sonst ein Gefäß zu ihrer Verfügung. Später errichtete man zwar ein großes Kochhaus, allein für die Dreißigtausend und mehr reichte es in keiner Weise hin, und so geschah es, daß Hunderte voller Verzweiflung mit ihrer Ration umherliefen, die sie sich nicht zubereiten konnten, und Hunderte das Fleisch und Mehl, roh wie es war, mit Wasser hinabzuwürgen suchten. Ueber alle Worte widerlich war dies Wasser, dessen sich die Gefangenen bedienen mußten. Ein sumpfiger Bach floß durch das Lager, nachdem er vorher noch alle Arten von Zuflüssen von der um das Lager postirten Wachtstation, selbst die aus den Cloaken, aufgenommen hatte. Diese schwarze, dicke, faulige Flüssigkeit, mit der sich auch noch der Koth und Schmutz der Gefangenen selbst vermischten, war das einzige Wasser, welches die Unglücklichen zum Trinken und zum Kochen benutzen konnten.
„Es war eine Hölle, dies Camp Sumter!“ bezeugt einer der befragten Soldaten. Bald nahmen Hungertyphus und Fieber auf das Furchtbarste überhand und das Sterblichkeilsverhältniß wuchs mit jedem Tage. In der ersten Zeit waren täglich im Durchschnitte dreißig Mann ihren Qualen erlegen, später starben täglich einhundertundfünfunddreißig, ja, „ich habe“ – constatirt ein anderer Zeuge – „eines Tages einhundertundfünfzig Leichen gezählt, die sämmtlich des Transports nach dem Leichenhause harrten.“ „Daß man Morgens beim Erwachen seinen Nebenmann todt, erfroren oder verhungert an seiner Seite liegend fand, war eine zu gewöhnliche Erscheinung, als daß man sie groß beachtete.“ „Ich habe den Tod unter jeder Form im Hospitale sowohl als auf dem Schlachtfelde gesehen, ich kenne selbst die Schauerstätte von Belle-Isle in Virginien, allein die Scenen, die ich in Camp Sumter Tag für Tag vor Augen hatte, überboten Alles, was ich je von menschlichem Leiden und Elend erblickt oder nur als möglich gedacht hatte,“ – läßt sich ein Anderer vernehmen, der, obwohl selbst Kriegsgefangener, im Lazareth von Andersonsville mit zur Krankenpflege verwandt worden war. Daraus mag man versuchen sich ein ungefähres Bild des Jammers zu entwerfen, zu welchem die armen Gefangenen verdammt waren, des Zustandes, dem sich weitaus ihre Mehrzahl hingegeben sah. Alle packte die Verzweiflung, bei Vielen artete sie zuletzt in völligen Blödsinn aus, der sie auf immer untauglich machte für die Anforderungen und Geschäfte des Lebens.
Neben solchen Foltern des Leibes gefiel man sich darin, den Gefangenen auch noch Seelenmartern aufzulegen, zu deren Bezeichnung uns vollends alle Worte fehlen. „Nicht nur,“ sagt einer der Leidensgefährten aus, „daß man uns alles Schreibmaterial unbarmherzig versagte, auch die Briefe, die aus der Heimath an uns eingingen, kamen uns nur ausnahmsweise zu. Im letzten Sommer blieben Tausende – über Fünftausend – an uns nach Camp Sumter adressirte Briefe erst monatelang irgendwo unterwegs liegen, und als sie dann endlich an ihrem Bestimmungsorte anlangten, forderte man uns für jeden Brief ein Bestellgeld von zehn Cents ab. Die Meisten von uns besaßen ja auch nicht einen einzigen Cent, – und so erhielten wir unsere Briefe nicht nur nicht ausgeliefert, sondern hörten auch nicht, was mit ihnen nun weiter geschah! Einer meiner Cameraden erblickte unter den vorgewiesenen Briefen einmal drei, deren Aufschrift von der Hand seines Vaters herrührten, allein der arme Bursche hatte nicht so viel, sich die lang ersehnten, schmerzlich erwarteten Nachrichten aus dem Elternhause einzulösen, und all sein Flehen blieb ohne Erfolg: unerbittlich warf der Gefängnißbeamte die Briefe zu dem großen Haufen der andern, die für uns auf immer verloren waren!“
Enden wir aber mit Aufzählung dieser Scheußlichkeiten; der Leser wird ihrer längst müde sein und das Herz schwer haben im Gedanken, daß in unserm Jahrhunderte, in einer Nation, die zu den stimmführenden der Zeit gehört, in einer Republik, die bis jetzt vielfach als Vor- und Musterbild, gewissermaßen als Ideal staatlicher Verhältnisse aufgestellt worden ist, dergleichen Barbareien, die dem Menschenthume Hohn sprechen, überhaupt noch möglich sind. Das nur muß noch hinzugefügt werden, daß die nämlichen Scenen von Ausplünderung und Mangel, von Frost und Hunger, von Schmutz und Krankheit, von Aufseherwillkür und Schildwachensport, wie wir sie in Libby, auf Belle-Isle und in Camp Sumter kennen lernten, in allen Militärstationen der Conföderirten spielen und daß die Art und Weise, wie man den Transport von Kranken und Verwundeten in den Eisenbahnwaggons zu bewerkstelligen pflegte, dem Kannibalismus eines Königs von Dahomey Ehre machen würde. Zu Hunderten wurden Verwundete und Unverwundete, Kranke und Gesunde in die Vieh- und Gepäckwagen eingeschichtet; darin lagen und standen, hockten und starben sie mitten in Koth und im Blut, das von den unverbundenen Wunden strömte!
Genug, genug dieser entsetzlichen Bilder, die irre machen können an der Menschheit! Wie aber konnte dergleichen geschehen? fragt der Leser. War es frevelhafter Leichtsinn oder strafbare Nachlässigkeit, Rohheit der Unbildung oder Stumpfsinn geistiger Beschränktheit; war es ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände, denen das Ungeheuerliche zur Last fällt? Nein, leider nein! Wie man auf Menschlichkeit der Kriegführung nicht hoffen darf, wenn der ganze Kampf nur um die Erhaltung der allergrößten Unmenschlichkeit geführt wird, so unterliegt es, nach den actenmäßigen Erhebungen, nach den unumwundenen Bekenntnissen von conföderirten Officieren und Behörden, keinem Zweifel, daß die verübten Grausamkeiten, welche diese Blätter zur Kenntniß auch des deutschen Publicums bringen wollen, ein wohlerdachter Plan, ein fein angelegtes und organisirtes [137] System waren, – um die feindliche Armee zu decimiren, dadurch, daß man die nach tapferer Gegenwehr auf den Schlachtfeldern Gefangengenommenen in Mangel und Elend verkommen ließ oder wenigstens auf lange hin zu weiterem Kriegsdienste untauglich machte. Und der Plan war praktisch, man muß es den Sclavenbaronen zugestehen! Eine andere Erklärung der geschilderten Unmenschlickkeiten läßt sich nicht auffinden, denn was man hie und da als Beschönigung und Entschuldigung hat anführen wollen, daß die conföderirten Truppen selbst am Nothwendigsten Mangel gelitten hätten, hat sich als durchaus unbegründet erwiesen. Armeen, die mit Frost und Mangel kämpfen, sind nicht im Stande die unaufhörlichen forcirten Märsche, die unsäglichen Strapazen eines Krieges zu ertragen, der Beschwerden bot, wie kaum je ein anderer, noch weniger aber den tollkühnen Muth, die Kampflust, das Ungestüm an den Tag zu legen, welche fast allen Actionen der Conföderirten zuerkannt werden müssen! Daß die Barbarei auch kein Act der Wiedervergeltung war, auch das wissen wir. Durch unverwerfliche Zeugnisse, durch die unbeeinflußten Aussagen conföderirter Officiere und Soldaten, welche in die Gefangenschaft des Unionsheeres geriethen, ist unwiderleglich constatirt, daß die Gefangenen der Föderirten sich blos über den Verlust ihrer Freiheit zu beklagen hatten, im Uebrigen aber mit der ihnen werdenden Behandlung und Beilegung vollkommen zufrieden waren, nicht nur mit dem Nothwendigen ausreichend versehen, sondern selbst im Genusse von mancherlei Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten und in jeder Beziehung mindestens ebensogut versorgt, wie das Unionsheer selbst. Namentlich entsprach die Pflege der Kranken und Verwundeten in den Spitälern des Nordens nach jeder Richtung hin allen Ansprüchen, die man heutzutage an solche Anstalten zu machen berechtigt ist. Den allerbesten Beweis dafür liefert das Mortalitätsverhältniß unter diesen Gefangenen; während in den südstaatlichen Gefangnenstationen der Procentsatz desselben fort und fort wuchs und selbst fünfzig Procent überschritt, steht fest, daß Dank der guten Wohnung, Kleidung und Abwartung, z. B. in Fort Delaware im verflossenen Mai von acht Tausenden nur zweiundsechszig, im letzten Juli sogar nur zweiundvierzig starben. –
Diese Thatsachen wird der künftige Geschichtsschreiber des furchtbaren Bruderkrieges vor allem Andern hevorzuheben haben, denn es sind keine zufälligen, sondern sie stehen in unzertrennlichem Zusammenhange mit Ursache und Natur des Kampfes selbst. Die Barbarei, vor welcher die Leser geschaudert haben, ist, wie wir sehen, lediglich eine Consequenz der unmenschlichen Institution, für deren Erhaltung der Süden die Waffen ergriff. Was für Nebenursachen auch Anfangs in Mitwirkung gewesen sein mögen, nachgerade ist der Krieg zum Vernichtungskampfe wider die Sclaverei geworden, – er ist der Kampf der nämlichen Principien, welche in Europa seit langer Zeit um die Herrschaft streiten: der Kampf des modernen Bürgerthums, der Kampf von Handel und Industrie wider den Feudalismus, der Kampf der allgemeinen staatsbürgerlichen Gleichheit wider Anmaßung und Privilegien einer kleinen volksfeindlichen Kaste, – der Kampf der Freiheit wider die Tyrannei, – der Kampf der Humanität wider die Barbarei. Das ist die große weltgeschichtliche Bedeutung des gegenwärtigen amerikanischen Krieges, und darin liegt das Interesse, welches er für die ganze civilisirte Welt besitzt!
Auf welche Seite, wie im Allgemeinen, so hier in unserm besondern Falle, der endliche Sieg sich neigen wird, – darüber kann kein Zweifel obwalten. Schon haben mehrere Staaten des Südens, Missouri, Kentucky, Maryland, Tennessee, die Abschaffung der Sclaverei beschlossen, und wir dürfen uns jetzt, nach den neuesten Berichten vom Kriegsschauplatze, nach Sherman’s kühnem Zuge auf Savannah, nach dem Falle von Fort Fisher, und nachdem der Präsident der Conföderation selbst schon von Friedensanträgen spricht – der verzweifelten Anstrengungen ungeachtet, mit dem der Süden ein letztes va-banque versucht – der bestimmten Hoffnung hingeben, daß der gigantische Kampf seinem Verlöschen nahe, der Sieg dem Norden schon so gut wie gesichert ist. Die zerrissene Union wird wieder die einige werden, der Süden, reingewaschen von dem Schandfleck der Sclaverei und erlöst von dem Joche eines monopolisirenden Junkerthums, der freien Arbeit erschlossen, fortan Antheil nehmen an der Bewegung der modernen Welt und damit erst zur vollen Entwickelung seiner reichen Hülfsquellen gelangen.
Von Heinrich Noë.
Der Morgen des 31. December im Jahre des Heils 1864 hatte mit einem Morgen das gemein, was ungefähr der 21. März mit dem Frühlingsanfang: nichts als den Namen. Ein Nebel, wohlverstanden, eine Anhäufung herabgedrückter graubrauner Wolkenschichten, ein schwebender Regen, wie ihn nur die Hochthäler der Alpen kennen, hatte sich auch in die Klüftung eingezwängt, mit welcher der Achensee und sein Abfluß die gewaltigen Felswände des Unnütz und Seekar trennen. Durch den nächtlichen Dunst schaute ein fahler, trübseliger Schein, nicht heller, als der Wiederglanz des Schnees in einer Winternacht, deren Vollmond von lichten Wolken umschleiert wird. Wer das zum ersten Male sieht, wird traurig und giebt sich gern der herkömmlichen Melancholie hin, mit welcher die Lyriker aller Zeiten jede Sorte von Nebel besungen haben. Wer aber im Hochland zu Hause ist, macht sich nichts daraus; denn, abgesehen von der Gewohnheit, weiß er, daß nur tausend Fuß über der herabgesenkten Dunstbank die Sonne strahlt und der Himmel in glänzendem Tiefblau über der beschneiten Erde liegt. Er wird sich niemals von der beabsichtigten Besteigung eines Berges durch das Grau abhalten lassen, das beim Anbruch eines solchen Tages vor seinem vereisten Fenster schwebt; er wird sich vielmehr auf jene unbeschreibliche Empfindung freuen, die auch den Natursohn überkommt, wenn er plötzlich aus den obersten Lagen der Nebelschicht in den sonnigen, warmen Tag hinauf taucht.
Ich will damit nicht gesagt haben, dast es nicht dennoch immerhin eine kleine Ueberwindung kostet, um sieben Uhr eines solchen Wintermorgens sich aus dem warmen Bett mit der Aussicht loszureißen, draußen eine Temperatur von Minus zwanzig zu finden und über den Schnee eines siebentausend Fuß hohen Berges zu klettern; aber wie für die Griechen den Schweiß, so haben die Götter für uns auch den Frost vor die Tugend gestellt, und dann giebt es ja auch Viele, welche das Ungewohnte und die Gefahr mehr locken, als das weichste Bett und der wärmste Ofen.
Von der Gefahr erzählten mir die Wände des Juisen drüben, an welchen im August desselben Jahres, dessen Sonne ich von der Schneewüste eines Joches aus untergehen sehen will, ein reicher Wiener zerschmettert hinstürzte, als er der verhängnißvollen Blüthe des Edelweiß an den schwindelnden Rändern nachstieg. Wie leicht, dachte ich, kann dich die hereinbrechende Nacht, der emporsteigende Nebel, die trügerische Schneedecke dahin stürzen, wohin Jenen die Gier nach dem wolligen Gnaphalium! Du wirst glücklicher sein! antwortete ich mir selbst und schritt auf dem ächzenden Schnee weiter.
So kam ich an die gespenstisch aus dem Nebel aufragenden Gebäude, welche die Krone aller Tiroler Wirthinnen, die preiswürdige Scholastica, an dem Strand der Krone aller Tiroler Seen, des tiefblauen Achensees, erbaut hat. Da gilt es, zu rasten, noch diesen und jenen nützlichen Wink aufzufassen und vor Allem aus den Vorräthen des Hauses, welches auch in dieser öden Jahreszeit seinen Ruf nicht verleugnet, das Nöthige in möglichst compacter Form einzusacken. Die Feldflasche füllt bald der rothe [138] Terlaner, die Tasche Brod und Fleischwaaren, die Rechte ist mit dem eisenbeschlagenen Bergstock bewehrt – und die Einwendungen und Abmahnungen sind glücklich überstanden.
In der Abwehr dieser war mir ein alter Jäger von Pertisau behülflich, der zu der vorsorglich abrathenden Wirthin sagte:
„Ach Gott, was! es ist erst über die Weihnachtsfeiertag’ ein Holzknecht über’s Joch gangen. Der Herr da find’ die Fußstapfen leicht.“
Um den Leser zu orientiren, muß ich sagen, daß mein Wanderziel das einsam stehende Jägerhaus Hinterriß war, welches sechs Stunden westlich vom Achensee in einer schwer zugänglichen Wildniß liegt. Das Hospiz der Scholastica steht am Nordostufer; man muß also über den See fahren. Da aber der einzige Punkt, von dem man drüben den Marsch antreten kann, am südwestlichsten Ende des Wassers liegt – überall sonst fallen die Wände steil in die unergründliche Fluth, – so würde das Ueberfahren nicht der Breite, sondern der Länge nach, über die ganze Ausdehnung desselben von Nord nach Süd, veranstaltet werden müssen. Eine solche Fahrt ist im Sommer, wenn man vom Kahn aus nach den Alpenrosen am jähen Gestein greifen kann, freilich etwas Angenehmes; allein bei dem Zustande der Luft, wie sie besagter Decembermorgen bot, möchten nur wenige meiner Leser sich an solcher Wasserpartie betheiligt haben. Es giebt gute Naturen, welche das stundenlange ruhige Sitzen in solcher eisigen Kälte auf den nebelbedeckten Wellen nicht ertragen können. Darum war es jedenfalls das verständigste, am Ostufer des Sees so weit nach Süden zu Fuß vorzugehen, bis uns vom gegenüberliegenden Landungsplatze, der kleinen grünen Mulde der Pertisau, der schmale See nur noch durch seine geringe Breite trennt.
Schon haben wir die südliche Ausbuchtung des Sees erreicht und stehen an der engen Stelle des Gestades, von deren schanzartigen Wänden im Frühjahr die gefürchtetste Lawine des Achensees, die sogenannte Haselbacherin, herabstürzt. Dort oben, auf dem Geklipp, wartet sie, bis ihre Zeit kommt. Dann jagt sie nieder, die Föhren knickend, und überthürmt die Straße, die dann Tage lang für Pferd und Wagen unzugänglich bleibt. Für jetzt aber lassen wir sie da oben hocken und treten beim „Ueberführer“ ein, der sofort zur Fahrt bereit ist und mit mir durch den Schnee nach seiner Schiffhütte schreitet.
Der freundliche Leser erinnert sich aus einer andern meiner Mittheilungen an die Gartenlaube, daß die Alpenseen im December und Januar nur selten mit Eis bedeckt sind, und der Gründe, die ich für diese Erscheinung angegeben habe, welche dem Flachländer auffallen mag. Aber in der Schiffhütte, in welcher das Boot des Alten liegt, ist das seichte Wasser doch gefroren und mit Mühe gelingt es uns, den Kahn aus den umklammernden Rinden zu befreien. Endlich sind wir flott, die Welle schlägt glucksend an das Vordertheil und rasch ist der Boden unter dem Wasser vor unsern Blicken wie hinabgestürzt und verschwunden.
Da – wir waren ein paar Duzend Ruderschläge draußen in der Fluth – rasselte es mit einem Male, als ob der Nachen zerbersten wollte – noch einmal, das Boot stand still. Was war das? Das Geräusch glich demjenigen, mit welchem auf großen Seeschiffen die Ankerketten abgewickelt werden, wenn der schwere Widerhaken in die bergende Tiefe sinkt. Wir waren auf eine dünne Eisschicht aufgelaufen, deren Rand wir zerbrachen. An dieser Stelle des Sees wirft nämlich das Stanzer Joch, ein mächtiger Alpenrücken, seinen Schatten gerade um die wärmsten Stunden des Tages auf das Wasser, mit welchem dann die Kälte leichteres Spiel hat, als mit den Wellen draußen in der freien Fluth, über welche Wind und Licht unbeschränkt gebieten. Nun galt es, um die verschiedenen Eisinseln herumzukommen, was auch dadurch schwierig war, daß sie selbst in der Nähe vom offenen Wasser kaum zu unterscheiden waren. Das Eis war klar und durchsichtig, wie die schweigsame Fluth. Nach zweistündigem Manoeuvriren gelang es uns, bis auf einige Klafterlängen an das seichte Ufer vorzudringen; an diesem, dem Fuß des benannten Joches, machte eine dickere Schicht das nähere Landen unmöglich. Ich mußte also auf dem Eis aussteigen, worauf ich und sogar mein Hund in den wenigen Schritten, die uns von dem festen Boden trennten, noch mehrmals einbrachen. Diese bedeutende Verspätung und das Anfangs von mir nicht bemerkte Durchweichen der Schuhe mit dem eiskalten Wasser sollten, wie wir sehen werden, auf den unglücklicken Ausgang der Expedition von wesentlichem Einfluß sein. nun stand ich in der Pertisau, und von hier aus geht der Weg nach denn Blumser Joch, über dessen Sattel man nach den menschenleeren Thälern der oberen Zuflüsse der Isar gelangt. Es ist schon von hier aus eine gewaltige, im winterlichen Gewand fast unheimliche Scenerie. Die schiefen Strahlen der niedrigen Sonne geben dem Sonnenjoch, dem Letzten Schnee, der Lachwald-Spitze, die alle bis weit über achttausend Fuß hinausragen, den Ausdruck einer wilden, drohenden Einsamkeit. Zudem ist zwischen hier und Hinterriß in den sechs bis sieben Stunden, welche der rüstigste Bergsteiger zum Ueberschreiten des Hochjoches braucht, keine menschliche Wohnung. Ich überlegte noch einmal, aber ich scheute mich endlich, vor einer Aufgabe zurückzuweichen, welche von einem Holzknecht, ohne viel Aufhebens zu machen, zu Ende geführt worden war.
Das schöne große „Fürstenhaus“ am Strande der Pertisau, in welchem die frommen Väter des Klosters Viecht im Sommer die lebenslustigen Touristen bewirthen lassen, liegt öde am Strand. Alle seine Fensterläden waren geschlossen und kein Fußstapfen in den dichten Schneelagen zu sehen, welche hier, am Knotenpunkte des Hochalpen- und des Seethales, der schneidende Wind zusammengetragen hatte. So besuchte ich noch auf einige Augenblicke das obere neue Wirthshaus, um nicht jetzt schon meine eigenen Vorräthe angreifen zu müssen.
Ein schönes Weib, welches ich dort traf, eine „Wurzin“ (Wurzelgräberin), die, wie manche Leute in Tirol, das Enzianbereiten auf einer Sennhütte im Sommer fast fabrikmäßig betreibt, meinte, es sei zwar für heute schon ein wenig spät (halb ein Uhr), um über das Joch zu steigen, aber man dürfe sich aus einen frosthellen Abend gefaßt machen und überdies stehe die Mondsichel am Himmel.
Dieses und eine Wahrnehmung, die ich schon vom Thale aus gemacht hatte, bestärkten mich vollends in meinem Entschluß, trotz der späten Tageszeit meinen Plan zur Ausführung zu bringen. Ich hatte nämlich gesehen, wie oft auf den Höhen der Joche sich schwarze Streifen hinzogen, an vielen Stellen der Grate das Gestein hervorschaute und an andern die Schneeschicht augenscheinlich dünner war, als weiter herunter oder in der Niederung. Es ist dies eine Folge der wärmeren Luftschicht, die sich oft über der dickeren, kälteren Atmosphäre des Thales hält. Ich habe in Innsbruck gesehen, wie die Stadt in Kälte und Schnee erstarrt dalag und zweitausend Fuß weiter oben an dem Rücken des Patscher Kofels und der Waldrast ein lauer Föhn jede Flocke weggeleckt hatte. Auch hier ist es gar nicht selten, daß man, wenn man von dem fünfzehnhundert Fuß tiefer gelegenen Innthale an den Achensee heraufkommt, warmes Thauwetter findet, während unten die Wasserfälle zu Säulen verglast sind. Das ist, wie die Bauern sagen, bis Lichtmeß (2. Februar) sogar die Regel; späterhin soll es „beim Land“, d. h. in der Ebene, wieder wärmer sein. Die Meteorologen mögen sich um das Wie und Warum dieser Dinge den Kopf zerbrechen – ich führe sie hier nur an.
So trat ich denn meine Reise nach dem Joch wohlgemuth und ohne Zagen an. Schlitten, welche aus den nahen Kohlenmeilern ungeheure Ladungen von Kohlen holen, die in das Eisenwerk von Jenbach im Innthal gebracht werden, hatten den Weg durch den Schnee eine gute Strecke weit geebnet, was die Behaglichkeit meiner Stimmung nicht wenig erhöhte. Von Zweigen und Stämmen der Nadelbäume in den riesigen Bergforsten war wenig zu sehen – Alles war im gleichmäßigen Schimmer von Schnee und Eis begraben. Man konnte einen Wald gerade so gut für eine Stalaktiten-Sammlung halten, wie für einen Aufbau aus Pflanzenzellen. Dabei warf die tiefe Sonne blutrothe Flecke durch die Zwischenräume auf den flimmernden Boden und meine Schritte auf der schlüpfrigen Decke fanden von den erstorbenen Baumreihen her einen krachenden Wiederhall.
Endlich verließen mich die letzten Kohlenwege und nun ging es durch die enge Schlucht hinter der Rabenspitz und dem Letzten Schnee geradaus durch die verschneiten Wälder. Wohl war der Schnee tief und es dauerte nicht lange, so waren meine Beinkleider bis an die Kniee herauf dick und steif wie ein Bret gefroren – aber solches geschieht auch alle Tage draußen im Flachland und [139] bot zwar eine Unannehmlichkeit, aber keine eigentliche Beschwerde. Und das Joch hinauf konnte die Decke nicht immer so dicht sein. Wer Stunden lang in sehr tiefem Schnee watet, macht die Bemerkung, daß es dann keine Kälte giebt, welche ihn verhindert, zu schwitzen, denn die Gymnastik des Herausziehens der Beine aus der tiefen, zähen Flockenschicht hält ihn mehr als warm. So war es auch bei mir; noch ehe ich an den Fuß des Berges kam, war ich vor Hitze roth, als ob statt der zwanzig Grad Kälte die Sonne eine Temperatur aus den Hundstagen herabschickte. Oft blieb ich einen Augenblick stehen, um mich durch einen Schluck Wein zu stärken; war dieser natürlich auch kalt wie Eis, so hielt ich doch nicht an, um vorher auszuschnaufen, einestheils weil die Zeit drängte, und dann weil jeder Fuß- und insbesondere Alpenreisende weiß, daß die Gefahr vom Trunk in der Hitze eine Fabel ist, vorausgesetzt, daß gleich darauf wieder die entsprechende Bewegung eintritt.
Die Art von Steg, welche der Herzog von Coburg, der Besitzer dieser felsigen Jagdgründe, über das Blumserjoch anlegen ließ, war auch unter der Schneehütte nicht schwer zu entdecken. Außerdem bemerkte ich hier die Fuststapfen jenes famosen Holzknechtes, der seinen Uebergang acht Tage vorher bewerkstelligt hatte, und so wand ich mich, oft in die gefrorenen Höhlungen tretend, die von seinem Schuh zurückgelassen waren, allmählich das Joch hinan. Das Steigen hatte freilich allerlei Schwierigkeiten.
Manchmal lagen gewichtige Lawinen da, welche von einem früheren Thauwind herabgeworfen worden, jetzt aber vom Frost mit spiegelglattem Eis überzogen waren; es war mühsam über die zertrümmerten schlüpfrigen Brocken hinüber zu klimmen. Je mehr ich mich der Jochhöhe näherte, desto dünner wurde allerdings die Schneeschicht, allein die schwache Kruste, in welche sie zusammengeschmolzen und dann gefroren war, machte dafür den Fuß bei jedem Schritte vorwärts um drei nach rückwärts ausgleiten. Nun bereute ich es, keine Steigeisen mitgenommen zu haben. Ich war schon im Begriff gewesen, sie einzupacken, als ein der Gegend sehr kundiger Jäger mir davon abrieth, indem er sagte, es werde sicherlich auf dem Joch kein Eis liegen. Dazu wird das Blumser Joch, je näher man dem Grate kommt, immer steiler, so daß es zuletzt nothwendig wurde, für den Fuß vorher mit dem Bergstock eine kleine Höhlung zum Anhalt in’s Eis zu schürfen. Plötzlich konnte sich mein Hund mit seinen spitzen Krallen auf der schiefen Eiswand nicht mehr halten; er kam in’s Rutschen und blieb einige hundert Fuß tiefer an einem Legföhren-Gebüsch hängen – noch einige Schritte weiter und er wäre über eine fast hundert Fuß hohe Wand hinter jenen Föhren hinabgestürzt – ein lehrreicher Fingerzeig für das, was aus mir werden konnte, wenn ich einmal meine Stütze auf dem Eis verlor! Nachdem ich meinen vierfüßigen Begleiter mit der größten Anstrengung wieder heraufgebracht und danach noch ungefähr eine Stunde fortgeklettert war, erreichte ich endlich die Jochhöhe. Man kann sich denken, daß ich bis hierher ungemein vorsichtig und langsam zu Werk gehen mußte – denn abgesehen von der Gefahr eines tiefen Sturzes konnte ja schon die einfachste Verrenkung in einer solchen Einöde verderblich werden. Aber das, was ich fürchtete, geschah nicht, und das, was ich nicht ahnte, geschah.
Als ich auf der Jochhöhe stand, ging die Sonne unter. Ein blutrother Schein hing noch an den umstehenden Bergriesen und ferne aus dem Zillerthal und von Stubai herüber glänzten die Gletscher wie Kohlengluth vor dem Erlöschen. Alles Uebrige schimmerte weiß in der frostigen Dämmerung, in den Thälern lag schwarze Nacht. Ein lauer Wiud strich über die Höhe, auf welcher ich neben einem Kreuze ausruhte. Drohend, wie ein klaffender Abgrund, lag das finstere Thal unter mir, in welches ich jetzt hinüber sollte – nur der zackige Gemskar zeigte auf seinen höchsten Spitzen noch einen Wiederschein der hohen Abendröthe. Eine lange, lange Strecke an jähen Abgründen, durch Wälder und über gefrorene Achen hin lag noch vor mir – über die erstarrte Welt war die Nacht heraufgestiegen; aber konnte ich zurück? – Nun ging es also auf der andern Seite bergab. Bald machte ich zu meiner Bestürzung die Entdeckung, daß hier, auf der Westseite des Gebirgsrückens, der Schnee in viel gewaltigeren Mengen angeweht war, als drüben. Aber welcher Schnee! Die hohe Lage in der trocknen Luft begünstigt die Ausstrahlung der Feuchtigkeit – es ist also keine zusammenhängende Masse, keine feuchte Flockenschicht, wie in der Ebene, sondern eine unermeßliche Anhäufung von Rhomboedern und Nadeln von reinem Eis. Wenn man hineinstürzt, raschelt es, als ob man auf einen Strohsack fiele. Und nun begann das Stürzen und Sinken mit jedem Schritt. Denn, um nicht hart an den Rändern der jähen Abhänge gehen zu müssen, an denen ein Fehltritt in der Dunkelheit mich, der Himmel weiß wohin, befördert hätte, mußte ich mich stets auf der Bergseite halten, an welcher die Eiskrystalle aber fortwährend bis zur Höhe eines mittelgroßen Menschen aufgehäuft waren. Da war jeder Schritt eine Mühsal und eine Stunde brachte mich nicht weiter, als ich ohne diese Schneewehen in fünf Minuten gekommen wäre.
Uebrigens war das noch immer nicht das Aergste. Denn auf jenen hohen Stellen, wo es keinen Baumwuchs mehr giebt, hatte ich doch den fahlen Glanz vom Himmel und den hell glänzenden Sternen und eine weite Rundschau, soweit sie eben eine heitere Winternacht zuläßt. Und diese ist in jenen klaren Höhen heller, als in der dumpfen Luft der Niederungen. Als ich aber wieder in die Waldregion herabkam, welche schon am Tage einen dämmerigen Schatten auf die Bergwand wirft, hörte das Sehen fast auf und es blieb mir überlassen, durch den Bergstock zu unterscheiden, wo sich der Abhang hinunter und die Felswand aufwärts zog. Die Fußstapfen des Holzknechts hatten hier ganz aufgehört, denn neuer Schnee mußte sie fußhoch überrieselt haben. So mußte ich, bis über die Schenkel im Schnee, oft gegen Stämme und Aeste stoßend, von undurchdringlicher Finsterniß umgeben, einen Abhang hinab, dessen Tiefe mir das undeutliche Summen der Wasserstürze verrieth, welches aus der unsichtbaren Kluft heraufdrang. Meine Lage begann bedenklich zu werden. Die Kälte stieg, je weiter ich herunter kam, und nach zweistündigem Niederklettern hatte ich ein Plateau erreicht, auf dem sie strenger war, als sie je am frühen Morgen in den eisigen Thälern draußen gewesen. Es mochte eine Temperatur von zwanzig bis fünfundzwanzig Réaumur in der Luft liegen. Dazu hatte ich auch allmählich jede Sicherheit in Beziehung auf meine Richtung verloren und schon hier gab ich alle Hoffnung auf, noch in dieser Nacht das Jägerhaus von Hinterriß zu erreichen. Manchmal, wenn eine Lücke in den Felsspitzen seinem Licht den Durchgang gestattete, warf der Mond, dessen dünne Sichel hier oben einen helleren Schein verbreitet, als unten seine vollere Scheibe, bleiche Strahlen durch die dichten Aeste – aber es war, als ob sie des Verirrten nur spotten wollten.
Bald kam ich wieder an einen Back, zwischen dessen Eis das starke Gefäll noch einen Zug lebendigen Wassers erhalten hatte. Ein paar schlüpfrige Prügel verbanden seine glasigen Felsufer; ich überschritt sie vorsichtig, war aber noch nicht auf der Mitte des Stegs, als ich ausglitt und einige Fuß hoch in das Wasser hinabstürzte. Es ging nur bis an die Knöchel und ohne weitere Beschädigung konnte ich in der Finsterniß an das andere Felsufer mich wieder hinaustasten.
Die nächtlichen Stunden verflossen – meine Vorräthe erschöpften sich und das immerwährende Hindurcharbeiten durch den hohen Schnee hatte mich todmüde gemacht. Von oben, als es noch etwas Tag gewesen war, hatte ich einige Alpenhütten bemerkt. Sollte mir jetzt eine auf meinem Wege zu Gesichte kommen, dachte ich, so würde ich sofort mit den Holzvorräthen, die Sommers und Winters in oder vor jeder Hütte liegen, mir ein Feuer anmachen und so allgemach den Tag und mit ihm die Möglichkeit abwarten, mich aus den pfadlosen Felswüsten wieder hinaus zu finden. Aber es vergingen Stunden – und ich sah nichts. Das Rauschen der Wasser in den Felsklammen kam bald näher, bald verschwand es wieder in der frostigen Luft – mein Hut, meine Haare, meine Beinkleider, mein Ueberwurf starrten in einer gleichförmigen Eisdecke, welche durch jeden herabfallenden Athemzug schwerer wurde, weil sich sein Hauch darüber lagerte; die Nacht wurde immer grimmiger – der Schnee tiefer – ich sah nichts.
Mit einem Male aber wurde das Getös der Achen stärker – drei Wasser strömten zusammen, vor mir stand eine Hütte. Es war die unter dem Namen Hagelhütte auf den Karten verzeichnete Alpe. Sie liegt da, wo der Blums-, der Blau- und der Rißbach sich aus menschenleeren Thälern vereinigen. Von hier steht acht Stunden nach Süden, zwölf nach Westen kein Haus, keine Wohnstätte. Aber die Riß im Nordwesten ist nur noch drei Stunden entfernt und der Weg dahin geht in einer ebenen Mulde fort. Ich hatte mich nicht verirrt, ich war geborgen.
[140] Schon war ich daran, hier die Vorbereitungen zu einem Nachtlager zu treffen, als mich doch die verführerische Aussicht, noch in dieser Nacht ein warmes Zimmer und ein Bett zu erreichen, wieder weiter trieb. Drei Stunden konnte ich wohl noch bewältigen, irrelaufen war nicht mehr möglich, weil ich von nun an in der ebenen Schlucht des Rißbaches hinabgehen mußte. So verzehrte ich also meine letzten Vorräthe von Wein und Fleisch, ruhte ein wenig und trabte getröstet weiter. Wieder ging’s durch dichten Wald. Aber jetzt hatte ich nicht mehr zu besorgen, herabzustürzen oder unversehens zwischen das Geklüft einer Ache zu rollen – es war so eben, als es in einem Hochthal, welches vier Fuß hoher Schnee bedeckt, eben sein kann.
Aber ich sollte dafür bestraft werden, daß ich mich wieder von dem, wenn auch jämmerlichen, Asyl der Hagelhütte getrennt hatte.
Ich mochte eine Stunde mich abermals durch die Schneelager, die leider hier noch mächtiger, als an irgend einer bisherigen Stelle waren, durchgekämpft haben, als mich ein Gefühl der allgemeinen Erstarrung überkam. Meine Beinkleider hatten sich zusammengezogen und aufgerollt – zwischen Schuh und Strümpfe, endlich auch zwischen Strumpf und Fußhaut waren Eisnadeln eingedrungen und hatten allmählich den ganzen Zwischenraum in der Höhlung der Schuhe mit gefrorenem Inhalt zu einer Masse zusammengeschmolzen. Schon lange hatte ich keine Empfindung mehr in den unteren Extremitäten – ich hatte es der ungeheueren Ermüdung zugeschrieben. Jetzt aber erkannte ich, daß ich im Begriff stand, erfrorene Füße zu bekommen. Das ganze Schuhwerk war eine Eismasse, in deren Mitte die Strümpfe kaum noch zu erkennen waren. Erst wenn ich Eisschollen und Zapfen losbrach, konnte ich mit der Hand zur Wollenfaser gelangen. Mein erster Gedanke war, die Strümpfe mit neuen zu vertauschen – aber wie? So sehr ich mich bemühte, meine Schuhe vom Fuß zu bringen: es war ein Ding der Unmöglichkeit. Die Hände allein vermochten es nicht und in den Füßen war gar keine Kraft mehr, um sie gegen etwas anstemmen und so durch fortgesetztes Rücken dieselben befreien zu können. Es war Alles vom Eis wie angegossen. Das war eine Folge des zweimaligen In’s-Wasser-Stürzens und des fortwährenden mit Gewalt betriebenen Einkeilens und Zurückschiebens der Füße in den Schneewehen. Stechende Schmerzen lähmten mir die Kniee – ich wankte, die Füße gehorchten nicht mehr, im Kopf wurde es mir blöd und wirr, ich sank hin.
Nach einer Weile raffte ich mich wieder auf – denn es ist hart, so verkommen zu müssen. Die Verzweiflung konnte mich nur noch ein paar Schritte weit tragen, ich stürzte wieder zusammen. Ich kroch – aber Ellenbogen und Fingerspitzen erstarrten – ich konnte nicht mehr.
Da blieb ich denn liegen und dachte darüber nach, wie lange wohl der Schlaf des Erfrierenden dauern würde, bis er ihn zum barmherzigen Tode geleitete. Dann sann ich in wirren Bildern, wer mich im Frühjahre wohl hier zuerst finden sollte, von Füchsen und Adlern angefressen. Ich dachte an meine Jugend, an meine –, ich dachte nicht mehr, einige Thränen fielen in den Schnee und ich gab mich ihm hin, dem kalten Gott.
Nach einigen Minuten brachte mich ein seltsamer Schimmer wieder zur Besinnung. In diesem Augenblicke war dort über dem Falkenkar der Mond aufgegangen. Ich schaute noch wie im Traume nach ihm auf – aber welch jähes Entzücken schlug mir in die Glieder! Kaum dreißig Schritte von mir entfernt zeichneten sich in seinem Licht die Umrisse einer Alpenhütte.
Es war Mitternacht – das neue Jahr und mit ihm die Hoffnung des Lebens war angebrochen. Heil Dir, königliches Gestirn! Du hast mich in jener Todesnacht vom Rand der Vernichtung gezogen. Wie ein himmlischer Bote kam mir der sanfte Strahl. Ich fühlte die Erstarrung nicht mehr. Halb auf den Knieen, halb hüpfend schleppte ich mich in die Hütte. Es war das „Garbel“, eine dem Herzog von Coburg gehörige Alm. Die Zündhölzchen, welche den unnützen Cigarren bestimmt gewesen waren, dienten nun dazu, alles Papier, was ich bei mir trug, anzuzünden, um nach den Brennvorräthen in der dunkeln Hütte zu sehen. Ich hätte Tausend-Pfundnoten der Bank von England in Stößen verbrannt, wenn ich sie zur Hand gehabt hätte. Ich erspähte Heu; es war feucht, aber nach vielem Qualmen schlug eine mächtige Lohe daraus nach oben. Nun wagte ich es, eines der bereiften Scheiter, welche draußen, allerdings noch etwas vom Dach geschützt, aufgeschichtet lagen, darüber zu legen. Es siedete, es kochte und schäumte, es brannte. Jetzt holte ich noch mehrere Scheiter und bald hatte ich auf dem einen Fuß hohen Heerde, auf welchem im Sommer die Sennen ihren Schmarren kochen oder Käse bereiten, eine mächtige Gluth. Seine herzogliche Hoheit wird mir diesen Holzfrevel verzeihen – ich bin ihr Zeitlebens dafür dankbar, daß mich das Dach einer ihrer Besitzungen gerettet hat.
Die Hütte war aus losen Balken zusammengefügt; die vielen Zwischenräume zwischen diesen ersetzten den Kamin und so pfiff die Flamme lustig gegen die Decke. Eine lange Bank stand da; auf diese setzte ich mich und ließ die Schuhe gemach am Feuer aufthauen, bis ich dachte, daß innen das Eis sich von der Haut lösen würde. Daß ich sie nachher nicht mehr würde anziehen können, stellte ich mir wohl vor – aber was dann werden sollte, kümmerte mich nicht – für jetzt wollte ich nur der Fesseln von Eis los sein. Ich wurde ihrer los. Mit einem Ruck ging jeder Schuh mit seinem Inhalt, dem Strumpf und den an diesen gefrorenen Hautfetzen herunter und klirrend fielen die Eiszapfen auf den Backstein des Heerdes. Ich betrachtete die Füße. Sie hatten jene weiße Farbe, die von der erstorbenen Epidermis herrührt. Sie waren erfroren.
Ich dachte in diesem Augenblicke nicht daran, wie wenig ich eigentlich mit dem Auffinden dieses Asyls in Wirklichkeit gewonnen hatte, nachdem der Zustand der Füße mit Gewißheit voraussehen ließ, daß ich vor erfolgter Heilung nicht mehr damit würde gehen können. Was sollte mit mir auch nach Tagesanbruch werden? Ich hatte keine Nahrungsmittel mehr – in meine Schuhe konnte ich mit den aufgeschwollenen Füßen nicht wieder hinein, und wer sollte wohl in Monaten hier vorbeikommen? Aber das Alles kümmerte mich damals nichts – vergnügt schaute ich in die Flamme und freute mich, dem Erstarrungstode auf dem eisigen Abhang draußen entkommen zu sein. Freilich durfte ich mich dabei nicht umdrehen, sonst verlor ich die Illusion. Denn, sowie ich das Gesicht abwandte, spürte ich die zwanzig Grad Kälte und die Frostgeister, die mein Feuer von allen Seiten umlagerten. Mein Hund schaute kläglich zu mir auf und leckte mir Hände und Füße – ich glaube, er hat die Situation besser begriffen, als ich in meiner Verzückung.
Noch zweimal schleppte ich mich hinaus um von Seiner Hoheit Holz zu stehlen – dann legte ich mich auf die Bank und machte mir meine Neujahrsgedanken. Ich stellte mir das bacchantische Gewühl vor, das jetzt die großen Städte durchraste – die Trunkenheit bei Weinflaschen und Punschbowlen in schwülen Sälen. Und ich lag da oben auf der Alm, die unter demselben Schnee ruht, der heute mein schweigsames Leichentuch werden sollte! Draußen rauschte ein Bach; er kommt aus den unendlichen Wüsten des Karwendel. Die nächsten lebenden Wesen sind Gemsen und Steinadler. Wenn ich durch die Lücken meiner Behausung schaute, sah ich die Sterne in ruhigem, stetem Licht scheinen – nicht fackeln und zittern, wie draußen. Ich meinte, ich sei dem unendlichen Geist nah, der über diesen gewaltigen Strichen thront, und seine Hand liege schützend über mir. Die Stimme seiner Wasser wie das Schweigen seiner Einöden sprach zu mir. Solche Stunden ändern oft etwas in uns, und auch an mir ist jene Nacht nicht ohne Spur vorübergegangen.
Ich begann von meinem Unglück zu träumen und hörte Schritte von solchen, die mir zu Hülfe kamen. Schon waren sie ganz nah – es kam Jemand zu meiner Thür herein. Ich drehte mich auf meiner Bank um und suchte mein von der Flamme gebranntes Gesicht zu kühlen. Das Wunder geschah.
„Um Gotteswillen, was machen Sie da?“ fragte eine Stimme.
Ich weiß nicht, was ich dachte. Ich weiß nicht, ob ich im Schlafen oder Wachen zu sprechen glaubte. Ich sagte kurzweg:
„Ich wünsch’ ein glückseliges neues Jahr!“
Der Mann – es war ein kräftiger Mann in grauem Rock und mit umgehängtem Gewehr, trat näher. Er rührte mich an und betrachtete mich voll Mitleid. Ich kam nach und nach vollständig zu mir. Ein Wort gab das andere. Es war der k. k. Finanzpostenführer Azzolini. Weit unten hatte er, wenn ich die Thür öffnete, um Holz zu holen, den Schein meiner Flamme bemerkt. So führte ihn die Obliegenheit seines Berufes, den er gewissenhaft erfüllte, herauf. Es konnten Schmuggler, es konnte noch Schlimmeres hier verborgen sein. Nachdem ich ihm Alles, so gut [141] ich konnte, erklärt hatte, that der barmherzige Samariter seine milde Hand auf. Von den Vorräthen, welche diese treuen und braven Leute bei der Ausübung ihres schweren Dienstes in jenen Wildnissen immer bei sich führen, gab er mir, was ich nur wollte. Er rieb meine erstorbenen Füße, er sprach mir Trost zu, er hätte mich fortgetragen, wenn es möglich gewesen wäre.
Erst, nachdem ich dem Braven auf mein Ehrenwort versicherte, daß mir außer der Beschädigung meiner Füße nichts zugestoßen sei, verließ er mich. Trotz der sibirischen Kälte langte er, wie ich nachher erfuhr, schweißtriefend im Jägerhaus von Hinterriß an; so drängte es ihn, mir Hülfe zu schaffen. Nach einigen Stunden kamen die Söhne des vortrefflichen herzoglichen Forstwartes Neuner und zogen mich auf einem kleinen Schlitten über die unwegsamen Eispfade der Berge nach ihrem Vaterhaus. Dort wurde ich wie ein eigenes Kind gepflegt, und nicht der kleinste Gewinn, den ich aus meiner denkwürdigen Fahrt zog, ist die unauslöschliche Erinnerung an die Güte jener liebevollen Menschen im verlassenen deutschen Alpenthal. Dank dem braven Azzolini und der Familie Neuner’s wurden gleich die rechten Mittel ergriffen und so die schreckliche Gefahr, die aus Vernachlässigung oder Ungeschicklichkeit entspringen konnte, glücklich vereitelt. Es scheint, man muß in die Wüsten gehen, um die Hand solcher Menschen drücken zu können.
Als ich am nächsten Tage einen Blick in einen Spiegel warf, erstaunte ich: die fünfzehn Stunden in der kalten, trocknen, lichtvollen Luft der hochgelegenen Eisflächen hatten mich mehr gebräunt, als ein südlicher Sommer. Aber die Einwirkungen jenes Tages sind bei mir weiter nach innen, in’s Herz gedrungen, und mit diesem möchte ich gern der Schwachheit meiner Worte nachhelfen. Möge die Barmherzigkeit der Wackeren an ihrem Lebensglück belohnt werden!
Fast jeder Deutsche, der etwas Besonderes weiß und will, ist insofern ein Prophet, als er nichts in seinem Vaterlande gilt. Weiß und will er etwas Neues, eine Erfindung, Entdeckung oder bedeutende Fortschrittsidee, so geht er nicht selten an Theilnahmlosigkeit, öfter vielleicht an künstlich bereiteten Hindernissen zu Grunde, wenn ihn nicht noch zur rechten
Zeit die Verzweiflung oder die Hoffnung auf Anerkennung und Hülfe in’s Ausland treibt. Damit ist die Geschichte vieler deutscher Erfinder und Fortschrittsmänner in Wissenschaft und Leben bezeichnet.
So ist die ganze civilisirte Erde bereits mehr oder weniger dicht mit deutschen Flüchtlingen, Pionieren und Priestern kosmopolitischer Welteroberung bevölkert worden. Dabei ist als charakteristisch zu bemerken, daß fast durchweg Handlung und Handwerk, Wissenschaft und Kunst außerhalb destomehr in die Hände von Deutschen gerathen, jemehr Geschick und Genie erforderlich sind, um dann etwas zu leisten. Die besten Schneider, Mechaniker, Bäcker, Kunsttischler in London, Petersburg und Paris sind Deutsche, und in der russischen Hauptstadt ist die Feinbäckerei sogar polizeilich auf Deutsche beschränkt. Ebenso tritt in Rußland besonders Wissenschaft, Heilkunst und höhere Kunstindustrie als Wirkungskreis Deutscher hervor.
Dies gilt, wenn auch nicht in solchem Umfange, in England. Und dort habe ich zehn Jahre lang aus eigenen Erfahrungen und Erlebnissen herausgefunden, daß der Haß der Stockengländer gegen Deutschland wesentlich aus der Ueberlegenlieit deutschen Geschicks und Genies sein Gift zieht. Die Palmerston’schen Diplomaten, die Times und sonstige stockenglische Zeitungen werden deshalb auch allemal besonders boshaft gegen Deutschland, so wie es sich einmal etwas regt und Miene macht, zum Bewußtsein[WS 1] und zur Ausübung seiner wirklichen, aber stets gedrückt und zerstreut gehaltenen Macht zu gelangen.
Die gebildeten Engländer, auch die Cobdens und Brights, die unfehlbar zur Regierung kommen, wenn sich erst die stockenglischen Palmerstons und Derby-Disraeliten vollends ausgeschwindelt haben werden, wissen nichts davon und lernen gern aus deutschen Culturquellen, kaufen deutsche Bücher und lassen sich bei deutschen Schneidern Hosen anmessen. In vielen Dingen sind sie ohnehin blos auf Deutsche angewiesen, da Niemand sonst den verlangten Artikel liefern kann. Die stockenglischen Groß-Hoteliers müssen deutsche Kellner nehmen, weil Engländer oder Franzosen nie die drei Sprachen lernen, die von solchen Kellnern verlangt werden. Ohne deutsche Lehrer hätten die Engländer schwerlich Musik und Sprachen gelernt. Und wenn nicht ein Deutscher die mächtigste Zeitung mit Geschick, Genie, Geist und Freimuth gegründet und zur Macht erhoben hätte, würden sie wohl auch keine Times haben. Es blieb einem ehemaligen deutschen Buchhändler vorbehalten, den jetzt unentbehrlichen, für allen Handel und Wandel und alle Politik entscheidenden Kosmopolitismus der Reuter’schen Telegramme zu schaffen und auszubilden. Erst wollte keine Zeitung etwas von ihm wissen, auch als er seine elektrischen Lakonismen aus aller Welt umsonst schickte. Jetzt bezahlen sie alle gut und gern für jede Silbe. Er quälte sich erst lange furchtbar gegen allerhand Noth und Hindernisse; aber er hat’s glänzend durchgesetzt. Wie viel der Londoner Buchhandel den Deutschen verdankt, ist bekannt.
In der eigentlichen Wissenschaft haben mehrere Deutsche, weil kein Engländer als Ersatz ausfindig zu machen war, Monopole erhalten; so muß es z. B. Kinkel sein, der Geographie oder Culturgeschichte in höheren englischen Unterrichtsanstalten für junge Damen oder Herren vorträgt.
Noch charakteristischer ist das Beispiel des Dr. Rost aus Altenburg. Er hatte in Jena Theologie und unter der geistvollen Leitung des Professor Stickel (der das Etruskische entzifferte und die beste Sammlung orientalischer Münzen, mit Goldstücken aus Muhamed’s Zeit zu Stande brachte) orientalische, semitische Sprachen studirt, dabei aber Hindustani, die jetzige Sprache der Hindus in Indien, selber gründlich und mit den größten Mühen um Quellen und Hülfsmittel erlernt. Als solch ein seltener Kenner kam er durch Einfluß des damaligen preußischen Gesandten nach England und mußte endlich als einziger gründlicher Kenner der Hindusprachen in Canterbury, der einzigen englischen Lehranstalt dafür, angestellt werden. Unter den Engländern, die Jahrhunderte lang in Indien erobert, gehauset und erpreßt hatten, fand sich kein ordentlicher Lehrer der Hindusprachen. Da es nun nach der großen indischen Rebellion endlich galt, für Engländer [142] zu sorgen, die sich mit den Hindus verständigen könnten, mußte ein Deutscher aus dem kleinen Jena, wo Deutsch gesprochen wird, Lehrer des Hindustani in englischer Sprache werden. Auch fand sich trotz alles Suchens kein Anderer zum Sceretair des Präsidenten der asiatischen Gesellschaft in England, als Dr. Rost.
In Petersburg wären einmal viele Hundert Bücher und Mannscripte in ganz unbekannten Sprachen zum Vorschein gekommen. Es wurde in ganz Europa umhergefragt und geschrieben, ob Niemand diese wahrscheinlich hindustanischen Literaturschätze entziffern könne. Es fand sich Niemand, bis endlich an die Regierung in Petersburg geschrieben ward, in England sei Jemand, der’s vielleicht verstehe, Dr. Rost. Die geheimnißvollen Bücher wurden ihm also von der kaiserlichen russischen Regierung mit der Bitte geschickt, sie zu enträthseln und zu schreiben, zu drucken, was drin stehe.
Dr. Rost that so Monate lang mit angestrengtester Forschung und Genialität. Und so entstand sein berühmtes Buch, das ihm im Kreise der semitischen Sprachgelehrten einen ewigen Namen er warb. Die Bücher und die berühmte Enträtselung wurden nach Petersburg zurückgeschickt. Nach Jahr und Tag erhielt er – auf russische Staatsdienerweise – einhundert Thaler dafür. Es wäre gut, wenn diese Thatsache von hier aus dem russischen Kaiser zu Gesicht oder Ohren käme. Da würde dies „Versehen“ des russischen Vertreters in London gewiß gut gemacht werden. Von dem andern genialen Oberpriester alter und neuester vergleichender Sprachwissenschaft, dem deutschgebornen Professor Goldstücker in London, der ersten Autorität in der alten Ursprache des Sanscrit und dem Helden der vergleichenden Sprachwissenschaft, will ich nur erwähnen, was Bucher einmal Treffendes von ihm sagte: „Er riecht verborgene, unbekannte Sprachschätze und Worte, wie ein Trüffelhund die Trüffeln. Er braucht die Worte fremder Sprachen nicht zu lernen, sondern er kratzt sie aus der Tiefe seiner Wissenschaft.“
Wegen seiner Vorzüge in dieser Wissenschaft verhaßter war und ist nun beliebter Max Müller, jetzt wohl der berühmteste Vertreter deutscher Wissenschaft in England.
Max Müller (Friedrich Maximilian) ist ein geborner Dessauer und feiert im December seinen einundvierzigsten Geburtstag. Er ist ein Dichtersohn. Sein Vater war der berühmte Griechenfreiheitssänger Wilhelm Müller, der freilich schon dem vierjährigen Max starb. Die verwittwete Mutter, sein Großvater Basedow, Sohn des auch durch Goethe berühmt gewordenen Pädagogen, und die herzogliche Schule in Dessau, später Professor Carus in Leipzig und die Nicolaischule sorgten für gute Erziehung und die Elemente der Wissenschaft. Max aber noch mehr. Wenigstens konnte er schon im achten Jahre schön Clavier spielen und bald darauf dichten. Sein Gedicht zum Buchdrucker-Jubiläum in Leipzig (1840) fand ganz besondern Beifall, auch den des Componisten Mendelssohn, der ihm seitdem stets befreundet blieb. Von seinen Jugendfreunden nennen wir nur Professor Victor Carus und den Herausgeber dieses Blattes. Auf der Universität Leipzig studirte er zunächst Hebräisch und Arabisch, dann aber, durch Professor Brockhaus auf die Wurzel aller indogermanischen Sprachen aufmerksam gemacht, Sanscrit, die reiche Quelle seiner jetzigen Verdienste. Schon als Student machte er sich damit so vertraut, daß er die alte indische Fabelsammlung Hitopadesa übersetzte und herausgab.
Seit 1844 finden wir ihn eine Zeit lang auf der königl. Bibliothek zu Berlin, schwelgend in alten Sanscrit-Manuscripten, in den Hörsälen bei Böth, Heyne etc., angeregt und anregend bei Humboldt, überall frisch, froh, forschend, in Sprachwissenschaft und gelehrtem wie lernendem Eifer Achtung einflößend und die Freundschaft, die schönsten Hoffnungen gelehrter Männer gewinnend. Damals war auch der Dichter und Persisch-Kundige Friedrich Rückert zur Berliner Universität berufen worden, wo’s ihm aber durch und durch mißfiel. Er sollte Vorlesungen halten, wollte aber nicht. In der Hoffnung, daß sich Niemand als Zuhörer melden würde, kündigte er eine Vorlesung über die persische Sprache an. Es meldete sich Niemand, außer Max Müller. Rückert sagte, er müsse wenigstens drei Zuhörer haben (tres faciunt collegium), sonst thue er’s nicht. Max Müller ließ sich keine Mühe verdrießen, die beiden Fehlenden zu finden. Nun meldeten sich Drei und Rückert mußte verdrießlich anfangen. Aber der Eifer und die raschen Fortschritte der Zuhörer, besonders Müllers, machten ihn bald liebenswürdig und selbst eifrig.
Solch regem Fleiße in Jugendkraft und reicher Fülle von Geistesgaben ward es nicht schwer, eines schönen Morgens die liebende Mutter mit seinem in aller Stille glänzend erworbenen Doctordiplom aus Leipzig freudig zu überraschen. Bis dahin hatten Universität-Stipendien Nahrungssorgen fern gehalten. Aber von dem Rufe des berühmten Sanscrit-Gelehrten Burnouf nach Paris getrieben, mußte er, um ihn zu hören, zu studiren und zu leben, sogar bis zu kümmerlich bezahltem Abschreiben gelehrter Manuscripte herabsteigen und dies trotz der Empfehlungen Humboldts und der besondern Achtung und Freundschaft Burnouf’s. Dieser ermunterte ihn zu der schwierigsten, wenn auch ehrenvollsten Arbeit, der Herausgabe ältester Brahmanengesänge im Sanscrit, des Rig-Beda. Nachdem er ein Buch zu Stande gebracht und sich dabei sogar etwas Geld gespart hatte, ließen ihm die Sanscrit-Kostbarkeiten im britischen Museum zu London keine Ruhe mehr. Ohne Englisch zu verstehen, fuhr er hinüber und begab sich sofort zu dem damaligen Präsidenten der asiatischen Gesellschaft, der ersten Sanscrit Autorität, Professor Wilson. Derselbe stellte dem blutjungen deutschen Gelehrten – er war damals dreiundzwanzig Jahre alt – alle Manuscripte zur Verfügung. Diese brachten aber nicht sofort Geld, das man gleichwohl im modernen London alle Tage immer baar haben muß, und sollte man auch blos Manuscripte studiren wollen.
Als die kleine Casse bis auf den Betrag der Heimkehrkosten geschmolzen war, wollte er sofort Anstalt zur Rückfahrt machen. Dazu gehörte aber außer Geld auch ein von der Gesandtschaft visirter Paß. Glücklicherweise für ihn – und unzählige andere Männer der Wissenschaft – war damals Bunsen und nicht Graf von Bernstorff Gesandter. Bunsen hatte durch Humboldt von Müller gehört. Die Paßangelegenheit führte Beide persönlich zusammen. Bunsen fühlte sich sofort zu dem durch sein ganzes Wesen gewinnenden jungen Gelehrten hingezogen und überredete ihn, in London zu bleiben und an der Herausgabe des Rig-Veda weiter zu arbeiten; für Mittel werde er sorgen. Und er hat nobel Wort gehalten.
Während Müller mit Freuden die Rig-Veda-Arbeit wieder aufnahm, forderte Wilson die asiatische Gesellschaft in Ostindien auf, dasselbe Werk mit Unterstützung gelehrter Brahmanen herauszugeben. Aber unter allen gelehrten Engländern fand sich Niemand der Ausgabe gewachsen. Nun erbot sich Max Müller kühn, das Werk allein mit Mitteln der ostindischen Gesellschaft in Deutschland zu vollenden. Wilson lehnte dies ab und verstand sich endlich nur unter der Bedingung dazu, daß es in England erscheine und ihm die Uebersetzung übertragen werde. Der kühne einzelne deutsche Gelehrte mußte die Bedingung eingehen, da England ihm die Mittel bot und kein deutscher Staat Geld für dergleichen unmilitärische Dinge hat. Und so erschien das große Ursprachwerk als Heldenarbeit eines deutschen Gelehrten mit englischen Mitteln. (Wir müssen hier der Versuchung widerstehen, andere deutsche Heldenarbeiten für englische Rechnung, Barth’s, Overweg’s etc. zu würdigen.)
Im Jahre 1847 war ein Theil der Arbeit vollendet. Die englische Association von Männern der Wissenschaft, mit Bunsen als Mitglied, wußte sie zu würdigen und veranlaßte ihn, in der alten klösterlichen Universität Oxford über modernes Indisch, die bengalische Sprache, öffentlich Vorträge zu halten. Dies that er mit dem größten Beifall. Und da ihm Oxford auch sonst gefiel, beschloß er, einstweilen da zu bleiben. Er ahnte noch nicht, daß es die Stätte seiner größten Triumphe werden sollte, der herrlichste Triumph deutscher Wissenschaft in England.
Er trat zunächst als Stellvertreter eines Professors der europäischen Sprachen auf und erhielt nach dessen Tode diese Stelle. Dies war 1847, nachdem er noch einen vergeblichen Versuch gemacht, die großartige Arbeit in Deutschland herauszugeben und gar selbst zurückzukehren. Glücklicherweise hielt ihn England und rettete dadurch den Apostel einer ganz neuen, zukunftreichen Wissenschaft, der vergleichenden Sprachwissenschaft, der vergleichenden Mythologie und Phonetik. Er hielt darüber regelmäßig Vorlesungen und arbeitete mit riesiger Anstrengung an Fortsetzung der Herausgabe des Rig-Veda-Textes, der endlich zu vier Bänden, jeder von eintausend Quartseiten, anschwoll. Später half ihm dabei Dr. Aufrecht aus Berlin, da er in England Niemanden dazu fand. Dieser wurde später Sanscrit-Professor in Edinburgh, weil der Engländer oder Schotte, der für diese Stelle gesucht ward, auch nirgends zu finden war.
[143] Die Verdienste, der Ruhm und die Anerkennung M. Müller’s stiegen ruhig und siegreich über alle Vorurtheile gegen den „Foreigner“, den Ausländer, so daß ihn die Universität Oxford 1856 zum ordentlichen Professor und „Master of Arts“, (Meister der Künste, ein englisch-eigenthümlicher Universitätsehrentitel) und darauf sogar zum „Fellow“, einer bestimmten Universitätsabtheilung (College of all souls,) ernannte. „Fellow“ heißt hier: ordentliches Mitglied und hat wissenschaftlich und materiell etwas zu bedeuten. da dieser Titel zur Theilnahme an den reichen Einkünften des „College“ berechtigt. Diese liberale That war ein Ereigniß in England. Max Müller war der erste und bis jetzt letzte Ausländer als Fellow. Auch war er der Erste, dem bei Ertheilung dieser höchsten akademischen Würden die neununddreißig Artikel der anglicanischen Kirche nicht zum Schwure darauf vorgelegt wurden, wie dies sonst unerläßlich vorgeschrieben ist.
Endlich war er der Erste, der sich verheirathen durfte„ ohne das Privilegium eines Fellow zu verlieren. Er verehelichte sich mit der Tochter einer angesehenen Familie, deren Haupt freilich nicht eher einwilligte, als nachdem er die Braut mit zehntausend Pfund Sterling lebensversichert hatte, so daß er seitdem jährlich dreihundert Pfund Prämie zahlen muß.
Im Jahre 1857 starb Wilson. Zu der erledigten Stelle – einer der wichtigsten der Wissenschaft in England – meldete sich Professor Dr. Max Müller, F., M. A. etc., da es nur noch einen Sanscrit-Gelehrten im ganzen englischen Reiche gab, der etwas verstand, Professor Cowell in Calcutta in Ostindien. Und dieser trat sofort von der Bewerbung zurück, als er vernahm, Max Müller habe sich gemeldet. Nun war unter den einsichtsvollen Gelehrten der Universität Oxford, die Wahlrecht hatten (über dreitausend mit Allen, die dort promovirt haben), nichts ausgemachter, als daß Max Müller die Stelle erhalten würde. Aber Jahre lang vorher hatte ein gewisser Williams, Verfasser einer Sanscrit-Grammatik, die in Oxford selbst als vollständig unbrauchbar verworfen worden war, mit seiner pietistischen Niederkirchen- (Low-Church) Partei gegen den Breitkirchner[2] Max Müller gewühlt und wußte jetzt die bekannte stockenglische Wuth gegen deutsche Vorzüge so geschickt und fanatisch und „praktisch“ mit pietistischen Verleumdungen gegen den wissenschaftlich unantastbaren Gegencandidaten in Zeitungen und Ansprachen loszulassen und pietistische Wähler für tausend Pfund Bestechung nach Oxford zur Wahl zu bringen und sogar Bischöfe gegen ihn öffentlich warnen zu lassen, daß die wissenschaftliche Partei Max Müller’s, zu siegesgewiß, die Gefahr zu spät erkannte und mit zweihundert Stimmen Minorität gegen die vereinigten Söldlinge und Sclaven der Bestechung, des Pietismus und der Stockengländerei erlag.
Ich habe den ganzen Scandal in England mit erlebt und erinnere mich genau, wie dieses Ergebniß von allen Gelehrten, Gebildeten und Gentlemen als eine nationale Schmach in dem Grade gefühlt ward, daß selbst die Times, sonst stets das Hauptorgan der Schmähung gegen Deutschland und deutsche Vorzüge, dem allgemeinen Unwillen einen Leitartikel widmete. Ebenso urtheilten alle wissenschaftlichen Organe des Auslandes, so daß diese Niederlage Max Müller’s ihm zu einem neuen Triumphe ward, der sch seitdem durch seine Werke und Vorlesungen immer fortgesetzt, vergrößert, erweitert hat. Seine „Vorlesungen über die Sprachwissenschaft“ haben die Engländer auf die wissenschaftlichste und anmuthigste Weise in einem musterhaften Englisch (das die besten Engländer selbst unvergleichlich schön nennen) mit den deutschen Schöpfungen und Entdeckungen eines Grimm, Kuhn, Wichmann etc. und seinen eigenen vertraut und diese bereits in allen gebildeten Kreisen so heimisch gemacht„ daß wir, im Originallande, uns unserer Unwissenheit schämend, die Augen niederschlagen müssen. Seine Vorlesungen wurden erst aus dem beredten Munde mit Begeisterung vernommen, dann kurz hintereinander in vier Auflagen zu fünftausend Exemplaren vergriffen. Diese Sprachwissenschaft stürzt alle alten Tempel der Grammatik, Etymologie und Mythologie und baut neue von wunderbarer Schönheit auf. „Der kühne, unabhängige Denker und Forscher mit dem ewigen Wunder seines Stils“ (The Reader vom 20. August) steht jetzt in England als der gefeiertste Priester einer ganz neuen Wissenschaft unangefochten in höchsten Ehren.
In Folge seines kühnen und klaren Worts (und zwar in der Times) für das tausendstimmig und brutal geschmähte Vaterland während des Kampfes um Schleswig-Holstein wurde er zwar von der Times selbst wieder angebellt und vom Punch mit Schmutz beworfen; aber die meisten Zeitungen schwiegen sofort und auch die beiden Hauptfeinde deutscher Vorzüge schämten sich fortan ihrer Gemeinheit. Sie lernten sich sogar über deutsche Angelegenheiten anständig ausdrücken. Dem Priester und Pionier deutscher Wissenschaft in London gebührt aber für diese Heldenthat – mitten unter einer deutschfeindlich fanatisirten Bevölkerung – ganz besonderer Dank des deutschen Volks, das ihm denselben freilich bis jetzt schuldig blieb, insofern wir uns nicht mit der begeisterten Dankesadresse begnügen, die ihm der deutsche Nationalverein in London durch eine Deputation überreichen ließ.
Das Ausland ist reich an großen und edeln Männern deutscher Abkunft und vielfach ungewürdigter Verdienste um’s Vaterland. Max Müller gehört zu den ersten unter ihnen. Wir können ihnen Allen den würdigsten Dank darbringen, wenn wir besser für unsere eigene Ehre zu Hause und für Zustände sorgen lernen, welche den Propheten, Pionieren und Priestern deutscher Wissenschaft und Cultur erlaubt, zu Hause zu bleiben und zu wirken.
Zur Versöhnung in der deutschen Schillerstiftung. Viel erbitterte und bittere Worte sind schon in dieser Frage gefallen, und die schöne Stiftung, die eigentlich dazu dienen sollte, uns ohnedies genug mit einander zerfahrene Schriftsteller zu vereinigen, scheint gerade dazu ausersehen, erst recht Haß und Zwietracht unter die „Ritter vom Geist“ zu werfen. Ist es denn gar nicht möglich das zu verhindern?
Wenn wir Alle den guten Willen haben, gewiß.
Die letzte Generalversammlung hat drei wichtige Beschlüsse gefaßt:
1. Die Oeffentlichkeit der vertheilten Gaben.
2. Die Abänderung des Paragraphen in den Statuten, nach dem der Vorort wechseln soll.
3. Die Einschiebung des kleinen Wörtchens „insbesondere“ in den ersten und Haupt-Paragraphen der Satzungen, der den Zweck der ganzen Stiftung behandelt und diesen klar ausgesprochenen Zweck dadurch allerdings total verändert.
Es ist unmöglich der Generalversammlung das Recht abzusprechen einzelne Paragraphen ihrer Satzungen, die sich als dem Ganzen hinderlich oder als nicht praktisch erwiesen haben, abzuändern, und die Minorität wird sich stets der Majorität fügen müssen.
Die erste Abänderung der Satzungen: Die Oeffentlichkeit der von der Stiftung gereichten Gaben, bedarf keines Commentars weiter. Gegen eine verschwindend kleine Minorität waren nicht allein alle Zweigstiftungen dafür, sondern wir Schriftsteller besonders können dem Verwaltungsrath für den Antrag und dessen Durchführung nur dankbar sein. Jede Gabe, welche die Schillerstiftung verleiht, ist eine Ehrengabe, deren sich der Empfänger nicht zu schämen hat.
Weit größere Opposition rief die zweite Aenderung, den Wechsel des Vororts betreffend, hervor. Betrachten wir uns die Sache ruhig.
§. 6 lautet allerdings:
„Derselbe Vorort kann nicht zwei Wahlperioden hintereinander zur Leitung der Schillerstiftung berufen werden“
und der Paragraph ist jedenfalls so gestellt, damit nicht ein Ort oder bestimmte Persönlichkeiten die Autokratie über die andern Zweigstiftungen gewinnen.
Wenn sich nun aber herausgestellt hat, daß solches vor der Hand noch nicht zu fürchten ist, und andere Verhältnisse dazu kommen, um es wünschenswerth erscheinen zu lassen, daß gerade Weimar noch länger der Vorort der Stiftung bleibe, kann das derselben etwas schaden? Ich glaube nicht.
So lange nur nicht ein bestimmter Ort als permanenter Vorort festgestellt wird; so lange die Generalversammlung nach Ablauf der fünf Jahre immer noch das Recht behält, einen Wechsel des Orts zu veranlassen, wenn sie Ursache dazu finden sollte, so lange kann keine Gefahr darin liegen.
Ein Uebelstand ist allerdings der: Ist der Wechsel durch die Satzungen bestimmt, so versteht er sich von selbst, muß er aber erst motivirt werden, so könnte man darin eine Kränkung fur den Platz finden, den man verlassen will, und man scheut sich vielleicht sie auszusprechen.
Aber dieses Bedenken wird kaum thatsächlichen Vortheilen die Wage halten können, die Weimar gegenwärtig in manchen ihm eigenthümlichen Verhältnissen zu bieten scheint, und ich bin überzeugt, die übrigen, bis jetzt noch differirirenden Zweigvereine würden darin nachgeben, wenn sie fänden, daß sie dadurch der schönen Stiftung ihre Einigkeit und ihr Zusammenwirken wieder verschaffen können.
Ebenso steht es, nach der anderen Seite hin, mit dem dritten Punkt.
Die Generalversammlung hat unstreitig das Recht, Umänderungen in den Paragraphen ihrer Satzungen vorzunehmen, aber sie kann unmöglich den ganzen ursprünglichen Zweck einer wohlthätigen Stiftung durch ein noch so kleines eingeschobenes Wort umstoßen, wie das hier geschehen ist.
[144] §. 1 der Satzungen lautet:
„Die Schillerstiftung hat den Zweck, deutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, welche für die Nationalliteratur (mit Ausschluß der strengen Fachwissenschaften) verdienstlich gewirkt haben, vorzugsweise solche, die sich dichterischer Formen bedient haben, dadurch zu ehren, daß sie ihnen oder ihren nächstangehörigen Hinterlassenen in Fällen über sie verhängter schwerer Lebenssorge Hülfe und Beistand darbietet.“
„Hülfe und Beistand“, und dieser Paragraph muß erhalten bleiben; an diesen Worten darf nicht geschnitten oder gedeutelt werden, denn sie allein enthalten den Sinn und die Bedeutung der ganzen Stiftung, für welche die gesammte Nation das Geld beisteuerte.
Auch der deutsche Schriftstellerverein in Leipzig hat sich vor einigen Tagen direct dahin ausgesprochen. Er sagt:
„Die Schillerstiftung ist unter Mitwirkung der gesammten Nation und der klar ausgesprochenen (Bedingung in’s Leben gerufen worden, würdigen deutschen Schriftstellern oder deren Hinterlassenen in Fällen über sie verhängter schwerer Lebensorge Hülfe und Beistand zu gewähren. Zu diesem und keinem anderen Zweck ist das Geld von Hunderttausenden gestiftet worden, und durch einen Majoritätsbeschluß kann nach irgend einem Recht der Welt dieser Zweck, so lange er erfüllbar ist und sich nicht augenscheinlich als gemeinschädlich erweist, verändert, umgedeutelt, beschränkt oder erweitert werden. Das Stiftungseigenthum zu anderen Zwecken verwenden, würde ebensoviel heißen, als durch das große Nationalunternehmen der Schillerlotterie unter der heiligen Aegide von unseres Schiller’s Namen die Lüge in 660,000 Exemplaren in die Welt geschleudert zu haben.“
Danach protestirt der Schriftstellerverein gegen die „von der Generalversammlung beschlossene Einschaltung des Wörtchens ‚insbesondere‘, durch welches die Hülfsbedürftigkeit als unerläßliche Bedingung zur Gewährung der Ehrengaben bei Seite geschoben werden soll.“
Der Zweck der ganzen Stiftung ist auch in der That in diesem ersten Paragraphen der Satzungen so entschieden und unzweifelhaft ausgesprochen, daß eine andere Deutung unmöglich ist – auch gar nicht versucht wurde. Das eingeschobene kleine Wort soll sie nun abändern, und das darf eben nicht sein. Das deutsche Volk würde auch wohl schwerlich sein Geld dazu hergegeben haben, wenn es sich darum gehandelt hätte, daß sich die Schriftsteller unter einander Geschenke machen sollten.
Der erste Paragraph der Satzungen muß deshalb wieder in seiner ursprünglichen Fassung hergestellt werden, und nicht allein die Regierungen haben die Pflicht, wohlthätige Stiftungen zu überwachen, damit ihr Capital nicht zu anderen Zwecken verwendet werde, sondern die deutsche Nation hat auch ein Recht, zu verlangen, daß die Gelder, die sie gesteuert hat, auch dazu verwandt werden, wofür sie gefordert wurden.
Einige Schriftsteller haben allerdings davon gesprochen, die Schillerstiftung dürfe nicht zu einer Armen- der Almosenanstalt „herabgewürdigt“ werden.
Sie ist zu Nichts weiter in’s Leben gerufen worden, und ich selber bin der Meinung, daß es der schönste und ehrenvollste Zweck sei, den sie erfüllen kann.
Ehrengaben sind allerdings schon vertheilt worden, aber lassen wir alles Geschehene auch eben geschehen sein. Ein Irrthum ist auf jeder Seite verzeihlich, solange er nicht zum Gesetz erhoben wird.
So hoffen wir denn, daß eine recht baldige Versöhnung möglich ist. Der Verwaltungsrath wird gewiß nicht starr auf der Majorität beharren, die er gewonnen hat, denn es muß ihm ja selber daran liegen, den Frieden in der Stiftung hergestellt zu sehen. Der einzige mögliche Ausgleich kann dann nur durch eine neue Generalversammlung stattfinden, und recht von Herzen wünschen gewiß Alle, die es gut mit der Stiftung meinen, daß dort nachher kein unfreundliches Wort mehr gesprochen werde, sondern Die sich in Frieden und Freundschaft die Hand reichen mögen, die auserwählt sind vor Vielen zum ersten Mal in Deutschland – seit es ein Deutschland giebt – das wahre Wohl deutscher Schriftsteller zu vertreten.
Pariser Salonplaudereien. 2. Eine unserer ersten Modedamen, eine Ausländerin zwar, zur hohen Diplomatie gehörig, allein nichtsdestoweniger in Temperament und Wesen eine echte Pariserin, von der man sich erzählt, sie singe wie Theresa vom Café Alcazar, sie tanze wie Rigolboche und rauche wie ein Schornstein, sie besuche alle Maskenbälle der Oper, die Studentenbälle im Jardin Marbille und der Closerie des Lilas – versteht sich, stets in Gesellschaft ihres Gemahls und nur aus Neugierde – kurz, diese neugierige Dame hatte oft genug von den komischen Scenen erzählen hören, die sich zuweilen oben auf den Imperialen der Omnibusse zutrügen, und wollte um jeden Preis auch das Vergnügen kosten, auf der Omnibusimperiale zu fahren, was ihr um so wünschenswerther erschien, als es den Frauen untersagt ist. Der Gatte stellte ihr alle Unmöglichkeiten und Unzukömmlichkeiten ihres Verlangens vor, aber das machte die Sache nur schlimmer, und nach dem alten französischen Sprüchwort: „ce que femme veut, Dieu le veut“, setzte sie ihren Willen durch und kletterte eines schönen Tages in der Tracht eines Schülers oder Gymnasiasten, wie wir sagen würden, und in Begleitung ihres Gemahls, der über seine Schwäche lachte und raisonnirte, die unbequemen Stufen zur Imperiale eines Omnibus hinauf. Ganz roth und freudig aufgeregt setzte sie sich triumphirend auf die harte Holzbank und zündete sich, ihrem Costüm zu Liebe, welches sie sehr ungenirt trug, eine Cigrette an. Hierauf rückte ein jungen Arbeiter, welcher auf der anderen Seite des Pseudoschülers saß, näher heran, zog eine Cigarre heraus und bat um die Erlaubniß, dieselbe an der parfümirten Cigarette anzünden zu dürfen. Die Dame war ganz glücklich; man hielt sie ganz bestimmt wirklich für einen jungen Mann! Sie begann hierauf eine Unterhaltung mit dem Lehrling, der mit vollständiger Unbefangenheit darauf einging und ihr über die Gewohnheiten und Sitten in den Ateliers tausend Dinge erzählte, wovon sie bis dahin keine Ahnung gehabt, Wohl erschien zuweilen ein malitiöses Lächeln um den Mund des Gamins, besonders wenn die Dame im Austausch der Mittheilungen ihm von der Langweiligkeit des Collegs, von den den Pedellen gespielten Streichen und den gewonnenen Ballspielpartien sprach, allein sie bemerkte dieses Lächeln um so weniger, als sie, hingerissen von der Poesie ihrer Erzählungen, sich ganz in einen Schüler verwandelte und zuletzt fast selbst an ihre Lügen glaubte.
Als der Omnibus am Ziel seiner Fahrt angelangt war und man herabsteigen mußte, sprang der Lehrling zuerst hinunter, reichte dann seiner Nachbarin galant die Hand und sagte mit jenem zugleich höflichen und spöttischen Ausdruck, der den Pariser Gamin charaterisirt: „Geben Sie Acht, daß sie nicht fallen, Madame!“ Damit verschwand er lachend um die nächste Ecke. Die Dame – wir dürfen jetzt unseren Lesern verrrathen, daß es die Fürstin Metternich war – stand sehr betroffen da und mußte sich auch noch von ihrem Manne auslachen lassen.
Des Kaufmanns Redlichkeit und Klugheit. Zwei glänzende Beispiele, das eine von der unerschütterlichen Verpflichtung, vor Allem die Wahrhaftigkeit, den Glauben, das Vertrauen im Verkehr heilig zu halten, das andere von einer höchst schlauen Weise, ein Geschäft in Blüthe zu bringen, erzählt Heinrich Lomer in seinem Buche „der Rauchwaaren-Handel“, und zwar in dem vortrefflichen Abschnitt über den „Kaufmann und Rauchwaarenhändler“ – wie er sein soll.
Er sagt dort u. A. von der Rechtlichkeit; Der Kaufmann muß darin strenger sein als die meisten anderen Stände, als jedes Gesetzbuch. Wenn ein Banquier bei Vorzeigung eines fremden Wechsels gefragt wird, ob solcher Wechsel gut sei, so wird er durch seine Antwort „Ja" sich rechtlich für verpflichtet halten, den Wechsel zu bezahlen, selbst wenn er die ganze Summe verliert; er müßte denn dem „Ja“ die Bemerkung: „ohne meine Verbindlichkeit“ hinzugesetzt haben. – Wir erinnern unter vielen anderen an den Fall, als an der Börse in Lübeck ein Kaufmann gefragt wurde, ob ein gewisses Hamburger Haus für zehntausend Mark gut sei. Als er die Frage bejaht hatte und zwei Tage später erfuhr, daß jenes Hamburger Haus fallirt habe, bezahlte er auf sein „Ja" hin ohne Weiteres die zehntausend Mark. Er war damals nicht reich, aber er hat bis heute seine Ehre bewahrt.
Der rechtliche Kaufmann, sagt H. Lomer weiter, soll sein Licht leuchten lassen. Kenntnisse und Geschicklichkeit allein nützen nicht; der Handel will auch betrieben und empfohlen sein. Ein Schuhwichsfabrikant in London, der überzeugt war, die beste Schuhwichse anfertigen zu können, legte fast sein ganzes Capital zur Verfertigung dieses Artikels an. Darauf kündigte er seine Waare in Zeitungen und Briefen an; aber Niemand kümmerte sich um seine Wichse, er hatte keine Käufer. Als er sah, daß er bald kein Geld zum Lebensunterhalte mehr haben würde, fiel ihm noch ein Mittel zur Bewirkung des Verkaufs ein. Er zog seine besten Kleider an, ging zu allen großen Londoner Handlungshäusern und fragte nach einer großen Partie Schuhwichse; er verlangte aber Waare von Day und Martin (so hieß seine Firma), von welcher man ihm noch keine liefern konnte. Nun erst ward Nachfrage für seine Wichse laut; man suchte sie, kaufte sie, pries sie an, die Waare entsprach der Empfehlung, er konnte bald kaum genug Wichse liefern. Der Mann ist durch diesen einfachen Artikel reich geworden; ein großes Haus in Holborn, das ihm gehört, trägt die Firma „Day und Martin“. Oft sieht man drei bis vier eiserne Lastwagen hintereinander durch Londons Straßen ziehen, jeden mit vier glänzend schwarzen starken Pferden bespannt, neben jedem Wagen einen Fuhrmann und einen Knecht mit weißen Schützen; diese Lastwagen und Leute gehören Day und Martin; sie holen von den Speichern die Ingredienzen der Schuhwichse, oder sie bringen große Fässer voll Wichse zu den Schiffen, die nach überseeischen Häfen gehen. Auch eigene Schiffe besitzt der Mann, die von Indien Specercien bringen und dorthin Schuhwichse führen.
Wislicenus’ Bibel. Wie die Solidität der deutschen Forschung und Wissenschaft schließlich doch immer den Sieg davon trägt über die noch so glänzende Form, in welcher fremdländische Ungründlichkeit zu blenden und zu bestechen weiß, das zeigt von Neuem Wislicenus’ Bibelwerk, das jetzt seit einiger Zeit vollendet vorliegt. Die elegante einschmeichelnde Sprache, welche Renan’s Leben Jesu eine Zeitlang auch in Deutschland zum Modebuch gemacht hat, beginnt nachgerade ihre Zaubermacht zu verlieren, während das bei aller Gründlichkeit so klar und verständlich geschriebene Buch Wislicenus’, des tapfern Forschers auf dem Gebiete der Theologie, fortfährt sich der ungetheilten Anerkennung seiten der Kritik zu erfreuen und mehr und mehr das ihm gebührende Bürgerrecht in den deutschen Häusern und Familien erobert. Auch werden bereits mehrere Uebersetzungen des Werkes vorbereitet.
Neue Ausgabe von Karl Herloßsohn’s Schriften. Unlängst erst hat die Gartenlaube das Andenken eines unserer liebenswürdigsten deutschen Dichter, Karl Herloßsohn’s, aufgefrischt. Wie dessen „Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n“ den Rundlauf durch die ganze deutsche Welt gemacht hat, so sind auch seine vielen lebensvollen modernen und geschichtlichen Novellen und Romane einst besondere Lieblinge des Publicums gewesen. Es darf daher sicher als ein glücklicher Gedanke bezeichnet werden, wenn jetzt die Verlagshandlung von J. L. Kober in Prag eine Auswahl der besten Schriften Herloßsohn’s in absprechendem äußern Gewande veranstaltet, worüber die unserer heutigen Nummer beiliegende Anzeige das Nähere besagt.
Zur Kreuz- und Quer-Charade. Es wird uns unmöglich den vielen Auflösern der in Nr. 7 enthaltenen Kreuz- und Quer-Charade speciell zu antworten; wir wollen daher hier nur bemerken, daß die meisten richtig gerathen haben, wenn sie „Gartenlaube“ als das zu findende Wort angeben.
- ↑ Die gesammte deutsche Presse, auch die Gartenlaube in Nr. 7 dieses Jahres, hat sich mit jener Winteralpenfahrt beschäftigt, die unserm geschätzten Mitarbeiter, dem Verfasser des fleißigen Buches: „In den baierischen Voralpen“ beinahe das Leben gekostet hätte. Die nachstehende Mittheilung, in welcher der kühne Wanderer selbst sein Abenteuer in fesselnder Weise schildert, wird daher sicher das allgemeine Interesse in Anspruch nehmen.
Die Redaction
- ↑ Broard-Church-Partei, kirchlich Liberale, die sich zwischen der Hoch- und Niederkirchenpartei unabhängig und wissenschaftlich verhalten.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Bewußsein