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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[145]

No. 10. 1865.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Das Geheimniß des Indianers.
Nach Mittheilungen eines deutsch-amerikanischen Arztes.

Es war an einem hellen, sonnigen Tage des Monats Juni, als der mächtige Dampfer Saratoga, nachdem er sich mühsam durch die rauschenden Stromschnellen und die massiv gemauerten Schleusen des St. Marienflusses gearbeitet hatte, unter dem Donner der Böller und der schmetternden Blechmusik einer deutschen Musikbande in den östlichen Zipfel des oberen Sees einlief. Hohe, grünliche Wellen, deren zerrissene Kämme wie flüssiges Silber leuchteten, wälzte die frische Brise dem stattlichen Schiffe entgegen, dessen scharfer Bug wie ein Rennpferd das Wasser theilte und den glänzenden Schaum zu beiden Seiten weit hinauswarf, während das heftigere Puffen und Keuchen der Maschine anzeigte, daß die Feuerleute ihre Thätigkeit verdoppelten. Die Zahl der Passagiere war außerordentlich groß, denn die glänzenden Berichte über die Ausgiebigkeit der vielen neuentdeckten Kupfermimen und die großartigen Naturschönheiten an den weitgestreckten Küsten des Sees hatten dieses Jahr eine Menge Speculanten und Touristen aus allen Theilen der Union angezogen, die begierig waren, das nordische Eldorado kennen zu lernen, oder sich überhaupt mit der Absicht trugen, dort Niederlassungen oder lucrative Bergwerke zu gründen. Die Gesellschaft in den mit dem höchsten Luxus ausgestatteten weitläufigen Kajüten bestand zum, größten Theile aus Herren, die noch nie in dieser erst durch den riesenhaften Bau des St. Marien-Kanals zugänglich gewordenen Gegend gewesen waren und sich daher ganz gegen die sonst schweigsame Natur des Amerikaners die größte Mühe gaben, mit denjenigen Gentlemen, welche schon längere Zeit an den Ufern des Oberen Sees gewohnt hatten, Gespräche anzuknüpfen, um ausführliche Mittheilungen über die Natur und die Producte des Landes zu erhalten. Namentlich bildete der Ertrag der kolossalen Kupferminen, welche sich von Keweena-Point bis zum Ontonagonflusse längs der südlichen Küste hinziehen, das Hauptgespräch der Gesellschaft, und ein Agent, der im Auftrage einer großen östlichen Actiencompagnie dort längere Zeit beschäftigt gewesen war, konnte kaum Worte genug finden, um alle die Fragen zu beantworten, mit welchen er bestürmt wurde.

„Ja, meine Herren,“ rief er aus. „wenn wir so mit unserer Ausbeute fortfahren, wie voriges Jahr, so brauchen wir die Leute in Californien nicht zu beneiden. Wir münzen aus unserm Kupfer eben so viel Gold, wie diese aus ihrem Quarz. Bedenken Sie, die Cliffmine gab das letzte Mal dreißig Procent Dividende, und die Preise des Metalls steigen noch immer!“

„Der Ertrag muß wirklich ein außerordentlicher sein,“ fuhr ein anderer Herr fort, „wenn die Blöcke reinen Kupfers, die drei- bis viertausend Pfund wiegen und wie ich sie in Pittsburg vor den Schmelzöfen haben liegen sehen, häufig vorkommen.“

„Dazu kommt noch,“ setzte der Agent hinzu, „daß der Verbrauch dieses Metalls durch die moderne Industrie enorm zugenommen hat. Alle Compagnien haben sich deshalb entschlossen, den Bergbau auf wissenschaftlichere Weise betreiben zu lassen, weil der oberflächliche Betrieb nicht mehr genügt. Sie werden, meine Herren, unten im Zwischendeck eine Menge cornische Bergleute bemerkt haben, welche wir zu diesem Zwecke aus England verschrieben haben. Auch haben wir als Betriebsdirector einen deutschen Gentleman engagirt, der früher seine Studien auf der berühmten Bergschule zu Freiberg in Sachsen gemacht bat und uns von Professor Agassiz empfohlen worden ist. Sehen Sie den Herrn, der dort auf der Galerie sitzt und so emsig nach der Küste schaut. Das ist er!“

Die neugierigen Blicke der Amerikaner richteten sich jetzt durch die offenstehende Seitenthür der Kajüte auf den Fremden, der nun aufgestanden war und ruhig auf dem langen Gangwege des Dampfers auf- und abschritt, während er von Zeit zu Zeit mit Hülfe eines kurzen Fernrohrs die südliche Küste des Sees musterte, an der sich hier die berühmten Sandsteingebilde, gewöhnlich die pictured rocks genannt, in schroffen Formen erheben und durch eine wunderbare Zeichnung mit kolossalen rothen Streifen eine angenehme Abwechselung dem Auge bereiten, welches durch die meilenlange weißschimmernde Düne gleich am Eingänge des großen Wasserbeckens ermüdet ist. Der Deutsche schien dieses geologische Räthsel mit dem größten Interesse zu betrachten, zog eine Brieftasche heraus und versuchte, ohne sich von dem Schaukeln des Schiffes stören zu lassen, eine flüchtige Zeichnung jener malerischen Felsen zu entwerfen, deren Entstehung die Naturkundigen zu den gewagtesten Hypothesen verführt bat.

„Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie störe, mein Herr,“ sagte hinzutretend einer der Passagiere, „ich habe soeben von Mr. Tomkins, dem Agenten, gehört, daß Sie ein Mineraloge aus dem alten Lande sind und daß seine Compagnie sich von Ihrer Thätigkeit viel verspricht. Da ich nun selbst ein wenig in den Kupferminen speculiren möchte, so erlaube ich mir, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Jones und ich bin am Michigan-See zu Haus.“

„Der meinige ist Werner,“ erwiderte der Deutsche, indem er dem Amerikaner seine Karte überreichte, „und es sollte mich freuen, wenn ich Ihnen nützlich sein könnte, Ich gehe nach Ontonagon. Wo werden Sie aussteigen?“

„Ebendaselbst,“ entgegnete Mr. Jones, „aber lassen Sie sich bei Ihrer Zeichnung nicht stören, Ich hoffe, daß Sie hier im fernen Nordwesten noch manche Scenerie finden werden, die Ihren europäischen Augen interessant erscheint. Schauen Sie [146] nur diesen mächtigen Süßwasser-See an, der fast ein eben so großes Becken zeigt, wie das baltische Meer. Hier ist Alles großartiger, als drüben. Wenn Sie in Deutschland das Bischen Kupfer mühsam durch Pochwerke und künstliche chemische Scheidungsprocesse gewinnen, so ragt es hier massenweise fast in gediegenem Zustande aus der jungfräulichen Erde bervor.“

„Ja, ich habe wirklich Wunderdinge davon erzählen hören,“ sagte Werner, „und bin äußerst gespannt, die Mineralländereien an Ort und Stelle kennen zu lernen. Auch habe ich so meine Vermuthungen, daß in dieser Trappformation außer dem Kupfer noch andere Metalle vorkommen müssen.“

„Sie meinen doch nicht Silber?“ unterbrach hier hastig der Amerikaner, „könnten Sie Silbererz in ordentlichen Stufen finden, dann wäre Ihr Glück für immer gemacht!“

„Ei nun,“ sagte Werner, „die alten Handschriften aus der Zeit, wo der Vater Marquette und die andern Jesuiten diese Gegenden bereisten, lassen keinen Zweifel obwalten, daß das felsige Plateau, in welchem der Obere See gewissermaßen mit seinem Becken eingesprengt ist, an vielen Stellen silberhaltigen Quarz aufweisen muß. Ich selbst habe zu Quebec und Montreal in den Klosterbibliotheken vergilbte Manuscripte gefunden, in welchen die alten Reisenden, freilich mit ihrer gewöhnlichen Uebertreibung, erzählen, daß auf den Inseln des Sees früher ein Volksstamm gelebt habe, dessen Geräthschaften ohne Ausnahme mit dem schwersten Silber geschmückt gewesen wären.“

Mr. Jones war bei diesen Worten Werner’s ganz Auge und Ohr und hätte die Unterhaltung noch gern fortgesetzt, wenn nicht der Dampfer in Sicht der berühmten Felscapelle gekommen wäre, welche hier durch die schaffende oder zerstörende Hand der Natur mitten in die Felsenwände eingesprengt ist. Dieses wunderbare Schauspiel zog den größten Theil der Passagiere auf die Galerie hinaus, um den prachtvollen Anblick sich nicht entgehen zu lassen, den diese ohne Mitwirkung von Menschenhänden geschaffene Basilica mit ihren bunten, gleichsam gemalten Pfeilern und romanischen Schwibbogen dem staunenden Auge darbietet. Dumpf schlug die Brandung an die über dreihundert Fuß hohe marmorirte Mauer der Küste, und eine grüne Woge nach der andern wälzte sich mit schaumbedecktem Kamme durch das hohe Portal der Felsenkirche, wo die zwischen den starren Säulen zusammengepreßten Gewässer, durcheinander wirbelnd, ein Geräusch hervorbrachten, das mit dem Echo der weiten Wölbung vermischt dem Donner des Niagara nicht nachstand.

Der Capitain, der bis dahin aus Gefälligkeit für seine Passagiere, um ihnen die mehr als romantische Scenerie zu zeigen, längs der Küste gefahren war, ließ nun den Dampfer mehr der Mitte des Sees zu steuern, und bald glaubten die Reisenden, daß sie sich auf offenem Meere befänden, denn die Küste schwand aus Sicht, und der große Dampfer von mehr als zweitausend Tonnen Gehalt begann zu schlingern und zu rollen, daß die Meisten es vorzogen, ihre Mahlzeiten im Stiche zu lassen und ihre Betten aufzusuchen. Werner hatte eine kräftige Natur und überwand die tückischen Angriffe der Seekrankheit leicht dadurch, daß er sich fortwährend auf Deck hielt, wo er dem Spiel der Wellen und Wolken zuschaute und die reine Luft einathmete, die diesem Klima eigen ist. Mr. Jones und alle anderen Herren, mit welchen er an Bord Bekanntschaft gemacht, waren gegen Abend unsichtbar geworden, und die Gesellschaft im Schenkzimmer, wo einige professionelle Spieler, wie diese leider auf allen Dampfbooten der Union zu finden sind, ihr wüstes Handwerk trieben und zechten, zog ihn nicht an. So blieb ihm denn nach dem eingenommenen Thee Nichts weiter übrig, als gedankenvoll auf der Galerie zu sitzen und den tief indigoblauen Himmel anzustaunen, auf dem die wohlbekannten Sternbilder in einer unendlichen Klarheit glänzten, wie er sie in seiner Heimath nie geschaut hatte. Vor seinem geistigen Auge schwebten die politischen Kämpfe, welche ihn aus dem Vaterland vertrieben hatten, die Gesichter seiner Lieben, als sie Abschied von dem Flüchtling nahmen, und die Anstrengungen seines unterdrückten Volkes, wie es um nationale Selbstständigkeit rang. Alles das tauchte in seiner Erinnerung auf. Der atlantische Ocean war ihm wie ein weißes Blatt im Buche seines Lebens erschienen; es handelte sich jetzt für ihn darum, eine neue Existenz zu erkämpfen, um späterhin eine Vereinigung mit den Seinen möglich zu machen. Freilich hatte er vor vielen andern Eingewanderten das voraus, daß seine in Amerika so gesuchten Fachkenntnisse ihm schon eine sichere Stellung verschafft hatten, in der er wenigstens frei von Nahrungssorgen zu sein glaubte; indessen ließ sein deutsches Gemüth nicht zu, daß er sich unter diesen scharfmarkirten anglo-sächsischen Charakteren wohl fühlte. So fürchtete er, stets als ein Fremdling isolirt und einsam zu stehen, namentlich in diesem Theile des Landes, wo die Erscheinung eines gebildeten Deutschen eine Seltenheit war.

Seinen Gedanken überlassen, saß denn Werner spät in die Nacht hinein, bis die Sterne hinter grauem Gewölk verschwanden und ein steifer Nordwestwind einsetzte, der den bis dahin ziemlich ruhigen See in Aufruhr brachte. Der Dampfer befand sich nach Mitternacht auf der Höhe der Manitouinsel, nicht weit von Eagle-Harbor, in einer Gegend, wo durch die eigenthümliche Bildung der Halbinsel, welche hier von der Südküste fast achtzig Meilen weit in das Wasserbecken hineinragt, entgegengesetzte Luftströmungen eintreten und oft, selbst mitten im Sommer, heftige Stürme verursachen. Schon die Indianer fürchteten diese Stelle des Sees und nannten diese Insel deshalb Geisterinsel, weil sie glaubten, daß die heftigen Windstöße, welche hier dem unvorsichtigen Schiffer so gefährlich werden, durch die Tücke böser Dämonen verursacht würden.

Als Werner, von diesem plötzlichen Aufruhr der Elemente überrascht, vorn auf die Galerie getreten war und sich bei dem Stampfen des Schiffes an einem der Pfeiler hielt, welche das Hurricanedeck unterstützen, huschte eine Gestalt aus der noch erleuchteten Kajüte hervor und ergriff ihn am Arme. Erstaunt sah sich der Deutsche um und erkannte bei dem Lichtschein, welcher durch die geöffnete Thüre des Salons fiel, seinen neuen Reisegefährten, Mr. Jones.

„Machen Sie geschwind, daß Sie hereinkommen!“ rief ihm dieser mit einer Stimme zu, welche das Heulen des Windes übertönte, „Sie kennen die Stürme auf diesen Seeen noch nicht. Sehen Sie nicht, die Galerie kann jeden Augenblick über Bord gehen! sie ist ja nur angebaut, und jede starke Welle vermag sie abzureißen, kommen Sie hübsch herein; der Rumpf des Dampfers ist fest genug, da sind Sie sicher.“

Bestürzt schaute Werner durch die Nacht in das wilde Wogengetöse und bemerkte zu seinem nicht geringen Erstaunen, daß man ihn ganz allein auf der zerbrechlichen Galerie gelassen hatte, ohne ihn auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Vielleicht hatten die Schiffsleute bei dem ausbrechenden Wetter zu viel zu thun gehabt, um an ihn zu denken, oder sie huldigten dem amerikanischen Grundsatze, daß Jedermann für sich selbst sorgen müsse. Ein paar Dankesworte stammelnd, folgte er Mr. Jones in die Kajüte, wo man vor dem Anprall der Wellen sicher war.

Eine Viertelstunde später erreichte der Sturm seine größte Höhe, und die Officiere des Dampfers hatten alle mögliche Mühe, diesen dem Winde gerade in die Zähne zu steuern, obgleich das lange Fahrzeug dem Helme vortrefflich gehorchte. Trotz der correcten Führung stifteten die scharfen, kurzen Wellen des Sees, die denen der Ostsee gleichen, an den Außenwerken des Dampfers vielen Schaden, wenn sie auch dem eigentlichen Rumpf Nichts anhaben konnten. Sie zertrümmerten die Radkasten und brachen auch denjenigen Theil der Starbordgalerie ab, wo Werner noch vor kurzer Zeit gestanden hatte. Dieser mußte deshalb auch die freundschaftliche Fürsorge Mr. Jones’ dankbar anerkennen, als er bei Tagesanbruch die Verwüstungen betrachtete, welche der Sturm während der Nacht angerichtet hatte.

Schnell, wie das Wetter aufgezogen war, ebenso schnell ließ es nach, und als die Sonne aufging, hatte die Saratoga nur noch mit der heftigen Strömung zu kämpfen, welche ihr bei Keweena Point entgegenrollte. Die Passagiere krochen aus ihren Cabinen hervor, wenn sie nicht seekrank waren, und die Stewards setzten ein substantielles Frühstück auf, bei dessen Genuß die Leiden der Nacht bald vergessen wurden. Gegen Mittag kam auch die deutsche Musikbande wieder zum Vorschein, die während der Nacht im Zwischendeck eben kein comfortables Quartier bezogen hatte und ziemlich übernächtig aussah; aber als die braven Leute die frische Seeluft wieder in vollen Zügen einsogen und die hellen Sonnenstrahlen über das grüue, bewegte Wasser hinspielen sahen, faßten sie wieder Muth und bliesen „Heil Columbia“ mit einer solchen Präcision und solchem Feuer, daß selbst die Seekranken in ihren Kojen mit einstimmten. So ging der Rest des Tages ganz angenehm hin, und gegen Abend kam Eagle Harbor in Sicht, die [147] erste kleine Stadt, an welcher die für die Mineralgegend bestimmten Dampfer anlegen.

Die Saratoga lud hier aus und ein, setzte einige Passagiere ab und dampfte nach einem Aufenthalt von ein paar Stunden nach Ontonagon weiter, wo sie ohne Unfall am nächsten Morgen ankam. – Gedankenvoll stand Werner auf dem Sturmdeck des Schiffes und betrachtete mit prüfenden Augen die Gegend, welche nun für einige Jahre sein Aufenthalt werden sollte. Er mußte sich selbst gestehen, daß seine Erwartungen übertroffen wurden, denn überall begegnete seinen Blicken eine wundervolle Mischung von Wald- und Felspartien, die sich über dem immer bewegten Spiegel des Sees terrassenförmig erhoben, bis sie sich in weiter Ferne an einen weitgestreckten, zackigen Gebirgskamm lehnten. Das Städtchen selbst bot dieselben Erscheinungen, wie alle neu angelegten amerikanischen Orte in ihrer Kindheit: hübsche und breitausgemessene Straßen, sich rechtwinkelig durchschneidend, freundliche Backsteinhäuser, untermischt mit noch rohen Blockhäusern, und einige primitive Kirchen, deren verschiedener Baustyl den Beweis lieferte, daß das landesübliche Sectenwesen auch schon bis hierher vorgedrungen war. In Begleitung von Mr. Tomkins, dem Agenten, überschritt Werner die Landungsbrücke und begab sich nach dem Bureau der Minnesotacompagnie, vor welchem ein paar hundert Fässer voll Kupfererz aufgeschichtet lagen, fertig zur Verschiffung. Dort wurde der neue Betriebsdirector von einigen Beamten gastfreundlich aufgenommen und die Bestimmung getroffen, daß derselbe sich in einigen Tagen nach einem neuangekauften Minendistrict begeben solle, um für dessen zukünftige Ausbeutung die nöthigen Vorarbeiten zu machen.

Gegen Abend, als Werner am Ufer des Flusses, der sich bei Ontonagon in den See ergießt, lustwandelte und das verfallene Indianerdorf, welches am Abhange des Hügels der Stadt gegenüber liegt, mit neuigierigen Augen betrachtete, begegnete ihm wie zufällig Mr. Jones, der sich außerordentlich zu freuen schien, noch einmal mit seinem Reisegefährten von der Saratoga zusammenzutreffen, und sein Bedauern ausdrückte, ihm nicht weiter dienen zu können, da er morgen schon mit dem nächsten Dampfer sich weiter nach dem Westende des Sees begeben wolle.

„Ich werde Ihnen nie vergessen,“ sagte der Deutsche, „daß Sie mich bei jenem Sturme vor großem Unglück bewahrt haben, denn, in der That, ich muß gestehen, ich hatte keine Ahnung davon, daß ich damals mich an einer so gefährlichen Stelle des Schiffes befand.“

„Ei, Sie haben nichts zu danken,“ versetzte Jones, „ich that nichts, als meine Schuldigkeit. Ich sah, daß Sie wie alle Ausländer die Gefahren, welche hier mit dem Reisen verknüpft sind, noch nicht kannten, und ich kann die Schiffsofficiere nicht genug tadeln, daß man Sie bei dem Ausbruch des Wetters nicht hineingehen hieß. Lassen wir das bei Seite. Aber ich möchte Sie, als Fremden, noch auf andere Dinge aufmerksam machen, wenn Sie es mir nicht übel deuten. Sie sind hier von der Minnesotacompagnie engagirt, um durch Ihre höhere Fachkunde einen größern Ertrag aus den Minen zu erzielen, den die Herren bei ihrer oberflächlichen Kunde des Bergbaues bis dahin nicht gewinnen konnten. Man wird nun Ihre Kenntnisse und Talente so gut wie möglich ausbeuten, und wenn Sie dann alle Einrichtungen getroffen haben werden, wenn zweckmäßigere Schachte und Stollen hergestellt sind, kurz und gut, wenn man Ihnen Ihre Kunst und Wissenschaft abgelauscht hat und Ihre Dienste nicht mehr nothwendig braucht, dann wird man Sie wegwerfen wie eine ausgequetschte Citrone und an Ihre Stelle einen Yankee einstellen, der den Herren mehr zu Willen ist und die fremden Arbeiter besser beschwindeln kann.“

„Was Sie mir da sagen,“ entgegnete Werner, „klingt allerdings sehr beunruhigend für mich, indessen bin ich nicht so grün, wie sich die Herren vorstellen, und was das Bergfach anbetrifft, so wird so ein oberflächlich gebildeter Mensch erst noch lange lernen müssen, ehe er in meine Functionen treten kann.“

„Glauben Sie das nicht,“ versetzte Jones, „die Amerikaner sind ungemein praktisch und wißbegierig, wenn es sich darum handelt, Geld zu verdienen, und dem Ausländer gönnen meine Landsleute vollends nichts. Nun, hören Sie meine Worte. Ich habe gesprächsweise an Bord der Saratoga gehört, wenigstens gab Mr. Tomkins es nicht undeutlich zu verstehen, daß Ihre Compagnie jetzt hauptsächlich darauf speculirt, Silbererze aufzufinden, und daß man Sie gerade zu diesem Zwecke als praktischen Bergmann engagirt hat. Vor einigen Monaten hat ein irischer Arbeiter irgendwo in der Gegend eine gewaltige Stufe des edeln Metalls gefunden und ohne Hülfe Anderer gelöst. Sie soll wenigstens fünfzehnhundert Dollars werth gewesen sein. Das Merkwürdigste bei der Geschichte ist aber, daß der Mann, nachdem er sich positiv geweigert hatte, den Ort seines glücklichen Fundes anzugeben, spurlos aus der Gegend verschwunden ist, so daß man hin und wieder von einer schwarzen That gemunkelt hat. Möglich, daß ihn die Odschibbewas, die sich hier noch immer am südlichen Ufer des Sees herumtreiben, in der Wildniß erschlagen haben, wenn sich der Narr so weit von den Ansiedlungen weg wagte.“

„Ich dachte,“ sagte Werner, „die hiesigen Indianer wären friedlicher Natur und ohnehin genug zu beklagen, daß die fortschreitende Civilisation sie aus der Heimath ihrer Väter verdrängt.“

„Da sind Sie im Irrthum,“ erwiderte Jones, „es ist verrätherisches Gesindel, welches jede Gelegenheit ablauert, um einen Weißen kalt zu machen. Einige von den alten Sagamores kennen durch Tradition noch die Metallschätze des Landes und wissen genau, wo das Silber liegt, aber sie behalten das Geheimniß für sich, weil sie fürchten, daß die Kunde davon unzählige Ansiedler herbeiziehen würde, denen in kürzester Frist Grund und Boden anheimfiele.“

„Aber mit welchem Rechte?“ unterbrach Werner.

„So kann nur ein Deutscher fragen,“ antwortete Jones. „In unsern Augen sind diese rothen Diebe nur so eine Art zweibeinigen Ungeziefers, das jeder ordentliche Weiße mit Fug und Recht vertilgen kann. Die Kirche lehrt ja, daß die Brut von Kain abstammt und deshalb, zum unstäten Wanderleben verdammt, keinen bleibenden Besitz eignen kann.“

„Da sind unsere Begriffe von dem Christenthume anders!“ rief Werner aus.

„Mag sein, daß die Europäer verschieden denken,“ sagte Jones, „wir wollen darüber nicht streiten; aber, um auf das früher Gesagte zurückzukommen, will ich Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, daß Sie, wenn es Ihnen gelingen sollte, eine Silbermine zu entdecken, die Sache zunächst für sich behalten, um ruhig überlegen zu können, wie Sie den besten Nutzen daraus ziehen mögen; denn wenn die Compagnie oder andere Leute dahinter kämen, so würde man Ihnen den Besitztitel abzuschwindeln oder Sie auf irgend eine Weise mit einer Kleinigkeit abzufinden suchen, falls Sie Ihr Eigenthumsrecht nicht vollständig vor dem Gesetze gewahrt haben.“

„Ei nun,“ sagte Werner, „so weit sind wir noch nicht. Sollte mich wirklich das Glück begünstigen, so werde ich mein Recht schon zu behaupten suchen. Uebrigens, Mr. Jones, bin ich Ihnen sehr dankbar für Ihre Mittheilungen, da Sie mich als Ausländer nicht mit nativistischen Gesinnungen betrachten, sondern im Gegentheil mit Freundschaft überhäufen, indem Sie mir Aufschlüsse über die hiesigen Zustände gegeben haben, welche von großem Nutzen für mich sein werden.“

„Ich werde vielleicht längere Zeit am Oberen See bleiben,“ sagte Jones, „und wahrscheinlich öfter in diese Gegend kommen, dann werde ich, wenn Sie nichts dagegen haben, Sie in Ihrer Wildniß besuchen und sehen, ob Ihnen das Glück günstig gewesen ist. In Ontonagon kann ich ja immer erfahren, wo Sie sich augenblicklich aufhalten. Ist Ihnen das recht?“

„Nichts wird mich mehr erfreuen, als ein solcher Besuch,“ erwiderte Werner, „Kehren wir indeß zur Stadt zurück, da die Sonne im Sinken begriffen ist und wir den Weg verlieren möchten. Dort können wir bei einer Flasche Wein das Gespräch fortsetzen und auf baldiges Wiedersehen anstoßen.“




Einige Wochen später war Werner in voller Thätigkeit. Die Compagnie hatte in der Nachbarschaft des Ontonagonflusses, nicht weit von der Küste, einen Mineraldistrict gekauft, der schon früher, vor undenklichen Zeiten von einer gänzlich verschollenen Nation bearbeitet worden war und aus diesem Grunde die Toltec-Diggings genannt wurde, wahrscheinlich, weil man meinte, daß hier früher die Vorfahren der alten Azteken gehaust hätten. Ueberall, wo die ausgestorbene oder schon vor Jahrhunderten ausgewanderte Race, [148] die mit den jetzigen Indianern nichts gemein hat, mit ihren unzureichenden Werkzengen die Erde ausgehöhlt hatte, fand Werner große Haufen zerschlagener Steinhämmer, und man brauchte an solchen Stellen nur etwas mehr in die Tiefe zu gehen, um auf die reichsten Kupfererze zu stoßen. Das Metall war in derartigen Massen vorhanden, daß es in der entlegenen Gegend nur an Arbeitern fehlte, um die Minen äußterst lucrativ zu machen, und selbst der oberflächliche Bau brachte tonnenschwere Stücke Kupfertönig zum Vorschein. Die Compagnie war aber damit noch nicht zufrieden und trieb Schachte und Stollen tief in die Erde, um den Ertrag noch mehr zu steigern; auch schmeichelte man sich jedesmal, wenn eine dünne Quarzdruse mit eingesprengtem Silber gefunden wurde, weiter unten endlich auf eine Hauptader zu stoßen, deren Fund dann den Werth der Actien gleich auf das Doppelte schnellen würde.

Daß Werner, der das Ganze leitete, unter diesen Umständen eine außerordentliche Thätigkeit entwickeln mußte und keine Zeit für das Heimweh übrig hatte, ist leicht begreiflich. Seine Mußestunden, die eintraten, wenn etwa die Maschinerie aufgab oder wenn es an Pulver zum Sprengen fehlte, suchte er durch das Vergnügen der Jagd auszufüllen, die ihn mitunter zu weiten Streifzügen in dieser wilden Gegend verführte. Häufig kam er bei solchen Partieen in die Nachbarschaft eines Indianerdorfes, das mit seinen Wigwams von Birkenrinde und Fellen im Schatten hoher Schierlingstannen lag und an einen mit laubgekrönten Inseln bedeckten malerischen See grenzte. Es war ein Zweig der Odschibbewas, der, von den Weißen aus seinen frühern Wohnsitzen bei Keweena-Point verdrängt, nach den romantischen Bergschluchten am Ontonagonflusse ausgewandert war und von Jagd und Fischfang lebte, ohne den Leuten in den Minendistricten beschwerlich zu fallen. Werner, der die gehässigen Ansichten der Amerikaner über die Rothhäute nicht theilte, wurde bald näher mit ihnen bekannt und fand in den Indianern einen harmlosen Menschenschlag, welcher für empfangene Wohlthaten ein warmes Gefühl der Dankbarkeit hegte.

Tawanka, der Häuptling, ein schöngewachsener Mann von herculischen Formen, schloß sich an den vorurtheilsfreien Deutschen innig an, so weit es seine schweigsame Natur erlaubte, besuchte ihn öfters in den Minen und zog ihn gern bei allen Streitigkeiten zu Rathe, die zwischen den weißen Eindringlingen und seinen Stammgenossen vorfielen. Bei seinem Rechtsgefühl stand Werner fast immer auf der Seite der Indianer, worüber freilich die andern Beamten der Compagnie und deren Arbeiter, meistentheils rohe Irländer und Cornwaliser, ihre Unzufriedenheit laut genug äußerten. Dafür wurde der Deutsche aber auch von den Indianern hoch geehrt, und wenn ihn der Zufall auf seinen Streifereien in ihr Dorf führte, so konnten sie ihm nicht Ehre genug anthun. Dann wurden ihm die besten Stücke Wildpret und die saftigsten Lachsforellen vorgesetzt; dann wanderte die Friedenspfeife von einem schweigsamen Munde zum andern, während die Squaws mit ihren wildscheuen Augen im Kreise umherstanden und die muntern Papusen sich wohl an den gutmüthigen Fremden hinanschlichen und ihm nach Kinderart die Taschen visitirten, um zu sehen, ob er ihnen nicht ein Spielzeug oder eine Näscherei mitgebracht hätte. Wollte Werner jagen oder sonst eine Excursion machen, so konnte er sicher darauf rechnen, daß Tawanka ihm zur Seite ging oder, falls derselbe Abhaltung hatte, ihm einige seiner jungen Krieger zur Begleitung gab, deren Ortskunde und Waidmannskunst ihm trefflich zu statten kam. Namentlich aber gewann er sich die Sympathien der Indianer durch den Beistand, denen er ihnen bei Grenzdifferenzen und gegen die maßlosen Anmaßungen der ländergierigen Nativisten leistete.

Der schreckliche Winter von 1854 auf 55 kam in das Land und mit ihm große Noth für die Bergwerkscolonien, deren Verproviantirung von den untern Seen aus zu geschehen pflegt und dieses Jahr wegen des ungewöhnlich früh eintretenden Frostes keine vollständige war. Schon im November fror der St. Mariensfluß zu und die Dampfer, welche noch spät im Herbst von Chicago und Detroit aus die nothwendigen Lebensbedürfnisse für die Minendistricte bringen sollten, mußten des Eises wegen umkehren. Farmen existirten damals in der Gegend noch nicht, weil alle neuen Ankömmlinge sich auf den Bergbau warfen, von welchem sie größern Gewinn zu ziehen hofften, als aus dem sicherern, aber nicht so lucrativen Ackerbau. Schon nach Neujahr gingen deshalb in manchen Ansiedlungen die Lebensmittel aus und die Leute wurden gezwungen, ihren geringen Viehstand zu opfern. In den Toltec-Diggings war die Noth nicht ganz so hart, wie an andern Orten, aufgetreten, weil die Magazine der Compagnie zufällig dieses Jahr etwas früher als gewöhnlich für den Winter verproviantirt wurden, und so konnten die Beamten derselben ihren nächsten Nachbarn manches Faß Mehl und Salzfleisch zukommen lassen.

Am schlimmsten erging es den armen Indianern. Werner’s Freunden, weil der ungewöhnlich frühe Frost ihre Maisfelder zerstört und die Thiere des Waldes nach mildern Himmelsstrichen, fern im Süden, verscheucht hatte, so daß der Ertrag der sonst so ergiebigen Winterjagd vollständig wegfiel. Auch das beliebte Fischen unter dem Eise des kleinen Sees, an dem ihr Dorf lag, konnte nicht stattfinden, denn das Wasser war bis auf den Grund gefroren. Die Folge dieses Elends waren Hunger und Seuchen, welche unter den sonst so abgehärteten Odschibbewas mit ungemeiner Heftigkeit auftraten und der Bevölkerung des Dorfes den Stempel der Verzweiflung aufdrückten.

In dieser Noth wandte sich Tawanka an seinen deutschen Freund, zeigte ihm seine abgemagerten Arme und Schenkel und bat ihn, seinen Stammgenossen doch einige Lebensmittel zukommen zu lassen. Werner zeigte sich gleich dazu bereit, fest entschlossen, seine neuen Freunde zu unterstützen, obgleich er wußte, daß die andern Beamten der Compagnie die Indianer gern hätten verhungern sehen, wie denn überhaupt der Amerikaner eher einem Hunde ein Stück Brod zuwirft, als einer unglücklichen Rothhaut. Schon am nächsten Tage erhielten die Indianer trotz des Protestes des Magazinverwalters ein Paar Fässer Mehl, denen eine Woche später ein großer Sack voll Mais folgte. Damit war jedoch der humane Deutsche noch nicht zufrieden, denn er wollte sich selbst an Ort und Stelle von ihrem Elend überzeugen und helfen, so weit er konnte.

In seinen raufen Büffelpelz gehüllt und auf Schneeschuhen dahingleitend, deren Gebrauch er sich bald angeeignet hatte, eilte er über Berg und Thal, und als er vor Tawanka’s Wigwam anhielt, hörte er zu seinem großen Schrecken den dumpfen Klagegesang der Squaws. Er fand seinen Freund mit schweren Wunden bedeckt, die dieser im Kampfe gegen einen schwarzen Bären davongetragen. Tawanka hatte trotz seiner durch die letzten Entbehrungen herbeigeführten Schwäche die Spur des Thieres im Dickicht verfolgt, dieses Mal aber fast den Kürzern gezogen, da die Bestie, bei dem Mangel an Wild ausnehmend hungrig und wüthend, ihn mit der Mordgier eines Tigers angefallen hatte. Nur seiner Geistesgegenwart verdankte der Häuptling das Leben. Auf allen Vieren nach dem Dorfe zurückkriechend, hatte er indeß kaum noch Besinnung genug gehabt, um seinen Leuten sagen zu können, wo der Bär gefallen war. –

Nachdem Werner sich überzeugt hatte, daß die Wunden äußerst gefährlich waren, und daß selbst eine unverdorbene indianische Natur ohne Kunsthülfe solchen Verletzungen unterliegen müsse, entschloß er sich sofort, den Häuptling nach der Bergwerkscolonie bringen zu lassen, um ihn dem dort angestelllen Arzte zur Behandlung zu übergeben. Er selbst räumte dem Kranken eines seiner wohlgewärmten Zimmer ein und unterließ Nichts, was zu dessen Genesung und Pflege dienen konnte. Die angestrengte Sorgfalt des Doctors – die gebildeten Aerzte Amerikas sind in der Regel sehr human – und die rastlose Aufmerksamkeit des Deutschen im Bunde mit der urwüchsigen Lebenskraft Tawanka’s hatten denn auch ein günstiges Resultat zur Folge, und vier Wochen nach dem Unglücksfalle konnte der Häuptling schon so gut auf Krücken im Hause herumhinken, daß sich bei ihm der Wunsch einstellte, wieder zu seinen Stammgenossen zurückzukehren, was übrigens Werner einstweilen nicht zugab.

(Fortsetzung folgt.)



[149]

Der Amme Brautgabe.[1]

Du bist geschmückt zum ernsten Gange,
O schöne Braut, und harrest Sein –
So sehnsuchtsvoll und doch so bange,
Im Auge Thau und Sonnenschein.

5
Jetzt kann ich es mit Stolz Dir sagen,

Der Dich heut’ führet zum Altar,
Ihn hab’ ich an der Brust getragen,
Als er ein zarter Knabe war.

Ich lauschte seines Athems Regen,

10
Sang ihm das erste Schlummerlied,

Mit seinem erstem ersten Abendsegen,
Hab’ ich an seinem Bett gekniet,
Die Arme über ihn gebreitet
Zu allen Stunden früh und spat,

15
Und diese Hand hat ihn geleitet,

Als er das erste Schrittchen that.

Den ersten kleinen Schritt im Leben!
Und nun thut er den größten Schritt!
Was kann ich Dir heut’ Bess’res geben,

20
Was bring’ ich Dir zum Feste mit?

Sieh, seine ersten Schuhchen sind es –
O, schau das Paar recht innig an;
Es war der erste Stolz des Kindes,
Als es den ersten Schritt gethan.

25
So nimm sie – vor dem ernsten Gange,

Den heute Ihr mit Gott beginnt –
Und selig strahle Deine Wange
Dem Wunsche, den mein Herz ersinnt:
Sind solche Schuhchen nöthig wieder,

30
So sprich zu mir: „Du feierst mit,

Singst wieder Deine Schlummerlieder
Und jubelst mit beim ersten Schritt.“

Fr. Hofmann.
[150]
Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors.
2. Vor dem Hause und in dem Hause.

Die Zuführung eines Gefangenen durch Polizei-Beamte, wenn dies namentlich zu einer Zeit geschieht, zu welcher die Straßen ungewöhnlich belebt sind, erregt stets ein gewisses Aufsehen und bringt regelmäßig eine Anzahl Menschen bis vor die Thür des Gefangnenhauses. Ist der Gefangene in das Haus eingetreten, die Thür hinter ihm geschlossen, mithin von dem Unglücklichen nichts mehr zu sehen, so ist die Aufgabe der freiwilligen Begleiter erfüllt, sie gehen meist in Gruppen auseinander und im Fortgehen unterhalten sie sich von der Vergangenheit des Eingeschlossenen.

Es ist das genau ebenso wie bei dem Hinaustragen eines Verstorbenen auf den Friedhof. Das Einsenken des Sarges in die Gruft und die ersten Schaufeln Erde, welche auf denselben hinabpoltern, treiben gleichmäßig Leidtragende und müßige Zuschauer von der Gruft hinweg. Der Verstorbene mag Gatten und Kinder, Eltern und Geschwister und liebe, theuere Freunde hinterlassen haben, sie Alle gehen fort, sie warten nicht einmal so lange, bis die Gruft vollständig geschlossen ist, sie nehmen ebenfalls nur das Andenken an die Vergangenheit mit hinweg.

In der Regel ist die Einschließung in das Gefangnenhaus auch wirklich nichts anderes, als ein Zu-Grabe-Tragen: die unmittelbare Folge davon ist der bürgerliche Tod, von welchem die Freisprechung durch den Gerichtshof nicht allein wieder auferwecken kann.

Aus einer langjährigen Amtirung ist mir nur ein Fall erinnerlich, in welchem nach der Einschließung des Gefangenen noch ein Begleiter zurückgeblieben war, und zwar unter Umständen, welche diesen Ausnahmefall noch besonders interessant machen dürften.

Ein Fälscher wurde mir an einem Wochenmarkttage kurz nach elf Uhr durch zwei Polizei-Beamte eingeliefert. Die Begleitung, hauptsächlich in Kindern und Frauen bestehend, war massenhaft und erzeugte in der allerdings nicht sehr breiten Straße, welche zu dem Gefangnenhause führte, ein arges Gedränge. Ich schloß daraus auf die Einlieferung eines nicht gewöhnlichen Verbrechers und wurde in dieser Annahme noch mehr dadurch bestärkt, daß die Hände des Gefangenen gefesselt waren, weil dies in der Regel nur dann geschah, wenn Widerstand geleistet oder die Flucht versucht worden war.

In dem Moment, in welchem ich die Thür geöffnet hatte und der Gefangene im Begriff war, in das Haus einzutreten, hörte ich draußen, aus der Menge heraus, ein lautes Aufschreien. Dies Schreien war ganz eigenthümlich, es drückte eine unendliche Fülle von Schmerz aus und mußte aus der tiefsten Tiefe des Herzens kommen, denn es drang durch Mark und Bein. Auch der Gefangene hatte es vernommen, er zeigte sich unmittelbar darauf in unbeschreiblicher Weise erschüttert. Der Fuß, welcher bereits hochgehoben war und über die Schwelle hinweg in das Haus hineinreichte, wurde hastig zurückgezogen, der Kopf, bis dahin tief gesenkt, wendete sich zurück, nach dem Orte hin, woher der Schrei gekommen war, und die gefesselten Hände fuhren in die Höhe und zuckten und zerrten mit krankhafter Gewalt an der Fessel, als ob sie dieselbe mit einem Ruck zerreißen wollten. Die Anstrengungen waren jedoch nutzlos, die Fessel hielt den Druck aus, sie zerriß nicht, sie vermehrte nur die Schmerzen, indem sie sich fester um die Gelenke der beiden Hände zusammenzog. Der Schmerz mußte heftig sein, denn der Gefangene biß die Zähne fest zusammen, die Hände fielen auch gleichzeitig schlaff herab und der Kopf nicht eben sanft gegen die Thür, wo er lehnen blieb. Kaum war diese Stellung eingenommen, so stürzte aus dem Menschenknäuel heraus ein etwa zwölfjähriger Knabe, welcher unter dem einen Arme eine große Schiefertafel, eine Bibel und einige andere Bücher trug und in der anderen Hand seine Mütze hielt. Der kleine Kerl mußte schnell gelaufen sein, er keuchte und stieß ununterbrochen unarticulirte, unverständliche Laute aus. Vor der Thür schrie er aber zwei Mal ganz vernehmlich: „Vater! Vater!“ Dann stürzte er zu den Füßen des Gefangenen, wobei er Schiefertafel und Bücher verlor; seine Arme streckten sich aus, sie umschlangen die Kniee des Mannes und hielten diese fest.

Der Gefangene ließ das Alles geschehen; er sagte nichts, er rührte sich auch nicht, der Kopf blieb an der Thür lehnen, die Hände schlaff herabhängen; ich bemerkte nur, daß er den Mund weit geöffnet hatte, daß seine Lungen furchtbar arbeiteten und daß er viel Luft verbrauchte, um nicht zu ersticken. In der Handlung des Kindes offenbarte sich Liebe und Schmerz zugleich. Und das mußte dem Gefangenen unendlich wehe thun, ihn mächtig ergreifen, ihm die Brust zusammendrücken und vielleicht auch das Bewußtsein trüben.

Mir war der Gefangene noch nicht übergeben, ich hatte daher auch noch kein Recht einzugreifen. Aber wenn ich ein solches auch gehabt hätte, ich würde davon kaum Gebrauch haben machen können, da mich das arme Kind dauerte. Auch die Polizei-Beamten waren unschlüssig, ob und wie sie dem Auftritte ein Ende machen sollten. Das Kind hielt die Kniee seines Vaters fest und weinte und schluchzte, wie dies eben nur Kinder thun können. So viel war klar, daß hier ein gewaltsames Auseinanderreißen von Vater und Sohn stattfinden mußte, wenn die Uebergabe an mich vollzogen werden sollte. Das konnte und wollte ich aber nicht selbst thun, ich wollte es nicht einmal mit ansehen und trat deshalb in das Haus zurück, um hier das Weitere zu erwarten. Nach wenigen Augenblicken hörte ich den Knaben rufen: „Ach Gott! ach! ach! lassen Sie mir doch meinen Vater, meinen guten, lieben Vater!“ Noch während dieses Rufens erschien der Gefangene in der Thüröffnung, der eine Beamte schob oder stieß ihn vielmehr vollends in das Haus hinein und schlug dann die Thür mit Heftigkeit hinter sich zu. Die Trennung von dem Sohne und von der Außenwelt war damit zur Ausführung gekommen.

Mein Arbeitszimmer, wohin wir uns ohne weiteren Aufenthalt begaben, lag nach dem Hofe hinaus. Dort konnte man von dem, was vor der Thür sich ereignete, nichts mehr sehen und hören; es herrschte dort eine tiefe Stille. Hier fertigte ich zuerst den Beamten ab. Während ich die Quittung über die richtige Einlieferung schrieb, nahm der Beamte dem Gefangenen die Fessel ab; er steckte hierauf Quittung und Fessel in eine seiner großen Rocktaschen und ging dann fort.

Ich war mit dem Gefangenen allein. Es war eine kleine, schmächtige Gestalt, auffallend kärglich genährt. Das Aussehen war leidend, oder auch hungrig, das Gesicht blaß, ganz ohne Farbe. Die Backenknochen standen hervor, das Kinn war spitz, das Auge ohne Glanz, matt und düster, aber trocken, und lag ungewöhnlich tief in der Höhle. Die Verhaftung konnte das nicht erst geschaffen haben; dies Herabkommen, dies Verfallen, diese Zerstörung eines früher gewiß kräftigen Körpers mußte durch allerhand Sorgen, Entbehrungen und Kümmernisse, vielleicht sogar durch Hunger erzeugt sein. Er nannte sich Friedrich Wilhelm Clausthal, wollte zweiundvierzig Jahre alt, verheirathet und Vater von fünf Kindern sein. Auf die Fragen, welche ich ihm vorlegte, gab er kurze, aber bestimmte Antworten. Seine Stimme war schwach; es hörte sich zu, als ob die Brust krank sei. Meine Fragen beschränkten sich übrigens auch nur auf die persönlichen Verhältnisse, die ich in meine Liste einzuschreiben hatte. Etwas Weiteres brauchte ich nicht zu wissen, das mußte ich dem Untersuchungsrichter überlassen.

Die Visitation, bei welcher nichts von Erheblichkeit gefunden wurde, ließ Clausthal ruhig und willenlos geschehen, kein Wort, kein Laut kam bei diesem unangenehmen Geschäft über seine Lippen; auch bei der Einschließung blieb er still, und in der Zelle ließ er sich sofort auf dem Schemel nieder, als ob die Füße den Körper nicht mehr tragen könnten.

Seit der Einlieferung bis zur Einschließung mochte etwa eine gute halbe Stunde verstrichen sein. Ich hatte augenblicklich nichts weiter zu thun und ging nach meiner Wohnstube. Ein lautes, monotones Sprechen vor dem nach der Straße führenden Fenster machte mich bald nach meinem Eintreten in das Zimmer aufmerksam. Als ich mich dem Fenster näherte und durch dasselbe auf die Straße hinaussehen konnte, bemerkte ich den Knaben des Clausthal, welcher auf den kalten Steinen saß, auf seinem Schooße ein Buch aufgeschlagen und die Hände gefaltet hatte. Er war der Sprecher. Ich hörte ihn noch sagen:

Mach’, Herr, ein fröhlich’ Ende mit aller unsrer Noth,
Stärk’ unser Herz und sende uns Trost bis in den Tod.

[151]

Laß stets uns Deiner Pflege und Treu empfohlen sein;
So geben unsre Wege gewiß zum Himmel ein.“

Es war der letzte Vers aus dem schönen Gerhard’schen Liede:

„Befiehl Du Deine Wege etc.“

Diese Worte aus dem Munde des Kindes und die Andacht, mit welcher sie gesprochen wurden, waren wirklich ergreifend. Ich konnte nicht stehen bleiben, das Kind nicht im Auge behalten, ich mußte zurücktreten. Und auch da hatte ich keine Ruhe, ich mußte hinaus aus dem Zimmer und mir Beschäftigung suchen. Allein ich konnte anfangen und thun, was ich wollte, ich fand keine Zerstreuung, immer und immer trat mir das betende Kind vor Augen, und unzählige Mal wiederholte ich in Gedanken: „Mach’, Herr, ein fröhlich’ Ende mit aller unsrer Noth etc.“

An diesem Tage fühlte ich zum ersten Male die Schwere des mir anvertrauten Amtes. Ich hatte nur meine Pflicht erfüllt und dies auch mit möglichster Schonung gethan, aber ich wünschte doch, daß ich das nicht nöthig gehabt hätte, oder doch so viel Macht zu besitzen, um das Flehen des Kindes erfüllen, der Noth wirklich ein Ende machen zu können.

Am Abend nach acht Uhr revidirte ich die Zelle des Clausthal. Als ich eintrat, lag dieser bereits auf seinem Strohsacke. Er schlief nicht, die Augen standen weit offen, die Hände lagen gefaltet auf der Decke. Auf dem Tische stand das Essen vom Mittag und die Suppe vom Abend unangerührt, auch das Brod war noch vollständig vorhanden, es fehlte kein Krümchen, nur der Krug, der mit Wasser gefüllt gewesen, war leer.

In den Gefängnissen ist das durchaus keine seltene Erscheinung. Mir war es schon unzählige Male vorgekommen, daß Gefangene am ersten Tage ihrer Haft das Essen hatten stehen lassen. Einige von ihnen sagten nur, daß der Schmerz die Eßlust unterdrückt habe, Andere dagegen meinten, daß erst der Hunger den Ekel habe überwinden müssen.

Bei der musterhaften Reinlichkeit, mit welcher das Essen bereitet und verabreicht wurde, konnte bei der Annahme desselben ein Widerwille wohl kaum empfunden werden, ich hielt das wenigstens nicht für wahrscheinlich und deshalb auch nicht für glaubhaft. Dagegen konnte ich recht gut begreifen, daß der Verlust der Freiheit, das gewaltsame Herausreißen aus der Familie, aus dem Berufe und aus dem Gesellschaftsleben unter gewissen Verhältnissen namenlosen Schmerz bereiten und daß dieser Schmerz jedes leibliche Bedürfniß zum Schweigen bringen müsse.

Clausthal interessirte mich. Da er nicht schlief, sollte er mir Rede stehen, mir sagen, aus welchem Grunde er nicht gegessen hatte.

„Sie haben Ihr Essen stehen lassen,“ redete ich ihn an, „weshalb haben Sie das gethan?“

Er richtete sich sofort auf, blieb aber auf dem Strohsacke sitzen. Seine trockenen Augen, die in dieser Stellung noch tiefer zurückgesunken zu sein schienen, wendeten sich mir zu, und der Ausdruck seines leichenähnlichen Gesichtes verrieth Verlegenheit und Angst, für deren Entstehung ich augenblicklich keinen Grund auffinden konnte.

„Herr Inspector,“ entgegnete er nach einer kleinen Pause mit vielen Unterbrechungen, „Sie sind Familienvater, Sie haben Ihre Kinder und Ihre Gattin gewiß lieb, so recht von Herzen lieb, nicht wahr?“

„Nun?“ versetzte ich fragend, als Clausthal eine längere Pause machte.

„Wenn das so ist,“ fuhr dieser in größerer Verlegenheit mit fast tonloser Stimme fort, „so werden Sie, Herr Inspector, mich auch nicht mißverstehen, wenn ich Ihnen sage, meine Frau und meine Kinder sind mir in das Herz und in die Seele hineingewachsen.“

Clausthal hatte, während er das sagte, den Kopf auf die Brust niederfallen lassen. Die Erinnerung an Frau und Kinder hatte ihn sichtbar tief bewegt; er war der Sprache gar nicht mächtig und verharrte einige Secunden im Schweigen. Dann aber hob er mit einer gewissen Hast den Kopf wieder empor, und indem er einen Blick, in welchem sich der trostloseste Schmerz aussprach, auf mich richtete, sagte er mit wahrer Seelenangst und mit einer fieberhaften Geläufigkeit:

„Herr Inspector, ich bin ein armer Mann; ich habe Alles verloren, Alles hingeben müssen, um nur die Meinigen nicht Hungers sterben zu lassen. Mir ist nichts, gar nichts geblieben, nicht einmal mein ehrlicher Name. Und doch, eins besitze ich noch. Dies Eine ist die Liebe der Meinigen. Ich habe diese nicht versetzen und nicht verkaufen können, kein Mensch würde sie mir abgenommen, kein Mensch ein Stückcken Brod mir dafür gegeben haben, sie hat ja für Andere keinen Werth. Diese Liebe ist für mich eine Quelle, aus welcher ich Trost und Beruhigung schöpfe. Wenn ich auch leide und furchtbare, entsetzliche Schmerzen ertrage; wenn der Verlust meiner Freiheit und meiner Ehre mich auch quält und peinigt, ich bin dennoch glücklich, denn die Liebe meiner Frau und meiner Kinder, für die ich leide, tröstet und beruhigt mich mit wunderbarer Kraft.“

„Aber,“ sprach ich, als Clausthal wiederum eine längere Pause machte, „Sie sollen mir sagen, weshalb Sie nicht gegessen haben?“

„Ja so,“ erwiderte er mit einem Anflug von Beschämung, „ich rede zu viel von meiner Armuth und von meiner Liebe. Sie müssen mir das verzeihen. Das Herz ist mir davon zu voll, und da ist es ja kein Wunder, daß der Mund übergeht. Beides, meine Armuth und meine Liebe, ist ja auch schuld, daß ich nicht gegessen habe. Ich weiß, meine Frau und meine Kinder müssen heute hungern, denn sie haben keine Lebensmittel und auch kein Geld, und noch viel weniger Credit. Kein Mensch wird sich ihrer annehmen, kein Mensch sich ihrer Noth erbarmen, sie werden von keiner Seite eine Unterstützung erhalten, denn sie werden nicht den Muth haben, eine Unterstützung zu verlangen, wie ich nicht im Stande gewesen bin, meine Armuth, meine grenzenlose Noth vor den Leuten zu bekennen. Glauben Sie, Herr Inspector, daß ich essen könnte, wenn die Meinigen hungern? Nein, Sie können das nicht, Sie müssen mir Recht geben, wenn Sie die Ihrigen wahrhaft lieb haben. Gestatten Sie mir nur, daß ich mit den Meinigen theile, oder vielmehr, daß ich den Meinigen zukommen lassen darf, was dort Eßbares auf dem Tische steht. Ich kann ganz gut warten bis morgen, ich habe warten gelernt, mir wird der Hunger nicht lästig, wenn ich nur weiß, daß Frau und Kinder sich sättigen können.“

Clausthal hatte während des Sprechens, ohne daß ich dies zu hindern vermochte, seine Stellung verändert. Die abgezehrte Gestalt kniete zuletzt auf dem Strohsacke und streckte die ineinander geschlungenen Hände mir entgegen.

Ich wußte in Wirklichkeit nicht, was ich thun, was ich antworten sollte. Die Bitte war ganz eigenthümlicher Art. Es war mir noch niemals vorgekommen, daß ein Gefangener einen Theil seiner kärglichen Kost hatte hinaussenden wollen, die Mehrzahl verlangten Zuschüsse von außen, weil sie mit dem, was ihnen gereicht wurde, nicht auskommen konnten. Ein Verbot bestand jedoch nicht, ein solches war jedenfalls deshalb nicht erlassen worden, weil man den Fall überhaupt nicht für möglich gehalten hatte; ich riskirte also nichts, wenn ich die Bitte gewährte.

Als ich mir das klar gemacht hatte, sagte ich Clausthal, daß ich das Essen diesmal abgeben würde, wenn sich einer von seinen Angehörigen bei mir einfinden sollte. Seine Freude über diesen Bescheid war ohne Grenzen.

„Ach,“ sagte er nach vielfachen Dankesäußeruugen, „haben Sie nur die Güte, vor dem Hause nachzusehen, ich bin davon überzeugt, daß meine Frau oder mein Sohn in der Nähe ist.“

Da Clausthal auf nochmaliges Befragen dabei verblieb, daß er von dem Essen nicht das Geringste annehmen werde, ließ ich dies von einem Unterbeamten nach der Küche tragen, ich selbst ging aber vor das Haus, um hier nachzusehen, ob wirklich ein Glied der Clausthal’schen Familie dort verweilte.

Es war fast vollständig dunkel. Ein starker, dichter Nebel ließ das Sternenlicht nicht zum Durchbruch kommen und benahm auch dem Lichte der vor dem Hause brennenden Laterne den Schein, so daß man nicht zehn Schritte weit vor sich sehen konnte. Dennoch gab ich mir Mühe, die Dunkelheit nach allen Richtungen hin zu durchdringen. Als mir das nicht gelingen wollte, ging ich auch noch ein Stück vorwärts, dann rechts und links, über den ganzen Platz hinweg, ich konnte aber nichts wahrnehmen, der Platz war leer. Verdrießlich über die vergebliche Bemühung kehrte ich nach dem Hause zurück und wollte schon in dasselbe eintreten, als mir in einer Ecke, welche die an dieser Stelle etwas vortretende Mauer bildete, ein an der Erde liegender dunkler Gegenstand in die Augen fiel. Ich ging darauf zu und erstaunte nicht wenig, den Sohn des Clausthal zu finden, der sich gegen die Mauer gelehnt hatte und in dieser Stellung eingeschlafen war. Ich machte ihn munter, [152] hieß ihn aufstehen und nahm ihn mit in das Haus und in mein Zimmer. Hier erzählte er mir, daß er auf seinen Vater habe warten wollen, daß er darüber müde geworden und eingeschlafen sei; er bestätigte mir, als ich darnach fragte, Alles, was mir sein Vater über seine häuslichen Verhältnisse mitgetheilt hatte, und gab endlich auch zu, daß der letzte Rest von Brod am Morgen aufgezehrt worden sei. „Aber,“ so sagte er wörtlich, „daraus machen wir uns gar nichts, wenn ich mir meinen guten, lieben Vater mit nach Hause bringe.“

Das war nun allerdings nicht möglich; der Knabe beruhigte sich auch, als ich ihm dies erklärte und ihm außerdem noch sagte, daß sich sein Vater wohl befinde, daß dieser ihm Essen schicke, daß er dies seiner Mutter bringen und morgen Abend wiederkommen möge.

In einer Gefangnenanstalt bleiben alle Tage mehrere Portionen Essen übrig. Ich ließ alle vorhandenen Vorräthe zusammenthun, ein ganzes Brod zulegen und schickte den Knaben damit nach Hause. Der Gefängniß-Inspector konnte ja auch einmal durch Wohlthun sich Freunde schaffen.

Am andern Tage kam Clausthal zu meinem Bedauern in die Krankenstube. Es hatte sich bei ihm ein heftiges Fieber ausgebildet. Der Anstaltsarzt machte gleich bei der ersten Untersuchung ein äußerst bedenkliches Gesicht und sprach von „Draufgehen“ wegen zu schwacher Constitution oder Entkräftung, was wohl ein und dasselbe war. Seine Bemühungen und Verordnungen erzielten auch kein Besserwerden. Am siebenten Tage nach der Einlieferung war Clausthal eine Leiche.

Auf die Verwendung des Arztes war seiner Frau am Todestage der Zutritt gestattet worden. Sie fand sich ungefähr eine Stunde vor dem Ableben ein. Der Kranke war bei voller Besinnung und klarem Bewußtsein, während er vorher unausgesetzt getobt und gerast hatte. Die beiden Leute sprachen nur wenig, für ihr Leid und ihren Schmerz gab es keine Worte; sie hielten sich eng umschlungen, bis die Arme des Mannes schlaff herab fielen und das Herz im Tode erstarrt, der Lebensfaden zerrissen war. Die Frau drückte ihm die Augen zu, berührte noch einmal die erkalteten Lippen mit ihrem Munde und ging dann weinend aus der Krankenstube und aus dem Hause, in welchem der Verstorbene zurückbleiben mußte.

Wo fand diese so tief gebeugte Frau Trost? Sie war arm, sie war auch die Wittwe eines im Gefängnisse gestorbenen Verbrechers. Für die Gesellschaft sind dies leider noch immer keine Anziehungspunkte.

Clausthal ist nicht verurtheilt, nicht einmal von dem Untersuchungsrichter vernommen, allein er war in dem Moment ertappt worden, in welchem er von einem selbstgefälschten Wechsel hatte Gebrauch machen wollen. Daß ihn die äußerste Noth zu diesem Schritte gedrängt, das konnte vielleicht eine Milderung des Urtheils, doch keineswegs eine Befreiung von der Strafe zur Folge haben. Gewiß aber war er kein böser Mensch.




Das Werk eines deutschen Bürgers.
Von Ludwig Walesrode.
III.
Der letzte Betrug. – Ein Märtyrer der Lüge. – Der ewige Todescandidat. – Schneider Tomaschek. – Eine Lücke in den Statuten der Gothaischen Lebensversicherungsbank. – Der Selbstmörder im Schießstande. – Die unglücklichen Entenjäger. – Die Gothaer Lebensversicherungsbank als der Großstaat Thüringens. – Sein Departement des Inneren und des Aeußern.

Der Versuch, die Bankverwaltung hinter’s Licht zu führen wird oft schon bei den Meldungen zur Aufnahme gemacht, indem das Individuum, dessen Leben versichert werden soll, einen Gesundheitszustand simulirt, der in strictem Widerspruche gegen die körperlichen Uebel steht, mit denen es behaftet ist und wegen welcher die Bank, nach statutenmäßiger Bestimmung, ihm die Aufnahme versagen mußte. Der Bank gegenüber kehrt sich das Verhältniß um, das bei Recrutenaushebungen stattzufinden pflegt, wo Conscriptionspflichtige durch Simulirung von Krankheiten der ihnen zugedachten Waffenehre zu entgehen suchen. In vielen, vielleicht den meisten Fällen mag eine solche Absicht die Bank zu täuschen aus menschlich verzeihlichen Motiven entspringen. Den mittellosen Familienvater, der den Keim eines nahen Todes in sich fühlt, treibt die quälende Sorge um das Loos der Seinigen, denen er sein Erbe zu hinterlassen hat, zu diesem „letzten Betruge“. Aber nicht selten steckt auch eine rasffinirte Gaunerei dahinter. Schlaue Speculanten z. B. versuchen das Leben einer Person, deren Gesundheitszustand sie als einen höchst bedenklichen kennen oder zu kennen meinen, auf eine hohe Summe zu versichern, indem sie, in der Hoffnung auf die baldige Empfangnahme der Versicherungssumme, die Prämien für die in ihren Besitz übergebende Police zahlen und die in Rede stehende Person für die Rolle, welche sie zu spielen hat, entschädigen.

Um sich gegen derartige Manöver zu schützen, werden Seitens der Bank die eingebenden Versicherungsanträge mit großer Vorsicht behandelt. Die Person, auf deren Leben eine Versicherung abgeschlossen werden soll, muß zunächst eine Reihe articulirter sachgemäßer Fragen in einer ihr vorgelegten Declaration schriftlich beantworten, bei Strafe, daß jede später nachzuweisende wahrheitswidrige Angabe die Richtigkeit der Versicherung zur Folge habe. Zwei glaubwürdige Zeugen müssen diese Declaration unterzeichnen. Dann hat der Arzt des Individuums, welches in die Lebensversicherungsbank aufgenommen werden soll, ein ausführliches, gerichtlich beglaubigtes Attest über dessen Gesundheitszustand auszustellen. In Orten, wo von der Bank ein Agenturarzt bestellt ist, müssen außerdem die zu versichernden Personen sich von diesem untersuchen lassen. Daraus wiederum hat der Bankarzt in Gotha die mit den Versicherungsanträgen eingehenden ärztlichen Atteste zu prüfen und zu begutachten, und schließlich werden alle diese ärztlichen Atteste dem Endurtheil eines ebenfalls bei der Bank angestellten ärztlichen Revisors unterbreitet. Erst dann entscheidet das Bankbureau, als die Verwaltungsbebörde der Anstalt, nach Einsicht sämmtlicher Papiere, ob der gestellte Antrag statutengemäß anzunehmen oder abzulehnen sei.

Man muß gestehen, daß kaum ein sorgfältigeres, gewissenhafteres Verfahren als dieser im Interesse der Bankangehörigen festgestellte Aufnahmemodus denkbar sei. Bei alledem ist die Bank aber nicht ganz vor Täuschungen sicher. Sie ist nicht selten genöthigt, wegen wahrbeitswidriger Declaration, den Inhabern einer durch Todesfall erloschenen Police die Auszahlung der Versicherungssumme zu weigern und es im Wege des Processes auf die richterliche Entscheidung ankommen zu lassen. – Leider hält es die Bank nicht für angemessen, die unbedingte Oeffentlichkeit, welche sie für das weite Bereich ihrer geschäftlichen Thätigkeit adoptirt hat, auch auf die zur Wahrung ihrer eigenen Sicherheit geführten Processe auszudehnen. Eine Sammlung derartiger Rechtsfälle wäre von hohem juridischen wie psychologischen Interesse.

Ich erwähne hier nur eines seiner Zeit viel besprochenen merkwürdigen Falles von einer erschlichenen Lebensversicherung. Die Geschichte ist etwa zehn Jahre her.

Auf dem medicinischen Lehrstuhle einer deutschen Universität war Professor *** einer der gefeiertsten Lehrer, der sich auch wegen seiner Schriften auf dem Gebiete der Pathologie unter seinen auswärtigen Fachgenossen eines bedeutenden Rufes erfreute. Bereits im sogenannten besten Mannesalter hatte der Professor eine zahlreiche Familie zu ernähren, was ihm, da er sonst kein Vermögen besaß, trotz seines Gehaltes als Ordinarius, der nicht unbedeutenden Collegiengelder von seinem immer dichtbesetzten Auditorium und der Honorare für seine schriftstellerischen Arbeiten, nicht leicht wurde. Er war eben eine geniale Natur, welche über die Wissenschaft die Genüsse dieser Welt nicht verachtete. Er lebte gut und ließ gut leben. Die offene, unbeschränke Gastlichkeit, die in seinem Hause herrschte, war nicht nach jenem frugalen Zuschnitte eingerichtet, wie er sonst, nothgedrungen oder grundsätzlich, in den Professorenhäusern des Ortes üblich war. Mit einem Wort, es ging bei „Professors“ so hoch her, daß sich das Budget seines [153] Haushaltes nur mit Noth in der Balance hielt. Dabei aber liebte der Professor auf’s Zärtlichste seine Frau und seine Kinder, die, wie er sich sagen mußte, bei seinem Tode der äußersten Dürftigkeit anheimfallen würden, da er ihnen nichts zu hinterlassen hatte, als die schmale Wittwenpension seiner Gattin. – Und in der That hatte er bald alle Ursache sich, trotz seiner leichten Lebensphilosophie, mit diesem trüben Gedanken viel zu beschäftigen. Denn ein seit einiger Zeit bei ihm eingetretener krankhafter Zustand, der ihn nöthigte, was Aerzte sonst selten thun, dem eigenen Leibe den Scharfsinn seiner vielbewährten Diagnose zuzuwenden, liest ihn die Entdeckung machen, daß er an der Bright’schen Krankheit leide, jenem entsetzlichen organischen Uebel (Entartung der Nieren), das im einigermaßen fortgeschrittenen Zustande, als absolut tödtlich, aller Heilmittel der Arzeneiwissenschaft spottet. Seine Tage waren gezählt, im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Professor, der gerade – merkwürdiges Zusammentreffen! – über die Bright’sche Krankheit (morbus Brightii) Collegium las, kannte nach beobachteten Symptomen nur zu gut die Kürze der Lebensfrist, die ihm noch zugemessen war. Wollte er noch etwas für die Zukunft seiner Angehörigen versuchen, so that Eile Noth. Er beschloß sein Leben in der Gothaer Lebensversicherungsbank mit einer so hohen Summe zu versichern, wie sie einigermaßen zur Existenz einer so zahlreichen Familie genügen konnte. Aber wenn er die Annahme seines Antrages an der Bank, deren Statuten ihm wohl bekannt waren, durchsetzen wollte, durfte er kein kranker Mann sein, ja er mußte gesünder als je erscheinen, da er Grund zu vermuthen hatte, daß bei seiner bekannten Sorglosigkeit der plötzliche Einfall, sein Leben und noch dazu auf eine so hohe Summe zu versichern, eine unbequeme Aufmerksamkeit der Bankbevollmächtigten auf seinen Zustand hinlenken könnte.

Niemals daher erschien der Professor den Seinigen wie der Welt draußen so heiter, so voll gesunder Genußfähigkeit wie zu jener Zeit. Niemals war er gegen die Gäste, die er in seinem Hause sah, von einem liebenswürdigeren, übersprudelnderen Humor gewesen. Er besuchte mit seiner Familie die gerade statt findenden Studentenbälle, wo er selbst noch den flotten Tänzer machte, und während die Collegen beim Souper ihre Bläser mit bescheidenem „Rothspohn“ und billigem Mosel füllten, knallten vor dem Professor *** und den Seinigen die Champagnerpfropfen unter dem schallenden Lachen der von den Schnurren und tollen Einfällen des Professors heiter erregten Tischnachbarschaft. Wer hätte diesem Manne das Bewußtsein seines nahen, traurigen Endes angesehen? Jeder Tropfen, den er trank, war ihm Gift: jede körperliche Anstrengung, jede Aufregung, beschleunigte den Zerstörungsproceß, der in seinem Innern vorging, zu Riesenschritten und führte fast unerträgliche Schmerzen herbei. Aber er durfte die lachende Maske nicht ablegen, wollte er zu seinem Ziele gelangen, und er trug sie mit jenem stoischen Heroismus, mit welchem der spartanische Knabe sich von dem gestohlenen Fuchse, den er unter seinem Gewande verborgen hielt, die Eingeweide zerfleischen liest, ohne eine Miene zu verziehen.

Von dem Rufe eines kerngesunden Mannes begleitet, reiste nunmehr der Professor nach Gotha, um durch persönliches Vernehmen mit den dortigen Bankärzten die ganze Procedur rasch abzukürzen. Mit erheuchelter jugendlicher Elasticität, mit vor Lebensübermuth leuchtenden Blicken trat der Professor in das Zimmer des Bankarztes: unter Scherz und Lachen warf er die Kleider ab, behufs der vorzunehmenden körperlichen Untersuchung, die nichts Bedenkliches ergab, da der Professor sonst von normalem Körperbau war und er ohnedies die im Formular ihm vorgelegten Fragen in jeder Beziehung zufriedenstellend schriftlich beantwortet hatte. So gelang denn die Täuschung vollkommen bei dem mit der Untersuchung beauftragten Bankarzte wie bei dem ärztlichen Revisor.

Der Professor hielt sich noch ein paar Tage in Gotha auf, bis die Präliminarien erledigt waren, während der Zeit in anscheinend genußfähigster Gesundheit sich den Freuden der Gastlichkeit hingebend, welche ihm die dortigen Collegen zu Theil werden ließen. – Handelte es sich ja hier um die Angaben, die einer der ersten Pathologen Deutschlands über seinen Gesundheitszustand gemacht hatte! Der Antrag wurde genehmigt und, gegen Einzahlung der ersten Jahresprämie, die Police dem Professor ausgehändigt, der damit sofort nach Hause reiste, um todeskrank sein Lager aufzusuchen, das er nicht mehr verlassen sollte, kurze Zeit darauf starb Professor ***, wie die Section ergab, an der bereits an ihm zu den äußersten Stadien gelangten Bright’schen Krankheit! – Die Lebensversicherungsbank weigerte sich, wegen wahrbeitswidriger Declaration und Täuschung ihrer Aerzte, die von den Erben beanspruchte Versicherungssumme zu zahlen. Es kam zum Processe. Die Sache wurde langwierig und der Ausgang erschien sehr zweifelhafter Natur, da, trotz der allgemein getheilten moralischen Ueberzeugung von einem an der Bank verübten planmäßigen Betruge seitens des Professors der juridische Beweis nur schwer zu führen war. Die Bank zahlte schließlich den Klägern, auf dem Wege des Vergleiches, die Hälfte der Versicherungssumme aus.

Dieses Beispiel eines aus Liebe zu Weib und Kind mit Heroismus durchgeführten Betruges hat seine ernste und rührende Seite, und mancher Leser dürfte eine besondere Genugthuung darüber empfinden, daß dieses Märtyrerthum der Lüge nicht ganz fruchtlos geblieben.

Ich erzähle hier, als heiteres Seitenstück, ein eigenes komisches Erlebniß, das allerdings nicht gerade die Gothaische Lebensversicherungsbank berührt, gleichwohl aber beweist, wie sehr derartige Institute überhaupt Grund haben, alle mögliche Vorsicht bei Lebensversicherungsverträgen anzuwenden, um nicht von raffinirten Gaunern ausgebeutet zu werden. Denn nicht oft dürften, wie in dem hier zu erzählenden Falle, die Betrüger auch die Betrogenen sein.

Im Anfang der vierziger Jahre gab es zu K. in Preußen eine Anzahl von Speculanten, die neben einem einträglichen Wuchergeschäfte noch ein einträglicheres mit Lebensversicherungspolicen betrieben. Theils kauften sie von Versicherten, die sich in drückender Geldnoth befanden und deren vorgerücktes Alter oder hinfälliger Gesundheitszustand einen baldigen Tod indicirten, die Policen um einen wahren Spottpreis an; theils aber und meistens versicherten sie das Leben von Personen, deren mehr als kritischer Gesundheilszustand den Versicherern die schönsten Aussichten auf den Gewinn von mehrern hundert Procenten eröffnete. Diese Leute gingen förmlich auf die Menschenjagd aus, um passende Individuen für Lebensversicherungen zu finden. Wo sie nur einen jungen Mann mit hektisch angerötheten Wangen fanden, oder einen nur äußerlich noch zusammenhäugenden notorischen Roué, der bereits zu viel vom Leben verbraucht hatte, um noch viel davon übrig zu behalten; wo sie nur bei ihren Nebenmenschen so etwas wie Anlagen zur Wassersucht, Apoplexie und dergleichen vielversprechende Krankheiten witterten: warfen sie, wenn die äußeren Verhältnisse dieser Persönlichkeiten ein Eingehen auf ein solches ihnen proponirtes Geschäft versprachen, die Angel nach diesen aus. Sie suchten arme Teufel, deren Tod ihnen, als lachenden Erben, eine reiche Hinterlassenschaft gewähren würde. Willfährige Aerzte, die für ihre Atteste anständig honorirt wurden, gingen ihnen dabei hülfreich zur Hand. Die Versicherungen wurden meist mit auswärtigen Gesellschaften contrahirt, deren Agenten als nicht allzu rigoros bei Aufnahme von Versicherungen bekannt waren.

So gelangten eine Menge von Lebensversicherungspolicen in Umlauf. Es gab in gewissen Geschäftskreisen in K. eine förmliche Börse für diese Papiere, die je nach den sichtbaren oder sonstwie bekannt gewordenen Gesundheitsschwankungen der Individuen, auf die sie ausgestellt waren, ihren Cours hatten. Sie wurden nach dem Jargon der Börse als „flau“, „matt“, „gesucht“, „angenehm“ etc. ausgeboten oder gekauft.

Nun fiel gerate in einer Zeit, in welcher das „Geschäft“ Mangel an geeigneten Persönlichkeiten hatte, der Blick der Hauptmacher auf ein Individuum, das ihren Zwecken auf die erwünschteste Weise zu entsprechen schien. Es war dieses der noch im Amte stehende Magistralssecretair Ch–y, ein kleines, mumienhaft eingetrocknetes Männchen, in bereits ziemlich vorgerücktem Aller, stets hüstelnd, mit gesenktem Haupte und eingefallener Brust einher gehend, das Bild eines im Scharwertdienste der Bureaukratie zu Ende sich neigenden Lebens. Ch–y war Wittwer und hatte nur eine einzige bereits im kanonischen Alter sich befindende Tochter, die ihm die Wirthschaft führte. Trotz dieser so fadenscheinigen körperlichen Beschaffenheit wurden dem Magistralssecretair Ch–y die besten ärztlichen Atteste hinsichtlich seines Gesundheitszustandes ausgestellt, so daß die auswärtigen Banken die Versicherungsanträge auf das Leben dieses Mannes, der natürlich für seine Bereitwilligkeit, sich zu diesem Experiment herzugeben, gut honorirt wurde, nicht beanstandeten.

[154] Die Versicherungssummen, mit welchen der Mann in verschiedenen Gesellschaften „eingekauft“ wurde, waren sehr beträchtlich, es hieß, zum Belang von mehreren tausend Pfund Sterling, und mithin, da Stadtsecretair Ch–y, wie erwähnt, bereits in vorgerücktem Lebensalter stand, die zu zahlende Prämie eine sehr hohe. Die Versicherer, die außerdem aus zuverlässiger Quelle von einem tödtlichen organischen Leiden, an dem der Versicherte litt, erfahren haben wollten, hielten den Mann für so anständig, daß er ihnen nicht zumuthen würde, eine zweite Jahresprämie für sein Leben zu bezahlen. Allein der kleine Mann war so unbescheiden, noch ein zweites Jahr weiter zu leben und noch ein drittes, viertes, fünftes und so fort, immer hüstelnd, immer gebeugten Hauptes und eingefallener Brust, hinfällig erscheinend bis zum Erlöschen und doch immer lebend, zur Verzweiflung der unglücklichen Policeninhaber, die Jahr nach Jahr ihre enormen Prämien zu zahlen hatten. Der Stadtsecretair Ch–y machte durchaus keine Miene zu sterben; seine mumienhafte Trockenheit schien ihn zu conserviren. Endlich, es war etwa Anfangs der fünfziger Jahre, schöpften seine unglücklichen Lebensversicherer, denen durch Späher die leiseste Veränderung in den Lebensfunctionen des Stadtsecretairs zugetragen wurde, wieder Athem. Ch–y fing ein wenig zu kränkeln an.

Ein angesehener Arzt, an den er sich wandte, erklärte sein Leiden für eine Folge der sitzenden Lebensweise und empfahl ihm eine sechswöchentliche Cur in Karlsbad als das einzig wirksame Mittel. Karlsbad – das ist für einen mäßig besoldeten Stadtsecretair leicht verordnet – aber wie durchzuführen? Um den Urlaub war ihm nicht bange, doch woher das Geld nehmen zu einer so kostspieligen Reise nebst sechswöchentlichem Aufenthalt für sich und seine Tochter, deren Pflege er nicht entbehren konnte? Aber, wenn die Noth am größten, ist ein guter Einfall am nächsten. Ch–y ließ sich von dem besagten Arzte den ihm ertheilten Rath zur Badereise als ein förmlich medicinisches Gutachten ausfertigen und schickte dieses an die Directionen der betreffenden englischen Gesellschaften mit einer Eingabe, in welcher er vorstellte, daß er die Mittel zu der ihm so dringend empfohlenen Badecur nicht besäße und er es daher den Direktionen anheimgebe, mit Rücksicht auf den Werth, den seine Gesundheit auch für sie hätte, durch ihre Unterstützung ihm und seiner Tochter, die er zu seiner Pflege nicht entbehren könne, diese Reise zu ermöglichen. Die Herren Directoren fanden diese Argumentation sehr plausibel und bewilligten, nach gemeinsam gesagtem Beschluß, dem Petenten eine recht anständige Summe für seine Cur. Diese that wirklich Wunder. Der kostbare Stadtsecretair kehrte neugestärkt auf seinen Posten zurück und erhielt seitdem alljährlich von seinen Versicherungsgesellschaften dieselbe Summe für sich und seine Tochter zu einer sechswöchentlichen Cur- und Ferienreise.

Die Lebensversicherungspolicen auf den Stadtseeretair Ch–y wurden jetzt zu sehr niedrigen Course ausgeboten. Aber Niemand mochte sie kaufen, weil die Prämien gar zu hoch waren und kein Ende für das Leben dieses Mannes abzusehen war. So mußten denn die dupirten Lebensversicherer die Hoffnung, endlich doch noch einen Theil ihres geopferten Capitals zu retten, mit so hohen Wucherzinsen bezahlen, wie sie selbst, beim besten Willen, niemals solche erhalten hatten, und sich noch obendrein von der schadenfrohen Stadt über diese verunglückte Speculation auslachen lassen. Mein Stadtsecretair hüstelte noch im Jahre 1854, in welchem ich K. verließ, unverändert, wie im Jahre 1841, in welchem er als hoffnungsvoller Todescandidat von der Lebensversicherungsbande berücksichtigt worden war, er trug seinen Kopf noch ebenso gebückt, die Brust noch ebenso eingefallen und verwaltete, Dank den jährlichen Badereisen, sein Amt mit ungeschwächten Kräften. Und wenn er nicht gestorben ist, lebt er vielleicht heute noch, wie es sonst wohl im Märchen heißt.

Aber nicht blos gegen das Simuliren von Gesundheit hat sich die Lebensversicherungsbank bei Aufnahmeanträgen vorzusehen, sondern auch gegen lügnerisch vorgegebenes Verstorbensein. Ich erinnere die Leser an den eine förmlich europäische, ja, man kann sagen, eine Weltheiterkeit erregenden humoristischen Betrug, den vor einigen Jahren der Schneider Tomascheck in Berlin vollführte. Um die auf sein Leben versicherte beträchtliche Summe noch während seines Lebens zu genießen und des lästigen Prämienzahlens enthoben zu sein, ließ sich bekanntlich der gedachte Schneidermeister, nachdem er angeblich plötzlich erkrankt und verstorben sein wollte, in Gestalt eines Plättbretes und einer gehörigen Menge Rindskaldaunen (die den Leichengeruch hergeben mußten) gehörigst einsargen und, gefolgt von Leichenbittern und weinenden Angehörigen, nach dem Kirchhof führen, wo er unter der rührenden Grabrede eines Geistlichen der Erde übergeben wurde, um hinterher in Kopenhagen seine fröhliche Auferstehung zu feiern und mit der Versicherungssumme, welche seine ihm dahin gefolgten Angehörigen erhalten hatten, ein neues flottes Leben zu beginnen. Der Streich war vollkommen gelungen. Er wurde erst nach geraumer Zeit durch Zufall entdeckt und der geniale Schneidermeister, dessen humoristischer Einfall an Jean Pauls Armenadvocaten Siebenkäs erinnerte, wurde aus dem Jenseits wiederum dem Arme der irdischen Gerechtigkeit ausgeliefert, um hienieden abzubüßen, was er hienieden gesündigt.

Aber das sind nur kurzweilige Episoden in den Annalen der Lebensversicherungsbanken. Wie oft bildet die Lebensversicherung den Kernpunkt der blutigen Schauerdramen, die vor den Schranken der Criminaljustiz in Scene gesetzt werden! Der Umstand, daß mit dem Tode eines versicherten Menschen gewissermaßen ein auf dessen Kopf gesetzter Preis ausgezahlt wird, ist für die Habgier, die dringende Geldnoth, die verschwenderische Liederlichkeit der Policeninhaber ein gar verführerischer Antrieb einem Leben ein Ende zu machen, das der Ungeduld der Betheiligten viel zu lauge dauert. Auch in dem in frischem Andenken stehenden Demme-Trümpy’schen Processe spielt eine Lebensversicherungspolice mit. Und doch, wie manch derartiges Verbrechen mag ungesühnt mit dem Todten für immer begraben bleiben! Nicht jeder Ibycus findet seine Kraniche!

Die langwierigsten Rechtshändel jedoch, welche die Gothaer Lebensversicherungsbank zu führen hat, entstehen durch die Bestimmung ihres Statuts, daß die Versicherungssumme verloren geht, wenn die versicherte Person ihren Tod durch Selbstentleibung bewirkt hat.

Diese Bestimmung ist der einzige Punkt in der sonst so trefflichen Verfassung der Gothaer Lebensversicherungsbank, mit welchem wir uns nicht einverstanden zu erklären vermögen. Wir können uns nicht überzeugen, daß die Sicherheit der Bank gebieterisch ein Gesetz fordert, dessen Härte dem humanen Grundgedanken dieser Anstalt widerspricht. Die statistische Tabelle über die Selbstmorde, welche seit dem vierunddreistigjährigen Bestehen der Bank unter deren Versicherten vorgekommen (hundert einundsiebenzig unter achttausend achthundert siebenundzwanzig Todesfällen) giebt der Bankverwaltung die beruhigende Ueberzeugung, daß sie mit der Streichung jenes Paragraphen keine sonderliche Gefahr läuft, vor Allem wenn man erwägt, welche beträchtliche Kosten der Bank aus so manchen verlorengehenden Processen entwachsen, in die sie durch jene Statutsbestimmung verwickelt wird.

Wir wollen zugeben, daß mit der Aufhebung jenes Paragraphen mancher Selbstmord gerade in der Absicht verübt werden könne, durch rasche Abkürzung des eigenen Lebens eine darbende Familie in den Besitz der Versicherungssumme zu setzen; daß Mancher, der mit dem Gedanken des Selbstmordes umgeht, eben aus diesem Grunde vor der Ausführung dieser That sein Leben versichert. Aber daß ein solcher „Betrug“, der mit dem Leben gebüßt wird, nicht viele Nachahmer finden werde, dafür bürgt der Bank die dem Menschen innewohnende Liebe zum Leben um jeden Preis. Zur Noth würde ein Amendement zu jenem Gesetz genügen, daß bei einem Selbstmord, der binnen eines halben Jahres von den, Eintritte der betreffenden Person in die Lebensversicherungsgesellschaft stattfindet, die Bank keine Zahlungspflicht anerkenne. Es scheint aber auch gar nicht, als ob die Bank bei dieser Statutsbestimmung sich von einer derartigen Rücksicht auf einen berechneten Selbstmord habe leiten lassen, da das Statut ausdrücklich erklärt, daß im Falle eines Selbstmordes die Versicherungssumme verloren gehe, gleichviel, ob diese Selbstentleibung im zurechnungsfähigen oder nichtzurechnungsfähigen Zustande begangen worden; nur daß im letztern Falle dem Inhaber der Police außer den rückständigen Dividenden der Betrag der auf dieselbe treffenden Reserve vergütet werde.

Was mithin konnte die Bank zur Ausstellung einer so rigorosen Bestimmung veranlaßt haben?

Wir können nur annehmen, daß eine intolerante religiöse oder ethische Gewohnheitsanschauung, die sich das unbarmherzige Richteramt auch über Handlungen anmaßt, für welche der Mensch [155] nur seinem Gotte und seinem Gewissen Rechenschaft schuldet, sich unvermerkt in die Bankverfassung eingeschlichen hat. Die Bank spricht in ihrem Gesetze ihr Verdammungsurtheil über den Selbstmord aus. Und doch straft sie nicht den Unglücklichen, den Verzweiflung oder ein krankhaft umdüsterter Geist getrieben, in einer schmerzhaften That das Theuerste zu opfern, an das sich Millionen Menschen krampfhaft bis zum letzten Augenblicke klammern; sie straft seine Wittwe, seine Waisen, denen sie die Mittel der Existenz entzieht, die ihnen die Versicherungssumme gewähren würde. Ich glaube, die Gothaer Lebensversicherungsbank thäte wohl, diese dem großartigen Charakter ihrer Wirksamkeit und dem humanen Sinne ihrer Richtung widersprechende kleinliche Bestimmung aus ihrer Verfassung zu streichen.

Aber immerhin ist es vom höchsten Interesse aus jenen Tabellen zu ersehen, mit welchem scharfen psychologischen Blicke die Gothaer Bankverwaltung den Motiven der in ihrem Bereiche vor gekommenen Selbstmorde nachgeforscht bat. Unter den einhundert zweiundsiebenzig erwähnten Fällen stellten Schwermuth und Geistesverwirrung das größte Contingent, nämlich fünfundfünfzig; dann kommen zerrüttete Vermögensverhältnisse und Nahrungssorgen mit achtunddreißig Fällen; Cassenbeamte, die sich wegen Cassendefecte entleibten, waren siebenundzwanzig; kurz wir finden hier eine ganze Reihe von zum Selbstmord treibenden beiden und Leidenschaften. Beleidigter Ehrgeiz, selbst verschmähte Liebe und Eifersucht haben ihr Opfer geliefert.

Charakteristisch besonders ist die Wahrnehmung, mit welcher kaltblütigreinen Berechnung, namentlich in der sogenannten höheren Sphäre der Gesellschaft, der Selbstmörder oft bemüht ist seine That mit dem Mantel eines anständigen Zufalls zu bedecken, nicht blos um die Lebensversicherungssumme seiner Familie zu erhalten, sondern auch um vor der guten Gesellschaft mit Anstand von der Lebensbühne abzutreten.

Ich theile hier einen interessanten Fall mit, der vor einigen Jahren Aufsehen erregte.

Der *sche Hofmarschall, Graf **, Sproß einer der ältesten deutschen Adelsfamilien, hatte sein Leben zu Gunsten seiner Gattin mit einer beträchtlichen Summe in Gotha versichert. Er war ein Hofmann von feinster Tournüre, liebenswürdig und witzig im Umgang, aber auch hinsichtlich seiner Finanzen von cavaliermäßiger Sorglosigkeit. Der Fürst hatte zu verschiedenen Malen die Schulden des Hofmarschalls bezahlt. Allein das wollte wenig verschlagen. Das Spiel, dem der Graf besonders leidenschaftlich ergeben war, ließ ihn aus den immer auf’s Neue contrahirten Ehrenschulden gar nicht herauskommen. Er gerieth immer tiefer in ein Wirrniß finanzieller Verbindlichkeiten, der Wechselarrest war unvermeidlich. Der Graf kannte keinen Ausweg aus diesem Labyrinthe als den Tod. Eines Tages fand er sich, wie gewöhnlich ein paar Mal wöchentlich, in den Nachmittagsstunden auf dem Schützenhause der Residenzstadt *** ein, wo er an den geselligen Schießübungen mit großer Vorliebe Theil zu nehmen pflegte. Es ging munter her, einer der Muntersten war der Hofmarschall. Es wurde gelacht und getrunken, während die Büchsen lustig aus den Schießständen knallten. Die Nummer des Hofmarschalls wird aufgerufen. Einer witzigen Anekdotenpointe, die er den Anwesenden zum Besten gegeben, noch nachlachend und sein Glas mit einem Zuge leerend, ergreift der Hofmarschall seine mit einer Spitzkugel geladene Büchse und verfügt sich nach dem Schießstande. Eine Minute. Der Schuft fällt, aber der Weiser markirt an der Scheibe keine getroffene stelle, obwohl der Hofmarschall selten Schwarz zu sehen pflegte. Niemand hat überhaupt die Kugel irgendwo drüben einschlagen gesehen. Da der Hofmarschall etwas lange im Schießstande bleibt, begiebt sich die nächste Nummer dahin. Ein Schreckensruf läßt sich vernehmen, die ganze Gesellschaft drängt sich herbei. Der Hofmarschall liegt auf dem Boden mit zerschmetterter Hirnschale. Die Lage der Leiche und der neben ihr liegenden Büchse zeigen, daß hier schwerlich eine unvorsichtige Handhabung der Schießwaffe den Tod herbeigeführt. Zum Ueberfluß interpretiren die stadtkundigen Geldverlegenheiten des Hofmarschalls, besonders die fälligen Wechsel, die ihm schon am nächsten Tage präsentirt werden sollten, den raschen Todesfall. Aber spricht nicht wiederum die heitere Unbefangenheit, mit welcher der Hofmarschall eben noch geplaudert und getrunken, gegen die Annahme eines Selbstmordes? Hat ein Mensch in der Minute, in welcher er durch eigene Hand sich in das Land befördert, „aus deß Bezirk kein Wandrer wiederkehrt“, einen frivolen Scherz auf den Lippen? – Die Gothaer Lebensversicherungsbank weigerte, auf Grund ihres Statutes, die Auszahlung der Versicherungssumme; sie konnte aber den juridischen Beweis eines verübten Selbstmordes nicht führen und mußte schließlich zahlen.

Ein anderer Selbstmordfall, der vor einigen Jahren die Gothaer Versicherungsbank in einen Proceß verwickelte, ist von erschütternder Tragik. Zwei von Jugend auf einander innig befreundete Männer fuhren auf dem Damm’schen See, bei Stettin, in einem von einem Schiffer geruderten Boote auf die Entenjagd. Mitten auf dem See hatte der eine das entsetzliche Unglück, durch eine unvorsichtige Handhabung seiner Doppelflinte dem Freunde eine Kugel durch das Auge zu jagen, so daß dieser auf der Stelle leblos zusammensank. In demselben Momente fast – nur einen einzigen Blick, in welchem eine Welt herzzerreißender Verzweiflung lag, warf der unglückliche Mann auf den entseelten Freund – entlud sich der zweite Schuß – und im Boote lagen zwei Leichen. Der Schiffer, welcher Zeuge der erschütternden Scene war, vermochte nicht anzugeben, ob auch dieser zweite Schuft durch eine unvorsichtige Bewegung sich entladen hatte, oder ob er in der Absicht einer Selbstentleibung abgeschossen worden. So rasch war Alles gegangen. Die Gothaer Bank, in welcher das Leben des letztern versichert war, nahm mit der ganzen öffentlichen Meinung einen Selbstmord an. Die Sache wurde schließlich durch einen Vergleich mit den Erben erledigt.

Da grundsätzlich die Verwaltung der Gothaer Lebensversicherungsbank in allen Selbstmordprocessen, sogar bei der festesten Ueberzeugung von dem Rechte der von ihr verfochtenen Sache, jeden vom Richter ihr zuerkannten sogenannten „Glaubenseid“, als unter der Würde des von ihr vertretenen Institutes, zu leisten ablehnt, so können derartige Processe selten zu Gunsten der Bank ausfallen. Schon aus diesem Umstande geht hervor, wie wenig das Budget der Gothaer Lebensversicherungsbank durch Aufhebung des Selbstmord Paragraphen beeinträchtigt werden würde. Indeß so lange jenes Gesetz nicht verfassungsmäßig aus dem Statut der Gothaer Lebensversicherungsbank ausgemerzt ist, muß man es vollkommen gerechtfertigt finden, daß die Bankverwaltung mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln für die Aufrechthaltung dieser Bestimmung wie für die jeder andern eintritt. Denn in der unverbrüchlichen Treue, mit welcher die Bankverwaltung an ihrer Verfassung hält; in dem immer offenen Auge, mit dem sie den feinberechneten, kunstreichen Organismus vor jeder Unregelmäßigkeit überwacht; in der festen Hand, mit welcher sie die großartige, nimmer rastende Arbeit des Instituts leitet, liegen die Garantieen ihrer großen nationalen Bedeutung und einer glorreichen Zukunft, deren Dimensionen sich schwer ermessen lassen.

In der That erscheint uns das stattliche Gebäude der Lebensversicherungsbank zu Gotha, dessen Bureaus wir eben durchwandert haben, als der Regierungssitz, das Capitol eines modernen Gesellschaftsstaates, dessen Angehörige sich freiwillig selbst besteuern, um der Wohlthat theilhaftig zu werden, für welche die vereinte Kraft des Gemeindewesens Allen und Jedem haftet. Ein Staat allerdings ohne Territorialbesitz, da seine Bürger über aller Herren Länder unseres deutschen Vaterlandes zerstreut sind, aber hinsichtlich seiner Statistik ein ganz respektabler. Seine circa siebenundzwanzigtausend besteuerten, d. h. versicherten, und dem Gesetz der Bank unterworfenen Bürger, repräsentiren mit ihren Familien und den andern an der Versicherung betheiligten Personen mindestens die achtfache Kopfzahl. Dazu kommen noch die vielen Tausende, deren Grund und Boden für die dargeliehenen Capitalien der Gothaer Lebensversicherungsbank verpfändet ist und die derselben in dem zu zahlenden Zins gewissermaßen als Tributpflichtige angehören. So dürfte man in gewisser Beziehung den Gothaer Lebensversicherungsstaat als den größten sämmtlicher thüringischen Staaten bezeichnen. Seines glänzenden Jahresbudgets, in welchem die Einnahme mehr als das Zweifache der Ausgabe beträgt, haben wir bereits Erwähnung gethan. Sein Staatsschatz (Bankfonds) von weit über zwölf und eine halbe Millionen dürfte den Neid sämmtlicher Groß- und Kleinstaaten Europas erregen, in deren Haushalt das Deficit und die Staatsschuld chronische Uebel geworden sind. – Die Verfassung (das Statut) dieses auf Gegenseitigkeit seiner Mitglieder begründeten Staates ist eine republicanisch-demokratische. Die Regierung geht hervor aus der freien Wahl der männlichen Interessenten der thüringischen Wahlbezirke, für [156] welche Erfurt, Gotha und Weimar die Wahlbezirke bilden, da bei der Zerstreuung der Bankangehörigen über das weite deutsche Gebiet, die nicht bundesdeutschen Provinzen Preußens und die deutsche Schweiz eingerechnet, eine allgemeinere Wahlabstimmung unmöglich wird. Das Interesse Aller steht unter der sicheren Controle der unbedingtesten Oeffentlichkeit.

An der Spitze der Regierung steht ein Präsident (Vorstandsdirigent), der alljährlich von den drei Vorstehern der drei Wahlbezirks-Ausschüsse gewählt wird. Es liegt ihm die formelle Leitung der Geschäfte ob, bei Entscheidungen hat er keine Stimme. Die Beschlüsse des Vorstandes müssen in allen Fällen aus den Entscheidungen der Ausschüsse hervorgehen, als deren Stellvertreter sie fungiren. Ein Vorstandscommissär überwacht die ganze Thätigkeit der Bank und hat sämmtliche Actenstücke und Urkunden derselben gegenzuzeichnen. – Es dürfte manchem Leser nicht uninteressant sein zu erfahren, daß dieses Amt zu wiederholten Malen von Männern verwaltet worden, deren Bekanntschaft er schon als Tertianer auf der Schulbank gemacht hat, wie z. B. in den vierziger und fünfziger Jahren von dem Grammatiker und Lexikographen Rost, Oberschulrath und Director des Gymnasiums zu Gotha. – Die Bureaubeamten werden auf die Bank Verfassung und ihre Instruction vor dem herzoglichen Stadtgericht in Gotha vereidigt. – Der Bankdirector, welcher an der Spitze der Bankverwaltungsbehörde steht, seit längerer Zeit der Finanzrath Hopf, dessen ausgezeichneten Rufes als Finanzmann und Statistiker bereits Erwähnung geschehen ist, hat eine Caution von fünftausend Thalern, der Cassirer eine solche von zehntausend Thalern bei der Gothaischen Landesregierung zu deponiren.

Der Bankverwaltung steht ein Justiz- und Medicinal-Collegium zur Seite; eine Revisionscommission, welcher der ebenfalls als Statistiker bewährte Regierungsrath Heß angehört, bildet gewissermaßen die Rechenkammer. Das Rechnungswesen und das Versicherungswesen in ärztlicher Beziehung wird wiederum von zwei Specialrevisoren in allen Details geprüft und controlirt. Diese wohlgegliederte und in allen Bewegungen ineinander eingreifende Bureauverwaltung ist aber weit davon entfernt eine in Dienstformen erstarrte Bureaukratie zu sein, die sich zuletzt im Staate Selbstzweck wird. In jeder Function der Bankbeamten spricht sich der Gedanke des socialen Gemeinwesens aus, dem sie dienen, und das Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit gegen die Gesellschaft.

Um vom Departement des Auswärtigen zu sprechen, so dürfte schwerlich ein europäischer Staat ein so großes diplomatisches Corps von Geschäftsträgern und Consuln haben, wie der Gothaische Lebensversicherungsstaat in seinen sechshundert Generalagenten und Unteragenten, die ihn vom Niemen und der baltischen Küste bis an das adriatische Meer, von den Vogesen bis an die Karpathen dem Publicum und den auswärtigen Landesbehörden gegenüber vertreten.

So scharfsinnig organisirt, so von umsichtigen Händen geleitet, hat die Gothaer Lebensversicherungsbank von ihrem Entstehen bis beute ihre Aufgabe zum Heile von Tausenden glücklich gelöst, unbeirrt durch die politischen Stürme, welche in neuerer Zeit die Staaten Europas erschüttert haben; sie wird auch den Krisen gewachsen sein, denen unser Welttheil noch entgegengeht.

Auch die Concurrenz, die das glückliche Beispiel der Gothaer Lebensversicherungsbank, zu Nutz und Frommen unseres Vaterlandes geweckt hat, giebt dem Werke des deutschen Bürgers Arnoldi die Ehre!




Eine Turnfahrt nach dem Rothenthurmpasse.

Anderthalb Jahre nach meiner Berufung nach Hermannstadt, behufs der Gründung der ersten Turnanstalt in Siebenbürgen, im Sommer des Jahres war es, als ich den ersten und einzigen Turnverein nicht nur Siebenbürgens, sondern des ganzen damaligen Metternichschen Oesterreichs in’s Leben rief.

Jeder deutsche Turnverein kann nun einmal ohne Fahne, um welche sich seine Mitglieder zu schaaren vermögen, nicht bestehen, und so mußte denn der Hermannstädter Turnverein auch seine Fahne haben. Bald hatten Frauen und Mädchen der Hauptstadt des siebenbürgischen Sachsenlandes eine solche dem Vereine gestickt und an einem dafür bestimmten Turnfesttage dieselbe feierlichst überreicht. Ihr zu Ehren wurde eine Turnfahrt nach dem Rothenthurmpasse veranstaltet.

Ein heiterer Sommerabend versammelte die Hermannstädter Turner, groß und klein, wohl siebenzig an der Zahl, auf der hart an der Turnschule gelegenen schönen Promenade. Bunt genug war die Schaar, denn obschon bei Weitem überwiegend aus Sachsen bestehend, waren doch auch einige Ungarn und Walachen darunter, welche die sächsischen Schulen besuchten. Das Schauspiel einer Turnfahrt war den Sachsen neu, und so hatten sich die Verwandten und Freunde der turnenden Jugend zahlreich eingefunden, um unseren Abmarsch mit anzusehen. Von ihnen geleitet, gelangten wir bald nach fünf Uhr auf die sogenannte Kaiserstraße, welche Hermannstadt mit dem Banate einerseits und andererseits mit Kronstadt verbindet.

Da lagen sie vor uns, die majestätischen Siebenbürger Karpathen, denen wir zusteuern sollten, eine hohe Wand, durchbrochen nur an der Stelle, wo der Rothenthurmpaß längs den Fluthen des Alt (der Aluta) den Eintritt in jene Walachei gestattet, die, als ein Vorland der orientalischen Zauberwelt, schon mächtig unsere Theilnahme herausfordert. Und wie um unsere Phantasie zu unterstützen, wölbte sich an diesem Abende der tiefblaue südliche Himmel über uns, welcher zuweilen die Bewohner des Sachsenlandes daran erinnert, daß sie, unter dem gleichen Breitengrade von Mailand, eigentlich Anspruch auf ein italienisches Klima machen könnten, wenn nicht die hohe Gebirgskette gen Süden ihnen den ungehemmten Zutritt der heißen, wie den Mailändern die Schweizer Alpen gen Norden umgekehrt den Zutritt der kalten Luft abwehrten. Wir hatten bis Talmesch, dessen dortiges Pfarrhaus für den Abend unser Wanderziel bildete, über drei, von dort bis Boitza und zum Rothenthurm fast eine, endlich weitere zwei Stunden innerhalb des Passes bis zur Conumaz, dem Grenzort zwischen Siebenbürgen und der Walachei, zu wandern. Die Straße, obgleich unbeschattet von Bäumen, ist keineswegs von ermüdender Eintönigkeit. Vor sich hat man, wie schon erwähnt, das bis auf achttausend Fuß ansteigende, den größten Theil des Jahres mit Schnee bedeckte Gebirge und zur Seite weidet sich das Auge an dem Anblick der gesegneten Weizen- und Welschkornfelder, jenseit welcher zur Linken niedrige, bewaldete Hügelreihen mit der walachischen Ortschaft Baumgarten und zur Rechten das sächsische Neppendorf und der fabelhafte Weißenthurn’sche „Wald bei Hermannstadt“ auftauchen. Hinter Schellenberg, dem ersten sächsischen Dorfe, schlugen wir die nach dem Rothenthurmthorpasse führende Seitenstraße ein und hatten bald, schneller als wir geglaubt, nach noch nicht dreistündigem Marsche, den Pfarrhof von Talmesch erreicht.

Ein siebenbürgisch-sächsischer Pfarrhof bot in der guten vormärzlichen Zeit, wo dessen Pfleger oft mehr Oekonom als Pfarrer war und Scheunen und Keller von dem Zehntenträger mit allem Ueberfluth an Gottesgaben gefüllt wurden, eine dem ermüdeten Wanderer gar verlockende, behagliche Ruhestätte. Der Herr Pfarrer und die „Frau Mutter“, wie die Pfarrerin von dem Hausgesinde genannt wurde, schalteten und walteten aus demselben in patriarchalischer Geschäftigkeit, die indeß nicht nur dem Zehntertrage, sondern auch noch der eigenen selbstständigen Oekonomie galt. Ein Heer von Geflügel, mit den vornehmen „Pockerln“ (Truthühnern) obenan, weiße und schwarze Kühe, unter welchen letzteren die Büffelkühe verstanden werden, die in den nordischen zoologischen Gärten als Merkwürdigkeiten paradiren, endlich Borstenvieh von allen Größen mußten bedient und beaufsichtigt werden, dazu hatte man in den Scheunen dreschen, das Getreide mahlen zu lassen und – was eine Hauptsorge erfordert – des Weines zu warten, der in den Kellern aufgespeichert lag. Nahte man als Fremder einem solchen Pfarrhofe, so durfte man der rückhaltlosesten Gastfreundschaft versichert sein, denn in dieser Beziehung wetteiferten die sächsischen Pfarrherren mit den ungarischen Edelleuten, welche sonst wohl hoch aufjauchzten, wenn ihr mehr oder minder eintöniges Leben auf ihren Edelhöfen durch die Ankunft eines lieben Gastes unterbrochen wurde.

So waren denn auch für uns Turner die Thore des Pfarrhofes [157] zu Talmesch weit geöffnet. Mit freudigen Mienen kamen uns die guten Pfarrersleute entgegen; er, der Herr Pfarrer, ein alter Jenenser, sein Pfeifchen „Fogarascher“, der besten Siebenbürger Tabakssorte, schmauchend und so Vielen von uns, wie da wollten, die Hände drückend, sie, die Frau Pfarrerin, sogleich bereit das Beste, was Küche und Keller bargen, uns anzubieten. Nur den lebhaftesten Vorstellungen seitens der Turnerschaar, welche ja just nach alter Jahn’scher Sitte bei einfachem Mahle, in der Wanderlust und in dem Naturgenuß allein ihre Befriedigung suchte, gelang es, die Hühner vor dem Schicksale, desselbigen Abends noch als „Backhähndel“ auf dem Tische zu paradiren, zu retten und die besorgte „Frau Mutter“ zur Bereitung der einfachen Kandesspeise, des „Palukes“, eines aus

Der Rothenthurmpaß in Siebenbürgen.

Wasser und Welschkorn- (Kukurutz-) Mehl bestehenden Breis, zu veranlassen. Doch wie wir so im Genusse der herrlichen Abendluft im Garten des Pfarrhofes Turnlieder sangen, nahte sich uns noch einmal der Versucher in Gestalt von derben Mägden mit Dutzenden von Weingläsern und gestillten Maßflaschen voll köstlichen Siebenbürger Weins in den Händen, um uns zum Bruche unseres Mäßigkeitsgelübdes zu bewegen, aber auch er wurde glücklich abgeschlagen, und bald daraus lagen wir Alle auf dem bei Turnfahrten üblichen Strohlager, der Nachtruhe pflegend.

Turner satteln früh, also thaten auch wir. Als die ersten Sonnenstrahlen das Thal zum Eingange des Rothenthurmpasses erleuchteten und der erste Widerschein von dem Wasserspiegel des Zood, eines in den Alt einmündenden Flüßchens, uns traf, befanden wir uns schon aus der Höhe hinter Talmesch. Hier hielten wir, und im Anblick der herrlichen Landschaft beim Eingange in den Rothenthurmpaß versunken, angeregt durch die prächtigen Burgtrümmer der um 1350 erbauten Landskrone zur Linken, sangen wir nach der Weise „An der Saale fernem Strande“ das erst kürzlich von einem der Unsrigen gedichtete Turnlied:

„Laßt uns zu der Burgen Trümmer,
      Zu der Väter Stätten gehn,
Und auf ihrem Grabe schwören,
In der Lieder lauten Chören,
      Groß im Kampf, wie sie, zu stehn.“

Ein lauter Jubelruf erscholl uns nach Beendigung des Gesanges von der Höhe der Burg entgegen, und in demselben Augenblicke sahen wir von einem der alten Thürme unsere Vereinsfahne wehen, mit welcher einige tüchtige Turner rasch vorausgeeilt waren, um sie oben aufzupflanzen.

Wenn man, das nach dieser Richtung bin gelegene zweite walachische Grenzdorf Boitza hinter sich, dem alten, erst in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts wieder stärker befestigten Rothenthurmcastell naht, ist man einigermaßen enttäuscht. Von großartigen Befestigungen ist nichts zu sehen und nur der rothe, stärker befestigte Hauptthurm deutet auf die Absicht, einem feindlichen Heere Widerstand zu leisten. Auch hat die Neuzeit bewiesen, daß die Lage des Thurmes nicht hinreicht, den Engpaß zu sichern. Als im März 1849 Bem die Russen aus Hermannstadt und durch den Rothenthurmpaß zum Lande hinausgetrieben, vermochten diese ebensowenig sich in dem Castell einen Rückhalt zu sichern, wie einige Monate darauf die Ungarn den nun zur Vergeltung wieder auf sie andringenden Russen daselbst einen dauernden Widerstand entgegensetzen konnten. In früheren Jahrhunderten, in den Zeiten der Türkenkriege, da mochte es anders gewesen sein. Lange bevor die Türken Constantinopel erobert, schwärmten ihre verheerenden Schaaren schon aufwärts bis zur siebenbürgischen [158] und ungarischen Grenze. Oft drangen sie vom Rothenthurm, oft auch mit einem Umwege von Ungarn her in’s Sachsenland ein.

Gleich hinter dem Rothenthurm verengt sich der Paß, die herrliche Karolinenstraße, von Kaiser Karl dem Sechsten angelegt und nach ihm benannt, beginnt, dem Laufe der Aluta folgend, sich zwischen den Bergen hinzuziehen. Schäumend wälzt der Fluß seine vom Szeklerlande her in wachsender Macht andringenden Fluthen der Walachei zu, eine prächtige Wassermasse, leider aber der vielen Klippen und Untiefen ihres Bettes halber nicht schiffbar. Es mag den alten Sachsen vielen Schmerz bereitet haben, bei ihrem ausgebreiteten Handel ohne Wasserweg zur Donau geblieben zu sein. Wir älteren Turner wechselten manches Wort darüber, wie wir so, den Blick wendend, noch einmal der Landskrone ansichtig wurden und uns des geschichtlichen Momentes erinnerten, wo im Jahre 1376 der Landesbischof von Siebenbürgen, der Sachse Goeblinus, und der Castellan der Landskrone, Johann von Scherfeneck, auf Anordnung des Königs Ludwig und im Einverständniß mit der Gauversammlung, die Zünfte in den Städten Hermannstadt, Schäßburg, Mühlbach und Broos regelten. Damals zählte Hermannstadt neunzehn Zünfte mit fünfundzwanzig Gewerben, während Augsburg zu derselben Zeit nur sechszehn Zünfte mit zwanzig Gewerben besaß. Was die Hände in reichem Maße Nothwendiges und Kunstreiches zum Bedarf und im Ueberfluß schufen, ward im Handel nach allen Richtungen hin verwerthet. Die sächsischen Kaufleute standen in der Levante in Verkehr mit Geschäftsfreunden bis nach Aegypten hin, während ihre Handelsreisen sie gen Norden nach Polen und Deutschland und selbst auf eigenen Schiffen von Ofen nach Wien führten. Es muß ein herrliches, kräftiges, urwüchsig deutsches Volk gewesen sein, dieses alte siebenbürger Sachsenvolk, daß es so gleich geschickt das Schwert wie den Arbeitshammer zu führen verstand!

Die Wanderung durch den Paß nach der Contumaz gab den Turnern reiche Gelegenheit zu Ausbrüchen jugendlicher Heiterkeit. Alles, was nur an Liedern in der Kehle steckte, mußte heraus; rüstige Bergsteiger, wie die Siebenbürger sind, scheuten wir auch keine Abschweifungen von dem Wege, und oftmals überraschten uns an dessen Krümmungen, von den Höhen herab, die bewillkommnenden Rufe vorausgeeilter Gefährten. Endlich, gegen Mittag, langten wir an unserem Ziele an. Die Contumaz, deren Raine schon den Zweck andeutet, bildet die Grenzstation zwischen Siebenbürgen und der Walachei. Es ist ein aus einer Reihe größerer und kleinerer Gebäude für die Beamten, das Militär und für die der Beobachtung unterworfenen Reisenden bestehender Ort, dessen Bedeutung natürlich heute sich wenig mehr über die einer gewöhnlichen Mauthstation erbebt. Da der Grenzverkehr nicht gerade übermäßig stark ist, herrscht im Ganzen an der äußerst romantisch gelegenen Contumaz eine große Stille, welche wir siebenzig Turner nun in ganz ungewöhnlicher Weise unterbrachen. Ein Hauptreiz der jüngeren Turner lag, wie man sich denken kann, in dem Ueberschreiten des die eigentliche Grenze bildenden, in den Alt sich ergießenden Bächleins. Das war übrigens bald gethan. Ohne weitere Förmlichkeilen drangen wir in die zu jener Zeit noch äußerst gemüthliche Walachei ein, und schnurstracks ging es auf die Hütte des aus zehn Mann bestehenden walachischen Grenzpostens los.

Der Wachtposten ließ es ruhig geschehen, daß wir uns den vor der Thür angelehnten Gewehren nahten und ihn gewissermaßen bei Seite schoben; er ließ es ruhig geschehen, als wir unbekümmert die Gewehre in die Hand nahmen und unsere Meinungen über diesen Ausschuß englischen Fabrikats austauschten; er fand die Sache so wenig bemerkenswerth, daß er sogar Antheil an unserem Gespräch nahm. Die Walachei des Fürsten Bibesko war eben eine andere, als die des heutigen Fürsten Consa, ob darum glücklicher, ist noch eine andere Frage. Fürst Bibesko zahlte seinen Tribut der Pforte und – nahm seine Zahlung von Rußland. Im Lande ging es in einem althergebrachten orientalischen Schlendrian fort, der weder die von der Hörigkeit abgestumpften Bauern, noch die im Schlemmerleben entnervten Bojaren sonderlich befremdete. Der jungen Leute, welche in Paris und in Deutschland außer der Liebe zum Luxus auch eine solche zur Freiheit einsogen, gab es nicht viele; ein um so ein ehrenvolleres Zeugniß gebührt ihrer Energie, vermöge welcher sie im Jahre 1848 den Fürsten verjagen und an eine Regeneration ihres Vaterlandes denken konnten. Omer Pascha, der einstige österreichische Cadet-Feldwebel, machte zwar im Vereine mit den Russen der kurzen Blüthe walachischer Freiheit bald wieder ein Ende, aber der Anstoß war einmal gegeben, die Erinnerung an die Ypsilantis ohnedies noch nicht erloschen. Als dann Ludwig Napoleon zur Zeit des Krimkrieges seine Aufmerksamkeit auf die Donaufürstenthümer richtete und Oesterreich in unbegreiflicher Sorglosigkeit diese ihm damals gewogenen Nachbarländer dem aus die Einigung aller romanischen Stämme gerichteten französischen Einfluß überließ, konnte es dem die napoleonische Staatsweisheit nachahmenden Fürsten Consa mit leichter Mühe gelingen, das Jung-Walachenthum wenigstens für den Gedanken eines vereinigten moldau-walachischen Donaufürstenthums zu gewinnen. Welchen Antheil die Walachei oder Romanen, wie sie sich lieber nennen, des österreichischen Kaiserstaates an der Entwickelung dieses romanischen Reiches nehmen werden, das liegt noch im Schooße der Zukunft verborgen. – Doch die Politik ließ uns zu weit von der Beschreibung unserer Turnfabrt nach dem Rothenthurmpasse abschweifen. Möge es uns der Leser verzeihen, wir wären ja ohnehin am Ziele unserer Fahrt.




Herzliche Kinderstuben-Predigten.
Nr. 1. Gewöhnung zum Gesundsein.

„Jung gewohnt, alt gethan“, oder auch: „Jung gethan, alt gewohnt“; – „der alte Mann schmeckt nach dem jungen“; – „wie die Allen sungen, so zwitschern die Jungen“; – „der Apfel fällt nicht weit vom Stamme“; – „was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten“, oder: „was zum Dorn werden will, spizt sich bei Zeiten“; – „jung gebogen, alt erzogen“, – „es ist besser, das Kind weine, als die Mutter“ und „es ist besser, die Kinder bitten Dich, denn Du sie.“

Das sind zwar sehr alte, aber durchaus nicht veraltete Sprüchwörter, die leider viel zu wenig beberzigt werden, obschon sie, bei gehöriger Beachtung von Seiten der Eltern und Erzieher, zur Bildung ganz anderer, natürlich weit besserer und gesünderer Menschen beitragen würden, als die meisten jetzigen Menschen sind. Denn alle jene Sprüchwörter kommen darin überein, daß sie eine richtige Erziehung in der Jugend, und zwar hauptsächlich durch Gewöhnung und gutes Beispiel, als die Grundlage bezeichnen, aus welcher das Kind zum richtigen Menschen heranwächst. Leider existirt nun aber eine solche richtige Erziehung und darum auch eine richtige Menschheit in körperlicher und geistiger Hinsicht zur Zeit noch nicht. Die Ursache davon liegt hauptsächlich im unrichtigen und zwar im zu späten Anfange der Erziehung und im zu zeitigen Beginnrn der Verziehung. – „Wenn der Verstand kommt“ und „in der Schule“, behaupten einfältige Eltern, „werden sich schon die kleinen Ungezogenbeiten unseres sonst gescheidten Kindes (zu denen gar nicht seilen auch schon schlaue Mausereien und Lügen mit gerechnet werden) wieder verlieren.“ „Ja, mein Carl, der wird einmal den Lehrern tüchtig zu schaffen machen,“ sagte eine Mutter mit ganz freudiger Miene, weil ihre vierjährige Range niemals folgte und Alles zu ertrotzen wußte. Mit einem gefühlvollen Herzen oder weichen Gemüthe und „wenn Anna erst verständiger ist, wird sie schon das Weinen lassen,“ entschuldigte eine Mutter das bei fast jeder Gelegenheit, nur nicht beim Zanken der Mama, hervorbrechende Grinsen ihres kleinen Töchterchens. Anna ist jetzt zwölf Jahre alt und heult zur Verzweiflung ihrer Eltern immer noch.

Eltern! Erzieher! Laßt’s Euch doch gesagt sein und nehmt endlich einmal Lehre an: „der sogenannte Verstand fährt wahrlich nicht zu einer bestimmten Zeit in den Menschen hinein oder ist etwa gar angeboren und wacht dann zu einer bestimmten Zeit auf.“ – Gleich von der ersten Zeit des Gebens an, wo der Mensch noch ohne alles Bewußtsein ist, wird der Verstand mit dem Bewußtsein durch Eindrücke, welche die Außenwelt mittels der Sinne auf das Gehirn des Kindes macht, ganz allmählich hervorgebildet. Alles verständige Denken und Handeln ist ebenso wie das unvernünftige [159] und schlechte angewöhnt (anerzogen), und aus einem neugebornen Menschen kann, ebenso wie aus einer weichen Modellirmasse, je nachdem diese in die Hände eines Geschickten oder eines Stümpers geräth, ebensowohl etwas Gutes wie Schlechtes hervorgehen; er kann zu den allerverschiedenartigsten Glauben, Unglauben und Aberglauben gewöhnt werden. Kinder, die in ihren ersten vier bis sechs Lebensjahren – während welcher Zeit die meisten Eltern ihre Sprößlinge leider nur als ein liebes, herziges Spielzeug betrachten und behandeln, – jetzt schon zum Schlechten gewöhnt wurden, können weder in der Schule, noch in einem bessernden Rettungshause wieder gehörig zum Guten umerzogen werden. Verbrecher werden ebensowenig wie edle Menschen geboren, immer nur erzogen. Durch frühzeitige Gewöhnung kann ein Mensch, wenn er sonst nur mit gesunden Organen (Gehirn und Sinnesorganen) geboren wurde, in körperlicher, geistiger und moralischer Beziehung einen sehr hohen Grad von Vollkommenheit erreichen.

Aber, nochmals sei’s gesagt, schon von Geburt an und vor den Schuljahren muß die Grundlage zum spätern Gut-, Verständig- und Gesundsein gelegt werden. Die Hauptregel dabei ist: man halte Alles vom Kinde ab, an was es sich nicht gewöhnen soll; dagegen wiederhole man beharrlich immer und immer Das, was ihm zur andern Natur werden soll. Auch gewöhne man das Kind so zeitig als möglich daran, statt auf Hülfe anderswoher oder gar auf Glück und Zufall zu bauen, vielmehr selbst überall Hand anzulegen und auf sich selbst vertrauen zu lernen. Eltern, die nicht die Fähigkeit, Kenntniß und Zeit zur richtigen Pflege und Erziehung ihrer Kinder haben, sollten dieselben so zeitig als nur möglich guten Erziehern vom Fache übergeben[2]um tüchtige und gesunde Menschen aus ihnen erziehen zu lassen. Denn darin besteht wahrlich nicht die wahre Liebe der Eltern zu den Kindern, daß sie dieselben mit Güte überschütten, ihnen Alles an den Augen absehen, sie hätscheln und liebkosen, sondern darin, daß sie ihre Kinder, und sogar mit Strenge, wenn’s nöthig ist, zu brauchbaren und achtungswerthen Mitgliedern der Menschheit entweder selbst auferziehen oder von Andern ausbilden lassen.

Auch für das Gesundbleiben des Menschen in seinen spätern Lebensjahren läßt sich schon beim Kinde der erste Grund legen, indem man dasselbe seine Gesundheit gehörig zu wahren gewöhnt. Freilich müssen dann die Erzieher selbst nicht blos wissen, was dem menschlichen Körper nützt und was ihm schadet, sondern sie müssen dem Kinde auch in gesundheitlichen Dingen mit einem guten Beispiele vorangehen. Eltern, die in ihre Gesundheit hinein wüsten, werden auch in ihren Kindern Nachahmer finden. Und dann heißt es: Das (nämlich diese oder jene Unart, die aber nicht als solche, sondern als Eigenheit bezeichnet wird) hat die oder der Kleine von seinem Vater oder seiner Frau Mutter. Man meint damit, es ist diese und jene schlechte Manier angeerbt und angeboren, und dafür können weder der Unartige, noch seine Erzeuger etwas. Wenn freilich solche Ansichten bei der Erziehung des Menschen noch ferner fortwalten, dann, verlaß dich darauf, Leser, dann wird aus der Menschheit trotz aller Arten von Vereinen doch nichts Ordentliches. Aber es wird hoffentlich schon besser werden, wenn nur erst die Eltern als Erzieher ihre Pflichten besser kennen lernen und erfüllen wollen.

1. Das Erste und Nöthigste, was dem neugebornen Menschen zur Erhaltung seiner Existenz zukommen muß, ist neben athembarer Luft die richtige Nahrung, also Milch. Schon bei dieser Ernährung kann dem Säugling für die Zukunft Ordnung im Nahrungsgenusse angewöhnt werden, wodurch der Verdauugsapparat und überhaupt der Ernährungsprocess in gutem, also heilsamem Zustande erhalten wird. Zu diesem Zwecke gebe man dem Säugling, und zwar schon wenige Wochen nach seiner Geburt, nur zu ganz bestimmten Zeiten zu trinken, etwa viermal täglich (Morgens in der Frühe, um Mittag, gegen Abend und bei Anbruch der Nacht); des Nachts aber, wo sich die Ernährerin durch Schlaf stärken soll, gar nicht. Man lasse sich jetzt durch das Schreien des Kindes ja nicht in dieser Ordnung stören, forsche aber nach der Ursache dieses Schreiens, da diese eine andere als Hunger und zu entfernen sein könnte (z. B. Kälte, Nässe, Blähungen, Verstopfung, unbequeme Lage, Stiche von Nadeln etc.). Niemals vergesse man, daß beim Kinde, wenn es durch Schreien seine Bedürfnisse sogleich befriedigt fühlt, das Schreien zur Erreichung seines Willens sehr bald zur Gewohnheit wird und nun schwer wieder abzugewöhnen ist. Zur bestimmten Zeit mag dann aber das Kind, in Absätzen, soviel trinken, als es nur immer kann und will, jedoch gewöhne man dasselbe ja nicht daran, beim Trinken zwischendurch ein Weilchen zu schlafen.

Ist nun schon beim Säugling die Gewöhnung an eine bestimmte Trinkzeit für die Verdauung von großem Vortheile, so ist auf eine regelmäßige Essenszeit noch weit mehr beim Kinde nach dem Säuglingsalter zu halten. Ein Kind, das zu essen bekommt, wenn es will, gewöhnt sich sehr leicht das Naschen an und seine Verdauung geräth dadurch sehr leicht in Unordnung. Pflanzt sich dann diese schlechte Angewohnheit in die spätern Lebensjahre fort, so erzeugt hier das unregelmäßige Essen und Trinken sehr beschwerliche und verstimmende Unterleibsbeschwerden. – Sitzt das Kind beim Essen mit am Familientische, so erlaube man demselben ja nicht etwa, von allen Speisen zu naschen; es soll nicht von Allem haben, was die Erwachsenen genießen, sondern hat sich streng an die kindliche Nahrung zu halten!

2. So wie beim Kinde das „Wann und Was genossen werden soll“ nicht nur Einfluß auf die Gesundheit des kindlichen Körpers, sondern auch auf die Essgewohnheit des Erwachsenen haben, so ist nun auch das „Wie genossen wird“ wohl zu beachten. Erlaubt man dem Kinde hastig zu essen, die festen Nahrungsmittel nicht gehörig zu zerkauen, sondern noch in größeren Stücken zu verschlucken, machen’s die Erwachsenen ebenso, so wird diese für den Verdauungsapparat, vorzugsweise für den Magen unheilvolle Speisemethode sicherlich vom Kinde auch in die spätere Lebenszeit mit hinübergenommen. Und daher stammen denn auch zum größten Theile die so sehr häufigen, schmerzhaften und gefährlichen Magenleiden der Erwachsenen. Die meisten Menschen so ganz naturwidrig essen zu sehen und dann auch noch über ihren schlechten Magen jämmerlich klagen zu hören, das kann den Gesundheitslehrer in Verzweiflung bringen.

3. Zum ordentlichen Zerkauen der Speisen gehören nun aber gute Zähne, nicht aber solche häßliche, abgebrochene und zerfressene, grüne und schwarze, häufig schmerzende und übelriechende Zahnsturzel und Zahnwurzelreste, wie sie in dem Munde so vieler Erwachsener stehen. Und was trägt denn die Schuld an dieser das Küssen verleidenden Zahnwüstenei? Sie stammt in der Regel schon aus der Jugend und ist die Folge einer vernachlässigten oder falschen Zahnpflege, nicht aber die Folge vom Zerbeißen von Zucker oder Knacken von Nüssen. Wenn beim Kinde die Milchzähne kaum aus dem Zahnfleische herausgebrochen sind, muß dasselbe schon zur Reinigung derselben mittelst einer Zahnbürste und Zahnpulvers angehalten werden, trotzdem daß diese Zähne später ausfallen und durch neue (bleibende) ersetzt werden. Bei diesen letzteren Zähnen reicht aber zum Gesundbleiben das bloße Bürsten mit Wasser oder Zahnnpulver nicht aus, es muß durchaus noch ein spirituöses Zahnputzmittel (kölnisches Wasser, Alkohol mit Aether) angewendet und von Zeit zu Zeit eine Reinigung der Zähne durch sanftes Abschaben des besonders in der Nähe des Zahnfleisches und auf den Kauflächen der Zahnkronen ansitzenden grünen oder schwärzlichen Zahnsteines vorgenommen werden. Beginnt eine solche Behandlnug der Zähne schon in der Jugend, so würde man bei sehr vielen Erwachsenen den Mund mit weit mehr echten und nicht mit soviel falschen Zahnperlen garnirt sehen; auch würde vielen das sogenannte Zahnreißen – was aber gar kein Reissen, sondern nur ein vom Nerv eines hohlen Zahnes auf die Nerven der gesunden Zähne übergestrahlter Schmerz ist – nicht so häufig das Leben vergällen. Wie viele Mütter kränken sich nicht im Stillen über den auf dem Balle kaum zu lächeln wagenden Mund ihrer sonst hübschen Töchterchen, weil beim Oeffnen der rosigen Lippen ein garstiges Zahnwerk dem Tänzer entgegenstarrt. Daß sich die Frau Mamas selbst durch Unachtsamkeit auf die kindlichen Zähne diesen Zahnkummer bereitet haben, werden sie natürlich niemals zugeben. Und doch ist es so.

4. Zum unheilbringenden Trunke, nicht aber zum heilsamen Trinken, wird gar nicht selten der Grund schon beim Kinde gelegt. Denn wenn wir auch vom Branntweingenuss absehen wollen, so gewöhnen doch gar nicht wenig Eltern ihre Kinder viel zu [160] an Lagerbier und Wein. Milch und Wasser sei das kindliche Getränk, und da unser Körper zum allergrößten Theile aus Wasser besteht und zu seinem Gesundbleiben eine ziemlich große Menge Wassers einnehmen muß, so lasse man dem Kinde schon das Wassertrinken (besonders beim Mittag- und Abendessen) lieb gewinnen, damit dem Erwachsenen dann nicht aus Scheu vor’m Wasser ein dickflüssiges, träge fließendes Blut in den Adern rinnt, was gar zu gern Stockungen macht. – Bei dieser Gelegenbeit wollen wir auch den Eltern, die es, da sie zu Hause Wärterinnen haben, gar nicht nöthig hätten, ihre Kinder überall mit sich herumzuschleppen, und dieselben doch mit zu Biere in Locale voller Tabaksrauch nehmen, nicht bergen, daß dies in doppelter Hinsicht ein höchst tadelnswerthes Gebahren ist. Denn zuvörderst kann den Kindern der zumal längere Aufenthalt in solchen rauchigen Bierlocalen ebenso für die Gegenwart wie für die Zukunft sehr nachtheilig werden; sodann sind aber auch solche kindliche Kneipgenies ihrer Unarten wegen stets allen Biergästen ein Gräuel, zumal wenn sich die Eltern neben dem Biertöpfchen noch mit lauten Erziehungsstudien befassen.

Bis jetzt ist gezeigt worden, welchen Einfluß gewisse aus der Jugend stammende Gewohnheiten beim Essen und Trinken auf den Gesundheitszustand des Erwachsenen ausüben können. Ebenso muß nun aber auch auf die Luft, das Licht und die Wärme schon in der Jugend Rücksicht genommen werden, wenn nicht Verstöße gegen diese Mittel zum Leben später ein ungesundes Leben nach sich ziehen sollen. Und davon im nächsten Aufsatz.

Bock.




Blätter und Blüthen.

Ein Nonplusultra von Diebeskunst. So weit es die Londoner Diebe in der Kunst des Angriffs auf das Eigenthum gebracht, ebenso haben naturgemäß die Londoner Eigenthümer die Mittel und Wege ausgebildet, sich gegen dergleichen Angriffe zu schützen, besonders in der City, wo auf einer englischen Quatralmeile die größten Schätze der Welt dicht neben-, über- und untereinander aufgehäuft sind. Was Schloß und Riegel, feuer- und diebesfeste Eisenkasten Extra Vorsichtsmaßregeln vermögen, das schien Alles im höchsten und vollkommensten Grade angewandt zu sein. Und doch kamen wieder und immer wieder wahre Helden- und Geniethaten von Einbrüchen an’s Tageslicht. Aber das Großartigste und Entsetzlichste für die Eigenthümer wurde neulich von einem Sonnabend an bis zum Montag früh in dem Juwelierladen des Herrn Walker in Cornhill, der eigentlichen Gold- und Edelsteinstraße in der City, geleistet. Publicum und Presse geriiethen in die größte Aufregung. Kaufleute, Fabrikanten, City Obrigkeiten, Polizeibebörden hielten stürmische Versammlungen und Reden, Alles war wochenlang in Bestürzung und Aufruhr. Nach diesem Einbruche gilt nichts mehr für sicher und man verlangt andere, stärkere, zahlreichere, wachsamere Polizei, während die City Obrigkeit gegen solche Beschuldigungen die Eigenthümer selbst der Nachlässigkeit bezichtigt. Der Scandal war groß und hat sich noch nicht beruhigt. City Obrigkeit, Kaufleute und der Bestohlene haben zusammen einen Preis von mehr als fünfzehntausend Thalern auf Entdeckung der Einbruchsdiebe gesetzt, doch hatte man bis jetzt (Mitte Februar) noch keine Spur gefunden.

Der Werth des gestohlenen Gutes beträgt sechstausend Pfund oder vierzigtausend Thaler.

Das Entsetzliche dabei war, daß diese Werthe mitten aus dem besonders geschützten und gesicherten Laden, mitten unter besonders wachender Polizei, mitten in der dichten City aus der festesten Geldspinde herausgebrochen und ungestört weggeschafft wurden. Fast alle Bureaus und Läden der City werden des Nachts ohne Menschen darin gelassen, sehr sicher und fest verschlossen und der ununterbrochcn gegen Diebe und Einbrecher wachenden Polizei anvertraut. Der Juwelier Walker hatte außerdem als besondere Vorsichtsmaßregel den Vor- und Hinterladen so eingerichtet, daß dieselben, während der Nacht durchweg glänzend mit Gas erleuchtet, durch Oeffnungen in den eisernen Schaufensterläden von dem Auge der Polizei jederzeit bis in jeden Winkel übersehen werden konnten. Entsprechend angebrachte Spiegel reflectirten jeden Theil des Ladens, der nicht direct durch eine der Oeffnungen zu sehen war, so daß jede Gestalt und Bewegung darin von außen bemerkbar und ein Versteck nicht möglich wurde. Ausgelöschte Gasflammen würden die Anwesenheit von Dieben sofort um so sicherer verrathen haben.

Außerdem war im Innern Alles fest verschlossen und die wertvollsten Kostbarkeiten ruhten doppelt und dreifach sicher in einem diebes- und feuerfesten eisernen Geldschranke. Gleichwohl sind Diebe nicht nur in den Laden, sondern auch in diesen Geldschrank eingebrochen und haben durch Decken und Böden des Hauses Oeffnungen gebohrt und sind hinein- und davongekommen, nachdem sie jedenfalls die sechsunddreißig Stunden vom Sonnabend bis zum Montag früh wie Helden und Künstler gearbeitet. Um das Technische und Tüchtige ihrer Leistung zu würdigen, muß man sich Umstände und Localität möglichst veranschaulichen.

Der Laden Walker’s befindet sich zu ebener Erde in einem ganz aus Läden, Bureaus und Geschäftslocalen bestehenden Hause, so daß des Nachts niemand darin schläft. Ganz oben in der höchsten Etage ist ein photographisches Atelier, das vom übrigen Hause durch eigene Treppen und Flure getrennt ist. Die zweite und erste Etage bestehen nur aus verschiedenen kaufmännischen Bureaus. Alle diese Theile sind am Tage durch eine offene Thür an der Seite in einer kleinen Nebenstraße zugänglich. Das Erdgeschoß wird auf der einen Seite von Walkers Laden, auf der andern von dem Geschäft eines „Kaufmann Schneiders“ ausgefüllt, der das ganze Geschoß darunter als Zuschneide-Werkstatt benützt. Der Laden Walker’s hat zwei Straßenseiten, eine nach Cornhill, die andere nach einer engen Nebenstraße. Von beiden Seiten konnte man in dem geschlossenen und dann stets hellerleuchteten Laden das ganze Innere übersehen, und die Policemen, die dem Gesetze nach alle elf Minuten ihr ganzes Gebiet durchwandern und alle Sicherheitsmittel an den Läden untersuchen sollen, hatten sich noch besonders verpflichtet, den Laden Walker’s jedesmal durch die Oeffnungen zu inspiciren.

So schien Einbruch oder wenigstens erfolgreicher Einbruch und Raub unmöglich.

Allerdings war die Seitentreppe zu den Bureaus und dem Photographen den ganzen Tag für Jedermann zugänglich, aber Walker und seine Untergebenen verließen und schlossen das Haus nie eher, als bis der Photograph und die übrigen Geschäftsleute ihre Locale geschlossen und das Haus verlassen hatten. Gleichwohl bleibt keine andere Annahme übrig, als daß an jenem verhängnißvollen Sonnabend sich die Diebe und Einbrecher irgendwie verborgen hatten und sich einschließen ließen. Als sie im Besitz des geschlossenen Hauses waren, hatten sie sechsunddreißig Stunden vor sich, die sie, wie genaue Untersuchungen ergaben, auf folgende Weise benutzt haben.

Sie hatten sich im Zimmer unter dem Atelier des Photographen versteckt und einschließen lassen. Von da aus brachen sie in das Bureau darunter im ersten Flur ein. Hier gelang es ihnen, durch vortreffliche Instrumente die feuerfeste Geldspinde zu öffnen und das zufällig wenige Geld darin herauszunehmen. Aergerlich über die geringe Ernte beschlossen sie, die Gelegenheit weiter auszubeuten. Sie wußten, daß unter ihnen Massen von Gold- und Silberschätzen, wenn auch hell beleuchtet und von außen sichtbar, aufgestapelt waren. Unter dem Bureau, in welchem sie waren, befindet sich die Schneider-Werkstatt (oder vielmehr der Kleiderladen). Sie arbeiteten ein Loch durch die Decke und stiegen hinunter in diesen dunkeln Raum. Nun befanden sie sich neben den Schätzen Walker’s, durch eine Wand getrennt. Durch diese versuchten sie einzubrechen, aber die innere Seite des Walker’schen Ladens war mit Eisen beschlagen, so daß sie den Versuch aufgaben, aber nur diesen Weg. Sie machten nun einen originellen, wenn auch mühsamen Umweg. Sie hieben ein Loch in den Boden unter ihnen, durch welches sie in den unterirdischen Zuschneideraum, der unter dem ganzen Hause sich ausdehnt, hinabstiegen. Da sie jedenfalls Bescheid wußten, wählten sie auch die rechte Stelle für eine Oeffnung durch die Decke nach dem Laden Walker’s und zwar in den hintern Theil desselben dicht hinter einer Arbeitsbank am Fenster, hinter welcher, just der einzigen Stelle, sie hinauskriechen und sich verbergen konnten. In der Nähe befindet sich die große diebs- und feuerfeste Geld- und Pretiosenspinde, aber im vollen Lichte des Gases und von zwei verschiedenen Außenseiten vollauf sichtbar.

Es ist ermittelt worden, wie sie die angeblich keiner menschlichen Gewalt und List weichende Thür des Geld- und Pretiosenschrankes geöffnet haben, aber empörend und unerklärlich ist es geblieben, wie sie im vollen Lichte, von außen den alle elf Minuten vorbei inspicirenden Policemen unsichtbar geblieben sein können, zumal da sie unter allen Umständen viele Stunden zu dieser Arbeit brauchten. Wahrscheinlich haben Einer oder Zwei im dunkeln Untergeschoß zum Fenster hinaus gewacht und den jedesmal kommenden Policeman durch ein Zeichen angekündigt, so daß sich die Künstler oben jedesmal während der Minute der Gefahr hinter die Arbeitsbank verkrochen. Die übrige Zeit benutzten sie, die feuer- und diebsfeste Geltspinde zu öffnen. Zwischen der Thür derselben und dem Rande war eine Spur von Ritze, aber nicht so groß, um ein Blättchen Briefpapier dazwischen schieben zu können. Allein mit besonders dazu fabricirten, sehr feinen Stahlmeißeln, deren eine Seite feilenartig gefurcht ist (um das Zurückspringen zu verhüten), läßt sich diese feine Ritze zunächst erweitern. Der erste Meißel fängt dünn wie ein Stückchen Papier an und steigt bis zur Dicke eines Achtelzolls. Damit wird die äußere Gewandung der Feuerfesten ein Achtelzoll nach außen gehämmert. Dann folgt ein zweiter Meißel bis zur Dicke eines Viertelzolls, dann ein dritter etc. immer stärker, bis Raum ist für die gußstählerne Brechstange und deren Hebelkraft. Der eine Arm des Hebels ist sehr kurz, der andere, womit gehoben wird, verhältnißmäßig sehr lang, also einer ungeheueren Gewalt fähig. Traute sich doch Archimedes zu, allein mit bloßer Hebelkraft die ganze Erde aus ihrer Bahn zu schleudern! Eine gußeiserne Brechstange, einen halben Zoll nach innen getrieben und drei Fuß lang, giebt einem Menschen von einhundertachtundsechzig Pfund Schwere, der mit ganzer Gewalt sein eigenes Gewicht an den Hebelarm hängt, ein Gewicht von 18,544 Pfund, dem nichts Feuer- und Diebsfestes widerstehen kann.

Mit solcher Hebelkraft sprengten sie die Feuer- und Diebesfeste, nahmen für 40,000 Thaler Waaren heraus und zogen sich sicher mit Strickleitern und einer geöffneten, dann wieder eingeklinkten Seitenthür in bescheidene, bis jetzt undurchdringliche Verborgenheit zurück, es den geleerten Spinden, den Löchern durch die Decken und der zurückgebliebenen feinen Strickleiter überlassend, von ihren unerhörten Heldenthaten und Kunstwerken Zeugniß abzulegen. Die ganze City ist nun in Angst um ihr Eigenthum. Dabei kommen die bis jetzt sichersten Vorsichtsmaßregeln, die man in der an Kostbarkeiten reichsten Straße zu New-York, Wallstreet, anwendet, zur Sprache. Man läßt dort die kostbarsten Läden mit offenen Spiegelscheiben in brillantester Beleuchtung in der bis zur Tageshelle erleuchteten Straße offen stehen, so daß jedes Gesicht in denselben, jede Gestalt in einem solchen Laden in vollem Glanze gesehen werden kann. Mehrere Wächter sind unsichtbar im Dunkeln einiger Häuser placirt. Glas und Gas sind die sichersten Wächter, sagen die Amerikaner. Und in dieser Wallstreet hat noch Niemand des Nachts einen Einbruch gewagt.


  1. In manchen Gegenden Mitteldeutschlands herrscht der schöne Gebrauch, daß die Amme die ersten Schuhe ihres Pfleglins sorgsam aufbewahrt, um sie dereinst an dessen Hochzeitstage – sei es nun dem Bräutigam oder der Braut – als sinnige Gabe darzubringen.
    Die Redaction.
  2. Bei dieser Gelegenheit will ich mehrere an mich gestellte Fragen nach empfehlenswerthen Erziehungsanstalten für größere, sowie auch für kleine Kinder dahin beantworten, daß von mir die Anstalt des Herrn Director Freygang in Dresden gekannt und wegen ihrer naturgemäßen Einrichtungen geschätzt wird.