Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[161]

No. 11. 1865.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Das Geheimniß des Indianers.
Nach Mittheilung eines deutsch-amerikanischen Arztes.
(Fortsetzung.)

Eines Tages war Werner auf seinem Bureau damit beschäftigt, ein Conglomerat von Quarzkristallen, das die Arbeiter in einer der Gruben gefunden hatten, mittels der Lupe und des Hammers zu untersuchen. Er zerschlug einen Theil der Masse und fand zu seinem freudigen Erstaunen mitten zwischen dem Gestein eine vollwichtige Silberdruse eingebettet, welche er dem Reconvalescenten, der neugierig dicht hinter ihm stand, mit den Worten zeigte: „Ich wollte, ich hätte einen ganzen Schacht voll davon, Tawanka, dann solltet Ihr einmal sehen, wie schnell ich diesen gierigen Yankees den Rücken zeigen wollte.“

Bei diesem unwillkürlichen Ausrufe seines Freundes überflog ein eigenthümliches Lächeln die dunkeln Züge des Häuptlings, und seine braune Hand sanft auf die Schulter Werners legend, sagte er würdevoll: „Wenn solches Gestein Euer Herz erfreut, so kann ich Euch einen Ort weisen, wo Ihr zwölf Monde lang täglich davon herunterschlagen könnt, ohne daß es merklich abnähme.“

„Ihr wollt doch damit nicht sagen, Tawanka.“ rief Werner aus, „daß Ihr eine Silbermine kennt?“

„Gewiß!“ erwiderte der Häuptling. „Manitou hat eine solche meinem Großvater gezeigt, als er einst an einer wüsten Insel auf dem großen See landete. Dieser hat die Kunde auf meinen Vater vererbt, und mein Vater hat mich selbst an den Ort geführt, als die ersten weisen Männer auf den großen Canoes in die Gegend kamen. Da die Blaßgesichter gierig nach Schätzen spähten, so befahl mir mein Vater, die Felsspalte, welche zu dem weißen Erze führt, mit Steinen und Geröll auszufüllen, um sie unkenntlich zu machen. Er glaubte nämlich, daß die Weißen, wenn sie das weiße Metall, welches sie suchten, nicht finden könnten, wieder abziehen und die Rothhäute in ungestörtem Besitz des Landes lassen würden. Es ist aber anders gekommen. Sie entdeckten die Kupferfelsen bei Keweena, und seit der Zeit strömen sie in Massen herbei und verdrängen uns von den Jagdgründen, die unsere Väter als Geschenk vom großen Geiste erhalten haben.“

„Tawanka, wollt Ihr mir die Stelle zeigen?“ fragte der Deutsche.

„Wenn Ihr den Yankees nichts davon sagen wollt, so werde ich es thun,“ antwortete der Häuptling. Mein Vater nahm mir nur das Versprechen ab, den Schatz vor ihnen, den Abkömmlingen des Teufels, zu verbergen. Ihr seid aber kein Yankee und habt Gutes an mir und meinem Stamme gethan, deshalb will ich Euch das weiße Gestein zeigen, wenn es Euch glücklich macht. Sobald die Sonne wieder hoch steigt und das Eis an der Küste bricht, dann haltet Euch bereit. Dann werden auch Tawanka’s Glieder wieder kräftig genug sein, um die Berge besteigen und das Ruder führen zu können. Aber seid still und verschwiegen. wie der rothe Mann: denn erfahren die Yankees etwas von dem, was wir vorhaben, so werden ihre List und Tücke Mittel genug finden, Euch zu berauben oder Euch den Besitz streitig zu machen.“

„Aber, Tawanka, irrt Ihr Euch nicht?“ sagte Werner, „das weiße Gestein, welches Ihr damals gesehen, war vielleicht nur Bleierz, das Ihr für Silber gehalten habt.“

„Ein Sagamore der Odschibbewas sagt nie etwas, was er nicht beweisen könnte. Wenn sein Auge so scharf war, daß er die falschen Dollars, womit der große Häuptling der Pelzhändler (Astor) die Rothäute für gelieferte Felle zu bezahlen pflegte, von den echten spanischen Pfeilerstücken (Piastern) unterscheiden konnte, so wird er auch beurtheilen können, ob das Gestein, welches er damals sah, mit Silber oder mit Blei gefüllt war.“

Werner stellte noch verschiedene Fragen an den Häuptling, welche dieser mit solcher Sicherheit und Klarheit beantwortete, daß jeder Zweifel an dem Vorhandensein des edeln Metalls, und zwar in großen Massen, wegfallen mußte. Nur über die Localität der Silbermine konnte er nichts in Erfahrung bringen, da der schweigsame Indianer darauf bestand, ihm erst im nächsten Frühjahr, wann der See wieder offen sei, die nöthigen Aufklärungen zu geben. Bis dahin, bat ihn Tawanka, solle er das Geheimniß tief in seiner Brust verbergen und es so einzurichten suchen, daß er sich dann dem Dienste der Compagnie auf einige Wochen entziehen könne.

Einige Wochen später kehrte der nun vollkommen wieder hergestellte Häuptling nach dem Indianerdorfe zurück, reich beschenkt mit Lebensmitteln, die er im Auftrage Werners unter seine darbenden Stammgenossen vertheilen sollte. Bei dem Abschiede sprach er zu dem Deutschen: „Wenn die Schneegänse wieder nach Norden ziehen und der Whippoorwill sein Nest zu bauen anfängt, dann macht Euch frei und haltet Euch bereit, damit Ihr seht, wie Tawanka sein Wort hält. Aber fesselt Eure Zunge, auf daß sie Euch kein Unglück bringt.“

Die Aufschlüsse über die geheimnißvolle Silbermine ließen Werner keine Ruhe, da er guten Grund hatte, zu glauben, daß der Indianer es ehrlich mit ihm meine. Sein Leben in der Wildniß und der gezwungene Umgang mit vorurtheilsvollen Amerikanern und ungebildeten irischen und englischen Arbeitern trugen freilich nicht dazu bei, ihm seine Stellung so angenehm zu machen, um die Entbehrung der gewöhnten Genüsse der civilisirten Welt verschmerzen zu können. Auch das Heimweh fing an, sich bei ihm [162] zu rühren, und der Gedanke an die Möglichkeit, durch schnell erworbene Reichthümer sich und die Seinen im fernen Vaterlande unabhängig zu machen, hatte so viel Lockendes für ihn, daß er kaum die Zeit abwarten konnte, die Tawanka festgesetzt hatte, um die mysteriöse Expedition zu unternehmen. Jedenfalls aber sah er ein, daß er allein nicht im Stande sei, die zu erwartenden Schätze auszubeuten, und daß er zu diesem Zwecke sich mit einem Compagnon associiren müsse, der die ihm selbst fehlenden Geldmittel vorstrecken könne, um die Mine mit Erfolg zu bearbeiten, denn er erkannte die Wahrheit des spanischen Sprüchworts zu gut, „daß man in ein Silberbergwerk eine Goldquelle leiten müsse, um es einträglich zu machen.“ Unwillkürlich fiel ihm bei diesen Reflexionen Mr. Jones ein, der ihm ja schon manchen guten Rath gegeben und das größte Interesse für ihn zur Schau getragen hatte. Diesen wollte er, falls derselbe wieder nach Ontonagon käme, trotz des eindringlichen Verbots des Indianers in das Geheimniß ziehen, um mit seiner Hülfe und Geschäftskenntniß das Unternehmen zu beginnen. Freilich warnte ihn eine innere Stimme vor dem aufdringlichen Amerikaner, dessen lauernde Physiognomie gleich bei dem ersten Anblick einen unangenehmen Eindruck auf ihn gemacht hatte, indessen kannte Werner Niemanden anders, dem er sich hätte anvertrauen mögen, und Jones hatte ja durch den Umstand, daß er den Deutschen von dem gefährdeten Theile des Schiffes bei Gelegenheit jenes Sturmes fortgerissen hatte, hinlänglich bewiesen, daß er dem unerfahrenen Ausländer wohlwollte. –

Das Frühjahr war gekommen und mit ihm die ersehnte Zeit der Expedition. Werner hatte von seiner Compagnie auf einige Wochen Urlaub erhalten, und Tawanka wartete an einer kleinen Bucht nicht weit von Ontonagon mit sechs seiner Krieger auf die Ankunft seines weißen Freundes. Sie hatten ein großes, festes Canoe, ein sogenanntes Mackinawboot, construirt und mit den nöthigen Vorräthen versehen, da der Ertrag der Jagd und Fischerei an den wüsten Küsten des Oberen Sees im Voraus nicht zu berechnen ist. Unmittelbar nach der Ankunft des Deutschen, der sich mit Pickaxt und Steinhammer versehen hatte, stießen sie ab, obgleich der Anblick des Himmels und des Wassers drohend genug war, gerade, als wenn der Winter noch einmal sein Recht wahren wollte. Aber es war jetzt zu spät, um einen andern Entschluß zu fassen und die Reise aufzuschieben, und die Odschibbewas kämpften nun gegen Wellen und Wind mit demselben Muthe, mit welchem ihre Väter einst den Kriegspfad betreten hatten. Ehe die Sonne aufstieg, lagen sie schon auf ihren Rudern, und keine See war so rauh, daß sie ihr nicht getrotzt hätten, obgleich die kurzen, sich überstürzenden Wellen rings um sie kochten und ihre Gesichter mit blendendem Schaum überspritzten, den der bitter kalte Nordwind in scharfe Eistheilchen verwandelte.

Es war der fünfte Morgen nach ihrer Abreise, als sie bei den matten Strahlen des untergehenden Mondes noch vor Tagesanbruch die südliche Küste des obern Sees im Nebel versinken sahen und noch vor Abend den Ort ihrer Bestimmung zu erreichen hofften, weil hier am Westende des Sees die Ufer sich schon einander nähern. Die Luft war außerordentlich kalt, denn der Wind, welcher die Hände, die das Ruder führten, fast erstarren machte, kam direct von den Eisfeldern des Nordpols. Aber furchtlos fuhren sie weiter und setzten mit dem scharfgebauten Canoe wie auf einem Rennpferde über die zerrissenen Kämme der Wellen, so daß das Kielwasser hoch aufschäumte. Mit der zunehmenden Tageshelle nahm auch der Wind zu, bis er gegen Mittag zu einer gewaltigen Böe anwuchs, in deren Gefolge sich dicke Schneewolken entluden und die Flocken so dicht herunterfielen, daß sich die Rudernden kaum mehr erkennen konnten. Sie waren jetzt mitten auf dem See, hatten keine Landmarken mehr in Sicht und würden bei dem furchtbaren Aufruhr und Tumult der Elemente gewiß die Richtung verloren haben, wenn nicht Tawanka, der vorn wie ein zweiter Frithjof im Buge stand, aus der eisigen Kälte des Windes die Richtung desselben beurtheilend, mit ausgestreckter Rechten den einzuschlagenden Curs angegeben hätte.

Vorwärts ging es trotz Sturmwind und Wellen, und eine Meile nach der andern wurde zurückgelegt, bis der Schnee, der immer dichter fiel und ihnen alle Aussicht nahm, jede Falte ihrer Kleider ausfüllte und sich hoch am Boden des Bootes anhäufte, während der Orkan von Zeit zu Zeit mit heftigern Stößen einsetzte, welche die Wellen des Sees so in Aufruhr brachten, daß sie jeden Augenblick über dem schwachen Canoe zusammenzubrechen drohten. Schweigsam und stetig, wie bronzefarbige Automaten, ruderten die Indianer weiter, ihren Häuptling unverwandt in das Auge fassend, dessen herculische Figur wie ein riesenhafter Schatten im Vordertheil hervorragte, als ein plötzlicher Stoß sie von ihren Sitzen warf und eine gewaltige Welle, vom Bug nach dem Sterne durch das Boot stürzend, dasselbe gewissermaßen unter ihren Füßen wegriß und die ganze Bemannung nebst Werner mit unwiderstehlicher Gewalt in die kochende Brandung stürzte.

Die Katastrophe kam so plötzlich und das Wirbeln der Schneemassen, das Heulen des Windes und das Brausen der Wogen wirkten so betäubend, daß Werner im ersten Augenblick kaum seine gefährliche Lage inne wurde, allein instinctmäßig begann er zu schwimmen, ehe die nächste Welle ihn niederdrücken konnte. Rings um ihn her tauchten die Indianer wie Ottern auf, aber er konnte sie vor den dicht niederfallenden Schneeflocken nicht sehen. Auch hörte er laute Ausrufe in der Odschibbewasprache, wie sie in rascher Folge einander zuschrieen, aber das Brüllen der Brandung und die mangelhafte Kenntniß des Idioms erlaubten ihm nicht, diese Worte zu verstehen. Halb erstarrt in dem eisigen Wasser, geblendet durch den um sein Haupt wirbelnden Schnee, wußte er nicht, in welcher Richtung er schwimmen sollte, um das Ufer zu erreichen. Schon gab er die Hoffnung auf, daß sein schwacher Hülferuf gehört würde, und schon schwebten die trüben Bilder der Vergangenheit, ein kurzer Abriß seines ganzen Lebens, wie das bei Ertrinkenden der Fall zu sein pflegt, vor seinem geistigen Auge, als er auf einmal die Stimmen der Indianer deutlicher zu hören glaubte. Sie schienen einander zuzurufen, um nicht auseinander zu kommen, und diese rauhen Kehllaute hatten etwas so wunderbar Ermuthigendes für den fast den Kampf mit den Wellen aufgebenden Werner, daß er seine letzten Kräfte zusammenraffte und einen hellen, weithin tönenden Verzweiflungsschrei ausstieß. Augenblicklich wurde dieser durch eine Menge Stimmen beantwortet und wenige Minuten nachher schon viel näher durch einen zweiten einstimmigen Zuruf, der dem Deutschen wie himmlische Musik erklang. Unmittelbar darauf schwamm Tawanka bereits an seiner Seite, der ihm jede mögliche Unterstützung gewährte, bis noch ein paar seiner Leute herzukamen, mit deren Hülfe es nun nicht mehr schwer fiel, den erstarrten und abgematteten Werner auf dem Felsen, an welchem vor einer Viertelstunde das Canoe gestrandet war und wohin die falkenäugigen Indianer sich sofort zu retten gewußt hatten, in Sicherheit zu bringen.

Nichts kann die erhabene Schönheit eines hellen Frühlingstages an den Gestaden des Oberen Sees übertreffen, wenn der warme Südwind, der über den mexicanischen Golf wegstreichend tropische Gluth eingesogen, die Eisfelder von den Küsten abgelöst hat. Der See ist dann ruhig und glatt wie ein Spiegel und mit einer Menge von größern und kleinern, in allen Farben des Prisma schimmernden Eisbergen bedeckt, welche die wunderbarsten und pikantesten Formen zeigen. Die tiefste Stille herrscht über den schweigenden, leicht gekräuselten Gewässern, nur dann und wann unterbrochen von dem donnerähnlichen Krachen der Gletscher, mit welchen die höchsten Berge des Ufers gekrönt sind, von dem rauhen Geschrei des weißköpfigen Adlers, der in Spiralen gegen den blauen Aether aufsteigt, und von den heisern Rufen der Kraniche und schwarzen Schwäne, welche auf den niedrigern Klippen ihre alten Nester suchen. Diese Scenerie und diese Eindrücke einer wilden Natur sind einzig schön in ihrer Art, sodaß Niemand, der sie einmal empfunden, sie vergessen wird. Aber es existirt auch eine Kehrseite dieses schönen Gemäldes, eines Bildes, wie es der genialste Maler nicht schaffen kann. Eine kurze Spanne Zeit genügt, um den Anblick der ganzen Gegend umzugestalten. Eisige Windstöße fahren jählings von den ewigen Schneefeldern des Nordpols hinunter, dicker, undurchdringlicher Nebel mit seinem Gefolge durcheinander wirbelnder weißer Flocken steigt auf, die in purpurnen Tinten schimmernden Gletscher verbergen sich im dunkeln, drohenden Gewölk, und von dem eben noch so prachtvollen Panorama bleibt Nichts zurück, als ein beschränkter Gesichtskreis von ein paar Quadratruthen, der nur schwarze, aufgeregte Wellen und phantastische Nebelgebilde zeigt.

Dieselbe Erfahrung hatten die Odschibbewas bei ihrer gewagten Canoefahrt gemacht. Unmittelbar vor ihrem Aufbruch herrschte das schönste Frühlingswetter, gleich nach ihrer Abfahrt aber hatte der nordische Winter noch einmal seine ganze Tücke gezeigt, indessen sie wären keine Indianer gewesen, wenn sie sich [163] durch den drohenden Anblick des Wetters hätten abschrecken lassen. Auch jetzt in einer Lage, die jedem Europäer als eine trostlose erschienen wäre, verzagten sie keinesweges, da sie wußten, daß in dieser Jahreszeit schon der nächste Tag einen Wechsel mit sich führen könne. Bald fanden sie eine gegen den erstarrenden Nordwind geschützte Vertiefung in den Felsen, wo sie, nachdem der fast ohnmächtige Werner dort niedergelegt war, ein helles, lustiges Feuer aus Fichtenholz, das sich in Hülle und Fülle auf der Insel fand, anzündeten und dann, nachdem sie ihre Decken getrocknet hatten, zusammenkrochen und, sich gegenseitig erwärmend, in einen gesunden Schlaf fielen.

Spät am Morgen erwachte der von so viel Aufregung und Strapazen hart mitgenommene Deutsche auf seinem aus duftigen Tannenzweigen hergestellten warmen Lager. Sein erster Blick fiel auf Tawanka, der in der Höhle schweigend neben ihm saß und die Flamme des Feuers mit dürrem Holze nährte, während einer der Indianer eine Schneegans in der Asche briet. Auf seine Frage, wo die Andern wären, erfuhr er, daß dieselben an dem Orte, wo das Canoe gescheitert sei, Anstalten machten, die verlorenen Gegenstände aus der Tiefe zu holen, auch habe man das Boot hoch und trocken zwischen den Felsen eingeklemmt gefunden, wo es von einer Welle hingespült sei, und es werde nicht schwer fallen, den eingestoßenen Bug mit Birkenrinde zu repariren; außerdem, setzte der Häuptling hinzu, habe sich der Nordwind gelegt, und er erwarte ganz bestimmt noch im Laufe des Tages gutes Wetter.

Bei diesen aufmunternden Worten reckte Werner seine steifen Glieder zurecht, und ein neuer Hoffnungsstrahl fuhr durch seinen Geist, der aber sofort zur hellen Flamme aufschlug, als Tawanka, welcher mit einem Winke seiner Hand dem andern Indianer sich zu entfernen bedeutet hatte, mit geheimnißvollem Lächeln fortfuhr: „Wißt Ihr, Freund, daß wir an Ort und Stelle sind und daß ich trotz des Sturmes gestern die Insel nicht verfehlt habe, auf der ich einst mit meinem Vater den Weg zur Silbermine suchte? Trotz der Dunkelheit und des Schneegestöbers fand ich die Richtung und ich irrte nur in der Entfernung, weil sich der Lauf des Canoes bei solchem Wetter nicht berechnen ließ. Noch heute Nacht wollen wir aufbrechen, wenn der Vollmond scheint, doch haltet reinen Mund gegen meine Leute. Sie dürfen Nichts von unserm Vorhaben wissen und werden Euch nicht durch unnütze Fragen lästig werden.“

„Also noch diese Nacht soll ich die Silbermine sehen?“ rief Werner aus, der kaum seine Aufregung bezähmen konnte, da er sich der Erfüllung seiner kühnsten Wünsche so nahe sah.

„Gewiß! noch diese Nacht,“ erwiderte Tawanka; „aber ruht Euch gehörig aus und stärkt Euch, denn wir haben einen beschwerlichen Marsch vor uns. Einstweilen will ich gehen und Sorge tragen, daß das Canoe gehörig ausgebessert wird.“

Der Häuptling hatte das Wetter richtig beurtheilt, denn schon nach Verlauf von einigen Stunden schien die Sonne wieder warm, und die bis vor Kurzem noch so aufgeregte Oberfläche des Sees fing an, sich zu beruhigen, während die finstere Nebelbank fern im Norden sich zertheilte und bei der zunehmenden Helle des Tages die wunderbar gezackten Gipfel des felsigen Höhenzuges sichtbar wurden, welcher das Innere der Insel durchzog. Die Indianer waren bei ihren Tauchversuchen glücklich gewesen und hatten die meisten der bei dem Schiffbruch verlorenen Gegenstände aus der Tiefe hervorgeholt, darunter auch Werners bergmännische Werkzeuge, auch hatten sie einige wilde Kaninchen mit ihren Pfeilen erlegt, die in die Blätter des wilden Sellerie gewickelt und dann in der Erde gebraten eine vortreffliche Mahlzeit abgaben. Tawanka aber, der sich während des Tages auf einige Stunden entfernt hatte, um die Umgegend zu recognosciren und vermittelst seines Ortssinns alte Erinnerungen aufzufrischen, kam befriedigt zurück und bedeutete dem ängstlich harrenden Deutschen, sich bei dem Eintritt des Mondscheines fertig zu halten, denn genau um Mitternacht müßten sie an Ort und Stelle sein, wenn sie ihren Zweck erreichen wollten.

Es war schon spät am Abend, als der Vollmond siegreich durch die dicken Dunstschichten brach, welche über dem See lagerten, und die schneebedeckten Gipfel der Felsen mit bläulichem Lichte übergoß. Nichts störte die allgemeine Ruhe, als der melancholische Ruf des Whippoorwill im nahen Tannendickicht und die einförmige Melodie der Brandung, wie sie in gewissen Zwischenräumen tactmäßig gegen das Ufer schlug.

Während seine Leute um das prasselnde Feuer lagerten und plauderten, schritt der Häuptling, von Werner gefolgt, durch den dichten Urwald, welcher den Raum zwischen dem Strande und dem zackigen Felsplateau im Innern der Insel bedeckte. An schwierigern Stellen, wo umgestürzte Bäume oder mächtige Steintrümmer den beschwerlichen Pfad noch unwegsamer machten, faßte er den Deutschen bei der Hand und leitete ihn so über die Hindernisse sicher hinüber. Endlich standen beide Männer am Rande des Holzes und sahen den schneebedeckten Höhenzug über ihren Häuptern emporragen. Tawanka besann sich einen Augenblick und richtete dann mit unfehlbarem Ortssinn seine Schritte nach einer dunkeln Bergschlucht, aus welcher sich ein angeschwollener Bach mit starkem Gefälle ergoß. Er folgte nun dem Laufe dieses Baches stromaufwärts und erstieg nach einem mühsamen Marsche von einer Stunde das kahle Plateau. Darauf wandte er sich westlich und erklomm, von dem athemlosen Deutschen gefolgt, über zerrissene Felskämme den Gipfel einer Klippe, wo er sich von Neuem orientirte. Am Fuß der letztern lag ein kleines tiefes Thal, dessen Form an einen erloschenen Krater erinnerte und an dessen Rande sich eine himmelhohe, abgestorbene Schierlingstanne erhob. Dorthin richteten beide Männer ihre Schritte und als sie am Fuße des einsam stehenden Baumes angekommen waren, warf Tawanka forschende Blicke auf den Lauf des Mondes, dessen volle Scheibe ihr mildes Licht über die wilde Scenerie warf.

„Setzt Euch nieder,“ sprach er zu dem ermüdeten Werner, der unter der Last seiner Pickaxt und des schweren Steinhammers keuchte. „Der Mond wird bald auf dem höchsten Punkte seines Bogens stehen, und dann wird es Zeit sein, zu handeln. Sehet den weitreichenden Schatten des Baumes, wie er über die schroffen Kanten des Gesteins und die düstern Felsspalten fällt; dort, wo genau um Mitternacht die Spitze des Schattens hinzeigt, muß die Oeffnung sein, die zur Silbermine führt, und die ich vor langen Jahren mit meinem Vater zusammen zuwarf und unkenntlich machte. Noch haben die Stürme die Tanne nicht umgeworfen, auch hat, wie ich sehe, keines Menschen Fuß diese Stelle wieder betreten; der Schatz wird also unversehrt sein.“

Nach einer kleinen Pause, in welcher er den Mond genau beobachtet hatte, fuhr er fort: „Nun kommt mit Eueren Eisen! Seht Ihr nicht, daß das Gestirn zu sinken anfängt? Folgt mir und schlagt da ein, wo ich hinweise.“

Damit schritt er, von dem Deutschen gefolgt, längs des schwarzen Schattens, den der riesige Baum warf, auf die Stelle zu, wo jener zwischen mächtigen, moosbewachsenen Felstrümmern endigte, und deutete, das kurze Gestrüpp zur Seite biegend, auf eine kaum bemerkbare Spalte hin, welche mit Steinen und Geröll gefüllt war. Sausend fiel die Pickaxt hernieder, und in wenigen Minuten zeigte sich nach Entfernung der Trümmer eine große, schräg hinabsteigende Oeffnung, durch die ein Mann bequem hinunterschlüpfen konnte. Tawanka ergriff eine der mitgebrachten Kienfackeln, setzte sie in Brand und glitt, nachdem er Werner aufgefordert hatte, ihm furchtlos zu folgen, gewandt und ohne zu fallen in die Tiefe. Einen Augenblick später stand auch der Deutsche auf dem Boden des kaum zehn Fuß unter der Oberfläche befindlichen Ganges, dicht neben dem Häuptling, und war nicht wenig erstaunt, sich in einem natürlichen und trockenen Stollen von Trappformation zu sehen, der sich, soweit er es bei der Flamme des Fichtenspans unterscheiden konnte, tief in den Berg hineinzog. Unbedenklich folgte er Tawanka, welcher in dem niedriger werdenden Gange gebückt vorausschritt, und wer beschreibt seine freudige Aufregung, als sich am Ende des Stollens eine weitgewölbte Höhle zeigte, deren Wandungen aus den schönsten, im hellen Fackellicht strahlenden Quarzkrystallen bestanden, zwischen denen, wie er mit seinen bergmännischen Augen sogleich erkannte, dicke Massen gediegenen Silbers in wunderbaren dendritischen Formationen hervorleuchteten! Stumm vor Erstaunen betrachtete er den unerschöpflichen Reichthum, den die jungfräuliche Natur hier aufgehäuft hatte, und umarmte dann seinen Freund Tawanka, der, still vor sich hinlächelnd und die dunkeln Augen rollend, auf die starken Adern des edeln Metalls zeigte, welche sich nach allen Richtungen hinzogen. Je weiter sie in die Höhle eindrangen, desto schöner und üppiger wucherten die in prismatischem Lichte spielenden Quarzkrystalle und zwischen ihnen die massiven, rebenartig verschlungenen Stränge des Silbers, so daß Werner unwillkürlich an die Märchen von Tausend und eine Nacht dachte.

[164] Instinctmäßig berührte er das glänzende Gestein, um sich zu überzeugen, ob er auch nicht träume, und erst der helle Klang, den der Schlag des Berghammers den Adern des edeln Metalls entlockte, bewies ihm, daß das, was er vor sich sah, volle Wirklichkeit war. Erst als die Fackel nahe am Verlöschen war und die Rückkehr deshalb nothwendig wurde, dachte er daran, Proben des reichen Gesteins mitzunehmen und schlug in aller Eile so viele Stücke von den Wandungen der Höhle ab, wie er tragen konnte. Tawanka half ihm anfangs dabei, dann aber, als der letzte Rest des Kienspans ihm die Hand zu versengen drohte, faßte er seinen aufgeregten Freund am Arme und zog den Widerstrebenden in den Gang hinein, durch welchen Beide ohne Unfall an die oben erwähnte Oeffnung gelangten, durch die der Mond sein mildes Licht fallen ließ. Die kühle Nachtluft that dem Deutschen wohl und es gelang ihm, seine Aufregung gewaltsam zu bemeistern. Tawanka mahnte zur Rückkehr nach dem Lager. Werner warf rasch noch einmal prüfende Blicke auf die Umgebungen, damit er, falls er ohne des Indianers Begleitung die Stelle wieder aufsuchen wolle, dieselbe auch allein wiederfinden könne. Dann belud sich der Häuptling mit dem ledernen Sacke, welcher die Silberproben enthielt, winkte dem Deutschen ihm zu folgen und schlug denselben unwegsamen Pfad nach der Küste ein, auf welchem sie gekommen waren. Zwei Stunden später langten Beide am Bivouac an, wo sie die Indianer sämmtlich schlafend antrafen, bis auf einen, der die Flamme des Feuers zu unterhalten hatte, und streckten sich ermüdet bald selbst zur Ruhe hin.

Vierzehn Tage später finden wir Werner auf seinem Bureau wieder, wo er bei verschlossenen Thüren die reichen Silbererze, welche er von jener gefahrvollen Expedition, ohne Aufsehen zu erregen, glücklich nach den Toltec-diggings gebracht hatte, einer genauern Prüfung unterwarf. Tawanka stand neben ihm und sah mit dem Ausdruck innerer Zufriedenheit, wie der deutsche Bergmann die schönen Krystalle im Lichte der untergehenden Sonne betrachtete. Er war gekommen, um Abschied zu nehmen, denn die unerbittlichen Feldmesser waren dieses Frühjahr angelangt und hatten ihm angekündigt, daß er mit seinen Stammgenossen die Jagdgründe an dem kleinen See verlassen und sich eine andere Heimath im fernen Westen suchen müsse. In Folge dieser Aufforderung, die einem Befehle gleichkam, hatten die Indianer ihre Wigwams abgebrochen und sich Canoes am Ontonagonflusse gebaut, um auf ihnen irgend einen Punkt des britischen Territoriums auf der Nordküste des Oberen Sees zu erreichen, wo sie von den Behörden Schutz und Aufnahme zu finden hofften. Nur der Häuptling war noch zurückgeblieben, um seinem deutschen Freunde gegenüber, den er allein von allen Weißen nicht haßte, sein Herz auszuschütten.

„Ihr sollt bald von uns hören,“ sagte er zu Werner beim Abschied, „und wenn wir erst in Canada unsere Wigwams aufgebaut und unsern Mais gepflanzt haben, sollen meine Leute Euch zu Diensten sein. Wir werden dann ein Lager auf der Insel aufschlagen und so viel Silbererz aus der Höhle schaffsen, als Ihr verlangt. Also bis dahin wartet und behaltet das Geheimniß für Euch, denn wenn die Yankees etwas davon wittern, so werden sie Euch, den Ausländer, eher kalt machen, als Euch die Ausbeute gönnen, denn sie sind die Kinder des Teufels.“ Dann schüttelte er seinem Freunde herzlich die dargebotene Hand, schulterte seine Büchse und verschwand bald in dem düstern Schatten der Wälder, welche die Toltec-diggings umgeben, ohne die weißen Arbeiter, die ihm begegneten, eines Blickes zu würdigen.

Werner, der sich der Erfüllung seiner Wünsche so nahe sah, dachte nunmehr an Nichts weiter, als sich die Mittel zu verschaffen, um die auf der Insel verborgenen Schätze realisiren zu können. Zwar theilte er in etwas das Mißtrauen des Indianers gegen die Yankees, aber er sah auf der andern Seite ein, daß ohne die Hülfe von tüchtigen Geschäftsmännern und Capitalisten die Silbermine nur ein todtes Gut für ihn sein würde. Als praktischem Bergmanne war es ihm klar, daß der flüchtige Beistand von ein Dutzend unerfahrenen Rothhäuten, die ohnedem zur regelmäßigen Arbeit selbst bei dem besten Willen untauglich waren, lange nicht genügen würde, um die seinen gesteigerten Wünschen entsprechenden Reichthümer an das Tageslicht zu schaffen. Seine eigenen Mittel waren viel zu beschränkt, um einen Dampfer zu unterhalten, welcher doch unumgänglich nothwendig war, um den Proviant für die Arbeiter, das Sprengpulver, die verschiedenen Maschinerien und das sonstige Material für den regelmästigen Bergbau nach der wüsten Insel von den Häfen des Sees herbeizuschleppen. Eine oberflächliche Ausbeute, obgleich eine solche ihn ebenfalls zu einem unabhängigen Manne gemacht haben würde, da das edle Metall in leicht zu lösenden Massen vorhanden war, genügte ihm nicht mehr, weil er, von dem allgemeinen Minenfieber angesteckt, nun einmal seinen Kopf daran gesetzt hatte, ein schwerreicher Mann zu werden. Deshalb fing er an, die wohlgemeinten Warnungen Tawanka’s, von seiner Entdeckung nichts verlauten zu lassen, zu vergessen, und sann nur darüber nach, auf welche Weise er sich einen gewandten und bemittelten Compagnon verschaffen könnte, um mit dessen Hülfe und Geld den größtmöglichen Ertrag aus dem Bergwerk zu erzielen und dann bald als reicher Mann nach Deutschland heimzukehren.

Als Werner sich eines Tages, nicht lange nach der Abreise Tawanka’s, in solchen lucullischen Träumen wiegte, trat plötzlich Mr. Jones in sein Bureau ein und drückte seine große Freude darüber aus, daß er schon in Ontonagon, wo er am vorigen Tage angekommen sei, so viel Rühmens von der Thätigkeit des deutschen Bergmanns gehört habe. „Ich konnte,“ sagte er, „der Versuchung, Sie hier zu besuchen, gar nicht widerstehen, da mich meine Reiseroute in Ihre unmittelbare Nähe führte. Im Auftrage einer New Yorker Compagnie bereise ich nämlich dieses Jahr die Mineralgegenden am See zum zweiten Male wieder, um wo möglich einen Minendistrict zu kaufen, der den Wünschen der Herren entspricht. Ich habe deshalb den kurzen Weg nach den Toltec-diggings nicht gescheut, um mir Ihren Rath zu holen, da ich im Voraus annehmen muß, daß die Erfahrung, welche Sie jetzt in Folge Ihrer Stellung gewonnen haben werden, Ihrem Urtheile großen Werth verleihen wird.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein todtes Schloß.
Skizze aus Tirol. Von L. M.

„Fahren’s nit nach Amras?“ rief mich ein Lohnkutscher unter der Thür meines Innsbrucker Hotels an und schnalzte herausfordernd mit der Peitsche.

„Nach Amras? ist dort was zu sehen?“ wendete ich mich an die dicke Wirthin, welche die Hände in der Schürze auf die Gasse hinausblickte.

„Nu, was eigentlich zu sehen wär,“ erwiderte sie, „haben die Oesterreicher aus dem Landl nach Wien geschleppt und zurückgeben haben’s die Sammlung nimmer, obschon’s dazumal der Kaiser Franz versprochen hat. Aber z’ Amras hat die Philippina Welser gelebt, das Bürgermädel von Augsburg, das nachher im Bad abgestochen haben, weil sie ein bischen lutterisch gewesen sein soll und ihr Mann ein kaiserlicher Erzherzog war.“

Von Licht und Glanz umwoben schwebte das Bild der schönen Augsburgerin vor meiner Seele, all die Träume jugendlicher Romantik erwachten wieder, ich rief: „Nach Amras!“

Der Wagen sollte mich nach Tisch erwarten. Vorläufig ging ich in das Museum, wo mir ein Freund das Wichtigste zu zeigen versprochen hatte. Die Hallen desselben bargen manchen interessanten Kunst- und Naturschatz; mich fesselte vorzüglich das Portrait Philippina’s, holde, anmuthsvolle Züge, klar und fast mädchenhaft unschuldig, aus dem blauen Auge leuchtete ein keuscher Stolz, der ahnen ließ, daß sich die Tochter des Augsburger Bürgers auch dem Sohne des Kaisers nur als Gattin verloben und nicht zu frechem Spiel hingeben konnte. Ihr gegenüber hing das Bild Ferdinand’s, der dem Zorne des Vaters zu trotzen wagte und sie heimlich heimführte, wie nach ihm Erzherzog Johann mit dem Mädchen des Postmeisters von Aussee gethan. Ferdinand’s Gesicht

[165]

Schloß und Kirche von Amras.
Originalzeichnung von Theodor Pixis.

[166] trägt das Gepräge der Habsburgischen Physiognomie, doch zeigt es mehr Kraft und Geist, als man sonst durchschnittlich bei den Köpfen jener ausgestorbenen Dynastie beobachtet. Im nächsten Zimmer birgt ein Schrank ein kleines Schmuckkästlein Philippina’s, eine köstliche Arbeit der Renaissancezeit; ein schlechtes Gemälde zeigt sie mit dem Gatten und den Kindern, nette Aeffchen, die in steifer spanischer Tracht zu den Füßen Beider spielen. Die berühmte Scene, wie sie durch eine List den kaiserlichen Schwiegervater zwingt ihr gegen sich selbst Recht zu sprechen und als Vater zu halten, was er als Kaiser geurtheilt, gab dem Tirolerkünstler J. Malknecht Stoff zu einem hübschen Bilde. Auch die Melodie, welche sie am liebsten zu singen pflegte, wurde mir in der Bibliothek auf Noten gesetzt vorgewiesen.

Der Freund, der meine Theilnahme für die schöne Philippina bemerkt hatte, geleitete mich vom Museum zur Hofkirche. Dort führte er mich über die Treppe in die silberne Kapelle, wo Ferdinand und Philippina begraben liegen. Vorn an der südlichen Wand vertieft sich eine hohe Nische geschmückt mit allerlei Basreliefs, gegen den Altar gewendet kniet ein geharnischter Ritter mit gefalteten Händen – es ist die Rüstung Ferdinand’s, der ein gewaltiger Mann gewesen sein muß; das Volk erzählt von ihm, er habe ein frischgeschmiedetes Hufeisen mit der Hand zerbrochen. Etwas weiter gegen den Eingang zurück wölbt sich eine zweite kleinere Nische. Ihr Rand ist eingefaßt von einem Streifen weißen Marmors mit Engelsköpfen; darunter ruht auf einem Sarkophag, den zwei Basreliefs schmücken, das Marmorbild Philippina’s gemeißelt von dem kunstreichen Meister Collin aus Mecheln. Der Ernst des Lebens hat diese Gestalt berührt, die Züge des schönen Antlitzes sind matronenhaft, die Verklärung des Todes umspielt sie, nachdem ihnen der Schmerz seine Weihe aufgedrückt. Unter dem Steinsarg liegt Philippina begraben. Sie starb 1578 an einer Krankheit, welche sie unerwartet befiel. Das Gerücht, als ob sie von Adel und Jesuiten, welche die Bürgertochter des halblutherischen Augsburg bitter haßten, im Bade ermordet worden sei, verdichtete sich allerdings zu einer Volkssage, es liegt aber kein Anhaltspunkt vor, der es bestätigen könnte. Die Geschichte der edlen Frau ist zu bekannt, als daß wir sie hier ausführlich zu berichten brauchten, nur einige Zahlen mögen dem Leser zur Orientirung dienen. Ihr Geburtsjahr läßt sich nicht nachweisen; sie mochte 1547, wo Ferdinand mit seinem Vater den Reichstag zu Augsburg besuchte, etwa achtzehn Jahre alt sein. Er sah sie auf dem Söller ihres Hauses, ein Blick entschied. Die heimliche Vermählung erfolgte am 24. April 1550 zu Innsbruck. Erst acht Jahre später versöhnte sie den schwer gekränkten Vater Ferdinand’s, welchem sie zwei Enkel zuführen konnte, zu Prag; 1564 wurde die Ehe öffentlich anerkannt und Philippina zur Markgräfin von Burgau ernannt. Fürsten gilt ja der Mensch, und sei er noch so groß und edel, in der Regel erst dann, wenn sie ihm einen Orden oder Adelstitel angehängt. Die Ehe war zufrieden und glücklich. Darf man Philippina ein Muster weiblicher Tugenden nennen, so zeichnete sich auch Ferdinand durch viele Eigenschaften vor Manchem der Purpurgebornen aus. Unter ihm wurde Innsbruck der Mittelpunkt einer großartigen Kunstthätigkeit; der prächtige Harnisch Franz des Ersten von Frankreich ward urkundlich hier verfertigt, er brachte mit großem Geldaufwande die berühmte Amraser Sammlung zusammen. Nur ein Flecken verunstaltete seinen Charakter: er war im höchsten Grade intolerant gegen Andersgläubige und befehdete mit den gewaltsamsten Waffen den Protestantismus, wie es auch jetzt eine fanatische Partei in Tirol gern thun möchte, wäre nicht die Zeit eine andere.

Diese und ähnliche Gespräche mit einem Freunde störte der Schall der Klosterglocke, welche die Mönche an den Tisch und auch mich an die Table d’hôte in das Gasthaus rief. Die Gesellschaft war sehr gemischt und daher herrschte aus Furcht vor den Polizeispitzeln, die in Oesterreich epidemisch sind, große Zurückhaltung. Als ich das Gespräch auf die Amraser Sammlung brachte, seufzte ein Herr in einer grauen Joppe und murmelte halblaut: „Ja die Amraser Sammlung! die ist jetzt im Belvedere zu Wien, obwohl sie großentheils mit tirolischem Gelde gekauft ward. Der Kaiser Franz hat zwar die Rückgabe versprochen, man lieferte sie jedoch nicht aus, als man die tirolischen Stutzen nicht mehr brauchte. So blieb dem Landtage nichts übrig, als sich auf das Testament Ferdinand’s zu berufen und eine ohnmächtige Rechtsverwahrung einzulegen.“

Die Amraser Sammlung liegt den Tirolern sehr am Herzen, sie können den Verlust derselben nicht verschmerzen. Von der Hyperloyalität, welche man den Tirolern gern andichten möchte, habe ich überhaupt nichts bemerkt; wenn man einer servilen Phrase begegnet, so ist es hier wie auch anderswo höchstens in officiellen Blättern.

Aber nach Amras! – Bei den letzten Häusern Innsbrucks that sich vor uns die Ebene von Wiltau auf; etwa eine Stunde breit ist sie die größte, welche Tirol besitzt. Aus dem kurzen Grase hoben sich bereits die ersten Zeitlosen, das Laub der Pappeln fing an zu vergilben. Rechts von uns streckte sich mitten in den Wiesen eine lange Mauer, über welche goldene Kreuze funkelten. Es war der Militärfriedhof, wo der unglückliche Tirolerdichter Johann Senn den ewigen Schlaf schläft, ein genialer Mann zertreten und verkümmert im Vormärz Oesterreichs. Wie viele solche Geistesmorde mag das Regime von Metternich auf dem Gewissen haben?

Eine Wendung! der Kutscher kehrt sich um und deutet mit der Peitsche auf ein großes unförmliches Gebäude, welches weißgetüncht von dem Vorsprung eines grünen Hügels in das Thal schimmert.

„Das ist Amras!“

Amras? Ich muß gestehen, ich war bedeutend enttäuscht. Das Gebäude hätte eben so gut eine Kaserne oder eine Fabrik vorstellen können, nur nicht ein Fürstenschloß umrankt vom Epheu der Sage. Kein Zinnenkranz, keine altersgrauen Thurme, keine dräuenden Wälle, kein Schlagthor! In neuester Zeit war dem unschönen Bau ein kleines Thürmlein mit einer Uhr aufgesetzt worden; man hatte alles beim Alten belassen, vielleicht war es am besten so, wozu der moderne Aufputz? Mein Freund holte den Castellan; er führte uns durch die weiten Säle, in einem derselben hing das Portrait Philippina’s aus ihren älteren Tagen; sie war bereits breit und behäbig geworden, nur das herrliche Auge erzählte noch vom Reiz der Jugend. Eine Reihe Zimmer war wohnlich eingerichtet, hier pflegt der jeweilige Statthalter von Tirol seinen Sommeraufenthalt zu nehmen. Mein Freund merkte mir einiges Mißbehagen an, da öffnete er eine Thür und schob mich rasch hinaus. Fast erschrocken stand ich auf einem Söller, zu Füßen das prächtige Thal von Schwaz bis Telfs durchrauscht vom wilden Inn, gegenüber die lange Wand des Kalkgebirges gekrönt von Tausend majestätischen Felsenzinnen, welche im Sonnenlicht schimmerten, von Nebeln umflattert. Dieser Ausblick allein verdient, daß der Fremde Amras besuche, Amras, dem nur der wundervolle Zauber seiner Lage und die Erinnerung an eine Geschichte blieb, wo die Poesie sich hell und lauter in das Leben ergoß.

Schon die Römer sollen hier ein Castell errichtet haben, welches sich später in eine mittelalterliche Burg verwandelte, wo die Gaugrafen aus dem Hause Andechs walteten, bis sie 1136 von Heinrich dem Stolzen, einem Baiernherzoge, belagert, erstürmt und ausgebrannt wurde. Die Herren von Tirol bauten sie wieder auf, ihre Glanzzeit beginnt aber erst mit dem Jahre 1567, wo Ferdinand, der Gemahl der schönen Welserin, vom glücklichen Feldzug gegen Sultan Soliman zurückgekehrt war. Früher hatte hier lange Jahre der unglückliche Kurfürst Friedrich von Sachsen, der in der Schlacht von Mühlberg gefangen worden war, vertrauert, sein treuer Lucas Cranach suchte ihn durch Gemälde zu erheitern; so manches Bild ist von diesem Meister in Tirol zurückgeblieben. Erzherzog Ferdinand baute das Gefängniß in einen Sommersitz um, der wohl mit den Fürstenschlössern italienischer Fürsten wetteifern durfte. Hier versammelte er mehrere der gelehrtesten Männer seiner Zeit. Stephan Pighius, der den Prinzen Friedrich von Cleve 1574 nach Italien begleitete, schildert uns das Schloß, wie es damals aussah. „Man zeigte dem Prinzen an den Abhängen und in den Thälern Seen mit seltenen Fischen; dort Weingärten, Obstanger, Wälder, Hasengehege, Wildplätze und Thiergärten. Darauf bestieg man das Schloß und beschaute die Lage und die zierliche Einrichtung, Höfe, Hallen und Speisesäle mit Teppichen, Statuen und Bildern ausgeziert. In einem weiten Saale sah man die Ebenbilder der Grafen von Tirol von ihrem Ursprunge bis auf unsere Zeit sammt der Angabe der von einem jeden dieser Fürsten vollbrachten Thaten. Dann führte man sie in die Wohnung der fürstlichen Frauen, in die schwebenden Gärten und zu den Vogelbehältern, die mit Netzen von Draht bezogen sind.

Die Rüstkammer im obern Stocke ist sehr geräumig und [167] darin eine solche Menge von Kriegsrüstungen und Waffen aller Art aufgehäuft, daß sich in wenigen Augenblicken mehrere Schaaren Krieger vollkommen darin rüsten und wie aus dem troischen Pferde hervorbrechen könnten. Aus dem Schlosse führte man den Prinzen in die anliegende Gegend zur Rennbahn, in’s Ballhaus und dergleichen Uebungsplätze für die ritterliche Jugend. In den auf’s Beste gepflegten Gärten erblickt man Paradiese, Labyrinthe und allerlei Grotten, den Wassernymphen geheiligt und mit künstlichen Quellen bewässert. Diese verschiedenen Springbrunnen an verschiedenen Orten werden reichlich mit Wasser versehen durch die Wildbäche, die man aus den nahen Bergen in unterirdischen Röhren herleitet. Die im freien angebrachten Speisesäle, mit allerhand lebendigem Grün umkleidet, sind besonders niedlich; vor allem aber jene Rotunde, in deren Mitte ein runder Tisch aus Ahorn steht. Unter diesem sind Radwerke angebracht, die vom Wasser getrieben werden und mittels welcher man den Tisch sammt den Gästen sachte oder rasch herumdrehen und, wenn es gefällt, auch die Leute bis zum Schwindel treiben kann.

Nun ging es nach dem Heiligthum des Weingottes, wo die Fremden gewöhnlich in seine Geheimnisse eingeweiht werden. Es ist dieses eine gewaltige und finstere Felsenhöhle, in welche man über steinerne Stufen hinabsteigt. Die Fremden verwundern sich da ob der dickleibigen Humpen, und ohne Widerrede spenden diese das edle Naß. Doch nicht eher fühlen jene, daß sie eingesperrt sind, als in dem Augenblicke, da sie heraus wollen. Nun erkennen sie die Macht des Bacchus und merken die Fußfesseln, die im Finstern gelegt und die Gitter, welche verriegelt sind. Sie finden sich nicht mehr heraus. Im Nu kommen die Bacchanten, die mit den Gebräuchen auf’s Beste vertraut sind, herbei, ungeheure Humpen, welche an drei Maß halten, in den Händen. Ihr Vorsteher bringt das Ceremonienbuch und liest daraus die Trinkordnung vor. Nun führt man die Novizen zu einer Tafel voll Nachschwerk und Leckereien, welche den Durst reizen. Haben sie das gewaltige Gefäß in einem Zuge geleert, so sind sie eingeweiht und schreiben ihren Namen in das Trinkbuch zu den übrigen Verehrern des Gottes ein.“

So der Welsche über die versunkene Herrlichkeit von Amras und deutsche Trinklust im Kleid der lustigen Renaissance. In der Amraser Sammlung findet man jetzt noch die zwei Trinkbücher, worin die eigenhändigen Namenszüge der Herren und Frauen enthalten sind, welche zu Lebzeiten des Erzherzogs Ferdinand beim Besuche des Schlosses den vorgeschriebenen Trunk gethan haben. Der erste Band enthält gleich anfangs die folgenden Zeilen: „Im 1567. Jahr den letzten Tag Januarii ist in dem Schlosse zu Amras von wegen Erzeugung guter Freundschaft, Gutwilligkeit und Gesellschaft aufgericht worden, daß ein Jeder, so in gemeldt Schloß Amras kommt, ein Glas wie ein Fäßlein gestalt mit vier geschmelzten Reiflein mit Wein in einem Trunk austrinken soll und seinen Namen zur Gedächtniß in dieses Buch schreiben. Welcher aber solches in einem Trunk nicht endet, dem soll es wiederum voll eingeschenkt werden, auch aus dem Schloß nicht weichen, bis er solchen Trunk, wie obgemeldt, vollendet hat. Das solle also dieses Schloß und Glas Gerechtigkeit sein und bleiben. Deßgleichen und obgemeldter Massen solle auch ein jede Frau und Jungfrau ein krystallin Glas wie ein Schiff in einem Trunk auszutrinken verbunden und verpflichtet sein.“

Mit dem Erlöschen des tirolischen Regentenhauses ging auch der Stern von Amras unter. Einzelne Theile der berühmten Sammlung wurden bald den kaiserlichen Cabineten in Wien einverleibt, so namentlich die seltenen Handschriften, darunter die einzige der Gudrun, welche dem Kaiser Maximilian gehört hatte, und die kostbaren Gemälde; auch die Perle des Wiener Belvedere, Raphael’s Madonna nel verde. Was noch zurückblieb, war nur zu oft von unkundigen oder nachlässigen Schloßhauptleuten verwahrlost, bis 1773 der bekannte Forscher und Gelehrte Johann Primisser zu diesem Amte berufen wurde und die planlos durcheinander geworfenen Gegenstände wieder entwirrte und ordnete. Daß die Sammlung später ganz nach Wien geschleppt wurde und trotz dem Testamente Ferdinand’s und allem Versprechen ohne Rücksicht auf die Wünsche und Rechte des Landes dort zurückbehalten wird, wurde bereits erwähnt. Ein noch schlimmeres Loos ward dem Schlosse selbst beschieden. Die unteren Werke wurden abgetragen und die Steine zu Neubauten verwendet. Von den vielen und herrlichen Anlagen, welche sich bis zum Amraser See erstreckten, ist kaum mehr eine Spur zu finden; der Amraser See, auf welchem sich im Winter die Innsbrucker Schlittschuhläufer tummelten, ist erst vor Kurzem ausgelassen und in Wiesen umgewandelt worden. Das Schloß diente lange Zeit als Kaserne, die ungarischen Soldaten schlugen den Frescobildern der Habsburger Nägel in die Köpfe, um die Tornister und Patronentaschen aufzuhängen. In Kriegsjahren wurde es auch als Militärspital benutzt.

Mein Freund wies auf eine Gruppe riesiger Tannen im nahen Walde. Dort war der Rennplatz, wo einst vor den Augen der schönen Philippina Bogenstechen abgehalten wurden; jetzt ist er ein Wallfahrtsort, welchen andächtiges Volk häufig besucht, um beim Rauschen der alten Tannen für die Märtyrer zu beten, die hier begraben sind.

Märtyrer?

Ja, viele tausend! Hier wurden damals die Leichen der Soldalen, welche im Spitale drauf gingen, eingescharrt; demjenigen, der in die k. k. österreichische Spitalwirthschaft gerieth, wird wohl Niemand den Namen eines Märtyrers verweigern! Das Volk erzählt, daß manche während der französischen Revolutionskriege lebend in die Grube geworfen wurden, weil sich Aerzte und Wärter die Mühe der Pflege ersparen wollten.

In neuester Zeit wurde Mancherlei an der alten Burg geflickt. Es waltete wieder eine holde Frau aus fürstlichem Stamme hier, die Erzherzogin Margaretha, eine sächsische Prinzessin. Auch sie ist bereits todt. Ihr Gatte, der Erzherzog Karl Ludwig, welcher, wie sein großer Vorgänger Ferdinand, mit der tirolischen Glaubenseinheit sympathisirte, hat Tirol längst verlassen und nach Ablauf der Wittwertrauer eine Schwester des Exkönigs von Neapel geheirathet. So wechselten die Schicksale der Burg und ihrer Bewohner.

Mein Freund mahnte zum Aufbruch. Im Vorbeigehen warfen wir durch die Thür noch einen Blick in Philippina’s Badstüblein; noch steht die kupferne Wanne dort, in der sie ermordet worden sein soll. Wir überlassen es dem Leser, anstatt der Gräuelscenen der Sage sich ein reizenderes Bild herzumalen und mit den Farben Tizian’s zu vollenden.

Vor dem Thore gaben wir dem Kutscher Auftrag, uns im Dorfe Amras zu erwarten. Wir schlugen den Fußpfad ein und stiegen am grünen Hügel nieder zur Kirche. Dort hieß mich der Freund noch einmal aufblicken. Die Landschaft schloß sich hier zu dem Bilde, von dem der Leser eine Skizze sieht. Das Schloß glänzte in den letzten Strahlen der Sonne, welche auch noch auf dem Knauf des hohen Spitzthurmes blitzten. Auf dem Platze war das Bauernvolk zum Heimgarten in allerlei Gruppen zerstreut; ein Mann mit dem Knaben im Arm erzählte einem böhmischen Soldaten von Philippina, wie sie so zart gewesen sei, daß man den rothen Tirolerwein habe durch ihre Kehle fließen sehen. Dann wandte sich das Gespräch auf Doris, den lustigen Zimmermann, der vor etlichen Jahren den Thurm mit einem neuen Dache versah. Als er es fertig gebracht, schwang er sich auf den Knauf, trank dort jauchzend ein Glas Wein und stellte sich dann auf den Kopf. Sowie das Politisiren begann, welches nun auch auf den Dörfern um sich greift, gingen wir in’s Wirthshaus zum Kappeller; nun, der Wein war gut, vielleicht so gut, wie ihn Philippina geschlürft.

Es war bereits tiefe Dämmerung, als wir in den Wagen stiegen. Zu Innsbruck machten wir noch eine kleine Runde. In der Hofgasse zeigte mir mein Freund in einer Nische die riesige Statue eines geharnischten Mannes von fast neun Fuß Höhe. Er war einer der Söldlinge Ferdinand’s, die Amras bewachten. Gleichzeitig diente Philippina ein Zwerg; dieser wettete, er wolle dem Ungethüme eine Ohrfeige geben, ohne hinaufzuklettern. Heimlich schlich er hinzu, löste dem Riesen die Schuhriemen und als sich dieser bückte, um sie wieder festzuknüpfen, gab er ihm zu allgemeinem Gelächter rasch eine Ohrfeige.

Wir waren durch den Bogen der Burg gegangen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal in die Hofkirche zu treten, um das Grab Philippina’s scheidend zu begrüßen. Das eiserne Gitter der Kapelle war geschlossen.

Am nächsten Morgen führte mich das Dampfroß aus den herrlichen Bergen Tirols nach Baiern.



[168]
Der König europäischen Sturmwinde.
Von Friedrich Hofmann.

Der Lloyddampfer schaukelte uns, von Venedig kommend, zwischen Grado und Pirano auf der Adria, die von einer absterbenden Maretta, wie die italienischen Schiffsleute das nördliche Nachzittern südlicher Stürme des adriatischen Meeres nennen, zu schönen langgestreckten Wogen gehoben wurde.

„Hier ist ein reizender Punkt der Erde,“ wandte der Capitain sich an die heitere Gruppe von deutschen Reisenden, die wir am Compaßhäuschen bildeten. „So oft ich auch diese Tour mache, diese Einfahrt in den Golf von Triest hat in den langen Jahren meines Dienstes für meine Augen nichts von ihrem Zauber verloren. Wie prachtvoll der Riesenkranz der cadorischen, carnischen und julischen Alpen in weiten Bogen am fernen Horizonte sich vor uns ausspannt! Sehen Sie diese zackigen, faustigen, festungsartig emportrotzenden weißschimmernden Felskolosse, und doch stehen bei uns Seeleuten zwei nähere Berge höher in Achtung: der Monte Spaccato (gespaltener Berg, von seiner Form so genannt), weil er zunächst über Triest liegt, und der Nanos des Karst, der als Thron und zugleich als Signalthurm der Bora gilt.“

Bora?“ fragten mehrere Stimmen.

„Ja,“ fuhr der Capitain fort, „dieser Nord- oder vielmehr Nordost-Sturmwind steht bei den Fischern des Golfs und den Schiffsleuten von Istrien und Dalmatien in so hohem Respect, wie bei den Fuhrleuten, die besonders zur Winterzeit über den Karst fahren müssen. Soweit das Haupt des Nanos sichtbar ist – und man sieht ihn noch vom Marcusthurm in Venedig aus, – geht in seinem ganzen südlichen Bereiche kein Schiffer in See, kein Fischer auf den Fang, kein Fuhrmann auf die Reise, ohne erst nach ihm geschaut zu haben, denn wenn er seine schimmernde Wolkenkrone trägt, so verkündigt er damit, daß er gerüstet ist, seine wilden Wetter über Land und Meer zu schleudern. Als ob der große Birnbaumer Urwald, vor dem er als südlichster höchster Wächter steht, in seinem noch unerforschten Innern die Stürme für ihn bereite, so brausen sie hinter ihm hervor und fegen über den Boden hin mit geradezu unbeschreiblicher Gewalt.“

„Es scheint,“ fiel ein Herr aus Laibach ein, „als ob von den Naturwundern Illyriens die Adelsberger Grotten und der Cirknitzer See draußen im Reich bekannter wären, als unser eisiger Samum. Mit Sand überschüttet er freilich keine Karawanen, denn längst hat er aus der Hochebene der Karst jedes Bischen Erde hinweggefegt, das nicht hinter Schutzmauern oder in den Dollinen[1] geborgen ist. Soweit die Bora ihn bestreicht, ist der Boden nichts als eine Masse auf das Säuberlichste abgeriebener Kalksteinbröckchen. So lange noch kein Schnee auf dem Gebirge liegt, kündigt die Bora sich meilenweit durch die massenhaften Staubwolken an, die sie aufwühlt und vor sich hertreibt. Aber erst im Winter beginnt ihre volle furchtbare Herrschaft, da fordert sie oft viele, viele Menschenleben.“

„Im Sommer,“ ergänzte der Capitain, „ist sie, den wahrhaften Staubregen, den sie von Optschina her über uns ergießt, abgerechnet, mehr wohlthätig, als schädlich. Wir verdanken ihr den ziemlich guten Gesundheitsstand von Triest, weil sie die schädlichen Ausdünstungen aus der Stadt vertreibt und der stets siegreiche Gegner des Sirocco ist, der alles Leben erschlafft und manche Gesundheit untergräbt. Die erfrischende Kraft der Bora zeigt sich auch im besseren Appetit der Menschen, die während ihrer Oberherrschaft im Reich der Lüfte kräftigere Nahrung vertragen und denen dann auch Austern und Ihre starken deutschen Weine und Biere nicht schaden, die außerdem Niemandem zu empfehlen sind, der in Triest gesund bleiben will.“

„Das wird aber wohl das einzige Lob sein, das die Bora verdient,“ warf der Laibacher dazwischen.

„Allerdings,“ fuhr der Capitain fort, „denn außerdem haben wir nicht blos in Triest, sondern hauptsächlich zur See viel von ihr zu leiden. An den dalmatischen Küsten und besonders im Quarnero (dem Fahrwasser zwischen den Inseln südlich von Istrien und von Fiume) zerschmettert sie jährlich manches Schiff, besonders gehen der armen kleinen Trabacoli, unserer eigentlichen Küstenhandelsschiffe, die beladen oft kaum einen Fuß Bord haben, jährlich viele zu Grunde. Das Gefährlichste, die eigentlich vernichtende Kraft der Bora, besteht in ihrer stoßweisen Wirkung. Wie der Vulcan seine Lavagarbe plötzlich hinauswirft und dann ebenso plötzlich wieder ruht, um Kraft zu sammeln, gleichsam wieder frisch zu laden für die nächste Explosion, so ist’s auch der Anprall, der Stoß, mit dem die Bora, wenn sie hinterm Nanos hervorbricht, so vernichtend wirkt; sie steht nach solchem Stoß für Augenblicke plötzlich still, ehe der zweite und dritte und so fort erfolgt, bis sie endlich auf dem Boden des Karst dahintobt, von der steilen Höhe herniederfährt, die Kronen aller Bäume bricht, die stärksten Stämme entwurzelt, durch die Straßen von Triest rast, oft ganze Dächerreihen abhebt und endlich das Meer zerpeitscht, daß es einer Riesenschüssel voll Seifenschaum gleicht.“

„Herr Capitain,“ rief da eine norddeutsche Stimme aus, „Sie machen mir angst und bange. Jetzt stehen wir schon im Spätherbst und ich kann erst in sechs Wochen von Triest weiter reisen und muß nach Laibach; da komme ich ja gerade in die schlimmste Zeit dieser schauderhaften Bora.“

„Das ist sehr wahrscheinlich,“ erwiderte richig der Capitain. „Indeß ist für Postreisende stets Vorsorge getroffen. Sobald die Borawolke des Nanos sich zeigt, begleiten jeden Postwagen zehn bis zwölf Männer mit Stangen und Stricken, und sobald die Gefahr naht, werden von der einen Hälfte der Mannschaft auf der Sturmseite die Stricke oben am Wagen befestigt und angezogen, während die andere Hälfte die Stangen ebenfalls oben am Wagen einstemmt – so geht es Schritt vor Schritt dem Orcan entgegen und in ihm vorwärts. Es geschieht freilich oft genug, daß dennoch selbst der schwerste Postwagen umgeworfen wird, aber doch selten gerade an einer so bösen Stelle, daß Wagen, Pferde und Menschen in die Abgründe stürzen.“

„Heiliger Himmel, das sind schöne Aussichten!“ rief unser Norddeutscher. Der Laibacher, dem es lange schon auf der Zunge gebräunt, ergriff nun das Wort. „Mit Vorsicht,“ sagte er, „ist auch diesen Gefahren zu entgehen, man muß nur nicht auf seinem Kopf beharren, wenn die Bewohner der Orte an der Straße, die von der Bora bestrichen wird, von der Weiterreise abmahnen.

Gegen die Bora gilt kein Trotz, das hat erst neulich wieder ein schweres Unglück bewiesen. In Planina kam eine Schwadron Husaren an, die nach Verona bestimmt war und die sogleich nach Adelsberg weiter reiten wollte. Der kaiserliche Weginspector machte dem Rittmeister pflichtschuldig die Meldung, daß seit zwei Tagen sehr starke Bora sei. Der Ort stand voll Fuhrwerk, das sich nicht weiter getraute, und Nachricht war gekommen von vielen verunglückten Geschirren und Menschen, – denn Sie müssen wissen, daß der ungeheure Verkehr auf der Straße von Wien und Laibach nach Triest und Italien durch die Bora oft wochenlang unterbrochen ist. – Bei dem Herrn Rittmeister half jedoch alles Abreden nicht. Komme Jemand einem Husaren mit Gefahr! Sie ritten, trotzdem der Weginspector flehentlich bat, so viel Menschenleben und kaiserliches Gut zu schonen, nun erst recht – und von den braven Husaren ritten die meisten in den Tod.“

„Entsetzlich!“ riefen wir Alle, und „Ja, so ist’s!“ bestätigte der Capitain.

„Die Bora,“ fuhr der Laibacher fort, „lauerte wie ein Raubthier auf ihre Beute. Und es ist eine der schlimmsten Stellen, die zwischen Planina und Adelsberg, weil die Straße links meist an tiefen Abgründen hinführt. Dort brach der Sturm über die Schwadron herein – schon der erste Stoß schleuderte Alle von den Rossen und Viele in die Tiefe. Nur Wenige, die Geistesgegenwart genug hatten, sich nach dem Sturz hinter ihre Pferde auf den Boden zu legen, oder die beim Sturz glücklich so zu liegen kamen, daß die schwere Pferdelast sie schützte und sie selbst gleichsam einen Hemmkeil bildeten, der auch dem Pferde einen festern Halt gegen die Stöße der Bora gab, – nur diese Wenigen wurden gerettet. Und das ist nur ein Beispiel, das eben Aufsehen gemacht hat, weil es kaiserliches Militär und gerade Husaren betroffen, die Jedermann besonders lieb hat. Wie viele Fuhrmannswagen werden jährlich umgeworfen und zertrümmert; wie viele Fuhrleute unter den Schneelawinen begraben, die der Sturm vom Boden ordentlich aufwirbelt und über Alles hinwälzt; wie viele [169] verirrte Handwerksbursche fallen in die überschneiten Dollinen. So ist’s gar nicht möglich, das Unheil, das die Bora alle Jahre anrichtet, zu Buch zu bringen.“

„Sie hatten Recht,“ nahm der Capitain wieder das Wort, „die Bora mit einem springenden Raubthier zu vergleichen. Das Springen ist ihr auch bequem genug gemacht. Der Birnbaumer Wald, auf dessen kaltem, wildem Rücken der Volksglaube die Bora entstehen läßt, erreicht durchschnittlich eine Höhe von zweitausend Fuß; der Nanos, an dessen Wänden der Sturm anprallt, ist über viertausend Fuß hoch; fünfhundert Fuß tiefer, als der Birnbaumer Wald, streckt die Karsthochebene sich in einer Länge von zehn und einer Breite von drei bis vier Meilen aus, und zwölf- bis fünfzehnhundert Fuß unter den Karsthöhen liegt Triest und das Meer. Das sind die Riesenstufen, auf welchen das wüthende Raubthier Satz um Satz herniederstürmt mit wachsender Wucht, bis es im Gischt der Adria verlobt und verendet. – Würden wohl die classischen Schriftsteller der alten Griechen und Römer über diese Naturerscheinung, die sich ihren Schiffen doch bemerklich genug gemacht haben müßte, geschwiegen haben, wenn sie damals schon ihre heutige Macht entfaltet hätte?“

„Sicherlich nicht,“ antwortete der Gefragte; „aber wie möchte diese ausfällige Erscheinung zu erklären sein?“

„Sehr einfach,“ erwiderte der Capitain. „Wir verdanken die Bora vielleicht schon den späteren Römern, aber hauptsächlich den Venetianern. Der Karst war offenbar in alter Zeit so gut bewaldet, wie die Gebirge, die hinter ihm liegen. Die Venetianer bedurften aber Holz, und viel Holz, zu ihren massenhaften Schiffs- und sonstigen großen Bauten. Dieses holten sie am liebsten da, von wo sie am nächsten zur See kommen konnten, und das war das gebirgige Hinterland von Triest, das sie fünf bis zehn Meilen weit von der Küste ausbeuteten. Wie für die Lawinen, ist auch für die Stürme der Wald die sicherste Mauer; diese Wäldermauer hat die Habgier der Venetianer niedergerissen und dem Sturme freie Bahn gemacht – und nun haben die Nachkommen zu büßen, was die Vorfahren hier sündigen ließen. Dieselbe Wälderverwüstung, dieselbe Verödung der Abhänge und Hochebenen des Gebirgs, dieselben offenen Bahnen für Stürme, Lawinen oder Gletscher finden wir am ganzen Südabhang der Alpen. Holz war Unkraut, man hat das Unkraut ausgerodet und damit viele goldene Saat in den Thälern vernichtet. Sehen Sie jetzt die Flora des Karst und seiner Abhänge. Unter dem Hauche der Bora verdorrt aller Pflanzenwuchs, selbst wo ihre Wirkung etwas gebrochen ist, verkrüppeln die Bäume und haben nur auf der Südseite wenige belaubte Zweige. Es ist ein Anblick zum Erbarmen.“

„Und doch wagt es die Cultur, trotz der Bora dem Boden treffliche Früchte zu entlocken, ja, der Bora selbst Trotz zu bieten.“ Mit diesen Worten trat ein deutscher Kaufmann aus Triest in unsern Kreis. „Sie haben in Ihrer Unterhaltung mehrmals von den Dollinen gesprochen. Diese trichterförmigen Vertiefungen, die eine Haupteigenthümlichkeit des Karstbodens sind, dienen als die ersten Anhaltspunkte zur Wiederbefruchtung desselben. Sie kommen sehr zahlreich vor und sind bald klein, nur wenige Fuß im Durchmesser haltend, bald aber auch so groß, daß ihre Kessel, oft bis zu sechszig Fuß Tiefe, kleine Thäler bilden. Offenbar sind es Erdstürze, veranlaßt durch die unterirdischen Gewässer, welche in der Tiefe Höhlen auswuschen, deren Wände und Decke endlich zu schwach wurden, um die Oberfläche zu tragen, und zusammenbrachen. Viele dieser Trichter stehen noch durch Spalten und Löcher mit tiefer liegenden Höhlen in Verbindung, wie sich aus Nachgrabungen ergeben hat! Zuerst sammelt sich nun auf dem Boden dieser Versenkungen eine Schicht Dammerde an, die aus dem verwitterten Gestein und den Pflanzenresten sich bildet, welche das von oben in den Trichter einfließende Wasser mit sich hinabführt. Hier beginnt nun der fleißige Mensch wieder die ersten Anpflanzungen, bis der Boden sich mehrt oder fruchtbare Erde mit viel Mühe und Kosten herbeigeschafft wird, um auch die Wände des Trichters oder des Thälchens fruchtbar zu machen. In den kleinsten Dollinen stehen wenigstens einige Obstbäume, in den größeren wird schon Getreide, Gemüse und Wein gebaut, ja, den köstlichsten Wein ganz Illyriens, den Champagner von Prosecco, kocht die Sonne in einer solchen Dolline, die der über sie hinbrausenden Bora lacht. Man ist schon einen Schritt weiter gegangen, indem man Trichter, die nicht tief genug sind, um von der Bora unbehelligt zu bleiben, durch Steinmauern gegen sie schützt. In jüngster Zeit ist sogar der Plan zur großartigen Inangriffnahme der Bepflanzung des Karsts aufgetaucht; doch weiß ich, da ich soeben erst von einer größeren Reise heimkehre, nicht, wie weit man damit gediehen ist.“

Meine beiden Zöglinge, frische Jungen von vierzehn und sechszehn Jahren, hatten der aufregenden Unterhaltung mit leuchtenden Augen gelauscht. Ich sah ihnen an, wie sie sich heimlich auf so einen Borasturm freuten. Und sie sollten ihn genießen, zu ihrer und meiner unauslöschlichen Erinnerung. Eine erste Probe derselben stand uns aber bereits bevor, während wir uns eben dem Anschauen der neuen vor unseren Augen auftauchenden Herrlichkeit hingaben. Triest, die amphitheatralisch an ihren Höhen aufsteigende, mit dem burgartigen Castell gekrönte Stadt, hob sich vor uns aus dem Meere. Selbst die tiefen Golfe von Monfalcone zur Linken und Capodistria zur Rechten vermochten uns nicht mehr zu fesseln, die Stadt allein zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Da – wir hatten bereits den Leuchtthurm zu unserer Rechten und erkannten den Molo San Carlo, auf welchem stets zahlreiche Gruppen der Ankunft des Dampfers harren – da rief plötzlich der Capitain: „Wir haben den Teufel an die Wand gemalt, und da ist er! Herren und Damen, die Kopfbedeckung fest halten! Es kommt Bora! Sehen Sie die Staubwolke auf Optschina!“ Die Matrosen riefen „Bora! Bora!“ und beeilten sich, das Leinwanddach des ersten Decks einzuziehen. Die meisten Frauen flüchteten in die Kajüten. Wir waren dem Molo so nahe, daß wir die einzelnen Gestalten unterscheiden konnten. Plötzlich ungeheure Bewegung und Flucht – ein förmlicher Regen von Hüten und Mützen und selbst Damenhüten flog dort in’s Meer. Ehe wir zur Landungsstelle kamen, war der Platz von Zuschauern ziemlich geräumt, – die handfesten Facchini, die Triestiner Dienstmänner oder Eckensteher, waren dagegen um so zahlreicher herbeigeeilt, um für ihre Dienstleistung heute eine doppelte Ernte zu halten.

Auch wir hatten den ersten Gruß der Bora deutlich genug empfangen; doch tröstete der Capitain, daß sie noch schwach sei. Um so mehr eilte Alles, an’s Land und unter Dach und Fach zu kommen. Eine halbe Stunde später saß ich mit meinen Zöglingen in der Corona serrata (Gasthof zur eisernen Krone), wo unser Aufenthalt auf anderthalb Monat sich ausdehnte. – Wir fanden nun Gelegenheit, so ziemlich Alles zu erproben, was der Triestiner Bora auf dem Lloyddampfer Uebles nachgesagt worden war. Wir erlebten sie vom schwächsten bis zum äußersten Grade, wo ihr Wüthen den Verkehr in denjenigen Straßen der Stadt, die ihr in ihrer ganzen Länge besonders ausgesetzt sind, förmlich schloß, wo Geschirr und Menschen, die diese Straße passiren wollten, niedergeworfen und auf dem glatten Boden fortgerissen und gerollt wurden, wo selbst die Seile, die man in solchen Straßen an den Trottoirs hin befestigt, nur von den stärksten Männern zum Vorwärtskommen benutzt werden konnten, wo, wenn die Bora Tage lang wüthete, kein Segelschiff in den Hafen kam, sondern ganze Flotten sich hinter Pirano sammelten, um, wenn endlich Ruhe eintrat, zu sechszig, ja hundert Segeln zugleich den Einzug auf der Rhede zu halten, ja, wo wir des Nachts bei fest geschlossenen und verstopften Fenstern und Fensterläden und selbst unter doppelten und dreifachen Decken im Bette froren, so Alles durchdringend ist der fürchterliche Eishauch der Bora. Wir sollten sie aber in ihrer ganzen Machtfülle bewundern lernen, als wir endlich die Heimreise über den Karst antreten mußten.

Ich will gleich zur Sache selbst schreiten, wie sehr es mich auch verlocken möchte, von unserm Norddeutschen, der wieder unser Reisegefährte wurde, und von dem alten armen Türken, der nach Wien zum Kaiser wollte und mit dem Turban auf dem geschornen Schädel und mit Pantoffeln an den Füßen, in diese wilde Gegend gerieth, sowie von den Leiden auf der Gebirgsreise auch ohne Bora zu erzählen; nur das muß ich vorausschicken, daß, natürlich vor der Eröffnung der Karsteisenbahn in bedeutend stärkerem Grade als jetzt, das viele Fuhrmannsgeschirr den Winterverkehr auf der Straße zwischen Triest und Laibach außerordentlich beschwerlich, oft gefährlich machte. Mehr als in Triest selbst gewinnt man einen Begriff von der Wichtigkeit dieses Hauptseehandelsplatzes der österreichischen Monarchie beim Anblick der oft unabsehbaren Wagenreihen, welche, mit Waaren beladen, landein, oder auch mit Baustämmen befrachtet, seewärts fahren. Die Wagen [170] sind niedrig, hauptsächlich des Holztransports wegen; im Winter sind jedem einzelnen oft zwölf und mehr Paare Ochsen vorgespannt. In jedem Orte an der Bandstraße wohnen Fuhrherren, die insgesammt über zehntausend Fuhrknechte in Sold traben sollen. Nun denke man sich im Winter, wo für den Verkehr eine Bahn durch den Schnee gegraben werden muß, die dann oft zwischen haushohen Schneemauern hinführt, eine Begegnung mit solch einer Wagenreihe! Oft ist das Umwenden und Umkehren ebenso unmöglich, wie das Ausweichen. Dann ist kein anderer Ausweg, als daß die Zugthiere und Menschen einzeln seitwärts an eine der Schneemauern sich fest an-, ja fast hineindrücken, während der Schlitten der Reisenden so hoch gehalten wird, daß das wilde Heer vorüberdrängen, treiben und schlagen und stoßen und fluchen und prügeln kann. Ist die Straße selbst dazu zu eng, so bleibt nichts übrig, als in eine Schneewand eine Nische für den Zug der Reisenden auszugraben, wozu Alles Hand anlegen muß.

In einer solchen Nische staken wir mit unserm Schlitten auf dem jenseitigen Abhang des Berges, über welchen die Straße von Präwald (fast am Fuße des Nanes!) nach Adelsberg führt. Schweißtriefend von der Arbeit und todtmüde kauerten wir da, und immer wollte des Fuhrwerks kein Ende werden, als plötzlich der Zug stockte und vom Berge her der Angstschrei: „Bora! Bora!“ erscholl. Die Thiere brüllten, sie kennen die Gefahr, und mit einem Male wurde es Nacht über uns, um uns – einen langen, bangen Augenblick – eine Schneelawine hatte sich über uns hingewälzt, und nun folgte der zerriebene Flugschnee wie ein rasselnder Regen und jagte über uns hin. Dann begann ein Drängen von rückwärts an uns vorüber – etwa zwanzig Fuhrknechte waren es, die keuchend vorbeistürmten – und wir ihnen nach, Gepäck und Schlitten und Thiere im Stiche lassend, drängten wir uns zwischen den Geschirren und den Schneemauern fort – es waren nur noch wenige, aber noch viel weniger Augenblicke hätten dazu gehört, uns ein Grab der Lebendigen zu bereiten. Die Bora schleuderte uns in der Hohlgüsse der Schneemauern wie Schneebällen vorwärts, so daß wir kaum auffußten, und doch mit dem klirrenden Schnee uns die Nacken peitschend – die Sinne wollten mir vergehen, als ich plötzlich niederstürzte – und dies blos, weil die Bora plötzlich mich nicht mehr trug, sondern über unsern Häuptern weiter wüthete. Als ich die Augen wieder gebrauchen konnte, das Bewußtsein der erlebten jüngsten paar Augenblicke mir klar wurde, suchte mein erster Gedanke, der erste Strahl des Blicks nach meinen Zöglingen. Vor mir lagen allerlei Gestalten durcheinander – der arme Türke war der Erste, den ich sah, und da, neben ihm krochen meine Jungen hervor, der eine im Gesicht blutend, der andere hinkend, aber sonst gesund und gerettet Beide. Gerettet waren übrigens Alle, die nicht verweht waren. Die Bora hatte uns in Adelsberg selbst abgeworfen, und Hülfe kam nun von allen Seiten, und auch wir fanden ein Fleckchen im überfüllten Wirthshause.

Aber welcher Jammer brach nun los, als die Menschen erst wieder zu Besinnung gekommen waren! Mehr als dreißig Geschirre staken zwischen den Schneemauern, wie viel Reisende noch hinter uns sich eingewühlt haben mochten, wußte Niemand. Der halbe Ort machte sich auf den Weg, um die Rettung zu versuchen. In der Wirthsstube wurde es trotzdem nicht leerer, denn auch von der anderen Seite dieser Schreckensstraße, von Planina her kamen Flüchtige und Boten des Unglücks. Geschirre waren in den Abgrund geschleudert, Handwerksbursche von einer Schneewehe verschüttet – und der Einzige, der sich gerettet hatte, stand an der Thür und konnte vor Erregtheit und Erschöpfung nur stoßweise die Erzählung des Jammers vollenden; er hatte einen Bruder unter den Verwehten.

Indeß kamen die Leute zurück, die den vielen Fuhrgeschirren zu Hülfe geeilt waren. Alle Mühe war vergebens. Die Bora ließ keinen Menschen zu der Stätte, wo sie ihr großes Grab vollendete. Haushoch hatte sie die Grabhügel über der Straße aufgeworfen. Händeringend liefen Frauen und Kinder umher – aber Hülfe war unmöglich. Die Nacht war rabenschwarz hereingebrochen. Trotzdem keine Laterne, keine Fackel in dem Sturm zu benutzen war, eilten doch viele der Männer der anderen Seite des Unglücks zu. Der Handwerksbursch führte sie. Sie kamen jedoch noch früher zurück, als vom ersten Versuch. Die Bora spottete der aufopferndsten Anstrengung des Menschen, ja sie begann die Straßen im Orte selbst zu verwehen, so daß wir bald auch von jeder Nachricht von außen abgesperrt waren.

Es war eine fürchterliche Nacht, an Schlaf natürlich nicht zu denken, auch wenn wir Betten hätten bekommen können. Der Vorrath des Gasthauses war längst besetzt – und doch schlief Niemand, die Kälte rüttelte Alles munter. Dabei war nicht einmal ein Einheizen möglich; der Sturm ließ keine Flamme aufkommen, und unsere Mäntel und Burnusse lagen bei unserm übrigen Hab und Gut begraben. Nur unser Türke hatte Nichts verloren, die Pantoffeln unter den Armen und einen Zipfel des Turbans in der Faust war er dahingeweht worden. Aber trotz all seiner Habe fror er doch mehr als Alle. Erst weit nach Mitternacht ließ der Sturm ein wenig nach, so daß uns wenigstens eine kräftige Ofenwärme erquicken konnte, und da fiel auch manches Auge in Schlummer.

Sobald der Morgen graute, begann das Rettungswerk von Neuem. Die Straße in Adelsberg selbst war bald gangbar. Auch ich eilte mit hinaus und überließ meine Zöglinge an der Seite des Türken ihrem gesunden Schlaf. – Welch ein Anblick! Die Gegend war nicht mehr zu erkennen. Wo die Straße sich hinzog, ragte ein Schneehügel auf, unheimlich von der Morgensonne geröthet. Aber die Luft war ruhig geworden, und so gingen denn Hunderte von Händen mit Schaufeln und Karren an die Arbeit. – Ich eilte auch nach der andern Seite der Verwüstung hin, zur Straße, die nach Planina führt. Sie war weniger verweht. Es war Hoffnung, daß sie bald wieder fahrbar würde, zumal man diese Arbeit von jedem Orte am Wege aus in Angriff nimmt.

Gegen Mittag war die Ausgrabung auf der Präivalder Seite bis zu unserer Schneemauernische vorgerückt. Die Arbeit war außerordentlich schwer. Die Bora hatte ihren Flugschnee so fest zwischen die Geschirre und die Wände eingekeilt, daß man viele Thiere stehend erstickt und erfroren fand. Auch unsere Pferde lehnten wie lebend an der Schneemauer. Wir fuhren unseren Schlitten selbst zum Gasthaus, und da Nachmittags die Nachricht von Planina kam, daß der Weg frei sei, so verließen wir die Stätte des Schreckens und Jammers, dessen Bilder uns auf der Straße noch oft genug entgegenstarrten. Von den verschütteten Handwerksburschen lagen mehrere ausgegrabene an der Straße. Was der Abgrund zur Rechten verschlungen halte, bedeckte der Schnee; nur ein Pferd konnten wir erkennen, dessen Hals ein Fuhrknecht umklammert hielt. Sie hatten treu bis in den Tod zusammengehalten.

In Planina begrüßten wir die Grenze des Reichs der Bora; die ausgestandene Schreckniß blieb nicht zurück, sondern hielt noch auf der Eisenbahn, die wir in Laibach bestiegen, die Erinnerung fest an die Adelsberger Nacht gebannt.

Schon damals sprach man in Laibach gegen uns die Hoffnung aus, durch die Locomotive auch der Bora Herr zu werden. Eines der großartigsten und kühnsten Bauwerke aller Zeiten und aller Länder wurde vollendet: die Karstbahn. In der That schien ihr Sieg über den König aller europäischen Sturmwinde ein vollendeter zu sein, denn außer den Schneewehen hatte man Jahre lang keinen Unfall auf der Bahn zu beklagen. Da bringt die Ostdeutsche Post folgende Nachricht: „Schon seit Sonnabend den 11. Februar) früh herrschte auf der Strecke nächst Laibach eine derartige Bora, daß Telegraphenstangen umgeworfen, Bäume entwurzelt und riesige Schneemassen in die Bahneinschnitte geworfen wurden. Besonders auf dem Karst wüthete das Unwetter am schrecklichsten und gerade zu der Zeit, als der aus Wien gekommene Lastenzug Nr. 133 die Karstböschung passiren wollte. Trotzdem mit voller Kraft gefahren wurde, bewegte sich der Zug nur äußerst langsam vorwärts und hatte das den Zug begleitende Dienstpersonal die größte Vorsicht zu beobachten, um nicht vom Sturme von dem Bahnzuge herabgeschleudert zu werden. In dieser Situation wurde die Station Biavaca gegen sechs Uhr Abends glücklich passirt. Eine kurze Strecke jedoch vor der Station Ober-Lesece bekam der Zug von dem furchtbar wüthenden Sturm einen heftigen Stoß, dem sofort ein zweiter derartiger folgte, daß der Zug aus dem Gleise gebracht wurde, und nun hatte der Sturm vollkommenen Spielraum. Als wären es leichte Wägelchen, wurden zwei Waggons auf den Schienen plötzlich umgeworfen und hierdurch arg beschädigt, während drei andere Waggons, von dem Sturm über die Böschung geschleudert, in der Tiefe gänzlich zertrümmerten. Glücklicherweise [171] ist durch das besonnene Benehmen und die Geistesgegenwart des Zugspersonals kein Menschenleben zu beklagen. Die Strecke, welche durch diesen Unfall unfahrbar wurde, konnte erst nach außerordentlichen Anstrengungen dem Verkehr wiedergegeben werden.“

Es ist sicherlich keine der geringsten Leistungen der Bora gewesen, über Lasten von Hunderten von Centnern Schwere Herr zu werden. Sie herrscht noch in ihrem Reiche, trotz der mächtigsten Erfindung, die der Mensch ihr entgegenstellte. Möge darum der anscheinlich unansehnlicheren, nur leise und Schritt für Schritt gegen sie heranwachsenden Macht der Cultur es gelingen, den Wütherich wieder in die Fesseln des Wäldergürtels zu legen, den die Selbstsucht und Unkenntniß der Menschen zum Verderben der Nachkommen ihm einst abgenommen!




Leipzigs gottesfürchtiger Dichter in seinem Lieblingshaine.

In dem Atelier unsers wackern Meisters Knaur, mit dessen künstlerischem Bildungsgange die Leser der „Gartenlaube“ ein früherer Artikel (1859 Nr. 35) bekannt gemacht hat, ist eben eine überlebensgroße Marmorstatue Gellert’s vollendet, welche, für Leipzigs schönen Stadtpark, das „Rosenthal“, bestimmt, daselbst im Laufe dieses Frühlings aufgestellt werden wird, und von der schon jetzt unsern Lesern eine Zeichnung vorlegen zu können wir uns freuen.

Knaur ist viele Jahre seines Lebens hindurch und in verschiedenen Wiederholungen mit der künstlerischen Darstellung und monumentalen Verherrlichung Gellert’s beschäftigt gewesen. In dem eben angeführten Artikel dieser Zeitschrift besprachen wir neben anderen Werken des Künstlers besonders eine daselbst auch abgebildete Statuette des frommen Dichters, welche ihn wie in milder Begeisterung über einem seiner religiösen Lieder sinnend darstellt; aber schon früher, schon als Zögling Rietschel’s, hat Knaur den Entwurf zu einem vollständigen Gellertmonumente geschaffen, der freilich Entwurf geblieben ist. Man darf demnach wohl sagen, daß Knaur – ganz abgesehen von dem besondern Interesse, welches er als Leipziger an dem Gegenstande hat – so sehr wie irgend ein Künstler berufen und vorbereitet war, den Auftrag zu einem statuarischen Monumente Gellert’s auszuführen. Daß die Sache aber nun dahin gelangt ist, wo wir sie finden, und daß die gute Stadt Leipzig damit in den Besitz einer schönen monumentalen Zierde gelangt, an deren Ueberfluß sie bisher nicht grade gelitten hat, das hat seine eigene Geschichte, von der Einiges zu erfahren wohl auch für weitere Kreise nicht ohne Interesse sein wird.

Es ist eine Reihe Jahre her, daß Knaur unerwarteter Weise von einem Grafen H** (der bescheidene Mann will weder an dem Denkmal selbst, noch in der Presse öffentlich genannt sein), dessen seitdem leider verstorbene Mutter eine lebhafte Verehrerin Gellert’s war, den Auftrag zu einem für das Leipziger Rosenthal bestimmten Gellertmonumente erhielt; eine beträchtliche Geldsumme, die Hälfte aller Kosten, welche zur Herstellung des nun vollendeten Denkmals erforderlich waren, wurde angewiesen, im Uebrigen über die Form des Monuments Nichts vorgeschrieben, als daß auf demselben der Gellert’sche Vers:

„Gott soll ich über Alles lieben
Und meinen Nächsten gleich als mich“

etwa unter einer Büste oder einem Medaillon mit des Dichters Portrait anzubringen sei.

Daß nun der Künstler diesen Auftrag mit aller Lebhaftigkeit ergriff, wird nach dem oben Gesagten Niemand wundern; sehr natürlich ist es aber auch, daß er den Wunsch hegte, das Werk in wahrhaft monumentaler Weise zu gestalten, vor Allem, sich, wenn irgend möglich, bis zu statuarischer Darstellung und bis zu dem edlen Materiale weißen Marmors zu erheben. Allein da galt es, bedeutende Schwierigkeiten zu besiegen; für die Herstellung einer Marmorstatue reichten die gebotenen Mittel bei weitem nicht aus; dieselben durch die Betheiligung wohlhabender Kunstfreunde und Freunde der Vaterstadt zu vermehren, wollte nicht gelingen, obgleich der Künstler an manche Thür geklopft hat. Nicht allein abgewiesen wurde er mit seinem Anliegen und seinen Plänen, man that auch, was man konnte, ihn zu entmuthigen und von Schritten bei den Behörden der Stadt abzuhalten. Als jedoch trotz dieser Mißerfolge und fruchtlos unerquicklichen Unterhandlungen der Künstler sich nicht abschrecken ließ, da wandte sich das Blatt; ohne Zögern und Schwanken nahm sich der Bürgermeister Koch der Sache an, und dem Rathsantrag auf Bewilligung der noch nöthigen Summe traten auch die Stadtverordneten sofort einstimmig bei; der Plan war gerettet und die Stadt Leipzig hat sich in würdiger Weise an der Herstellung eines Denkmals betheiligt, zu dessen Aufrichtung eine um so nähere Veranlassung gegeben war, als das alte Gellertmonument auf dem ehemaligen sogenannten Schneckenberge dem Theaterneubau am Augustusplatze hat weichen müssen.

Zur Würdigung nun der Statue selbst und zum rechten Verständniß der Intentionen des Künstlers muß zunächst ein Wort über den Aufstellungsort gesagt werden. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, daß bei jedem Kunstwerke die Auffassung, der künstlerische Charakter von der Bestimmung und von dem Orte und der Art der Aufstellung abhängig zu denken ist; es sollte wenigstens so sein und ist in allen Zeiten lebendiger Kunstübung, bei den Alten nicht minder als in der Renaissance, so gewesen, und es müßte allgemein empfunden werden, daß es für die Conception eines plastischen Monumentes durchaus nicht gleichgültig ist, wohin man dasselbe stellen will, ob in einen geschlossenen Raum, ob in nächste Verbindung mit der Architektur, oder auf einen weiten, von Häusern umgebenen Platz, auf eine belebte Straße, oder in die freie Natur, in einen Garten oder, wie es hier der Fall ist, in die Umgebung von Wald und Wiese. Wenn uns demgemäß auf den ersten Blick an Knaur’s Statue die nicht allein durchaus realistische, sondern etwas genrehafte Auffassung und Behandlung befremden mag, so wird dies Befremden freudiger Zustimmung weichen, wenn wir die Bestimmung des Bildes in’s Auge fassen, wenn wir uns die Statue in die für sie gewählte Umgebung hineingestellt denken.

Das „Rosenthal“, ein parkartig behandelter Laubwald mit weiten, von prächtigen alten Bäumen und dichten Gebüschen umgebenen Wiesenflächen, ist der namentlich an Sonntagen von vielen Hunderten besuchte, unschätzbare Spaziergang Leipzigs; das war er schon zu Gellert’s Zeit, ja, der alte Herr genoß bekanntlich das damals ausschließliche Privilegium, im Rosenthale zu reiten. Hier also, in diese Umgebung, in die Mitte der sonntäglichen Spaziergänger, wird Knaur’s Statue aufgestellt an einem trefflich gewählten und künstlerisch herzurichtenden Platze, angesichts eines der belebtesten Wege, umgeben von Rasenfläche und Blumenpartien, während uralte hohe Eichen und lauschige Gebüsche, unter denen Bänke angebracht werden sollen, die Einrahmung und den Hintergrund bilden.

Und wenn wir nun sehen, daß der sinnige Meister den alten Herrn in diese Umgebung selbst als einen Spaziergänger hineinstellt, nicht sitzend, wie den Gelehrten in der Studirstube, nicht dichtend und sinnend wie in ruhiger Einsamkeit, sondern gerade so, wie er leibhaftig im Rosenthal erschienen sein mag, wenn ein Kreis selbst spazierengehender Verehrer, der in jedem Augenblick durch die Beschauer wieder dargestellt wird, sich eben um ihn gesammelt hat, werden wir da nicht sagen müssen, daß der Bildner mit seiner Auffassung genau das Richtige getroffen hat? So aber ist die Statue in der That gedacht. Der Baumstamm neben derselben schließt die Verbindung mit der Umgebung, die Rechte mit dem jetzt geschlossenen Buch, in welchem er lustwandelnd gelesen haben mag, auf diesen Stamm gestützt, den dreispitzigen Hut im Arme, im sonntäglichen Habit seiner Zeit, so steht der Dichter ruhig vor uns, nicht in einer bestimmten Handlung, nicht wie ein Gellert darstellender Schauspieler mit symbolisch tiefsinnigen Geberden, nein, in voller Ruhe, so wie der Mann selbst, der jetzt eben weder den Dichter noch den Gelehrten herauskehrt, sondern der Mensch in seiner Ganzheit und Schlichtheit ist, in ähnlicher Situation als der Mittelpunkt einer um ihn gruppirten Gesellschaft gestanden haben würde. Das ist in der That eine vortreffliche, der Bestimmung der Statue und ihrem Aufstellungsort mit feinem [172] Gefühl angepaßte Auffassung und Composition, für deren specifische Eigenthümlichkeit unser Künstler die Analogie höchst ausgezeichneter Portraitstatuen des Alterthums anführen könnte; denn wirklich ist die Situation des berühmten Sophokles im Lateran und des Neapeler Aeschines im Wesentlichen ganz diejenige dieses Gellert, und die letztere dieser beiden Statuen ist auch in der realistischen Behandlungsweise mit der unsrigen verwandt, nur daß die antiken weiten Falten auf unser Auge anders wirken, als die moderne Tracht. Und doch hat der Künstler unzweifelhaft Recht gehabt, uns seine Statue in eben dieser Tracht, ohne alle Faltenzuthaten hinzustellen; die vielkragigen Kutschermäntel, durch welche die moderne statuarische Portraitbildnerei eine Zeit lang antiken Faltenwurf ersetzen zu müssen geglaubt hat, sind längst als entbehrlich, ja als vielfach störend erkannt worden, hier aber, bei einer Statue, die man hauptsächlich im schönen Sommerwetter betrachten wird, wenn’s im Rosenthale grünt und blüht, und der man im Winter wohl, wie unseren übrigen steinernen Monumenten, ein hölzernes Schilderhäusel überdecken wird, hier wäre ein Kutschermantel doppelt und dreifach schlecht am Platze gewesen. Sehr verständiger Weise hat der Künstler dagegen seinem Gellert einen Hut in den Arm gegeben, der zugleich als ein gutes Motiv einer einfachen und natürlichen Bewegung des linken Armes wirkt; denn haben wir einmal den alten Herrn in leibhafter Persönlichkeit vor uns, so werden wir ihm auch zugestehen müssen, daß er nicht ohne Hut in’s Rosenthal gegangen ist.

Gellertstandbild in Leipzig.
Von Hermann Knaur.

Die diesen Zeilen beigegebene Zeichnung überhebt uns beinahe der Pflicht noch besonders hervorzuheben, daß Knaur trotz alles Realismus der Auffassung das Platte und spielend Genrehafte mit Glück vermieden und seiner Statue im Antlitz und in der Haltung plastische Ruhe und monumentale Abgeschlossenheit genug zu geben gewußt hat, um sie mit ihrer Aufstellungsart in Harmonie zu bringen. Von dieser nämlich haben wir noch ein kurzes Wort hinzuzufügen. Das ziemlich hohe Postament wird aus rothem Rochlitzer Porphyr ausgeführt, und soll an seiner Vorderfläche nur den Namen Gellert, ohne alle Beifügungen von Geburts- und Todesjahr tragen. Unter dem Gesimse aber wird in vergoldeten Buchstaben auf einer Erzplatte an der Vorderseite der oben schon angeführte Vers eingelassen werden, dem hinten der folgende entsprechen wird:

Seid fröhlich, ihr Gerechten,
Der Herr hilft seinen Knechten.

Zu beiden Seiten sollen dann weiter diese Verse angebracht werden, rechts:

Vertrau’ auf Gott, er wohnt bei denen,
Die sich nach seiner Hülfe sehnen.

Und links:

Der wahre Ruhm ist Ruhm bei Gott
Und nicht bei Menschenkindern.

Schließlich wollen wir noch einmal auf das Material der Statue zurückkommen; daß es weißer Marmor sei, haben wir schon gesagt, hier sei noch hinzugefügt, daß carrarischer Marmor der sogenannten zweiten Classe absichtlich gewählt wurde. Während nämlich der Marmor der sogenannten ersten Classe die Eigenschaft hat das Wasser, wenn auch nur in höchst unbedeutendem Grade, anzuziehen, steht der hier gewählte gegen Nässe vollkommen und läßt das Wasser wie glasirtes Porcellan ablaufen. Man darf demnach wohl hoffen, daß die Knaur’sche Gellertstatue, namentlich wenn sie im Winter, wie oben angedeutet, verwahrt wird, der Ungunst unseres Klimas vollkommen widerstehen wird. Erfüllt sich aber diese wohlbegründete Erwartung, so dürfte damit das vielgehegte Vorurtheil, als ob wir in unseren Breiten Marmorstatuen nicht ungestraft im Freien aufstellen dürften, auch bei uns wohl beseitigt werden, wie es z. B. in Berlin durch die Gruppen auf der Schloßbrücke beseitigt worden ist. Das aber wäre von nicht geringer Bedeutung; denn so vortrefflich sich die Bronze für gewisse monumentale Zwecke eignet, so wenig paßt sie für alle. In unserem Falle z. B. wäre sie gar wenig am Platze gewesen, und ähnliche mögen sich zu diesem gesellen. Uns Leipzigern liegt es gar nahe, dabei an das seit langer Zeit projectirte Leibnitzmonument zu denken, für welches beträchtliche Fonds gesammelt sind und das in Marmor hergestellt einem unserer schönen öffentlichen Plätze leicht zu einem erfreulicheren Schmucke gereichen dürfte, als in Erz, welches unter den Einflüssen unseres Klimas auch nicht die schöne Patina antiker Monumente gewinnt, sondern vielmehr recht schwarz und düster wird.

Overbeck.




Preußische Fahnenweihe in Feindesland.
Aus den Erinnerungen eines Veteranen. Mitgetheilt von Georg Hiltl.

Am 3. September des Jahres 1815 war in Paris eine eigenthümliche Bewegung bemerkbar. Nicht wie sonst durchströmte eine rasche, lebendig dahinrollende Menschenfluth die Straßen der ungeheuren Stadt; nicht wie sonst tönten die Rufe des Sieges oder der Begrüßung aus tausend Kehlen in die Luft. Es war vielmehr eine düstre Stimmung in den sich versammelnden Massen [173] zu erkennen, ein finstrer Ernst lag auf vielen Gesichtern, und dennoch schien es, als zöge alle diese unwilligen, trübseligen, trotzigen Leute eine geheime Kraft nach einem gewissen Punkte der Stadt, wo Etwas vorgehen sollte, das die Kinder der großen Nation noch nicht gesehen hatten.

Am 3. September 1815 sollte laut Armeebefehl König Friedrich Wilhelm’s des Dritten von Preußen in der besiegten und eingenommenen Hauptstadt die Vertheilung und Verleihung von Fahnen an diejenigen Regimenter der Linie und Landwehren stattfinden, welche den großen Sieg erfochten hatten, ohne Fahnen, die Heiligthümer eines jeden braven Regimentes, zu besitzen. Diejenigen Regimenter aber, vor welchen her schon das Banner mit den preußischen Farben seit alter Zeit flatterte, wenn sie in den Kampf zogen, sie sollten zum Zeichen ihres Muthes, ihrer Hingebung in die Fahnenspitzen das eiserne Kreuz erhalten. Tags vorher war in dem Quartier König Friedrich Wilhelm’s des Dritten, dem Hotel des Vicekönigs von Italien in der Straße Bourbon, eine große, festliche Versammlung gewesen. Die hervorragendsten Führer der alliirten Armeen hatte der König an seinem Tische vereinigt, sein erster Becher galt dem Wohle der siegreichen Armeen, die nach gewaltiger Blutarbeit den größten Gegner niedergeworfen hatten, der wohl jemals im Sturme und Graus der Schlachten wider die Völker der Erde gestritten. Gegenüber der Tafel lagen auf langen, mit kostbaren Decken gezierten Tischen dreizehn Fahnen. Sie harrten ihrer ehrenvollen Bestimmung, sie waren nur noch ein Stiel, ein geschmückter, mit Bändern und Farben gezierter Streifen Zeug. Der Tag sollte erst kommen, der in diesen todten Stoffen das Leben erweckt, das Leben der Begeisterung, das in dem muthigen, unverzagten Herzen des Trägers wohnt, aus den feurigen Blicken der Tausende sprüht, welche nach der Fahne gerichtet sind, und das sie flattern und rauschen macht in der Sonne eines blutigen Entscheidungstages.

Neben diesen Neulingen ruhten die alten Banner; verschossen – staubig – matt das Silber, das Gold – gebleicht die einst so lebhaften Farben, aber ehrwürdig mit ihren durch Kugeln zerfetzten, löcherigen Tüchern, Reliquien aus bewegten Tagen, die Preußens Waffen zum Kriege geführt, die schon unsäglichem Schmerze, kühnem Entsagen, großherziger Selbstaufopferung zugewinkt und deren Fetzen ganzen Schaaren von Kriegern gezeigt hatten, an welcher Stelle im Gewühle des Kampfes Sieg oder Tod zu finden sei.

Diese alten Banner führten in ihren Spitzen in durchbrochner Arbeit das Zeichen des eisernen Kreuzes. Nicht weit von den also ruhenden Fahnen saßen fünfundneunzig Männer, gebräunte, schlicht aussehende, freudig ernste Männer. Sie gehörten ursprünglich den verschiedensten Ständen an, man konnte aber heute keinen Unterschied gewahren, sie glichen sich einander, sie schienen einer Familie entsprossen, der Dienst des Vaterlandes hatte sie zu Brüdern gemacht. Es waren neunzehn Feldwebel und Wachtmeister, neunzehn Unterofficiere und siebenundfünfzig Gemeine, Alle schmückte der Rock des siegreichen preußischen Soldaten, nur die Abzeichen der Regimenter schieden sie äußerlich.

Sie waren geladen zur Tafel der Herrscher, der Führer. Sie stießen ihre Gläser an das ihres Königs und Kriegsherrn. Es war ein lauter, heller Klang, der sein Echo finden mußte im fernen deutschen Vaterlande, das diese Männer hatten befreien helfen vom fremden Joche, echte Kinder des Volkes, Alles verlassend auf den Ruf: „Rettet das Vaterland!“

Es war ein erhebender Tafelschluß in dem großen Hotel der Straße Bourbon am 2. September 1815 zu Paris, als unter den Klängen kriegerischer Musik die Nägel in die neuen Fahnen geschlagen wurden, als die Farben Preußens sich entfalteten in der eroberten Hauptstadt. Diese Vorgänge hatten nur dazu beigetragen, die gedrückte Stimmung der Franzosen in eine schmerzerfüllte zu verwandeln. Das große, sieggewohnte Volk sah den Feind zum zweiten Male in seiner Mitte. Und heute, am 3. September, sollte ein Schauspiel stattfinden, so neu, so demüthigend für die Kinder Frankreichs, daß selbst der Feind, der siegreiche, einen Ausbruch des empörten Nationalstolzes fürchtend, die Vorsichtsmaßregeln in der Stadt verdoppelt hatte.

Stumm dehnten sich die Reihen der Zuschauer von dem Champ de Mars aus bis zur Straße Bourbon hin. Inmitten des Marsfeldes sollte die Weihe der Fahnen geschehen, welche den Regimentern für ihren Sieg über französische Heere zum Lohne gereicht wurden. Welche wunderlichen Gruppen unter diesen Zuschauern! Finstere Mienen gewahrte man, dunkelgefärbte Gesichter, die sich über die vordersten Zuschauerreihen erhoben. Man erkannte auf den ersten Blick an der Haartracht, dem Barte, an der eigenthümlichen Art der bürgerlichen Kleidung den verkappten Soldaten. Diese Männer wollten sich überzeugen, ob es Traum oder Wirklichkeit sei, daß Feinde, siegreiche Feinde, in den Straßen von Paris als Herren schalteten, nachdem der große Meister der Schlachten, Napoleon, vernichtet, geflohen – gefangen war. Ihr Kaiser! Ihr Feldherr! Viele dieser Männer hatten die Siegeslaufbahn des Gewaltigen von Anbeginn mit ihm durchzogen. Sie waren ihm gefolgt in die Wüsten Aegyptens, in die lieblichen Gefilde Italiens, in die Eissteppen Rußlands, in die gesegneten Fluren Deutschlands. Sie waren zurückgekehrt von Elba, sie hatten mitten im Tosen des Kampfes gesehen, wie das „Mißgeschick von Waterloo“ die Schwingen des kaiserlichen Adlers lähmte, und jetzt sahen sie zwei doppelköpfige und einen einfachen Adler in der Hauptstadt[WS 1] ihre siegreichen Krallen wetzen. Das war ein tiefer, echt soldatischer Schmerz, der durch die Seele der alten Krieger zog. Sie traten dicht zusammen, sie flüsterten nur. Mit Verachtung sahen sie auf eine andere Gruppe lachender Gesichter; sie bestand aus Leuten, denen die Umänderung eben recht war; diese Leute waren es, die „Vivent les Alliés“ riefen, die aber ebensogut „Vive Napoleon“ gerufen hatten, als der Kaiser von Elba zurückkam. Sie werden auch bald „Vive Louis XVIII.“ schreien, zum zweiten Male schreien – und eine gehörige Anzahl von ihnen wird noch am Leben bleiben, um fünfzehn Jahre später, am 30. Juli, schreien zu können: „A bas les Bourbonrs! vive Louis Phillippe! vivent les Orléans!“

Eine dritte Gruppe von Menschen, am 3. September 1815 zum Schauen versammelt, verhielt sich fast theilnahmlos. Sie kreuzten die Arme über die Brust, oder hielten sie auf dem Rücken, oder steckten ihre Hände in die Hosentaschen und stellten sich breitbeinig hin. Auf den Gesichtern dieser Leute entdeckte man auch eine gewisse Heiterkeit, aber es war weder die Heiterkeit des Schmeichlers, noch die des Beglückten. Es war das Lächeln des Hohnes. Die Physiognomien dieser Art von Zuschauern zeigten Furchen, Falten, gekreuzte Linien. Große Bewegungen hatten die Züge dieser Leute mit fortwährendem Zucken, unheimlicher Lebendigkeit begabt, was doppelt auffiel, da ihre Körper sich sehr ruhig hielten.

Die Augen dieser Menschen blickten ebenfalls lauernd und unstät. Um ihre Mundwinkel spielte das höhnische, schadenfrohe Lächeln. Trotz ihres gravitätischen Gebahrens trugen sie eine gewisse Nachlässigkeit in ihrer Kleidung, förmlich absichtlich, zur Schau, und ihr ganzes Wesen schien zu sagen: „Noch sind wir hier. Da habt Ihr’s. Wir haben voraus gewußt, daß es so kommen würde.“ Diese Leute waren die alten Republikaner von 1792. Sie freuten sich über den Einmarsch der Fremdlinge, den sie als eine Strafe für die Nichtanerkennung ihrer Principien betrachteten. Sie zuckten die Achseln und murmelten voll stiller Hoffnung auf die Wiederkehr der Conventsherrschaft: „Wer weiß, wie es noch kommen wird?“

Zwischen allen diesen verschiedenartig bewegten Menschen vertheilten sich nun die überaus zahlreichen und überall vorhandenen Neugierigen, die Menge, welche weder liebt noch haßt, die nur zusammenläuft und schreit, ohne irgend einen Grund zu haben, die immer da ist und immer wieder verschwindet, diese große, erbärmliche Sippschaft, die Niemand besser charakterisirt hat, als Cromwell, dem man Compliinente machte, daß bei seinem Einzuge so viele Zuschauer anwesend seien. „Bah!“ sagte der große Staatsmann. „Wenn ich einziehe, kommen hunderttausend, wenn ich gehängt werde, laufen dreimalhunderttausend zusammen.“

„Eiswasser, Cocoli, Früchte, frische Pasteten!“ So tönte es mitten in all den Wirrwarr, in alle Seufzer, Erwartungen und Verwünschungen hinein. Auf und nieder liefen die Verkäufer. „Frische Blumen!“ riefen Bouquetièren der Straße St. Honoré und der Boulevards. „Liquour à la Russie!“ heulte die heisere Stimme eines alten Branntweinschenkers. Die Gleichgültigen aßen, tranken und kauften. Immer lebendiger wurde die Unterhaltung. Man konnte bemerken, daß die Leute mit den soldatischen Gesichtern heftig agitirten, daß die alten Republikaner hetzten, daß die Bourbonisten abmahnten. Schon seit mehrern Wochen ahnten die Herrscher der siegreichen Armeen, daß sich eine Erhebung vorbereite; nächtliche Anfälle der Patrouillen, Zusammenrottungen, kaltes, erzwungenes [174] Benehmen gegen die Einquartierten bestärkten diesen Verdacht. Selbst bei den Neugierigen fand Aufreizung ein geneigtes Ohr, liebten sie doch die Veränderung, und wie lange war es her, daß in den Straßen von Paris Gefechte geliefert worden?

Da horch! Trommelwirbel! Alles wird still. Es beginnt die Feier des Tages, der seine Weihe durch die Einsegnung der Fahnen erhalten soll. Es ist dem Franzosen ein fremder Trommelwirbel. Da schreiten sie heran, die Sieger von Montmartre und Waterloo! Hurrah! Hurrah! wie die jungen, strammen Kerle die Schlägel rühren, wie das Kalbfell rasselt, wie die preußischen Wirbel anklingen an die Häuser von Paris, die hellen Pfeifen schrillend durch die Gassen tönen! Dann setzt die Musik rauschend ein und die Tritte hallen im Gleichmaß. Heute sind sie besser aufgeputzt, als am Tage des ersten Einmarsches, die Jungen aus der Kurmark, die flotten, pfiffigen, geriebenen Berliner. Sie gelten für großmäulig, aber sie haben gezeigt, daß sie schlagen können; man frage den General Thilemann, ob bei Waterloo Muth und Arm des Berliners nicht ebenso bei der Sache gewesen sind, wie sein Mundwerk? Die stämmigen Pommern, die schönen schlanken Westphalen – Alles zieht von der Straße Bourbon her gegen das Marsfeld.

Und nun – da flattern sie im Winde hoch – zum ersten Male über den Häuptern der siegfreudigen Soldaten, die neuen preußischen Fahnen; es ist, als ob vom deutschen Lande her ein Windstoß grüßend herüberwehe und sie lustig bewege und selbst die wenigen Stücklein Zeug, welche die Kugeln an den Stangen der alten Fahnen gelassen haben, spielen, sich hebend, im Winde und flüstern einen leisen Gruß den Nachkommen derer, die vor langen Jahren zuerst die zerschossenen Banner aus dem Kampfe getragen. Dreizehn Unterofficiere, jeder geziert mit dem eisernen Kreuze, tragen die Fahnen und Standarten. Sie haben die Neulinge und die Alten aus dem Quartier des Königs abgeholt. Ein glänzendes Geleit wird dieser kleinen Schaar gegeben. Mit festem Tritte, stolz blickend, umgiebt die Fahnenträger das erste Bataillon des ersten Garderegiments zu Fuß. An der Spitze dieses Geleites erblickt man zwei junge, schlanke Officiere. Sie schauen muthig und heiter um sich, auf ihre Krieger, auf die drängende Volksmenge, ihre jugendliche Brust hebt sich bei dem Gedanken, daß auch sie nicht fern geblieben sind dem großen Streite für das Vaterland, für die Rechte der Unterdrückten. Diese beiden jungen, stattlichen Männer, diese Officiere vor den wallenden Fahnen sind Friedrich Wilhelm, der Kronprinz von Preußen und sein Bruder, Prinz Wilhelm, der heute als König Wilhelm der Erste auf dem Throne Preußens sitzt. Sie haben den ehrenvollen Auftrag erhalten, die preußischen Fahnen auf das Marsfeld von Paris zu geleiten.

Dort ging es lebendig und militärisch bunt her. Zur Fahnenweihe waren commandirt: fünf Regimenter Infanterie, drei Cavalerie-Regimenter. Die Infanterie stand in Colonnen zum Viereck geschlossen, die Cavalerie in der Fronte gegen das Viereck und gegen die Stadt gekehrt, in dem innern Raume die Detachements eines jeden Regiments, die Zahl von siebenzehn Bataillonen, neun Escadronen ausmachend. Die Garde und die Grenadiere standen auf dem Erdwalle, der das Marsfeld umgab.

Wunderbare Umwandlungen und Bestimmungen! Jenen Erdwall hatte man aufgeworfen, als König Ludwig der Sechszehnte das Fest der Versöhnung auf dem Marsfelde mit seinem Volke feierte; der letzte große militärische Act war das Champ de Mai gewesen, welches an eben der Stelle, wo heute die siegreichen Preußen standen, der gestürzte Kaiser über seine tapfere, glänzende Armee gehalten. Inmitten des Waffenglanzes stand ein schlichter Feldaltar. Vor demselben der Feldprobst Offelsmeier. Heran zogen sie, die Träger der Fahnen, an ihrer Spitze die Prinzen. Welche Gefühle durchkreuzten sich im Innern aller dieser Männer, als sie die Brücke überschritten, die zu dem Marsfelde führt! Es ist die Brücke von Jena, die Ihr betretet, preußische Männer! Aber Euer Tritt am 3. September 1815, der Tritt des Siegers, hat die Schmach in den Boden gestampft, Eure Fahnen haben den verhaßten Namen zugedeckt, Eure Waffen die gähnende Scharte aus, gewetzt.

Ein lautes Hurrah! empfing die Kommenden. Musik, Trommeln fielen betäubend ein. Tausende von blitzenden Gewehren klirrten empor und senkten sich wieder und bildeten dann eine starre Reihe von Erz, funkelnd im Glanze der Sonne. Die Fahnen zu ehren präsentirt man das Gewehr. Rechtsum schwenken die Fahnenträger und marschiren in den Raum, wo sie sich mit der Fronte gegen den Feldaltar aufstellen.

Hinein in das gewaltige Viereck reiten, gefolgt von glänzender Suite, Kaiser Alexander von Rußland und König Friedrich Wilhelm von Preußen. Welche Augenblicke nach so langen Jahren der Sorge, der Unruhe, des Kampfes! Tiefe Stille lagert sich über der ungeheueren Menschenmenge. Die Franzosen in dichten Massen das ungewohnte Schauspiel betrachtend, die Preußen gefesselt durch das Commando und den Ernst der Stunde. Die Tambours schlagen zum Gottesdienst, alle Fahnen senken sich, der Feldprobst erhebt seine Stimme. Die große Entfernung läßt seine Worte nur den Zunächststehenden hörbar werden. Nur einzelne, überlaut gerufene, durch die Begeisterung des Redners weit hinausgetragene Sätze seiner Ansprache werden von den letzten Soldaten verstanden, aber Alle ergreift es mächtig, als sie die Vordersten ihre Häupter senken sehen; der Augenblick ist gekommen, wo im stillen Gebete der Sieg für die neuen Fahnen erfleht wird.

Vorbei ist aber plötzlich die andächtige Pause. Marsch schlagen die Tambours, wie Gewehrfeuer rollen die Wirbel das Feld entlang, schmetternd jubeln Pauken und Trompeten dazwischen in den Tönen des Pariser Einzugsmarsches, aus der gesenkten Haltung erheben sich die Fahnen, die neugeweihten, lustig tanzen und flattern die preußischen Farben, man sieht sie bald hier, bald dort, denn jeder Commandeur hat die Fahne seines Regimentes übernommen und bringt sie demselben. Tausend gute Wünsche, Gelöbnisse, Grüße schweben zur blitzenden Fahnenspitze empor; die alten, wohlbekannten Zeichen werden wie theuere Freunde empfangen. Da ist sie wieder in der Mitte ihrer Tapferen, die Fahne des braven zweiten westpreußischen Regimentes. Sie trägt einen besonderen Schmuck an ihrer Stange. Silberne Ringe umspannen diese. Die Fahne hat in dem erbitterten Kampfe bei Ligny geweht, sie ist in Gefahr gewesen dem Feinde in die Hand zu fallen, drei preußische Männer: der Fähnrich Schulze, die Musketiere Schwenke und Butzke haben die alte Geliebte des Regimentes gerettet. Die Namen der drei Leute klingen nicht gerade poetisch, aber ihre herzhafte That trägt Poesie genug in sich, die Poesie des Kampfes. Der Fähnrich schwang sich, um die von allen Seiten bedrohte Fahne zu retten, über eine Hecke zur Seite der Dorfgasse, welche unbesetzt war und ihm Aussicht auf Rettung bot. Von der Gewalt des Sprunges zu Boden geschleudert hielt Schulze seine Fahne dennoch fest. Dicht über seiner rechten Hand waren drei Kugeln in den Fahnenstock geschlagen, zwei von des Fähnrichs Verfolgern eilten herbei, faßten das untere Ende der Fahne und suchten sie ihm zu entreißen. Während dieses Ringens brach der Fahnenstock und schon meinten die Franzosen wenigstens die untere Hälfte als Beute entführen zu können, da schallt dem Fähnrich von der andern Seite der Hecke der Ruf zu: „Halten Sie fest, Herr Fähnrich.“ Die beiden Musketiere stürzen herbei, von ihren Bajonneten durchbohrt fallen die Franzosen. Die Fahne ist gerettet.

Heute wiegt sie sich stolzer im Winde, sie scheint verjüngt, die silbernen Verbände, welche die bei Ligny ihr geschlagene Wunde zusammenhalten, drücken den Fahnenstock nicht. Im Schafte die ehrenvolle Narbe, in der Spitze der Lohn dafür: das Kreuz von Eisen.

Die Glieder des Vierecks lösen sich auf. Eine ungeheuere Fluth von Bewaffneten ergießt sich über das Marsfeld. Sie stellen sich bald wieder in Ordnung. Die Monarchen reiten die Linien entlang. Dann marschirt Alles in Geschwindschritt vorüber, die detachirten Corps führt General von Pirch der Zweite. Donnernd entbeut das Geschütz den Abziehenden seinen Gruß; über die mächtige, besiegte Stadt dahin trägt der Wind die Wolken des Dampfes, der vorbeistreift an den entfalteten Feldzeichen. Preußisches Pulver! – Preußische Fahnen! – Hundert und ein Mal krachen die Kanonen! weit hinein in das Land schallt ihre eherne Stimme. Tragen die Lüfte vielleicht diese Donnerrufe über das Meer hinweg bis zu dem Schiffe, auf welchem der gestürzte Titan seinem Felsengrabe Sanct Helena zugeführt wird?

Als die preußischen Truppen abgezogen sind, macht sich der verhaltene Mißmuth der Franzosen Luft. Man hatte die kleinen, oft unscheinbaren Leute heute wieder betrachtet, ihre einfache Ausstattung, ihre plumpen Waffen gemustert. Und diese „Halbwilden“ wie man sie nannte, hatten die große Armee, die im glänzenden Kriegsschmucke einherzog, verglichen mit den dämonisch [175] prachtvollen Gebilden der Apokalypse – geschlagen. Jünglinge, Knaben der Schule entlaufen, hatten sich in die Reihen der erprobten Krieger gestellt und waren gleich ihnen in das Feuer gegangen auf den Ruf ihres Landesvaters; beschattet und geschirmt, geführt und – wie viel Tausende! – in das große, gemeinsame Grab gesenkt mit den Farben des preußischen Vaterlandes.

„Das ist die Folge, wenn man den Leuten à la Bonaparte vertraut,“ sagten die Bourbonisten vom Marsfeld zurückkehrend. „Ein Mal mußte der Mensch fallen.“

„So rächt sich der Verrath an der Nation, von Talleyrand und Fouché ausgeheckt,“ sagten die Republikaner. „Statt des Convents der Säbel der Fremdlinge!“

„Höchst merkwürdig diese Fahnenweihe!“ sagten die Neugierigen. „Wie oft hat man auf dem Champ de Mars nun schon eroberte Fahnen gesehen! Wer hätte gedacht, daß siegreiche Feinde zwei Mal, mitten in Paris selbst, ihre Waffen und Standarten aufpflanzen würden! Man erlebt doch Vielerlei!“

Die alten Soldaten aber standen wieder beisammen. Sie blickten ernst den abmarschirenden Preußen nach, deren letzte Colonnen in den Straßen von Paris verschwanden. „Diese Leute sind Helden,“ sagte ein alter napoleonischer Oberst. „Wir, als Soldaten, müssen das zuerst eingestehen. Aus ihren Augen, aus ihrer Haltung blitzt ein hoher, kriegerischer Geist. Er fliegt durch ihre Reihen, er schwebt um die Spitzen ihrer alten und neuen Fahnen, heraufbeschworen durch den Spruch, den sie auf ihren Kreuzen tragen. Ihre Armeen sind ,Das Volk in Waffen.‘“ –

Fünfzig Jahre später! und wieder tönt der Ruf: „Zu den Waffen! es gilt für deutsches Land, für deutsches Recht zu streiten.“ Hat der lange, tiefe Friede die Arme schlaff gemacht für das Waffenhandwerk? Ist der Geist der kriegerischen Vorfahren gewichen von den Nachkommen? Die Armee Preußens ist glänzend, wohlgeschult, herrlich auf den Paraden, in den Manövers. Wie wird sie aber sein, wenn der Ernst herantritt? Wenn es gilt, mit Blut zu schreiben, wo im Norden die Grenze des deutschen Vaterlandes gegen den tückischen Nachbar sein soll, der lange Jahre hindurch mit unbegreiflichem Stolze und Hochmuth das deutsche Recht verhöhnte?

Schon ziehen sie hinaus; gerufen von Ambos, von Hammer und Meißel, von Pflug und Büchern, von Wechselbank und Strazze, wieder einzutreten in das Heer, zu zeigen, daß sie einstehen können für das Vaterland mit Leben und Blut.

Diese preußischen Männer hat der Friede nicht erschlafft, diese Waffen sind nicht nur für Glanz und Schimmer der Paraden, diese Fahnen sind nicht nur Andenken vergangener Großthaten. Im verderblichen Froste des Winters, auf unwirthlichem, gefahrbringendem Wege, umlauert von Verrath, dringen die Neulinge im ernsten Kampfe unaufhaltsam vor. Sie werfen den Feind, sie erklimmen furchtbare Schanzen unter dem Donner todbringender Geschütze, das Meer schreckt sie nicht, die Waffe im Arm landen sie an feindlicher Insel. Ihre Leiber decken den Boden, zerfetzte, verstümmelte Glieder nehmen sie mit nach Haus, aber sie haben gezeigt, daß die alte Kraft, die dereinst die Väter zum Siege führte, ihnen geblieben ist, sie haben mit ihrem Blute das schon losgerissene Stück wieder an Deutschland gekittet, und Der, welcher, vor fünfzig Jahren ein Jüngling, die neuen Fahnen auf das Marsfeld geleitete, der schaut sie heute wieder entfaltet, ein Zeichen des Sieges seiner Armee – seines Volkes.

Stolz und lustig flattern sie am Ufer des Meeres auf den eroberten Schanzen, wie sie dereinst flatterten im besiegten Paris. Weit hinaus in die Ostsee schimmern sie, umblitzt von den Bajonneten und Säbeln ihrer Krieger, umdonnert von den Siegesgrüßen ihrer Geschütze. – Preußisches Pulver! Preußische Fahnen!




Blätter und Blüthen.

Der Stuhl aus dem Himmel. Am 16. September den Jahres 1804 saß ein junges Mädchen in der Nähe des Weilers Saint Gourgon bei Rouen in Frankreich im Schatten eines Gebüschs und strickte; vor ihr weidete eine kleine Schafheerde, deren Hut ihr anvertraut war. Es war ein herrlicher Herbsttag, kein Wölkchen am Himmel, die Sonne schien warm wie im Sommer; die Zeit gegen drei Uhr des Nachmittags. Plötzlich vernimmt Suzan Jacqueminot – so hieß die Hirtin – über sich in der Luft ein pfeifendes Geräusch und als sie erschrocken aufspringt, geschieht dicht hinter ihr ein fürchterlicher Schlag in das Gebüsch, so daß dieses nach allen Seiten hin auseinander fährt, zerbrochene Zweige und abgerissene Blätter verstreut. Und auf dem tief niedergedrückten, elastisch sich wiegenden Astwerk steht aufrecht – ein weißer Stuhl! Entsetzt fällt Suzan auf die Kniee mit bitterlichem Hülfeschreien; Hirten und Ackerleute laufen von den umherliegenden Feldern hinzu, Alle schauen versteinert das Wunder, Alle entblößen andächtig das Haupt und sinken anbetend nieder. Denn darüber kann doch kein Zweifel sein, daß dieser sichtbare Stuhl, den aber Niemand anzugreifen wagt, direct aus dem Himmel herabgefallen ist, aus dem völlig reinen, unumwölkten Himmel, an welchem, so weit der Horizont reicht, nichts Fremdartiges zu entdecken ist. Aber was hat der himmlische Stuhl zu bedeuten und warum ist gerade die Schäferin Suzan Jacqueminot damit begnadet worden? Mit scheuer Ehrfurcht betrachten die Anwesenden bald den Stuhl, bald das Mädchen, welches sie zu großen Dingen berufen wähnen. Mittlerweile sind Einige in das Dorf gelaufen, um dem Herrn Pfarrer die Anzeige zu machen, und schon strömt es heraus; wer Beine hat, kommt hastig, um das Wunder anzustaunen, voran der ehrwürdige Curé mit seinem Meßner. Kopfschüttelnd hört der nicht ganz leichtgläubige Geistliche den Bericht; aber der ist so einfach und überzeugend, daß sich an der Thatsache nicht mäkeln läßt: Der Stuhl ist vom Himmel gefallen! Außer dem Pfarrer und einigen Freigeistern liegt die ganze Gemeinde auf den Knieen. Endlich befiehlt Jener, den Stuhl aus dem Gebüsch zu lösen, jedoch nur die Freigeister sind dazu zu bewegen, ihn anzufassen, was sie übrigens selber nur mit einiger Vorsicht thun. Aber der Stuhl brennt nicht, ist ein guter, reeller Holzstuhl. Mehr noch, der Tischler, welcher ihn aufmerksam betrachtet, sagt: „Er ist von Birkenholz, und verfl– schlechte Arbeit macht man da oben!“ worauf sich dann die Frommen entsetzt bekreuzen. Nunmehr wird der Stuhl in Procession in das Dorf gebracht und einstweilen in der Kirche niedergestellt. Den ganzen Tag wird dieselbe von Andächtigen nicht leer, wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde von dem Wunder in der Umgegend, in zahlreichen Processionen langen die Dörfler des Umkreises an, um mit eigenen Augen das Wunder anzusehen. Der Pfarrer, durchaus nicht wissend, wie er sich benehmen soll, läßt geschehen, was er weder zu hindern, noch auch zu erklären vermag. Am besten befindet sich Suzan dabei, es regnet Geschenke auf sie herab, eine wohlhabende Wittwe nimmt das gottbegnadete, schon auf Erden mit einem Himmelsstuhl bedachte Mädchen an Kindesstatt an und sie erhält einen Heirathsantrag über den anderen. Mit der kann es nicht fehlen! ist die allgemeine Meinung aller Burschen im ganzen Bezirk. So geht es eine Woche fort und die Aufregung über das Wunder, anstatt sich zu legen, wächst immer mehr, in concentrischen Ringen, trotz der Spöttereien der Freigeister, welche freilich ebenfalls keine Erklärung des Räthsels wissen. Aber siehe da – eines Tages war der Himmelsstuhl verschwunden, Niemand wußte, wie, wohin – er war und blieb weg. Erst Jahre nachher, als längst die Sache vergessen war, erfuhr man die nähern Umstände.

Der Pfarrer erhielt nämlich am Abend vor dem Verschwinden des himmlischen Stuhls die Zeitungen und fand darin zu seiner großen Befriedigung folgende Nachricht: „Am 16. September, Vormittags um neun Uhr vierzig Minuten trat der große Naturforscher Herr Gay-Lussac seine zweite Luftfahrt an; er erreichte auf derselben die Höhe von 7016 Meter über der Meeresfläche, höher, als jemals ein Mensch gelangt ist. Bei 7000 Meter wollte er versuchen, in eine noch höhere Luftschicht einzudringen, entledigte sich daher des gesammten Ballastes der Gondel, bis auf die physikalischen Instrumente; zuletzt warf er sogar noch den hölzernen Stuhl, der ihm zum Sitze diente, hinaus. Allein der Ballon wollte sich trotzdem nicht mehr heben, und so kam er um drei Uhr fünfundvierzig Minuten zwischen Rouen und Dieppe zur Erde nieder.“ Als der gute Pfarrer dies gelesen hatte, stellte er sich ein Holzbeil zurecht und begab sich unter dem Schleier der Nacht in die an sein Wohnhaus anstoßende Kirche. Kurz darauf konnte man ein lebhaftes Feuer in seinem Junggesellen-Kamin wahrnehmen. Aber er kannte seine Bauern und erzählte ihnen erst lange nachher vorsichtig die Bewandtniß mit dem Stuhl aus dem Himmel; natürlich sagten die Bauern: „Ja, ja, Herr Pfarrer!“ und glaubten kein Wort davon, um so steifer und fester aber an das Wunder. Und die Schäferin Suzan Jacqueminot hieß, obgleich verheirathet und Mutter von einem halben Dutzend ungewaschener Rangen, bis in ihr spätes Alter weit und breit „Die Jungfrau vom Stuhle.“




Ein Kuß von Schiller. Meine Großmutter, die „Frau Senatorin“, hat seiner Zeit die ganze Stadt Darmstadt gekannt. Sie hatte ihre merkwürdigen Eigenheiten; so trug sie sich bis zu ihrem Tode im Jahre 1850 unabänderlich, wie Bürgerfrauen zu Ende des vorigen Jahrhunderts, wodurch sie natürlich Jedermann auffiel; aber niemals hat es Jemand gewagt, ihrer zu spotten. Sie war streng gegen Jedermann, am strengsten gegen sich selbst, gottesfürchtig und sehr stolz nach oben und unten. Auf ihre Wahrhaftigkeit konnte man sich verlassen, daher ist auch die nachstehhende Anekdote, welche sie nur erzählte, wenn sie bei recht guter Laune war, und selbst dann noch mit jener Verschämtheit, die auch alten Frauen gut steht, vollkommen authentisch.

An einem schönen Winterabend im Januar (1785) begleitete sie als etwa sechszehnjähriges Mädchen ihre Jugendfreundin Seitz (der Vorname ist mir entfallen), die Tochter des Hof-Perrüquiers, über den Markt nach Hause. Es lag schöner Schnee auf der Straße und die lustigen Dinger warfen sich scherzend mit Schneebällen. Die schäkernde Schlacht war gerade am hitzigsten, als aus dem sogenannten alten Palais des Prinzen Christian (bewohnt von der „alten Fürstin“, Albertine Louise, Gemahlin des Prinzen [176] Georg Wilhelm, Bruders des Landgrafen, Großmutter der Königin Louise von Preußen) zwei Herren traten, von denen der Eine richtig einen derben Wurf empfing, welcher der Freundin gegolten hatte. Mit einem Schrei wandten sich die Mädchen sofort zur Flucht, allein „Strafe muß sein!“ riefen ihnen die Herren nach und verfolgten sie auf das Hartnäckigste. Die Jagd ging bis an das alte Jagdhaus (am Paradeplatz), da wurden die Uebelthäterinnen eingeholt, gefaßt und trotz alles Schreiens und Sträubens tüchtig abgeküßt; sie liefen feuerroth und beschämt nach Hause, während die Herren lachend umwandten und dem Schlosse zuschritten.

Am nächsten Vormittag war sogenannte große Cour bei Hofe; fremde Herrschaften waren anwesend (Carl August von Weimar und seine Gemahlin Louise, eine hessen-darmstädter Prinzessin), es gab also etwas zu sehen. Unter den Zuschauern stellten sich auch die beiden Mädchen ein, deren Väter in Amtsthätigkeit waren. Da, wer beschreibt ihr Erstaunen, als sie in dem Cirkel der Auserwählten die beiden jungen Männer erblickten, die am vergangenen Abend eine kleine Unvorsichtigkeit so hart gestraft hatten! Es waren – der Prinz Georg von Hessen und der Dichter Friedrich Schiller. Der Letztere hatte Tags vorher den Landgräfinnen, Töchtern und Schwägerinnen der geistreichen Freundin Merck’s und Klopstock’s, Henriette Caroline – welcher Friedrich der Große das Denkmal setzte: Femina sexu, ingenio vir – und ihren fürstlichen Gästen den ersten Act des Don Carlos vorgelesen, zuvor aber sich von frischen Lippen die nöthige Stimmung dazu geholt.

Gutes Großmütterchen, mit welchem Selbstgefühl sie sich der Erinnerung freute: „Mir hat der Schiller einen Kuß gegeben!“ Denn allerdings hatte der Prinz Georg ihre Freundin – eine auffallende Schönheit – erwischt, und wunderbaren Eindruck muß jener eroberte erste Kuß auf ihn gemacht haben, denn er hat sie später, nachdem sie zur Baronesse erhoben worden ist, geheirathet. Also war in diesem Falle ein Schneeball Ehestandsprocurator. W. H.     


Erklärung. Es ist ordentlich komisch, daß ich seit der Zeit, wo ich in der Gartenlaube gegen das alberne Wohl- und Hochwohlgeboren auftrat und besonders bat, mich mit solchen Anspielungen auf meine Geburt zu verschonen – eine Menge von Briefen bekomme, die schrecklicher Weise auf der Adresse lauten:
 „Sr. Hochwohlgeboren
 dem Herrn Hofrath Friedrich Gerstäcker.“
Sehe ich aus, wie ein Hofrath? Es giebt aber eine Menge von Menschen, die eine Beleidigung auszusprechen glauben, wenn sie auf die Adresse eines Briefes den einfachen Namen eines Menschen setzen sollen. Es muß ein Handgriff dabei sein, wie sie denken; so habe ich denn schon die unglaublichsten Adressen erhalten. So z. B.: Herrn Forstsecretair, Herrn Jagdsecretair, Herrn geheimen Hofrath und Ritter etc. etc. – Herrn Professor, Herrn Doctor – ja, sogar einmal von Jemandem, der wahrscheinlich nicht genau wußte, ob ich Doctor sei oder nicht – als Aus- oder Mittelweg „Herrn Apotheker“ Gerstäcker.

Ich sehe mich dadurch veranlaßt, zu erklären, daß ich gar keinen Titel habe, ja, mehr noch als das, daß ich nie im Leben einen erhalten oder führen werde und vollkommen damit zufrieden bin, mich einfach zeichnen zu dürfen
Gotha, im März 1865. Friedrich Gerstäcker.     


Kleiner Briefkasten.

D … in K . . n. Allerdings ist die historische Skizze, die Sie im P . . r. L . . d gelesen haben, nichts weiter als der Nachdruck eines in der Gartenlaube veröffentlichten Originalartikels. Wie wir Ihnen sehr dankbar sind für Ihre desfällige Mittheilung, so bitten wir Sie, und mit Ihnen zugleich alle Leser und Freunde der Gartenlaube, uns auch fernerhin Anzeige machen zu wollen, wenn Ihnen dergleichen unerlaubte Nachdrucke aus unserem Blatte wieder zu Gesichte kommen, damit wir unsererseits Maßnahmen wider diese kecke Freibeuterei treffen können.

M. in Ghy. Auch Du Brutus, oder vielmehr auch Sie, alter Freund, schicken Gedichte? Ach, Sie ahnen nicht, wie viel wir von der Poesie zu leiden haben, namentlich aus Oesterreich! Bildung macht frei, sagt ein altes Sprüchwort und ein Dichter sollte doch wohl so gebildet sein und immer frei machen. Das ist aber leider nicht der Fall und die schlechtesten Gedichte sind gewöhnlich auf das schwerste Papier geschrieben. Neulich kam ein dickes Couvert aus Süddeutschland, von dem uns Böses ahnte, und richtig, als wir öffneten, wieder Gedichte „an Deutschland“, sehr lange – lange Gedichte aus Darmstadt! „Ich bin,“ schreibt der begeisterte Dichter, „ein deutscher Jüngling und Schlosser. Weil ich seit einigen Wochen so von Rheumatismus geplagt werde, daß ich nicht arbeiten kann, übe ich mich inzwischen im Dichten und sende Ihnen anbei die ersten sechs Gedichte an unser Vaterland! Nächste Woche empfangen Sie eine größere Anzahl!“ – Großer Gott! noch mehr von dem Dichter aus Rheumatismus!

K. in L. Warum bei so reichem Talent diese übertriebene Bescheidenheit? Es ist Pflicht jedes braven Mannes, an dem großen Werke mitzuarbeiten, einerlei, welche Stellung im Leben er einnimmt und welchem Glauben er angehört. Wenn nur Jeder in seinem Kreise und in seiner Weise tüchtig schafft und aufräumt, so wird schon reine Bahn werden – trotz alledem und alledem. Ein wackerer Freund der Gartenlaube, der auch in sehr bescheidenen Verhältnissen lebt, aber jede Gelegenheit ergreift, die Köpfe seiner Nachbarn hell und klar zu machen, schrieb uns vor einigen Jahren sehr treffend:

Ob Katholik, ob Lutheraner,
Ob reformirt, das thut es nicht,
Wenn nur im Herzen Puritaner
Und Protestant für Recht und Licht;
Wenn Jeder, Pfaffe oder Laie,
Nur treu und fest im heil’gen Streit,
Bis daß das Gotteslicht, das freie,
Auch von dem Lügenzwang befreit.

Was hilft’s um trübe Formen rechten,
Den Menschentand am Gotteswort? –
Der Geist läßt sich ja doch nicht knechten,
Er zieht die Welt erobernd fort. –
Noch bleibt uns Bess’res zu erringen,
Noch ist die Welt kein Himmelreich;
Und bei des Geistes Vorwärtsdringen
Zählt jeder wack’re Kämpfer gleich.

G. in Eßl. Sie sind ungerecht. Sobald sich der Autor genannt und so weit es sich nicht um einen prononcirt ausgesprochenen Tendenzartikel handelt, kann der Redaction die volle Vertretung der in Novellen, historischen Schilderungen, Reiseskizzen etc. etc. hie und da eingestreuten politischen oder religiösen Bemerkungen und Urtheile ihrer Mitarbeiter niemals zugemuthet werden. Unsere Gartenlaube ist kein Parteiblatt im eigentlichen Sinne des Wortes, und die Redaction, wollte sie Ihren Wünschen genügen, würde oft in Verlegenheit kommen, ganze Sätze zu streichen und so den organischen Zusammenhang eines Artikels zu stören – ein Verfahren, welches die Reihe unserer Mitarbeiter sehr rasch lichten würde. In solchen Nebendingen liegt auch nicht die Tendenz einer Zeitschrift. – Was übrigens den angeführten Fall betrifft, so sind eine Anzahl der liberalsten Zeitungen mit dem Verfasser jenes Beitrags vollkommen einverstanden und es dürfte bald die Zeit kommen, wo ganz Deutschland dem Ausspruch des gewiegten Historikers beistimmen wird.

K. in L. Ob die Gartenlaube nicht bald einen eingehenden Artikel über das verschrobene und unklare Gebahren jener mehr als frommen Buchstaben-Gläubigen bringen wird? Nein, lieber Freund! Dazu ist unsere Zeitschrift sicher nicht da! Die Gartenlaube soll durch die Wucht der mitgetheilten Thatsachen wirken und darf erwarten, daß ihre Leser die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen selbst zu finden wissen. Das Treiben dieser Leute huldigt einer Tagesmode, die bald genug durch eine andere verdrängt werden wird. Gutzkow hat ganz Recht, wenn er den Fanatismus für das conventionell Religiöse als den Mehlthau bezeichnet, der auf all unseren Geistesblüthen sitzt. „Man denkt nicht mehr, man prüft nicht mehr, man übt Religion nur um der Religion willen. Man ehrt sie um ihre Ehrwürdigkeit, man ehrt sie, wie man Eltern ehrt, deren graues Haar unsere Kritik über die Schwächen, die sie besitzen, entwaffnen soll. Das ist der Standpunkt der Salon-Religion, wohl zu unterscheiden von der aufrichtigen Herzensreligion. Man will nicht prüfen, man will nicht forschen, man umrahmt mit Gold und Edelstein die Tradition, die man auf sich beruhen läßt. Man schlägt sein rauschendes Seidenkleid in künstlerische Falten, wenn man im Gebetstuhl niederkniet; man schlägt sein goldenes Gebetbuch auf, liest halb gedankenlos, was alte Zeiten dachten, denkt vielleicht mit Rührung dieser Zeiten, wo der Glaube mit so vielem Blute mußte besiegelt werden, gesteht wohl auch seine eigenen sündigen Einfälle und Neigungen ein, giebt sich den Klängen einer vom Chor einfallenden Musik mit einigen quillenden Thränen der Nervenschwäche und Rührung hin und verläßt die Stätte der Andacht mit dem Gefühl, doch dem Alten Rechnung getragen, doch eine Demonstration gegeben zu haben gegen die anstößige und in allen Stücken gefährliche neue Welt“ Das ist die Religions-Mode des Tages.“




Preisermäßigung
von
Berthold Auerbach’s Volkskalender für 1860–1864.

Derselbe enthält in Erzählungen, landschaftlichen, Zeit-, Cultur- und Sittenbildern etc. Beiträge von den hervorragendsten Autoren, wie 'Berth. Auerbach – Karl Andree – Fr. Gerstäcker – Berth. Sigismund – Gottfr. Keller – R. Virchow – A. Bernstein – Ernst Engel – Reinh. Holger – Moritz Hartmann – Ed. Uhlenhuth – Edm. Hoefer – M. Ant. Niendorf – Max Maria v. Weber – Ludw. Walesrode etc., und zahlreiche Bilder nach Zeichnungen der bedeutendsten Künstler, wie Wilh. v. Kaulbach – Julius Scholtz – Arthur v. Ramberg – Adolph Menzel – Ed. Ille – Paul Thumann u. A., und kostet

fünf Jahrgänge 1860–1864 zusammengenommen anstatt 2 Thlr. 2 ½ Ngr. – nur 10 Ngr. excl. Frachtspesen.
Der Verkauf ist Herrn Louis Zander, Georgenstraße Nr. 28 in Leipzig, übertragen und sind Exemplare durch alle Buchhandlungen von demselben zu beziehen.

Wie aus den obigen Angaben ersichtlich ist, verleihen sowohl die literarischen Beiträge, unter denen namentlich die Erzählungen von B. Auerbach – „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ von Gottfr. Keller – „Eine Winternacht auf der Locomotive“ von Max Maria v. Weber bedeutend sind, wie die illustrative Ausstattung dem Werke einen bleibenden Werth, und es dürfte daher überflüssig sein, dasselbe, welches unter allen Kalendern den ersten Rang einnimmt und hiermit dem Publicum zum ersten Male zu einem ermäßigten Preise geboten wird, noch besonders zu empfehlen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Dollinen, trichterförmige Vertiefungen des Karstbodens; vergl. weiter unten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Haupstadt