Die Gartenlaube (1865)/Heft 49
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No. 49. | 1865. |
Von Herman Schmid.
(Schluß.)
Bald schritten Franzi und Kathrin rüstig durch die Nacht, über das sich abdachende Gebirge gegen das breite Stromthal hin. „Schau,“ sagte Kathrin, nach einer Weile stehen bleibend, „wie warm der wällische Wind über die hohe Salv’ herstreicht, wir kriegen geschwind Thauwetter, drum geht auch der Inn so voll und thut so wild, daß man ihn bis da herauf hört …“
Franzi’s Gedanken gingen ganz andere Bahnen; sie wanderte lautlos neben der Genossin fort, bis die letzte Höhensenkung mit dem schwach aufgrauenden Morgen erreicht war. Da bot sie der Freundin die Hand und verabschiedete sich; sie müsse ihren eigenen Weg gehen, sagte sie, und Niemand dürfe wissen, wohin. Die treue Gefährtin weigerte sich auch nicht viel und gab sich den Anschein, als ob sie das ganz natürlich finde; sie nahm ebenfalls Abschied und that, als schlüge sie einen ganz andern Weg ein; als aber Franzi weit genug war, es nicht mehr bemerken zu können, kehrte sie um und eilte ihr nach. „Und wenn du’s noch so heimlich vorhast,“ brummte sie in sich hinein, „ich laß dich doch nit aus den Augen …“
Franzi hatte rasch die letzten Häuser des Dorfes erreicht, aber dort beugte sie aus und ging außen herum, unbeirrt durch den hier noch höher liegenden Schnee; erst als sie dem Ziele ihrer Wanderung näher gekommen, hielt sie aufathmend an. Jetzt erst fiel es ihr schwer auf’s Herz, was sie vorhatte – es war auch nicht zu verwundern, denn in den Schall der Schmiedehämmer, das Klingen der Ambose und das Brausen der Blasebälge mischte sich der Ton einer zürnenden Stimme; es war wieder Streit in der Schmiede und der Streitende war Vigili. Endlich faßte die Harrende einen Entschluß, trat um die Ecke und stand in der offenen Schmiedehalle, dem Zürnenden gerade gegenüber. Der Lehrbursche hatte die glühende Eisenstange auf den Ambos halten sollen, während Vigili die wuchtigen, wohlberechneten Hammerstreiche auf das glutherweichte Eisen fallen ließ, es zu formen; dem Burschen hatte sich in den noch unsicheren Händen die Stange gedreht, daß der Hammer abglitt, und der ergrimmte Meister schwang nun fluchend und scheltend den Hammer über dem Lehrling, als wolle er ihm den Kopf zerschmettern. In diesem Augenblicke fühlte er sich am Arm gefaßt und angehalten und wandte sich noch grimmiger nach dem Kühnen um, der es wagte, ihm in den Arm zu fallen. Er begegnete Franzi’s fest auf ihn gerichteten Augen, er vernahm die lang vermißte Stimme wieder, und wie draußen der Schnee vor dem warmen Wind, zerging ihm alle Wildheit, schmolz alle Starrheit und aller Zorn.
„Thu’ das nit, Vigili,“ sagte sie sanft, „Dein Zorn geht wieder mit Dir durch … folg’ mir …“
Vigili sah sie mit auflodernden Blicken an. „Du ?“ stammelte er fast athemlos. „Du kommst zu mir?“
„Nit zu Dir,“ erwiderte sie, „aber zu Deiner Mutter; ich will sie fragen, ob sie eine Magd brauchen kann …“
„Komm’ herein,“ rief Vigili und warf den Hammer dröhnend in die Ecke, „die Mutter ist drinn’ in der Stube und kocht die Morgensuppe … und wenn auch nicht als Magd, denk’ ich doch es soll sich für Dich wohl ein Platz im Hause finden …“
Mit hochklopfendem Herzen folgte ihm Franzi in die Stube, wo die Schmiedin auf der Ofenbank saß und eine Pfanne Milch über dem Feuer stehen hatte, zugleich aber, die Brille auf die Nase geklemmt, emsig strickte. Strumpf und Brille entglitten ihr vor Verwunderung, als sie die Eintretenden erblickte, und da sie vollends erfuhr. was die Beiden hergeführt, da gerieth auch die Pfanne und deren Inhalt in nicht geringe Gefahr. Vigili, ungestüm in Allem, erklärte rund heraus, daß er entschlossen sei, die früheren Pläne auszuführen. Er hatte wenige Wochen vorher die Schmiede übernommen und war der Herr im Hause geworden, dem einzureden Niemand ein Recht hatte. Er sagte der Mutter rundweg, daß er das Gerede über Franzi nie geglaubt und sie längst aufgesucht haben würde, hätte er nur irgend sie zu finden gewußt; jetzt aber, da das Glück sie ihm wieder zugeführt, lasse er sie nicht mehr von sich und wolle sehen, wer ihm entgegentreten wolle. Die Schmiedin, eine von den Anhängerinnen des Pfarrfräuleins, versuchte wohl, einige Einwendungen vorzubringen, aber schon dieser schwache Versuch brachte den unbändigen Schmied in solche Wuth, daß seine Augen rollten und die Stirnadern schwollen; mit keuchender Brust tappte er um sich, als suchte er nach einem Werkzeug, den Widerstand zu zermalmen, der sich ihm entgegenzusetzen drohte.
„Ich bin jetzt der Vogt und der Meister hier,“ brüllte er, „und daß ich es bin, will ich einem Jeden, der daran zweifelt, handgreiflich beweisen … Rede,“ fuhr er in nur wenig gemildertem Tone fort, als Franzi begütigend ihm die Hand auf den Arm legte, „Du allein hast ’was zu sagen … Red’, Franzi! Als Magd kann ich Dich nicht haben in mein’ Haus – aber mein Weib bist, wenn Du Ja sagen willst … Jetzt gilt’s, Franzi, ja oder nein.“
Der entscheidende Augenblick, in welchem Franzi’s rasch gefaßter Entschluß sich bewähren mußte, war gekommen – war sie [770] die Frau oder erklärte Braut eines Andern, dann mußten all’ die Gerüchte verstummen, welche Isidor beflecken konnten; wohl schnürte es ihr das Herz zusammen bei dem Gedanken an das Schicksal, das sie an der Seite eines wilden, zornwüthigen Mannes erwartete – aber sie blieb fest, sie drängte das Schluchzen, das ihr nahe war, zurück, rang den Lippen ein Lächeln ab und reichte Vigili die Hand. „Da ist meine Hand,“ sagte sie mit fester Stimme, „wenn Du ein armes Madel, ein gering’s, verleumd’tes Geschöpf wieder zu Ehren bringen willst – dann sag’ ich Ja und will Dein Weib sein, redlich und treu …“
Vigili schrie auf und wollte sie im Uebermaß des Entzückens in die Arme schließen, aber sie wehrte ihn ab und fuhr hastig und mit glühenden Wangen fort: „Eine einzige Bedingniß ist dabei … daß es gleich richtig gemacht wird und wir gleich die Stuhlfest halten …“
„Ho,“ rief lachend der Schmied und drückte sie trotz ihres Widerstandes fest an sich, „wirst doch nit glauben, daß ich meinem Wort umsteh? Mir ist’s lieber heut’ als morgen … Heda, Lenz,“ rief er durch die aufgerissene Thür in die Werkstatt hinaus, „lauf hinüber zum Schullehrer … er soll Alles liegen und stehen lassen und herüberkommen und soll alle seine Schreibereien mitbringen, es giebt eine Hochzeit in der Schmiede!“
Der Gerufene ließ nicht lange auf sich warten und war kaum im Stande, sein Erstaunen und seinen Aerger zu verbergen, als er das verstoßene Mädchen plötzlich als die Braut eines der Reichsten im Dorfe vor sich sah; Vigili, ungestüm in der Freude wie im Zorn, ward es nicht gewahr und schwatzte in den Lehrer hinein, wie es gehalten werden sollte und wie er seiner Braut Alles verschreibe, Haus und Hof und die Schmiede und sich selbst. Der Lehrer unterbrach ihn nur einige Augenblicke, indem er in verstelltem Unmuth ausrief, nun habe er das Wichtigste von seinen Papieren vergessen und müsse es noch holen.
Nach wenig Secunden kam er wieder, der Erfolg zeigte, daß er sie wohl zu benützen verstanden.
Eben war der Vertragsentwurf seinem Ende nahe, ein paar Männer aus der Nachbarschaft, die schnell als Zeugen und Beiständer gerufen worden, waren eben erschienen, als die Thür hastig aufging und das Pfarrfräulein eintrat, die ganze Versammlung mit funkelnden Augen überfliegend.
„Also wirklich?“ sagte sie höhnisch. „Es giebt wirklich Hochzeit hier? Nun, ich bitte die Störung zu verzeihen, welche mein Erscheinen mit sich bringt; ich habe nur eine Pflicht zu erfüllen: dieser Frau, die Mitglied des Tugendbundes ist, muß ich zu Hülfe kommen! … Folgt mir, gute Frau … arme, bedauernswerthe Mutter, kommt mit mir, ich und mein hochwürdiger Herr Onkel bieten Euch eine Freistatt an, da Ihr doch in diesem Hause nicht mehr bleiben könnt …“
Sie faßte die Hand der Schmiedin, die ihr verwundert folgte, und wollte sie zur Thür führen, aber Vigili sprang ihr in den Weg. „Was giebt’s mit der Mutter?“ rief er. „In dem Haus ist sie daheim … warum soll sie fort?“
„Weil man einer braven, christlichen Frau nicht zumuthen kann, unter einem Dache zu leben mit einer solchen ehrvergessenen Person!“
Franzi schrie laut auf und schlug die Hände vor das thränenübergossene Angesicht; Vigili stand zwischen Beiden, bald roth, bald blaß, und betrachtete sie wechselnd mit funkelnden Augen. „Ehrvergessen?“ stammelte er. „Und das sagen Sie ihr so in’s Gesicht? Das läßt sie sich sagen?“
„Warum nicht? Sie verdient keinen andern Namen.“
„Und was hat sie gethan?“ rief Vigili wieder. „Wir wissen wohl, was geschehen ist in der selbigen Nacht, und wissen auch, daß sie nichts gethan hat, daß man die Franzi so schimpfen darf …“
„So? Wißt Ihr das so gewiß?“ entgegnete die Ergrimmte keck. „Nun denn, so erfahrt, was ich aus Schonung bis jetzt verschwieg, was ich immer verschwiegen hätte, versuchte sie nicht mit solcher Keckheit, sich in ein ehrliches Haus einzudrängen … Nicht wegen ein paar armseliger Stücke Holz stellte ich sie damals zur Rede, nein, weil ich sie vorher belauert hatte, wie sie aus der Stube des Herrn …“
„Franzi,“ unterbrach der Schmied sie wüthend, „Du sagst nichts? Also ist das wahr?“
„Um Gottes und aller Heiligen willen,“ rief das Mädchen und warf sich mit gerungenen Händen vor dem Fräulein auf die Kniee, „was hab’ ich Ihnen denn gethan, daß Sie mich so verfolgen? Was haben Sie davon, ein armes Madel zu Grund zu richten, ein hülfloses Geschöpf, das kein’ Menschen hat, der sich um sie annimmt… O Mutter, Mutter!“ fuhr sie mit herzzerreißendem Tone fort und hob die Arme wie beschwörend zum Himmel, „schau’ herunter auf mich, schau’ Dein unglückliches Kind, was es leiden muß, weil Du es verstoßen hast schon in der Geburt … O Mutter, Mutter, hättest Du mich lieber gleich erwürgt …“
Sie konnte vor Schluchzen nicht weiter sprechen; das Fräulein stand vor ihr wie eine Säule, sie war todesbleich und die Lippen zuckten krampfhaft, während ihr Auge starr an dem Mädchen hing: es war einen Augenblick, als wollte sie dem Eindrucke, den die letzten Worte auf sie gemacht, Raum geben, aber der Haß siegte; sie wandte sich der Schmiedin zu und sagte mit Eiseskälte: „Kommt, gute Frau, es ist wie ich gesagt…“
Sie wollte der Thür zu. „Halt!“ brüllte Vigili, der sich breit vor die Thüre gestellt hatte, „meine Mutter kommt nit über die Schwell’, so lang ich leb’ … aber das Weibsbild, das mich zum Narren gehalten hat … das noch eigens herkommt, um mich zu betrügen … das so schön thun kann und so unschuldig, als wenn sie kein Wasser getrübt hätt’ … die kommt mir auch nit lebendig aus dem Haus! Ich will einholen, was ihre Mutter versäumt hat, mit meinen Händen will ich sie erwürgen …“
Er wollte auf sie losstürzen, aber die Nachbarn warfen sich dazwischen und einer derselben schob die halb Sinnlose in die Nebenkammer, von welcher eine Thür in die Küche und von dort in’s Freie führte.
Sie taumelte hinaus; erst die frische Luft draußen weckte sie zu einiger Besinnung. „Jetzt ist es aus,“ murmelte sie vor sich hin, „jetzt mag unser lieber Herrgott mir verzeih’n, es giebt kein anderes Mittel mehr …“ Wie verfolgt und gehetzt rannte sie zwischen den Hausgärten dahin, unbekümmert um den dort noch tiefer liegenden Schnee, der ihre Schritte zu hemmen suchte, und hielt aufschreckend erst inne, als sie mit einem Male an der Rückseite des Moosrainer-Gehöftes stand … Das Herz drohte ihr stille zu stehen, denn durch die Lücken des Zaungebüsches erblickte sie Isidor, der, um frische Luft zu schöpfen, einen Morgengang durch den winterlichen Garten machte. Sie kauerte an der Umzäunung nieder, um besser Haus und Hof übersehen zu können. „B’hüt dich Gott, du lieb’s, lieb’s Haus!“ flüsterte sie dann innig, „ich dank’ dir tausend und tausendmal für all das Gute, das ich genossen hab’ in dir! B’hüt Dich Gott, Isidor … ich seh’ Euch nit wieder, aber ich will Euch zeigen, daß ich nit vergessen hab’, was ich Euch verdank’ …“ Hastig riß sie das Bündelchen auf, das sie neben sich in den Schnee gelegt, und nahm das verdorrte Kränzlein, das sie am Primiztage getragen hatte, heraus, sie streifte den Silberring, das einzige Andenken ihrer Mutter, von der Hand und drückte Beides inbrünstig an den Mund, dann erhob sie sich, zu rascher Flucht bereit, und warf die beiden Kleinode, in ein Tüchelchen gewickelt, in den Garten, daß das Päckchen unfern des dort Wandelnden zu Boden fiel …
Ehe Isidor sich besinnen und nach ihr umsehen konnte, war sie entflohen.
Verwundert nahm und öffnete er das Päckchen und erbebte in tödtlichem Schrecken, als er den Inhalt erblickte, es war offenbar ein Zeichen, das ihm Franzi geben wollte, ein Zeichen des Abschieds für immer, denn sonst hätte sie sich nie von diesen Dingen getrennt, die ihren ganzen Reichthum ausmachten … Wie kam sie hierher? Was hatte sie vor? Von trüben Ahnungen getrieben eilte er durch das Haus an das Hofthor, um vielleicht von da die Fliehende zu ereilen.
Dort trat ihm ein anderer Anblick vor die Augen und in den Weg.
Triumphirend hatte das Pfarrfräulein die Schmiede verlassen und war dem Pfarrhofe zugeeilt, als vom Wirthshause herkommend eine Schaar Männer ihr begegnete; es waren die Bauern und Einwohner des Orts, die eben eine stürmische Berathung gehalten wegen der Entrichtung des Klein- und Blut-Zehents und wegen der andern kirchlichen Angelegenheiten des Dorfs, denn die Tugendbündler und die geheimen Anhänger des Tiroler Frater begännen einander immer schroffer, immer erhitzter gegenüber zu treten. Hatte auch die gemäßigte Mehrzahl einen Beschluß gefaßt, der auf Unterhandlung und gütlichen Vergleich abzielte, so waren [771] doch der Stürmischen genug, welche zu einem raschen entscheidenden Schritte drängten und öffentlich erklären wollten, sie hätten vor, eine altchristliche Gemeinde zu sein, und bedürften also keinen Pfarrer, dem sie den Zehnten geben müßten. Der Schneider, der Wagner und der Bader des Orts waren unter den Schreiern die lautesten, und das Begegnen des Fräuleins war den Meisten in der allgemeinen Erregung des Augenblicks ein willkommener Anlaß, dem verhaltenen Grolle Luft zu machen.
„Seht!“ rief der Wagner, da sie etwas beklommen sich an die Seite drängte, „da geht sie, die Hetzerin, die Unruhstifterin, der Geizteufel, der uns all den Verdruß und die Zwistigkeit macht.“
„Seht, sie will uns ausweichen!“ schrie der Schneider. „Seht, sie getraut sich nicht, uns in die Augen zu schau’n, das Tugendmuster hat ein schlechtes Gewissen! … Man sollt’ ihr einen Denkzettel geben …“
„Das soll man!“ schrie ein Dritter, dessen Weib auch zu den Zurückgewiesenen gehörte. „Ich hätte Lust, sie zu fragen, warum sie ehrliche Weiber schlecht machen will …“
Dem Fräulein entging die drohende Stimmung nicht; sie verlor ihre sonstige Zuversicht und fing an zu laufen, um auf einem Umwege zur Pfarre zu gelangen. Das war das Signal zur allgemeinen Verfolgung. Vergebens warnten und mahnten einige der Ruhigen; die Mehrzahl stürmte hinter der Fliehenden her und suchte sie zu erhaschen. „Ho!“ schrie es wüst durcheinander, „warum so eilig? Halt, Du Tugendspiegel, halt! Wir möchten Dich in der Näh’ anschau’n … Lauf nit so, Du sollst Deinen richtigen Denkzettel haben …“
Der Schrecken raubte dem Fräulein fast die Sinne; nicht wissend, was sie that, rannte sie, die tobende Schaar hinter sich, durch mehrere Gäßchen. sprang dann blindlings in das nächste offenstehende Gehöfte und stand vor dem eben von innen heraneilenden Isidor.
Sie vermochte keinen Laut hervorzubringen und drohte umzusinken; Isidor aber übersah mit einem Blicke die ganze Lage … „Hier hinein!“ flüsterte er und riß die Thür einer dunklen Kammer neben dem Backofen auf. „Bei mir sucht Sie Niemand …“
Dann trat er ruhig den Heranstürmenden entgegen.
„Dort hin!“ schrie der Schneider. „Dort ist sie hinüber!“
„Nein!“ rief der Wagner, „hier muß sie sein, ich hab’s deutlich gesehen, wie sie hier herein gewischt ist …“
„Du kannst Deine Augen auch verschenken, wann Du nur willst!“ lachte der Schneider entgegen. „So dumm ist sie nicht, daß sie in den Moosrainerhof geht, wenn sie sich verstecken will.“ Alles lachte und der Schneider fuhr fort, unter Entschuldigungen über die Störung den Vorfall zu erzählen. „Nehmen Sie’s nicht übel, Herr Caplan,“ sagte er. „Sie geht es ja nicht an, Sie sind nicht gemeint damit – aber wir wollen eine altchristliche Gemeinde sein, wir wollen keine Geistlichen, keinen Pfarrer mehr haben – die Gnade kann über einen Jeden kommen!“
„Das kann sie!“ rief Isidor feierlich. „Möge sie Jedem von uns zu Theil werden – darum bitte ich, möge Jeder würdig werden, daß sie auf ihn herabsinkt … der Himmelsstrom verlangt nach einem Gefäß, rein und lauter wie Krystall! Das bedenkt, meine Freunde, und darnach handelt!“
Verlegen und betroffen schauten die Bauern zu Boden; die Hitze war merklich abgekühlt.
Isidor gab sich den Schein, als ob er es nicht bemerke; arglos fuhr er gegen den Schneider fort: „Ihr seid krank, Meister? Euer Gesicht ist verschwollen und Ihr tragt eine Binde um die Backe!“
„Ach leider Gottes,“ jammerte der Mann, „ich hab’ einen Fluß im Kopf und ein hohler Zahn macht mir Schmerzen, daß ich’s manchmal kaum aushalten kann …“
„Ihr dauert mich,“ war Isidor’s Antwort, „kommt zu mir herein – ich will Euch den Zahn ausziehen …“
„Na,“ rief der Schneider mit pfiffigem Lachen, „das thu ich nit! Wenn ich mich ja zum Ausreißen verstehe – gehe ich zu meinem Gevatter, dem Bader, da neben mir – der hat’s gelernt und muß es doch besser können …“
„Meint Ihr?“ erwiderte Isidor mit erhobener Stimme, den Blick fest in die Menge gerichtet. „In körperlichen Leiden, eines armseligen Zahnes wegen seid Ihr also so klug, daß Ihr um Hülfe nur zu dem Manne kommt, der es versteht, weil er die Heilmittel des Körpers gelernt … wo es Euer geistiges Wohl, die Gesundheit Eurer unsterblichen Seele gilt, seid Ihr minder bedenklich und wollt Euch selber helfen? wollt dem nächsten Besten vertrauen, der Euch sagt, er verstehe zu helfen? O meine Freunde …“
Die Bauern standen noch beschämter als zuvor und nahmen die Hüte ab, als ob sie in der Kirche vor der Kanzel versammelt wären.
Da ertönte von fern anhaltendes Rufen, Kathrin, die Magd, kam weinend und jammernd vom Thale hergelaufen. „Helft,“ rief sie schon von Weitem, „um Gotteswillen helft …“ und wie sie keuchend herankam und Isidor erblickte, knickte sie vor ihm mit dem Rufe zusammen: „Ach, das Unglück, hochwürdiger Herr! Ach, das arme, arme Leut!“
„Ein Unglück?“ riefen die Bauern durcheinander. „Wen meinst Du?“
„Ewiger Gott!“ rief Isidor und zog die Knieende empor, „errath’ ich, wen Du meinst? Wo ist Franzi … was ist mit ihr geschehen?“
„Ich weiß nit,“ stieß die noch immer Athemlose in Absätzen hervor, „aber es ist mir so ’was vorgegangen im Geist, drum hab’ ich sie nit aus den Augen gelassen, und wie sie fort ist aus der Schmieden, bin ich ihr nach, hinterm Dorf herum, am Moosrainerhof vorbei … hinunter gegen den Inn…“
„O, Du heilige Mutter!“ rief händeringend die Bäuerin, welche mit dem Alten aus dem Hause herbeikam; die Bauern standen entsetzt, Isidor dunkelte es vor den Augen.
„Rede,“ drängte er mit gepreßter Stimme, „rede weiter …“
„Ich flog ihr nach, wie der Wind,“ fuhr Kathrin fort, „ich hab’ geschrieen, aber sie hat nit gehört oder nit hören wollen, auf einmal ist sie mir hinterm Gebüsch verschwunden, und wie ich hin ’kommen bin, da ist nichts zu sehn gewesen, weit und breit, als der Schnee und das wilde Wasser… und daneben, am Gestad, da ist das Tüchel da gelegen und der Hut … O, Du armer, armer Wurm.“ fuhr sie, in Thränen ausbrechend, fort, „hat es ein solches End’ nehmen müssen mit Dir … Jetzt versteh’ ich Dich wohl … jetzt hast Du freilich den Leuten die Mäuler gestopft!“
„Ich verstehe,“ murmelte Isidor und schlang die Arme um den Nacken den Vaters, sich an dem starken Stamme fest zu halten im Sturm seiner Seele, „sie ist aus der Welt gegangen – um meinetwillen … für mich hat sie sich geopfert! Ich hatte recht geahnt, es war ihr Abschied für immer, als sie mir den Ring zuwarf und das Kränzlein.“
„Einen Ring?“ fragten neugierig die Umstehenden. „Was ist es mit dem?“
„Das einzige Andenken an ihre Mutter,“ sagte der alte Moosrainer, während die Leute das hingereichte Kleinod betrachteten. „Eine schöne alte Arbeit,“ sagte der Bader gewichtig, „inwendig stehn ein paar Buchstaben, die wie verkratzt aussehn … aber daneben sind drei Stern’ eingegraben…“
„Drei Stern’?“ fragte der Alte. „Die hab’ ich ja noch nie gesehn … Wahrhaftig! Drei Stern’ neben dem Namen …“
Aus der Backofenstube, dem Verstecke des Fräuleins, tönte ein Schrei, Niemand beachtete ihn, denn Isidor raffte sich aus seiner schmerzlichen Verlorenheit auf. „Fort!“ rief er, „wir verlieren die kostbare Zeit … vielleicht ist die Unglückliche noch zu retten!“
„Nein, nein!“ sagte Kathrin schluchzend, „damit ist’s vorbei … das Wasser ist viel zu wild und kalt … Die gute, gute Franzi hat’s überstanden … Gott geb’ ihr die ewige Ruh’ …“
Dennoch stürmte Alles Isidor nach, dem Strome zu; trauernd, trostlos kehrten sie nach einer Stunde zurück.
Als Isidor das Gehöft wieder betrat, gedachte er erst seiner Gefangenen und öffnete die Backstube.
Sie war leer – ein rückwärts in’s Freie führendes Fenster stand weit offen …
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Ein Mann ohne Vaterland.
Es ist nur die Geschichte eines einfachen Mannes, dessen Erscheinen auf dem Welttheater keine Epoche machte, die ich meinen Lesern erzählen will, denn das Unternehmen, an dem er sich betheiligte, schlug fehl und überlieferte ihn der Gnade seiner Richter, auch ist wohl kaum einer unter unseren Lesern, der je von ihm etwas gehört hat, – sind doch selbst in seiner eigenen Heimath nur Wenige, welche sich seiner erinnerten, als die Zeitungen im Herbst 1863 die Anzeige seines Todes brachten, die mit den Worten erschien: „Am 11. Mai starb am Bord der Vereinigten Staaten-Corvette Levant auf 2° 11’ südlicher Breite und 131° westlicher Länge Philipp Nolan.“
Und doch war dieser Mann, Philipp Nolan, einst dazu bestimmt gewesen, eine große Rolle zu spielen.
Es war im Jahre 1806, als Oberst Burr, Vicepräsident der Vereinigten Staaten unter Jefferson (1801–1809), des Landesverrathes angeklagt und auf die Anschuldigung hin, eine Verschwörung angezettelt zu haben, deren Zweck die Errichtung eines südlichen Kaiserreiches unter seiner Herrschaft war, verhaftet wurde. Sein Plan scheint ein wohlorganisirter gewesen zu sein, und unter den zahllosen Anhängern des kühnen Abenteurers war Philipp Nolan, Lieutenant in der Armee, einer der thätigsten und hervorragendsten. Es war im Fort Massac, wo er sich dem Unternehmen anschloß, welches, wie schon oft geschehen, zu früh in Scene gesetzt wurde, um den gewünschten Erfolg erzielen zu können. Bei der Expedition auf Neu-Orleans ward er mit seinem Chef gefangen genommen und vor das Kriegsgericht in Fort Adams gestellt. Er war nicht mehr und nicht weniger schuldig, als Andere, die sich von den lockenden Aussichten Aaron Burr’s hatten blenden lassen. Es ist aber ein altes Sprüchwort, daß man die kleinen Diebe hängt und die großen laufen läßt, und so ging es auch hier.
Burr wurde wegen mangelnder Beweise freigelassen und Nolan und Andere mußten die Sündenböcke sein. Wüthend über die ihm widerfahrene Behandlung stand er vor seinen Richtern, um sein Urtheil anzuhören, und wir würden wohl schwerlich je wieder Etwas über seine Zukunft vernommen haben, da man sämmtliche Betheiligte mit einer unbedeutenden Strafe entließ, wenn ihn nicht sein jugendlicher Uebermuth zu einer Antwort hingerissen hätte, welche ihn zu dem machte, was er seit jenem Tage wurde: „der Mann ohne Vaterland“. Auf die übliche Frage des Vorsitzenden, ob Nolan noch Etwas zu seiner Rechtfertigung zu sagen habe, ehe das Urtheil über ihn gesprochen würde, erhob er sich, schlug mit geballter Faust auf den Tisch und schrie: „Der Teufel hole die Vereinigten Staaten! Ich wollte, ich brauchte nie wieder Etwas von ihnen zu hören!“
Fast alle Officiere des Gerichtshofes hatten den Befreiungskrieg mitgemacht und für die Idee, welche er hier mit Füßen trat, ihr Leben eingesetzt. Nolan aber war ein ungezähmtes Naturkind; auf einer Plantage in Texas geboren, wo die beste Gesellschaft, die er hatte, im günstigsten Falle ein spanischer Officier oder ein Händler von Neu-Orleans war, hatte er keine andere Erziehung genossen als den Unterricht, den er einmal im Winter durch einen englischen Lehrer bekam. Im Uebrigen hatte er seine halbe Jugend mit seinem Bruder in den Prairien der Heimath mit dem Lasso in der Hand oder Büffel jagend auf dem selbstgefangenen, wilden Pferde zugebracht, so daß er wenig von den Vereinigten Staaten wußte. Später gab ihm die Union allerdings die Uniform, welche er trug, und das Schwert, mit dem er sein Vaterland zu schützen geschworen hatte – aber der Staat wollte an ihm das Vergehen eines Anderen strafen, und wenn wir seine Handlungsweise auch nicht rechtfertigen können, müssen wir doch nicht zu strenge urtheilen.
Das Gericht zog sich nach Nolan’s Aeußerung, welche unendliche Entrüstung hervorrief, zurück, aber schon nach fünfzehn Minuten erschien es wieder mit dem Urtheilsspruch: daß der Lieutenant Philipp Nolan des Landesverrathes schuldig und verurtheilt sei, „nie wieder Etwas von den Vereinigten Staaten zu hören“.
Nolan lachte; allein auf den bleichen Gesichtern ringsum sah er keine Heiterkeit. Die Strafe schien mild genug – nur sein eigener Wunsch sollte erfüllt werden, und er wurde erfüllt. Vom 23. September 1807 bis zu seinem Todestage 1863 hat er nie den Namen seiner Heimath wieder gehört, und sechsundfünfzig Jahre lang war er ein Mann, der kein Vaterland hatte. Präsident Jefferson bestätigte das Urtheil, von dem Nolan eine Abschrift erhielt. Bei dem spätern Brande des Regierungsgebäudes in Washington verbrannten alle auf diesen Proceß bezüglichen Papiere, und als im Jahre 1817 Capitän Watson beim Departement in Washington über Nolan rapportirte, ward dieser ganz ignorirt, ob absichtlich oder unabsichtlich, muß dahingestellt bleiben; Thatsache aber ist, daß nach dieser Zeit kein Marinecommandeur in seinem Rapport des Gefangenen je mehr Erwähnung that. Lieutenant Mitchell vom „Nautilus“, in dessen Gewahrsam der Gefangene zunächst gegeben wurde, bekam die folgende schriftliche Instruction mit: „Durch Lieutenant Neale wird Ihnen die Person des Philipp Nolan, vormaligen Lieutenants in der Armee, übergeben werden. Er hat bei seiner Untersuchung vor dem Kriegsgericht mit einem Fluch den Wunsch an den Tag gelegt, nie wieder Etwas von den Vereinigten Staaten zu hören, und das Urtheil des Gerichts lautet auf Erfüllung seines Wunsches. Sie werden den Gefangenen an Bord Ihres Schiffes nehmen und Alles anwenden, um seine Flucht zu verhindern. Sie werden ihm diejenige Aufmerksamkeit, Pflege und Meldung zukommen lassen, wie es seine frühere Stellung mit sich bringt. Die Officiere an Bord werden sich in Betreff seiner Gesellschaft unter sich einigen; es soll ihm aber stets mit Anstand begegnet und er nie daran erinnert werden, daß er ein Gefangener ist. Unter keinen Umständen aber soll er je Etwas über sein Vaterland hören oder Etwas sehen, was ihn daran erinnern könnte, und Sie werden besondere Sorge tragen, daß jeder Officier unter Ihrem Befehl diese Anordnung, in welcher seine Bestrafung liegen soll, selbst in der ihm bei Vorkommenheiten zu gewährenden Nachsicht nie verletze. Es ist der Wille der Regierung, daß er das Vaterland, das er verleugnet hat, nie wieder sehe, und werden Sie vor Ablauf Ihrer Kreuzung die zur Aufrechthaltung dieser Bestimmung nöthigen Befehle empfangen.
Vom Nautilus wird Nolan auf ein Schiff gebracht, das auf eine lange Fahrt ging, und der Commandeur desselben, Shaw, ordnete die zu befolgende Etiquette und die nöthigen Vorsichtsmaßregeln an, die von allen Hütern Nolan’s bis zu dessen Tode befolgt und als Instruction von einem Wächter dem andern eingehändigt wurden.
Capitän Shaw erlaubte ihm unbeschränkten Verkehr mit den Officieren an Bord, mit der Mannschaft aber nur in Gegenwart eines Vorgesetzten. Trotzdem wurde er schüchtern und zurückhaltend, wie alle Menschen, welche fühlen, daß sie nur geduldet werden. Da seine Gegenwart alle Gespräche über heimathliche Verhältnisse, von Krieg und Frieden, von politischen und Familienangelegenheiten – Gespräche, welche mehr als die Hälfte des Unterhaltungsstoffs auf See liefern – ausschloß, so mochte ihn keine Classe dauernd bei sich haben, und weil es doch gar zu hart gewesen wäre, ihn ganz auszuschließen, wurde ein förmliches System beobachtet. Am Montag lud der Capitän ihn zum Essen und an jedem andern Tage war er der Gast einer andern Gesellschaft, während er seine übrigen Mahlzeiten in seinem Cabinet einnahm, welches ihm da angewiesen wurde, wo die Schildwache postirt war. Auch die Mannschaft lud ihn zu ihren kleinen Belustigungen ein und es schien fast, als ob sie den „Tuchknopf“, wie sie ihn nannten, weil er keine blanken Knöpfe an der Uniform tragen durfte, aufrichtig bedauerten. Auf allen seinen Reisen durfte er nie an’s Land gehen und alle Zeitungen und Bücher, die er in die Hand bekam, wurden vorher revidirt; selbst die allerunschuldigste Annonce eines amerikanischen Hauses wurde herausgeschnitten, und so konnte es sich ereignen, daß er in Mitten der Berichte über Napoleon’s Schlachten oder Canning’s Reden ein großes Loch fand.
Als Capitän Shaw heimcommandirt wurde, lief er Capstadt an und signalisirte nach mehrtägigem Warten die ansegelnde „Warren“. Seither hatte Nolan seine Gefangenschaft nur als [773] Posse angesehen und affectirte großes Vergnügen an der Seereise; nicht wenig erstaunte er aber, als er den Befehl erhielt, sich fertig zu machen, das Schiff zu verlassen, um seine zweite Reise, diesmal nach dem Mittelmeer, mit Capitän Philipps zu machen. Dieser Officier erzählt, daß, nachdem Nolan wieder aus seiner Cajüte trat, er geglaubt habe, einen andern Menschen vor sich zu sehen, der Unglückliche hatte sich überzeugt, daß es für ihn keine Heimkehr gab, selbst nicht um in’s Gefängniß zu gehen. Dies war die erste von den zwanzig nachfolgenden Umladungen, die er zu bestehen hatte, um seinen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, und schrecklicher war sein Loos in der That, als das derjenigen Rebellen, welche seither gegen ihr Vaterland in Waffen standen, da sie doch in andern Ländern leben und an den Interessen der Heimath Theil nehmen können, wenn sie von dem Generalpardon ausgeschlossen werden.
Sein musterhaftes Benehmen während seiner Reisen hat zur Genüge dargethan, daß er seine Thorheit bereute und sich wie ein Mann in sein Schicksal ergab. Er hat nie absichtlich die Schwierigkeiten der peinlichen Lage derer vermehrt, welche ihn zu bewachen hatten; Zufälligkeiten ließen sich indessen nicht vermeiden, aber nie hat er sie hervorgerufen. Von den mannigfachen Vorkommenheiten, die ihn schmerzlich an die verscherzte Heimath erinnerten, wollen wir, um zu beweisen, wie sehr er seinen Verlust empfand, unsern Lesern nur drei Fälle vorführen.
Es war während Nolan’s Gefangenschaft auf dem „Brandywine“, als einer der Officiere von einem Cameraden in Alexandria eine ganze Kiste voll Bücher lieh, was in damaliger Zeit als ein wahrer Glücksfund angesehen wurde. Auch Nolan ward eingeladen sich dem Kreise anzuschließen, der sich an dem schönen Augustnachmittage auf dem hintern Deck unter dem Zelt gebildet hatte. Man wollte vorlesen, um die Zeit angenehmer zuzubringen, und auch an ihn kam die Reihe des Vortrags. Man hatte Scott’s kürzlich erschienenes „Lied des letzten Minstrels“ gewählt und Alle waren entzückt davon. Mit Pathos begann Nolan den sechsten Gesang, ohne zu ahnen, was ihn treffen würde:
Wem schleicht so träg’ und bang’ das Blut?
Der niemals rief in hoher Gluth:
Sei mir gegrüßt, mein Vaterland!
Alle sahen einander betroffen an und Nolan erblaßte, mußte aber hoffen, daß nichts mehr erfolgen würde, und las weiter:
Wem klopfte nie der Busen hoch,
Wenn er zurück zur Heimath zog
Vom fernen fremden Strand?
Giebt’s Einen? Merk’ ihn wohl, den Wicht.
Er hatte nicht die Geistesgegenwart umzublättern, er schluchzte, purpurn glühte seine Wange, doch er las stotternd weiter:
Des Minstrels Lied erfreut ihn nicht.
So hoch sein Rang, sein Name steigt,
Bleibt auch kein Wunsch ihm unerreicht,
Trotz Rang und Titel, Prunk und Pracht,
Elender Wicht, Du wirst verlacht –
Dies war zu viel für ihn; wie ein angeschossenes Wild sprang er auf. Die Thränen stürzten aus seinen Augen, mit einem Ruck schleuderte er das Buch in die See und eilte in seine Cajüte.
„Zwei Monate lang,“ erzählt einer seiner alten Gefährten, „sahen wir ihn nicht unter uns.“
Nicht lange darauf, noch während des Kriegs mit England, ward das Schiff, auf dem er sich gerade befand, von einer feindlichen Fregatte attakirt. Eine Vollkugel schlug in eine der Luken des Amerikaners ein und tödtete den Officier nebst mehreren Mann – da erschien mitten in der Verwirrung Nolan wie der deus ex machina, übernahm das Commando, ließ die Verwundeten forttragen, lud mit eigener Hand die Kanone, richtete sie und ließ Feuer geben. Und so stand er als Befehlshaber des Geschützes, heiter und guter Dinge, kühlen Muths, feuerte die Leute an und schoß zweimal so oft als irgend ein Anderer, bis der stolze Engländer die Flagge strich und dessen Commandeur seinen Säbel übergab. Dann hieß es aber: „wo ist Nolan? Der Capitän will ihn sehen.“ Nolan kam. „Herr,“ redete ihn der Befehlshaber an, „Sie sind heute der Bravsten Einer auf diesem Schiff gewesen und ich werde über Sie berichten. Meinen Dank bezeuge ich Ihnen hiermit,“ setzte er hinzu, indem er ihm seinen eigenen Säbel einhändigte, „wer Ihnen mehr schuldet, wird es selber zahlen.“ (Er durfte nicht sagen: das Vaterland.)
Dies war der schönste Tag in dem Leben des Heimathlosen und bei allen festlichen Gelegenheiten hat er diese wohlverdiente Decoration getragen. Der Commandeur bat um Nolan’s Pardon beim Kriegsminister – aber nie hat er eine Antwort darauf erhalten. Man hatte angefangen die ganze Sache in Washington zu ignoriren, und Nolan’s Verhältnisse blieben dieselben, weil keine Ordres von dort kamen.
Außer seinen Büchern und der gelegentlichen Unterhaltung mit den Officieren hatte er Nichts, um seine Zeit hinzubringen. Aber er nützte diese, so gut er konnte, und in seiner Hinterlassenschaft fanden sich unzählige Zeichnungen und Sammlungen von naturgeschichtlichem Werth. Er kannte die Sprachen fast aller Länder, die er besucht hatte, und leistete dadurch vielfache Dienste als Dolmetscher. Bei einer solchen Gelegenheit war es, wo ihm schier das Herz brechen wollte. Sein Schiff hatte an der Nordwestküste Afrikas ein Sclavenschiff gekapert, und der Officier war in großer Verlegenheit, wie er den aufgeregten Schwarzen auseinander setzen sollte, daß er sie wieder an’s Land bringen werde.
Niemand sprach ein Wort Portugiesisch, welches einige der Neger an der Küste von Fernando Po gelernt hatten; da trat Nolan in’s Mittel, theilte denselben mit, was mit ihnen geschehen sollte, und man hoffte den Aufruhr zu unterdrücken. Statt dessen vermehrte derselbe sich aber auf bedenkliche Weise und Nolan verdolmetschte, daß die Schwarzen in ihre Heimath zurückgebracht zu werden verlangten. Ihm selbst standen die Schweißtropfen auf der Stirn; umringt von fast vierhundert Negern, von denen der eine ihn, von seinem Weib, der andere von seinem Kind und der dritte und vierte von Haus und Eltern erzählte, versagte ihm selbst die Stimme und nur mit großer Anstrengung wurde er endlich durch die Bewilligung ihrer Forderungen Herr der Situation. Wie nun aber die entzückte Masse sich auf ihn wälzte, ihn küßte und herzte und in ihren Freudenausbrüchen fast erdrückte, schwand ihm die Kraft, so daß er in’s Boot zurückgetragen werden mußte. Dort kam er bald wieder zu sich; als er aber im Hinterdeck neben dem jungen Lieutenant saß, da brach sein Schmerz mit ganzer Gewalt hervor und er mußte seinem gepreßten Herzen einmal Luft machen.
„Junger Mann,“ sagte er zu seinem Begleiter, mit dem er in spätern Jahren noch mehrere Reisen machte, „daraus mögen Sie erkennen, was es heißt, ohne Familie, ohne Haus und ohne Heimath zu sein. Und sollten Sie je sich so weit vergessen, Etwas zu thun oder zu sagen, was zwischen Ihnen und diesen Schätzen eine Scheidewand aufrichtet, bitten Sie Gott, er möge in seiner Gnade Sie zu sich nehmen. Fesseln Sie sich an Ihre Familie, vergessen Sie das eigene Selbst, aber thun Sie Alles für diese. Sprechen Sie von ihr, schreiben Sie und denken Sie an dieselbe; je weiter Sie reisen, desto wärmer halten Sie fest daran, wie jene armen Sclaven dort. Und an dem Vaterland, an der Heimath, an der alten Flagge da – Junge, denke an nichts, als ihnen zu dienen, und wenn dieser Dienst Dich durch die Hölle jagte! Laß keinen Abend vorübergehen, an dem Du nicht Gott bittest, die Flagge zu segnen, und was Dir auch begegnet, wer Dir auch schmeichelt, sieh keine andere an! Hinter all jenen Männern, mit denen Du verkehrst, steht Dein Vaterland und dem gehörst Du an, wie Deiner eigenen Mutter. Schande und Schmach auf den, der seine Mutter verläßt! O Gott,“ flüsterte er für sich. „wenn ein Mensch zu mir so in meiner Jugend gesprochen hätte!“
Oft ist es auch später noch versucht worden, dem armen Heimathlosen Erlösung zu verschaffen, aber Niemand glaubte in Washington an die Existenz eines solchen Mannes. Es ist nicht der erste Fall, daß ein Departement sich den Anschein giebt, als ob es nichts wisse. Für die Commandeure des Marinegeschwaders war die ganze Sache eine höchst delicate, und wir müssen gestehen, daß es ein Beweis von dem ehrenhaften esprit de corps der Seeofficiere ist, das Geheimniß bis zu Nolan’s Tode nicht in die Oeffentlichkeit dringen zu lassen, denn selbst dem Bereich der allmächtigen Presse der großen Union ist es fern gehalten worden. Es ist mit Nolan’s Fall so wie in vielen andern Dingen, wo man in einem Amte zum Selbsthandeln gezwungen wird: „Hast Du Erfolg, so wird man Dich unterstützen; mißlingt Dein Versuch, wird man Dich verleugnen.“ Die Ordre, Nolan in der Welt herumzuführen, war da – die Contreordre fehlte – der Beamte muß sich an das Gesetz halten, und so gern Mancher den unglücklichen Nolan – denn das war er im vollsten Sinn des Worts – hätte entkommen lassen, er durfte es nicht thun, wenn er nicht seine eigene [774] Stellung gefährden wollte, und Cassation ist kein angenehmes Wort für einen Officier.
Auf seinem Sterbebette – er war nahezu achtzig Jahre alt geworden – flehte er um die Gnade, Etwas von Amerika hören zu dürfen, ehe es mit ihm zu Ende ging, und zum ersten Male seit dem langen Zeitraume von sechsundfünfzig Jahren gab ihm einer der ihm befreundeten Officiere ein getreues Bild seines Heimathlandes, was es geworden war, wie es gedieh, welche Bedeutung es für die Gegenwart gewonnen. Mit dem Lächeln seliger Befriedigung hörte er zu und sah, wie sich ein mächtiges Gebäude vor seinen Blicken entfaltete. Nur Eines konnte der Freund nicht über sich gewinnen: von dem Bruderkriege durfte Nolan nichts wissen. Als er sich schwächer fühlte, mußte derselbe das neben ihm liegende Gebetbuch öffnen und die angezeichnete Stelle lesen. Sie lautete: „Für uns selbst und im Namen unseres ganzen Landes danken wir Dir, o Gott, daß Du uns, trotz unserer mannigfachen Vergehen, Deine Gnade erhalten hast. Segne und erhalte Deinen getreuen Diener, den Präsidenten der Vereinigten Staaten und Alle, die ein öffentliches Amt bekleiden.“ Dann schlief er ruhig ein, mit sich selbst und aller Welt in Frieden.
In seiner Bibel lag ein Zettel, auf dem er die Bitte niedergeschrieben hatte: „Begrabt mich im Meer, es ist meine Heimath geworden und ich habe sie lieben gelernt; hat die Regierung, welche mich so hart gestraft hat, so viel Achtung vor mir bewahrt, daß sie mir in Fort Adams einen Gedenkstein setzen will, so sage sie auf demselben:
In Memoriam
Philipp Nolan,
Lieutenant in der Vereinigten Staaten Armee,
Friede sei mit Dir!“
Die Seele des Orchesters.
Aus einem noch jetzt von den Arabern benutzten sehr unvollkommenen Saiteninstrumente, dem Rebec, das die Eroberungen der Mauren nach Europa brachten, scheint sich nach und nach das entwickelt zu haben, was heute die Seele des Orchesters bildet – die Violine. In Italien war es, wo der Bau derselben die ersten und sehr rasche Fortschritte machte, so daß z. B. Gaspare di Salo in Brescia (1535) bereits Instrumente fertigte, welche vollkommen die heutige Form haben. In der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts finden sich auch schon Nachrichten über die größere Ausbreitung des Violinspiels und es wird überdies des Violoncellos und des Basses gedacht. Die ersten Geigen sollen größer gewesen sein, als die heutigen, und erst am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts durch Testator il Vecchio in Mailand verkleinert worden sein. Man erklärt sich hieraus den Namen Violine, der so viel als „kleine Viola“ bedeutet.
Außer Gaspare di Salo sind noch mehrere andere Brescianer, besonders Maggini, Zanetto und Laussa als berühmte Geigenmacher des sechszehnten Jahrhunderts bekannt. Sehr bald wurde jedoch Brescia, die Wiege des Violinbaues, durch die ausgezeichneten Leistungen mehrerer Künstler in Cremona, namentlich des Andrea Amati (1575) in den Hintergrund gedrängt. Auch die Söhne Amati’s, sowie einer seiner Enkel, bauten ausgezeichnete Instrumente, welche noch jetzt theils als Seltenheiten, theils wegen ihres lieblichen Tones sehr theuer bezahlt werden. In dem letzten Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts verfertigte ein Schüler des letzten Amati, Andrea Guarneri (1675–94) ebenfalls ganz vortreffliche Violinen, welche sich, wie die seiner Nachfolger, noch heute durch ihren brillanten Ton auszeichnen und von vielen Künstlern allen andern vorgezogen werden. Der Geigenbau pflanzte sich in der dadurch berühmt gewordenen Familie Guarneri bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts fort. Die ausgezeichnetsten Werke lieferte Joseph Guarneri del Gesù (1728–42). Paganini’s Lieblingsvioline war aus seiner Hand hervorgegangen. Ein dritter großer Meister des Cremoneser Violinbaues, Antonio Stradivari (Straduarius), gestorben 1738, hatte nicht das Glück, seine Kunst auf seine Söhne vererbt zu sehen. Die Amati und Guarneri, sowie Antonio Stradivari begründeten den hohen Ruhm Cremonas in der gedachten Beziehung und wurden übrigens durch ihre zahlreichen Nachfolger in Italien und andern Ländern nicht übertroffen. Die Cremoneser Geigen sind vielmehr von einer so classischen Vollendung, daß man nach einem Jahrhundert des Probirens und Suchens nach andern Constructionen in der neuesten Zeit zu der Ueberzeugung gekommen ist, es sei das Beste, die von den alten italienischen Meistern noch vorhandenen Instrumente rücksichtlich ihres Baues ganz genau nachzuahmen. Natürlich braucht dies nicht in unwesentlichen Aeußerlichkeiten zu geschehen. Die erwähnte Nachbildung würde nun durchaus nicht so entschieden angestrebt werden, wenn man von dem prachtvollen Klange der meisterhaften Arbeiten aus der classischen Zeit des Violinbaues nur aus geschichtlichen Aufzeichnungen etwas wüßte. Nein, man kann noch jetzt die wunderbar reinen, vollen und dabei schmelzenden Töne jener Kunstwerke bewundern. Manche besitzen einzelne Exemplare, Andere ganze Sammlungen derartiger alter und ausgezeichneter Instrumente, und dies nicht als bloße Raritäten. Die Violine hat nämlich die merkwürdige Eigenschaft, daß sie mit dem zunehmenden Alter einen immer schöneren Klang erhält. Deshalb ist es auch schwierig, neue Violinen richtig zu beurtheilen. Nicht selten sehen die Geigenmacher nur darauf, daß ihre Instrumente sich im neuen Zustande durch einen tadellosen Klang auszeichnen. Es wird dies in manchen Fällen durch Verdünnung der Decke und des Bodens des Resonanzkörpers, mitunter auch durch eine sehr verwerfliche Beizung des Holzes erreicht. Diese Mittel kürzen aber erfahrungsmäßig die Dauer der guten Eigenschaften einer Violine bedeutend ab und sind nur bei ganz gewöhnlichen Instrumenten zulässig. Der Violinbauer muß also hinsichtlich seiner bessern Werke mehr auf die Zukunft, als auf die Gegenwart bedacht sein. Mit jedem Jahre werden dieselben dann besser.
Im siebenzehnten Jahrhundert verpflanzte sich die Kunst des Violinbaues von Italien aus nach Spanien, Frankreich und Deutschland, in letzterem zuerst nach Tirol, wo besonders die Instrumente von Stainer in Absam bei Innsbruck bald so beliebt wurden, daß man sie lange Zeit den Cremonesern gleich schätzte. Die Stainerschen Violinen haben das Eigenthümliche, daß ihre Decken und Böden stark gewölbt sind. In späterer Zeit haben sie bedeutend an Ruf verloren.
Ein Schüler Stainer’s, Egid. Klotz, vervollkommnete und erweiterte die Geigenmacherei in Mittenwald an der obern Isar in Baiern, welcher Ort für Deutschland das wurde, was Cremona für Italien gewesen war, wenn auch nicht in einem so hohen Sinne. Gegenwärtig beschäftigen sich in Mittenwald gegen einhundert Familien mit Anfertigung von Violinen, Guitarren und Cithern, und es besteht seit 1858 eine eigene Musterwerkstätte daselbst, in der zwei der tüchtigsten Lehrer, welche die Regierung auf Staatskosten von den vorzüglichsten Meistern unterrichten ließ, praktischen Unterricht ertheilen. Außerdem sind auf Staatskosten ausgezeichnete alte Violinen angekauft und mit einigen der vorzüglichsten neuern Instrumente zu einer Mustersammlung vereinigt worden, welche nicht blos für die besten, sogenannten Künstlergeigen, sondern auch für die ordinären oder Marktgeigen die Vorbilder liefern soll. Hierdurch wird gewiß der dortige Violinbau künftighin auch höheren Anforderungen der Musiker immer besser Genüge leisten.
Für gewöhnliche Violinen, sowie für gute und kräftige Concertinstrumente derselben Art, ist jetzt in Deutschland unbestritten die Stadt Neukirchen – früher Markneukirchen genannt – im sächsischen Voigtlande nebst den nahen Orten Adorf und Klingenthal der Hauptfabrikationsort. Dazu kommen außer dem schon erwähnten Mittenwald noch Graslitz und Schönbach im böhmischen Erzgebirge, ferner Nürnberg, Prag, Wien, Berlin, einige Orte in Würtemberg und Schlesien. Die Vororte der französischen Geigenmacherei sind Mirecourt in Lothringen (seit 1680; jetzt sechs- bis achthundert Arbeiter), Paris und mehrere größere Provincialstädte. England und Amerika beziehen ihre Violinen größtentheils aus Deutschland.
Nach Neukirchen und Umgebung ist der Violinbau nach dem dreißigjährigen Kriege durch Vertriebene (Exulanten) aus Böhmen, diesem der Musik so ergebenen Lande, verpflanzt worden
[775] und hat namentlich in neuester Zeit einen außerordentlichen Aufschwung genommen. Es werden daselbst dreihundert verschiedene Sorten Violinen und gegen zweihundert Sorten Violinbogen gemacht. Die ersteren werden hauptsächlich nach Mustern von Stradivari gefertigt und zwar zu sehr verschiedenen, theilweise fabelhaft billigen Preisen, welche nur durch die außerordentliche Theilung der Arbeit möglich sind, z. B. Kindergeigen zu zwei Thalern das Dutzend; gewöhnliche Geigen von dritthalb bis zweihundert Thaler pro Dutzend. Eine sehr billige Sorte dieser Instrumente, die übrigens oft seltsam bemalt wird, wandert nach dem fernen Amerika, wo sie dem Indianer und Neger das Leben erheitern hilft. Aber auch bessere Arten werden in Menge nach Amerika versendet. Ferner sind Rußland und England und nach diesen, Italien ausgenommen, alle europäischen Länder Absatzgebiete für die Neukirchner Fabrikate. Man berechnet den jährlichen Umsatz der Neukirchner Gegend in diesem Artikel, einschließlich der Blasinstrumente, auf anderthalb Millionen Thaler, und die Anzahl der jährlich dort fabricirten Streichinstrumente beläuft sich auf mindestens dreißigtausend Stück. Desgleichen erzeugen Neukirchen und Umgebung an Darmsaiten gegenwärtig wohl zwanzigmal so viel, wie ganz Italien, nämlich für 500,000 Thaler jährlich, und beziehen die dazu nöthigen Därme zum größten Theile aus Norddeutschland (Berlin, Königsberg) und aus Dänemark und England.
In Bezug auf Meisterwerke des Violinbaues haben jetzt die Instrumente von Vuillaume, Mirmont und den Gebrüdern Gand in Paris, sowie von Sitt in Prag, Lemböck und Bittner in Wien, Grimm in Berlin und einigen andern tüchtigen Künstlern den meisten Ruf. Vuillaume, welcher wie Mirmont und alle berühmten französischen Geigermacher in Mirecourt geboren ist, wird von den Meisten für den größten unter ihnen gehalten. Er hat die gewissen Liebhabern willkommene Manier, seinen neuen Instrumenten durch Abkratzung des Lacks und durch sonstige höchst getreue Nachahmung alter Violinen das Aussehen zu geben, als wären sie schon lange, lange Zeit in Gebrauch gewesen und einer Sammlung von Alterthümern entnommen. Daß dies beim Verkauf später zu manchem Betrug führen muß, ist natürlich.
In England werden viele ordinäre Instrumente aus Deutschland feiner ausgearbeitet, öfters sogar mit frischen Hälsen versehen und sorgfältiger lackirt, dann aber zu viel höheren Preisen verkauft. Ueberdies giebt es in England einige geschickte Wiederhersteller und tüchtige Kenner der alten ausgezeichneten Violinen. Für diese ist London der bedeutendste Handelsplatz. Das Haus Puttick und Simpson in London hat oft in einem einzigen Jahre zwei- bis dreitausend Streichinstrumente der bessern und besten Arten zu versteigern. –
Die Violine ist bekanntlich mit vier Saiten bespannt, welche die gleiche Länge (etwas über 12’’ Pariser Maß), aber verschiedene Dicken und dem entsprechend verschiedene Gewichte haben. Sie werden auf die Töne g, d1, a1, e2 gestimmt, also immer um eine Quinte auseinander; die entsprechenden Schwingungszahlen pro Secunde sind: 196, 294, 440, 659; die betreffenden Spannungen 121/2, 122/3, 133/4, 1715/16 Zollpfund. Das a1 der dritten Saite mit 440 Schwingungen pro Secunde dient vermittelst der Stimmgabel zur Stimmung der übrigen Saiten. Die Tonhöhe sinkt, wenn das Gewicht der Saite zunimmt, und zwar so, daß z. B. die Schwingungszahl im Verhältniß von 4:3 abnimmt, wenn sich das Gewicht der Saiten im Verhältniß von 9:16 erhöht. Die außerordentlich große Anzahl von Tönen, welche die Violine giebt, wird, wie Jedermann weiß, dadurch hervorgebracht, daß der Spieler durch Andrücken der Saiten an das Griffbret die Länge der schwingenden Theile derselben verkürzt. Durch einen schwächeren Druck auf die Saiten, welcher das Mitschwingen ihres untern Theils noch erlaubt, werden die Flageolettöne erzeugt.
Die Saiten der Violine werden, wie die aller andern Streichinstrumente, aus den Gedärmen von Lämmern, Ziegen, Schafen, Katzen etc. angefertigt. Die feinsten Sorten werden durchgängig aus den Gedärmen sehr junger Lämmer – nicht über acht Monate alt – gesponnen. Am tauglichsten hierzu sind die von den im August und September geborenen, weil die beste Zeit zur Fabrikation der Saiten die vom März bis Juli ist. Es lassen sich da die Därme am besten dehnen und zu recht glatten und wohlklingenden Saiten zusammendrehen; auch ist alsdann hinreichendes frisches Wasser vorhanden, um die Vorarbeiten vor dem Spinnen, das Wässern und Abschaben (Maceriren), sowie das zur Entfernung des Fettes dienende Beizen der Därme (in Pottaschelösung) gehörig vornehmen zu können. Die feinsten Saiten bestehen aus nur drei macerirten Lammdärmen. Jetzt werden auch viele feine Saiten aus gespaltenen Gedärmen älterer Thiere verfertigt. Nach dem mehrmals wiederholten Drehen schwefelt man die Saiten und ölt sie mit ein wenig feinem Oliven- oder Mandelöl ein, dem ein Procent Lorbeeröl zugemischt wird, um das Ranzigwerden der andern Oele zu verhüten. Die stärkeren Saiten überspinnt man mit Silber- oder Kupferdraht, um ihr Gewicht zu erhöhen und ihren Ton dadurch entsprechend zu vertiefen. Der Raum erlaubt uns nicht, die vielen einzelnen Arbeiten und Vorsichtsmaßregeln, welche die Verfertigung der scheinbar so einfach herzustellenden Darmsaiten nothwendig macht, noch näher zu detailliren. Daß das betriebsame Neukirchen im sächsischen Voigtlande und seine Nachbarorte in Deutschland die ausgedehnteste Saitenfabrikation aufzuweisen haben, ist schon erwähnt worden. Nach dem Berichte der Gewerbekammer zu Plauen giebt es dort gegen 250 Saitenmacher, welche jährlich gegen 100,000 Schock Saiten von durchschnittlich zwölf bis dreizehn Klaftern Länge verfertigen und deren Fabrikate weithin versendet werden. Die feinsten Saiten werden noch jetzt von Neapel bezogen, wo man zu ihrer Bereitung sehr gutes Rohmaterial hat.
Die Saiten der Violine sind mit dem einen Ende an dem Saitenhalter befestigt, welcher seinerseits vermittelst eines kurzen Saitenstücks von dem Knopf festgehalten wird; jene laufen dann über den Steg und das Griffbret und liegen vor ihrem Eintritt in den Wirbelkasten auf einem Bretchen am Ende des Griffbrets auf, welches man den Sattel nennt. Der eigenthümliche Klang der Saitenschwingungen auf der Violine wird durch den Resonanzkörper hervorgebracht. Dieser besteht aus einer obern, mehr oder weniger gewölbten Platte von Fichtenholz, der Decke oder Resonanzplatte, auch Brust genannt, und aus einer dieser gegenüberstehenden, weniger gewölbten Bodenplatte von Ahornholz. Die schmalen Seitenwände des Resonanzkastens sind aus demselben Holze wie der Boden und werden die Zargen genannt. Decke und Boden sind innerhalb des Kastens durch kleine, eingeleimte Stückchen Holz und zwar in der Gegend des Knopfes, an den Ecken der Zargen und am Halse, mit einander verbunden, um der Violine mehr Festigkeit zu geben. Der Hals ist der an den Resonanzkasten anstoßende, unterhalb des Griffbrets liegende Theil, an dessen Ende der Wirbelkasten befindlich ist. Der Theil des Halses, mit welchem derselbe an den Zargen befestigt ist, wird Haken genannt. Die Decke der Violine hat zu beiden Seiten des Stegs zwei Schalllöcher in F-Form, die sogenannten F-Löcher, welche die Luft im Innern des Resonanzkastens mit der äußern verbinden sollen. Verklebt man dieselben, so wird der Ton des Instruments viel tiefer, hohler und schwächer. Von ganz besondrer Wichtigkeit sind zwei andere Theile der Violine, der Steg und der Stimmstock oder die sogenannte Seele. Der erstere ist bekanntlich ein Bretchen, das auf der Decke der Violine senkrecht aufgesetzt ist und über welches die Saiten hinweggespannt sind. Am obern Rande ist der Steg etwas gekrümmt; außerdem ist er eigenthümlich ausgeschnitten und namentlich an seinem untern Theile so, daß er gewissermaßen zwei Füße hat. Läßt man diese Ausschnitte weg, so giebt die Violine fast gar keinen Ton, weil dann die Uebertragung der Saitenschwingungen auf die Theile des Resonanzkörpers nicht gut von Statten gehen kann. Ziemlich unter dem rechten Fuße des Steges befindet sich innerhalb jenes Kastens der Stimmstock oder die Seele der Violine. Es ist dies ein den Boden und die Decke verbindendes Säulchen von Holz, welches erstlich dazu dient, daß die Erzitterungen des rechten Stegfußes nicht nur auf die Deck-, sondern auch auf die Bodenplatte übertragen werden, und zweitens noch den Zweck hat, diese Schwingungen gegen beide Platten rechtwinklig zu machen. Entfernt man den Stimmstock aus der Violine, so wird der Klang derselben sehr geschwächt. Der Stimmstock macht durch seinen Widerstand den rechten Fuß des Stegs ziemlich unbeweglich; desto lebhaftere Schwingungen kann aber der linke Fuß desselben machen, welcher hauptsächlich die Bestimmung hat, die Resonanz- oder Deckplatte in lebhafte Oscillationen zu versetzen. Von dem letzterwähnten Stegfuße aus läuft unterhalb der Decke nach dem Halse zu eine schmale Holzleiste hin, der Baßbalken, welcher die erregten Schwingungen über die ganze Deckplatte verbreiten hilft und außerdem zur Festigkeit des Instruments, das eine Saitenspannung von mehr als fünfzig Pfund auszuhalten hat, wesentlich beiträgt. Wegen dieser [776] Spannung, noch mehr aber deshalb, weil die Querschwingungen der Decke und des Bodens dann weniger Widerstand finden, muß die Faserrichtung der Decke den Saiten parallel gehen. Ist der Boden aus Ahornholz, so werden die Töne des Instruments kräftiger, als wenn er ebenfalls aus Fichtenholz besteht, wie die Decke. Beide, Boden und Decke, müssen eine solche Stärke haben, daß sie nahezu denselben Ton geben, wie die für sich vibrirende Luft des Resonanzraums. Dabei ist es für die Harmonie dieser drei Theile in ihrer Verbindung von Wichtigkeit, wenn Decke und Boden für sich beim Anschlagen mindestens um einen halben Ton auseinder tönen. Beim Zusammenfügen beider geben sie dann einen und denselben Ton ohne alle Disharmonie.
Zum Spielen der Violine gehört endlich ein Bogen. Der Name desselben deutet schon genügend an, welche Form diese nothwendige Ergänzung aller Streichinstrumente anfangs gehabt hat. Die vollkommenste Form des Bogens hat noch ein volles Jahrhundert länger auf sich warten lassen, als die der Violine selbst. Der Franzose Tourte verfertigte Ende des vorigen Jahrhunderts zuerst Violinbogen in der heutigen Gestalt und Einrichtung; seine Bogen haben noch heute hohen Ruf.
Die Stange des Violinbogens wird am liebsten aus Fernambukholz gemacht; weniger gut ist schon das Schlangenholz (aus Brasilien); zu den billigeren Bogen verwendet man die sogenannte amerikanische Eiche. Der untere Theil des Bogens dient zum Anspannen der Haare und führt den Namen Frosch, das obere Ende wird der Kopf genannt. Die Stange, welche beide verbindet, muß sehr elastisch sein, weshalb die Auswahl des Holzes nicht unwichtig ist. Die zwischen Kopf und Frosch ausgespannten Haare sind Roßschweifen entnommen. Sie sind an ihrer Oberfläche mit lauter dachziegelartig übereinandergreifenden mikroskopischen Höckerchen besetzt, welche zum Theil die Reibung und dadurch das Tönen der Saiten verursachen und hierbei durch das Colophonium unterstützt werden.
Trotz der im Vorhergehenden angeführten Einflüsse der verschiedenen Theile der Violine auf ihren Klang, ist es doch ihre ganze Form und Bauart, in welcher das Geheimniß ihrer mächtig ergreifenden musikalischen Wirkung liegt. Es giebt alte Violinen, an denen mit Ausnahme der Decke nach und nach Alles erneuert worden ist, und doch werden sie noch eben so sehr geschätzt, wie die Originale. Da man nun jetzt nach den alten Modellen arbeitet, so sind unsere feinen Instrumente gewiß eben so gut, wie jene zu ihrer Zeit gewesen sind, und werden durch den Gebrauch künftig gleich vortrefflich, wie die Werke Amati’s und seiner Nachfolger. Daß neue Violinen einen etwas härteren und rauheren Klang haben als alte, ist ganz natürlich. Durch das Zusammenleimen, Biegen und Zusammenpressen der Theile müssen auch bei der größten Sorgfalt Ungleichheiten in der Elasticität derselben entstehen; ebenso durch die ungleiche Dichtigkeit des Holzes. Wird aber eine Violine lange Zeit gespielt, so wird vorzüglich in der Decke durch die fortwährenden Erzitterungen manche Veränderung in der Lagerung der Fasern hervorgebracht, und es werden nach und nach die mancherlei Hindernisse entfernt, welche einer ungestörten Verbreitung der Schwingungen des Resonanzkörpers anfangs hindernd im Wege standen.
Die eingehendsten Versuche zur Auffindung der eigenthümlichen Schwingungsverhältnisse der Violine hat Savart gemacht und in den Berichten der Pariser Akademie publicirt. Außerdem lehrt auch ein neueres Werk, „Zamminer, die Musik und die musikalischen Instrumente“, das Nähere über den Bau der Violinen wie über die Bedeutung derselben im Verhältniß zu den übrigen Instrumenten.
Ein vergessener Dichter.
Wie aus dem Staub der Bibliotheken noch immer, von Zeit zu Zeit, Schätze an das Licht des Tages gezogen werden, die man längst zerfallen und vermodert wähnte, oder von deren Dasein man überhaupt keine Ahnung hatte; und wie noch täglich anderseits, unter der Fülle und dem Wust des neu Erscheinenden, Einzelnes Gute und Bedeutende versinkt, vergraben und im Lauf der Jahre vergessen wird: so auch giebt es Dichter, bedeutende, anerkennungswerthe Talente, die niemals zur Geltung kommen, deren Name, kaum aufgetaucht, verschwindet, die schon vergessen und verschollen sind, ehe noch der Tod sie hinweggerafft, ehe noch der Abendwind durch den Hollunderstrauch ihres Grabhügels weht. Die Verhältnisse machten es so, das Glück stand nicht an ihrer Seite, oder der Drang nach Anerkennung, Ruhm und Ehre lag nicht in ihrem Innern. In treuer Pflichterfüllung des von ihnen erwählten Lebensberufes fanden sie Ruhe und Beruhigung, und das Stückchen Poesie, das der Himmel ihnen in das Herz gelegt, meinten sie nicht vorzugsweise, sondern einzig und allein für sich empfangen zu haben. Die Lieder ihrer Brust werden für sie nicht zu Lorbeerreisern die Stirne zu schmücken; für sie sind es nur Rosen und Lilien, um die Einförmigkeit des Lebens zu unterbrechen, das Haus mit Duft zu erfüllen, Tisch und Consolen gleichsam wie mit Blumen zu schmücken.
Und solch ein fast vergessener, verschollener Dichter ist Ludwig Giesebrecht, der alte Professor am Gymnasium zu Stettin, der Geschichtsforscher, als welcher er seine wendischen Geschichten und andere rühmlichst bewährte Werke der Art veröffentlichte. Wer kennt seine Lieder, wer besitzt seine Gedichte?
Es war im Jahre 1816, als Giesebrecht, geboren 1792 zu Mirow in Mecklenburg, an das Gymnasium nach Stettin berufen wurde, nachdem er als Husar an dem Kriege 1813 bis 1815 Theil genommen hatte. In den ersten Jahren seiner Wirksamkeit als Lehrer soll er noch in altdeutscher Tracht einhergegangen sein; in den dreißiger Jahren schlug er sich nur noch des Winters den Mantel, gleich einer Toga, über die Schulter und schritt sonst wie [777] andere Leute einher. Sein neues Vaterland Preußen liebte er über Alles. Und wenn er nun über den Paradeplatz dahinschritt und einen Blick nach der von Schadow, ohne Seitennähte an den Stiefeln, gefertigten Statue des alten Fritz warf, dann erwachten in ihm die eigenen erlebten Kriegstage, dann saß er in der Erinnerung wieder als muthiger Husar zu Roß und in seinem Herzen erklang und dichtete sich das Lied:
Vor uns Meer! Wohin nun weiter?
Still, der Herzog nimmt das Wort:
Ihr seid jetzt geborgen, Reiter;
Schiffe, seht ihr, ankern dort.
Sie sind da uns abzuholen,
Uns, doch nicht der Pferde Troß.
Sitzt denn ab, nehmt die Pistolen,
Mann für Mann erschießt sein Roß.
Nun? Ich stehe auf der Erde,
Und ihr sitzt und zaudert dort? –
Herzog, unsre treuen Pferde?
Edler Herzog, das ist Mord. –
Liebt ihr eure Pferde wieder?
Wohl! Doch hier ist Wählen schwer:
Rückwärts in des Feindes Glieder,
Oder vorwärts auf das Meer!
Und der Feind in unserm Rücken
Er ist stark an Zahl und Muth;
Sollte ja der Angriff glücken,
Wär’ er nur durch Schweiß und Blut. –
Siegen, Herzog, oder fallen
Mit einander Roß und Mann! –
Sei es. Laßt Fanfaren schallen,
Jeder thue, was er kann! –
Fliegt denn, ihr beschwingten Flosse,
Ueber dunkeln Wassern fliegt;
Sei genannt der Tag der Rosse,
Schlacht, die heute vor uns liegt.
Nachmittags aber, wenn des Tages Last und Hitze getragen, wenn der Schulstaub von der Schulter geklopft war, dann ging es, wie wohl noch bis heutigen Tages, zum Schloß der alten pommer’schen Herzoge – in dem Prinzeß Elisabeth, von der, wie W. Alexis meint, sich Vieles sagen ließe, wenn es nicht besser wäre, die Todten ruhen zu lassen, mehrere Jahre ihren Wohnsitz hatte, bis ihr das Haus vor den Wällen der Festung erbaut wurde – um als Bibliothekar des Baltischen Vereins für pommersche Geschichte und Alterthumskunde in den Werken gedachter Gesellschaft sich zu vergraben und zu vertiefen. Aber aus den Fenstern der Bibliothek hat man eine gar köstliche, weite, schöne Aussicht über das Oderthal hinweg; und da mögen dem eifrigen Geschichtsforscher, dem überaus thätigen Mitglied des Vereins die Augen unwillkürlich von den Büchern abseits zum Oderstrome geschweift sein, und den Wichtelmännchen gleich, sind Lieder gekommen und haben in ihm geläutet und gerufen: „Da sind wir wieder, Du mußt uns dennoch singen.“ Es ist wohl gewiß, daß dort in den Räumen der Bibliothek viele der Lieder Giesebrecht’s entstanden sind. Und weil dies geschehen, was war natürlicher, als daß er diese seine Gedichte, gleichsam wie aus Dankbarkeit, in den Schriften des Vereins, in den Baltischen Studien, oder zumeist in pommerschen Provincialblättern veröffentlichte, wo sie denn natürlich auch in Weniger Hände kamen und bald vergessen wurden.
Trat er den Heimweg an, durchschritt er ernsten, festen Schritten die weiten Gänge des Schlosses, dann zögerte wohl einen Augenblick sein Fuß, wenn aus der Wohnung des alten Hofmalers der Prinzeß Elisabeth, des Italieners Monti(?), die sanften, zauberischen Töne der Glasharmonika erklangen, die der alte Maler meisterhaft zu spielen verstand; aber eingetreten in die Wohnung des Italieners ist er wohl nicht, ihn zog es nach Hause, um zu erleben, was er gedichtet:
„Zwei hübsche Mädchen herz’ ich viel
Und streichle Stirn und Hände,
Und Küsse, Liebeswort’ und Spiel
Gewinn ich ohne Ende.
Das mögen feine Liebchen sein,
Die so zu Dreien kosen!
Doch sind sie züchtig, demantrein
Und aufgeblüht wie Rosen,
Und sind mir beide treu und hold,
Und ich ihr Freund, ihr Wächter.
Die Liebchen, wenn ihr’s wissen wollt,
Sind meine beiden Töchter.“
Alle Gedichte Giesebrecht’s enthalten mehr oder weniger Erlebtes. Weil dies der Fall, glaubte und meinte er wohl, diese innigen, tiefempfundenen Gluthen seiner Seele, diese Perlen seinen Herzens könnten auch nur für ihn und die Seinen Werth und Verständniß haben. Und als er endlich, von vielen Seiten gedrängt, an eine Herausgabe seiner Gedichte im Jahre 1836 ging, da that er es in so rätselhafter, eigenthümlicher Weise, indem keins seiner Lieder im ganzen Buch eine Überschrift erhielt, so daß es eines Studiums bedarf, tiefer in den Gehalt des Einzelnen einzudringen. Ja, es möchte die ganze Sammlung wohl niemals an das Licht des Tages getreten sein, wenn nicht auch hier sein Liedeswort erlebt und in Erfüllung gegangen wäre:
„Rosenknospen acht’ ich meine Lieder:
Sammeln mag die Kränzewinderin“;
hätte nicht eine Frauenhand in der Stille die Lieder gehegt, gesammelt und aufbewahrt. Der Dichter selber wäre kaum im Stande gewesen, seine zerstreuten, von ihm selbst nicht beachteten Lieder durch den Druck zu veröffentlichen, wie es geschehen.
Doch wer kennt und liest noch jene im Jahre 1836 erschienene Sammlung? Wo findet sich eine Anthologie von Gedichten, so viele deren auch in jedem Jahre erscheinen mögen, welche Gedichte des Genannten aufzuweisen hätte? Name und Lieder sind wie verschollen und vergessen. Und wenn auch irgendwo das Oratorium „Huß“ von Carl Löwe, dem berühmten Balladencomponisten, gesungen wird, zu dem Giesebrecht den Text gedichtet, wo gedächten Sänger und Zuhörer wohl des Dichters? Was jedoch kümmert dies den nun altgewordenen Professor, der da meint:
„Wandern durch die Weltgeschichten,
Ist ein Schiffen um die Welt!“
Er lebt und webt in seinen Büchern. Daß er jedoch der Poesie nicht gänzlich ungetreu, zeigt seine in diesem Jahre im Auftrage der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Alterthumskunde herausgegebene kleine Schrift, die 1638 gestorbene Greifswalder Dichterin Sibylle Schwarz betreffend. Im Jahre 1848 wurde er als Abgeordneter in das Frankfurter Parlament gewählt. Die altverschlafenen Träume der Jahre der Befreiungskriege, die nach denselben gehegten Ideen und Wünsche wurden wieder in ihm laut. Er schloß sich der Gesellschaft im Casino an, der auch Auerswald und Lichnowski angehört haben; er wollte auch die Einheit Deutschlands anbahnen und erstreben, während zugleich in ihm seine früher gedichteten Worte laut wurden:
„Schenkt mir ein den duft’gern, vollern,
Flammenglüh’nden Becher mir!
Hohenzollern, Hohenzollern,
Unser du, die Deinen wir.“
Er hat sich nicht als Redner und Chorführer einzelner Parteien ausgezeichnet; aber eins war er, und darum muß er von Allen geachtet und geehrt werden, wie auch die politische Färbung des Einzelnen sei: er war stets am Platze, er und der greise Uhland, so verschieden Beider Standpunkt auch war, sie haben nicht gefehlt, wenn es zur Abstimmung kam; bei allen Hauptfragen waren sie zugegen und gaben ihr Ja oder Nein, unerschrocken, frei nach fester Ueberzeugung ab. Das ist ehrenwerth! Wie so anders handelten Andere, die doch mit dem Munde oft so laut waren! Man vergleiche zur Bestätigung unserer Worte die Abstimmungslisten des Parlaments.
Im Jahre 1866 ist Giesebrecht ein halbes Jahrhundert auf seinem Posten. Seine Handschrift ist noch überaus klar, fest, sein Haar aber wird weiß, sein Körper in Etwas gebeugt sein.
Werden diese Zeilen dazu beitragen, auf den fast Vergessenen aufs Neue aufmerksam gemacht zu haben? Wir wünschen, wir hoffen es! Und wenn diese unsere Worte die Anregung würden, daß eine neue, mehr geordnete, handlichere Ausgabe der Gedichte des Genannten erschien, so würde der Ruhm, die Anerkennung, die dem Dichter dadurch würde, nur eine voll und gerecht verdiente sein. Möge ihm, dem Predigersohn, sein Liedeswunsch in Erfüllung gehen:
„Warum Glocken und Glockenton
Wieder und immer wieder?
Freunde, es ist des Pfarrers Sohn,
Welcher gedichtet die Lieder.
Halle friedlich und halle traut
Nun in den Dichters Buche,
Einst ihm selber du letzter Laut
Unter dem Leichentuche.“
[778]
Nach Westen geht der Strom der Weltgeschichte. Die Enkel der großen Emigration, welche in der Urzeit und dann wieder in den letzten Jahrhunderten Roms das alte Asien nach Europa ausgehen ließ, beherrschen jetzt Asien. Die Enkel der Auswanderer, die heutzutage in nicht abreißendem, durch nichts gehemmtem Zuge aus Europa nach Amerika ziehen, werden in der Zukunft in gleicher Weise Europa und mit ihm die Erde beherrschen.
Schon jetzt läßt der große, transatlantische Freistaat seine Existenz in dem politischen Leben der alten Welt empfinden. In fünfzig Jahren wird seine Bedeutung für dasselbe Aller Augen sichtbar sein, sein Herüberwirken auf unsere Zustände wie die Wärme der Sonne gefühlt werden. In hundert Jahren wird, wenn nicht Alles täuscht, der Schwerpunkt des politischen Lebens unter dem Mond in Nordamerika, das Centrum desselben in Washington liegen, und dessen Capitol wird für die Welt mehr bedeuten, als je das Capitol des alten Rom. Noch sieht freilich Vieles in dem Organismus des jungen Riesen, der mit dem großen Kriege in sein Jünglingsalter getreten ist, unfertig und unschön aus, und Washington ist der Spiegel dieser Unfertigkeit und Unschönheit. Die Kunst, um nur Einiges anzuführen, lebt noch vom Ideenimport aus Europa und die Manieren der zukünftigen Weltbeherrscher, ihr übergroßes Selbstgefühl, ihre Rücksichtslosigkeit in Verfolgung ihrer Zwecke, ihr mehr in die Breite als in die Tiefe gehendes Streben, ihre Hast und Unruhe sind für den gediegenen Europäer und namentlich für den zugleich gemüthlichen Deutschen eher abstoßend, als anziehend. Aber ein Zug von Größe ist in Allem.
Washington, das Rom der Zukunft, liegt in recht anmuthiger Gegend, und wenn die Tiber, an der einige seiner Häusergruppen sich hinziehen, nicht so groß ist, wie ihre italienische Namensschwester, so ist der Potomac, in dem die Stadt sich einst spiegeln wird, um so stattlicher.
Nicht das Gleiche läßt sich von der Stadt selbst sagen: sie ist fast so alt, wie die Republik, aber der großartige Plan, nach welchem sie angelegt, ist in seinen meisten Theilen bis heute Plan geblieben; denn der Handel ist’s, der in Amerika die Städte groß macht, und Washingtons Lage ist für diesen nicht günstig. Nach jenem Plan wäre das Capitol, auf einer Bodenanschwellung gelegen, der Mittelpunkt gewesen, von demselben wären nach allen Seiten strahlenförmig eine Anzahl Avenues oder Hauptstraßen ausgelaufen, welche wieder in regelmäßigen Zwischenräumen von Seitenstraßen durchschnitten worden wären. Dieser Gedanke ist nur zum kleinsten Theil verwirklicht worden. In der vornehmen Gegend um das Capitol erlangte der Grund und Boden gleich zu Anfang einen hohen Werth, in den entfernteren Regionen dagegen blieben die Bauplätze wohlfeil, und die nothwendige Folge war, daß sich hier zuerst Häuser und Gruppen von solchen erhoben, während das Capitol mitten in leeren Feldern stehen blieb und, statt das Centrum von Washington zu sein, dessen äußerster Endpunkt wurde.
Und so verhält sich’s in der Hauptsache noch heute. Nur an einigen Stellen zusammenhängende Häusermassen. Sonst in einer Ausdehnung von nahezu einer deutschen Meile von Nordwest nach Südost und einer halben deutschen Meile von Nordost nach Südwest nur einzelne Gebäude oder Gebäudegruppen. Hier und da eine Straße mit nur einer Häuserzeile, da und dort eine Villa oder auch ein armseliges Hüttchen, dem Anschein nach vom Zufall hierher gestellt, und dazwischen hin und wieder ein großer, weißer Marmorbau, in dem wir nähertretend ein Regierungsgebäude erkennen, und die Thürme mehrerer Kirchen aus röthlich-grauem Sandstein. Das ist ungefähr Washington, und in der That, die langweilige Regelmäßigkeit Karlsruhes und Darmstadts ist, um Kleines mit Großem zu vergleichen, fast erfreulich neben dieser Regellosigkeit der Ausführung in der Regelmäßigkeit des Planes. Ein Theil der Stadt macht ein sehr anspruchsvolles, großstädtisches Gesicht, andere Theile gleichen den zerstreuten Dorfschaften unserer Marschen, die bei weitem größere Hälfte des Areals, welches der Plan umfaßt, ist unbewohnte, weg- und brückenlose Wildniß, in der man eher Schnepfen schießen, als Menschen begegnen kann, und in der bei nassem Wetter nicht fortzukommen ist. Die großen Avenuen sind, bis auf zwei oder drei, bloße Namen; die Squares und Blocks, die bei der Anlage projectirt wurden, wird man der Mehrzahl nach mit ebensoviel Erfolg im Monde, als hier suchen können. Vieles in den Staaten Amerikas ist unfertig und es giebt eine Masse unbesetzten Landes da, aber kein Stück Land möchte sich in öderem Zustande befinden, als drei Viertheile des Bodens, welcher das Stadtgebiet von Washington bildet. Wäre das Straßennetz ausgefüllt, so könnte die Stadt nicht unter einer Million Einwohner haben; wie die Dinge liegen, hat sie in der Saison, d. h. wenn der Congreß versammelt ist, etwa achtzigtausend, in der stillen Zeit nicht viel über sechszigtausend.
Der dichteste Theil des unvollendeten Gewebes, welches der Plan von Washington zeigt, liegt westlich von dem Hügel, den das Capitol krönt, und hat zur Basis die einzige fast ganz in’s Leben getretene von jenen projectirten Hauptstraßen, die Pennsylvania-Avenue, welche, einige hundert Schritt vom Capitol beginnend – wirklich beginnend, denn ihre Fortsetzung östlich vom Capitol ist Mythe – in der Nähe des Hauses endigt, wo der Präsident wohnt.
Pennsylvania-Avenue ist für Washington, was die Linden für Berlin sind. Eine Viertelmeile lang und etwa dreihundert Fuß breit, ist sie mit ihren meist hübschen, oft prächtigen Häusern und manchem eleganten Laden der Stolz der Einwohner. Der in der Mitte hinlaufende Fahrweg wird von Bäumen beschattet, auch giebt es hier nicht blos Trottoirs, sondern auch Straßenpflaster, eine Wohlthat, deren sich von den übrigen Straßen nur noch einige erfreuen.
Von den öffentlichen Gebäuden sind fast nur die, welche der Regierung gehören, unserer Beachtung werth. Die Kirchen sind weder groß, noch schön, oft Muster von Geschmacklosigkeit, und was von Theatern, Hotels und Privathäusern Anspruch macht, besehen zu werden, will nicht viel bedeuten. Dagegen bleiben wir vor dem Postamt und dem Patentamt einen Augenblick stehen, die sich in weniger Entfernung von Pennsylvania-Avenne in der F-Street und zwar einander vis-à-vis befinden. Das Generalpostamt, aus weißem, marmorartigem Kalkstein in griechischem Stil erbaut, ist ein ziemlich großes Viereck ohne bestimmte Front mit korinthischen Säulen geschmückt und von gefälligen Proportionen, dessen Wirkung aber seiner ungünstigen Lage wegen verloren geht. Da die Briefe nicht ausgetragen werden, sondern abgeholt werden müssen, so konnte man hier während des Krieges Massen von Nachfragenden vor dem Eingang zur Briefausgabe Queue bilden sehen, wie bei Hungersnoth die Brodholenden vor dem Bäckerladen. Auch das Patentamt ist ein großer Bau. Freitreppen führen auf drei seiner Seiten zu einem Porticus mit dorischen Säulen hinauf, und das Ganze würde imposant sein, wenn die Straßen umher fertig wären. Der Schönheit des Gebäudes thut Eintrag, daß man ihm Fenster und zwar auch unter dem Porticus gegeben hat, was gewiß recht nützlich, aber nur nach den Begriffen amerikanischer Architekten zugleich geschmackvoll ist.
Ein Stück weiter endlich liegt die Treasury oder das Finanzministerium, ein noch nicht ganz vollendetes Gebäude von mächtigen Dimensionen, dessen östliche Front mit ihren zweiundvierzig ionischen Säulen eine der längsten Colonnaden der Welt zeigt. Die Granitmassen, die man dazu verwendet hat, sind aus dem Staate Maine hierher gebracht und geben dem Bau ein massives Aussehen, welches vortrefflich für dessen Bestimmung paßt, den Staatsschatz aufzunehmen.
Nicht fern von hier, weiter nach dem Potomac hin, erhebt sich auf einem Hügel, umgeben von schönen, alten Bäumen, „the white house“, das „weiße Haus“, die Wohnung des Präsidenten. Es ist von demselben Gestein wie das Postamt erbaut, zweistöckig, nicht besonders groß, aber recht nett und geschmackvoll gebaut. Die Façade kehrt es dem Lafayette-Platz, einem öffentlichen Garten mit hübschen Büschen und Rasenplätzen, zu, der zu dem Anziehendsten [779] in Washington gehört, aber durch eine unmittelbar vor den Fenstern des Präsidenten stehende Statue Andrew Jackson’s verunstaltet wird. Die Amerikaner haben in der Kunst überhaupt kein Glück, besonders wenig in der Plastik, und dieses Reiterstandbild ist wohl das abgeschmackteste, welches je die Phantasie eines Bildhauers zu Stande gebracht hat. Ein Gaul, wie dieser, hat in Wirklichkeit nie Hafer gefressen, und der darauf sitzt, hat ohne allen Zweifel zu tief in’s Whiskeyglas gesehen. Nur wenig mehr Werth hat die bronzene Reiterstatue Washingtons, die nicht weit von hier bewundert sein will. Sie ist von Clark Mills ausgeführt, aber nicht erdacht, sondern, wie man auf den ersten Blick sieht, nichts als eine schlechte Copie von Rauch’s Friedrich dem Großen auf den Berliner Linden mit einigen durch den Gegenstand gebotenen Abänderungen und Zuthaten.
Im Viereck um die Präsidentenwohnung herum liegen in einiger Entfernung die vier Staatsgebäude, welche die Ministerien enthalten: das schon geschilderte Finanzministerium, das auswärtige Amt, das Departement des Krieges und das der Marine, letztere drei einfache Backsteingebäude, die bläulich angestrichen sind.
Von andern öffentlichen Bauten erwähnen wir zunächst noch die Smithsonian-Institution. Dieselbe ist aus röthlichem Sandstein erbaut und an sich nicht häßlich, aber mit ihrem Stil, der dem zwölften Jahrhundert abgeborgt ist, ein recht sprechendes Muster und Beispiel für den amerikanischen Kunstgeschmack. Zunächst gehört ein romanischer Bau überhaupt nicht in das ganz moderne Washington, wie überhaupt nicht nach Amerika. Dann entspricht dieser Stil nicht der Bestimmung der Stiftung, welcher er dienen soll und welche „zur Vermehrung und Verbreitung des Wissens unter den Menschen“ gegründet ist. Nur ein lichtvoller Renaissance-Bau war hier am Orte, nicht ein Conglomerat von Thüren und Thürmchen mit kleinen Fenstern und Stübchen, engen Treppen und allerlei architektonischen Schnurrpfeifereien der Byzantinerzeit. Aber Washington sollte nun einmal ein mittelalterliches Schaustück haben, und so schuf man dieses Gebäude, bei dem Jedermann eher an eine Zwingburg, als an eine Stätte der Wissenschaft denken wird. Bekanntlich suchte es im Januar d. J. eine Feuersbrunst heim.
Aber kehren wir von Westen wieder nach Osten zurück, um dem Hauptbauwerk der Stadt, dem Capitol, welches noch in diesem Jahrhundert dem ganzen westlichen Continent seine Gesetze vorschreiben wird und welches schon jetzt die Gesetzgeber einer mächtigeren Republik, als je die Welt eine erlebte, in seinen Mauern tagen sieht, einen Besuch abzustatten. Diese Bedeutung drückt schon seine Anlage aus. Es ist eines der imposantesten Gebäude der neueren Zeit und wird sich, wenn der jetzt dem Abschluß nahe Umbau vollendet ist, besonders von fern gesehen, mit seinen weißen Quadermauern, seinen Freitreppen, Kuppeln und Balustraden nicht blos stattlich, sondern auch schön ausnehmen. Es liegt neunzig Fuß über dem Meeresspiegel und, wie bereits bemerkt, auf einer kleinen Anhöhe, die nach Osten hin mehr abfällt, als nach Westen. Seine Länge beträgt siebenhundert einundfünfzig und einen halben Fuß (einunddreißig mehr, als die der Peterskirche in Rom und einhundert fünfundsiebenzig mehr, als die der Paulskirche in London), seine Höhe neunundsechszig und einen halben Fuß, die der großen Kuppel vom Grunde auf der Ostseite aus gerechnet zweihundert siebenundachtzig und einen halben Fuß. Die letztere soll mit einer Freiheitsstatue in Bronze gekrönt werden, welche eine Höhe von neunzehn Fuß haben wird und zu der Crawford das Modell geliefert hat. Den Grundstein zu dem Gebäude legte Washington am 18. September 1795. Im letzten Kriege mit England wurde es nach dem unglücklichen Treffen bei Bladensburg von dem niederträchtigen Vandalismus der Rothröcke des Generals Roß zerstört, bald aber schöner wieder aufgebaut. Im Jahre 1851 genügte es dem Bedürfniß nicht mehr, und man schritt zu einer Vergrößerung und Umgestaltung. Die dabei beschäftigten Architekten waren nacheinander W. Thornton, B. U. Latrobe, Bulfinch und T. U. Walter, für welchen Letzteren ein Deutscher, A. v. Schönborn, seit ohngefähr vierzehn Jahren die Zeichnungen und architektonischen Arbeiten besorgt, so daß man sagen kann, daß auf den Schultern eines unserer Landsleute die Hauptarbeit von dem großen amerikanischen Bundespalast liegt.
Wir sagten soeben, daß sich das Capitol vorzüglich von Weitem recht gut ausnehme. Von nahe betrachtet, gefällt es in den Einzelnheiten weniger. Der Stein ist vortrefflich, glänzend, fast wie Marmor. Die Hauptfront, nach Osten gekehrt, so daß seltsamerweise das Gebäude der Stadt, wie sie jetzt ist, den Rücken zeigt, ist großartig und geschmackvoll gedacht, nur will die Verbindung der mächtigen Flügel, welche der Umbau dem ursprünglichen Körper des Palastes angesetzt hat, eine Verbindung, die so schmal ist, daß man vom äußeren Gesichtspunkte aus das Licht durch dieselben hindurchsieht, nicht recht gefallen, da dieser Umstand dem Ganzen die Einheit nimmt. Zu der Hauptfront, die eine schöne korinthische Säulenhalle hat, über der sich die große Kuppel mit ihrer Doppeltrommel wölbt, führt eine breite, doppelte Marmortreppe hinauf, die mit Statuengruppen geschmückt oder, um die Wahrheit zu sagen, theilweise verunziert ist. Der deutsche Architekt kann aber nichts dafür: es sind Proben amerikanischen Kunstfleißes. Besonders komisch ist ein Columbus, der mit seinem Globus Kegel schieben zu wollen scheint. Auch die übrigen Statuen an der Vorderseite des Capitols sind meist untergeordneten Werthes, imposant der Größe nach, fast anmaßlich der gewählten Stellung nach, der Idee nach platt und nüchtern, obwohl sie großentheils von Greenough sind, in dem der Amerikaner ein Talent verehrt, welches mindestens dem Genius Thorwaldsen’s und Canova’s gleichkommt, wenn es sich überhaupt mit Etwas in der alten Welt vergleichen läßt. Wir denken anders und sehr anders auch über den marmornen Washington dieses Künstlers, der sich auf dem Rasenplatze vor dem Capitol niedergelassen hat. Der Yankee staunt diese Statue an, weil sie kolossal und weil sie von Greenough ist. Wir finden sie steif und ungeschickt, staunen aber auch, weil der „Vater des Vaterlandes“, der doch ein gesetzter, alter Herr und durchaus von propren Manieren war, sich hier – er ist mit nacktem Oberkörper dargestellt – vor allen Leuten in’s Bad gesetzt zu haben scheint. Möglich? Nein, unmöglich. Es ist wieder eine Copie, wieder ein importirter Gedanke. Es ist der Zeus des Phidias, der Zeus von Olympia in’s Amerikanische verballhornisirt. Was er damit meint, daß er die Hand nach der Stadt hinstreckt, wäre eine passende Aufgabe für einen Oedipus, uns blieb es ein Räthsel.
Können diese Leistungen gepriesener Stümper den Beschauer aus Europa nur verdrießlich stimmen, so macht dagegen die große Rotunde, in die man von der Treppe aus gelangt und welche, von der Kuppel überwölbt und beleuchtet, sich über die ganze Breite des Mittelkörpers des Capitols erstreckt, einen bedeutenden Eindruck, nur muß man sich an sie als architektonisches Kunstwerk wenden und ja nicht auf die Bilder blicken, mit denen ein unseliger Sohn Uncle Sam’s die perpendiculären Wände der Halle verziert hat. Es sind acht Stück historische Gemälde, welche Hauptereignisse der amerikanischen Geschichte darstellen: die Landung des Entdeckers Columbus, die Ankunft Soto’s am Mississippi, der Auszug der ersten holländischen Colonisten, Franklin vor Ludwig dem Sechszehnten, Washington, wie er seine Bestallung erhält und wie er sie wieder niederlegt, und zwei Tableaux, welche die Capitulation der englischen Armee vor den amerikanischen Milizen bedeuten sollen. Sämmtliche Bilder sind – wir finden kein milderes Wort – geradezu schauderhaft und wir glauben auf der bemalten Leinwand, mit der unsere Meßschaubuden ihre Raritäten empfehlen, schon Besseres gesehen zu haben.
Im Capitol herrscht gegenwärtig eine beträchtliche Raumverschwendung, weil man dem ursprünglichen Gebäude für die eigentlichen Zwecke des Bundespalastes zu viel hinzugefügt hat. Die beiden Häuser, der Senat und das Repräsentantenhaus, befinden sich in den neuen Flügeln und zwar in dem mittleren Stockwerk derselben, der Senat rechts, wenn man in die Rotunde oder Kuppelhalle eintritt, das Repräsentantenhaus zur Linken. Ueber den Sitzungssälen beider Körperschaften wölben sich andere, selbstverständlich kleinere Kuppeln.
Gehen wir durch die vordere Thür links in der großen Rotunde, so gelangen wir zunächst in den alten Sitzungssaal der Repräsentanten, der jetzt leer steht und eigentlich nur der Vorsaal zu dem Gange ist, welcher, rechts und links mit Fenstern versehen, die oben erwähnte durchsichtige Verbindung des rechten Flügels mit dem Mittelgebäude bildet und nach dem neuen Sitzungssaal führt. Dieser letztere ist schön, geräumig und in jeder Beziehung zweckentsprechend, was sich von dem alten insofern nicht rühmen ließ, als ihn die Stimme der Redner nicht recht ausfüllte. Er erhält das Licht von oben. Zwar sieht er etwas gedrückt aus, aber seine verhältnißmäßige Niedrigkeit bewirkt eben, daß man die Sprechenden in ihm gut hört. Der Speaker oder Präsident sitzt dem Haupteingang gegenüber an einem Marmortisch, jeder der Secretäre [780] unter ihm hat gleichfalls einen solchen Tisch vor sich. Die Herren Repräsentanten, wenn das Haus vollzählig ist, etwa dritthalbhundert an der Zahl, sitzen in Polsterarmstühlen an Pulten ihm gegenüber, und zwar bilden ihre Pulte einen Halbkreis von der Gestalt eines gestreckten Hufeisens.
Begeben wir uns auf die Galerie, um auf eine halbe Stunde den Debatten beizuwohnen. Wären wir mit einem „Member“ bekannt, das uns einführte, so würden wir den Sitzungssaal selbst betreten dürfen. Auf der Galerie bedarf es nicht wie anderwärts einer Eintrittskarte. Blicken wir hinab auf die Versammlung, so fällt uns zunächst die große Ungenirtheit der Herren Gesetzgeber auf. Nur wenige im Frack, viele in Alltagsröcken und den Hut auf dem Kopfe. Nur einige sind auf ihren Stühlen, die andern stehen in lebhafter Unterhaltung in Gruppen beieinander und scheinen sich um die Collegen, welche sich als Redner vernehmen lassen, genau so viel oder so wenig zu kümmern, wie um uns. Wenn man nicht wüßte, wo man wäre, könnte man sich beinahe auf die Börse versetzt glauben oder sich wundern, daß sich nicht schon einer der Gentlemen eine Cigarre angesteckt hat. Daß einige ihr Primchen zwischen den Backenzähnen haben, leidet keinen Zweifel. Zwei oder Drei studiren die Zeitung, einer siegelt einen Brief. Daß einer dem Nationalvergnügen der Yankees, dem „Whittling“ obliege, welches darin besteht, daß man mit dem Federmesser die Stuhllehne oder Pultkante beschnitzelt, bemerken wir nicht, wohl aber, daß einer sich bestrebt, mit demselben seinen Fingernägeln die nothwendig gewordene Verschönerung angedeihen zu lassen.
Ländlich, sittlich, denken wir und stoßen uns auch an der Beobachtung nicht, daß einige stark geröthete Gesichter sich offenbar etwas länger, als bei Tage erlaubt ist, bei dem schottischen Whiskey des Erfrischungszimmers aufgehalten haben. Ein Repräsentant hat unter der Last der Verantwortlichkeit vor seinen Wählern und unter der Masse von Anliegen und Aufträgen aus der Heimath ein saures Dasein, und so wird er wohl eher einer Stärkung seines innern Menschen bedürfen, als andere nicht so schwertragence Sterbliche. Nur möchten wir nicht wünschen, daß ein Redner in unserm Beisein etwas vorbrächte, was einem der rothen Gesichter stark mißfiele. Wir sind keine Liebhaber von Scenen, und wir erinnern uns, daß hier nicht blos das glorreiche Schauspiel der Emancipation des farbigen Volkes aufgeführt worden ist, sondern daß die Wände des Saales auch Dinge von mehr problematischer Glorie, ja recht fatale Dinge, z. B. geschwungene und auf den Rücken von Collegen niederfallende Spazierscepter von Legislatoren, collegialische Ohrfeigen und wohlgemeinte, wenn auch glücklicherweise schlechtgezielte Revolverschüsse zu sehen bekommen haben. Jedes Thierchen hat sein Manierchen, so auch die Junker aus dem Süden, welche dergleichen Liebkosungen auszutheilen pflegten; [781] aber wir halten’s doch lieber mit unsern Manierchen, und so haben wir doppelte Ursache uns zu freuen, daß die Kühle des Nordens jetzt den Sieg über die Hitze des Südens davongetragen hat. Die handgreiflichen Widerlegungsversuche werden damit wohl aus der Rhetorik, nach der hier verfahren wird, entfernt sein. Ueber ein paar Hinterwäldlerflüche, mit denen ein Volksvertreter gelegentlich seine Polemik würzen mag, und ähnliches Gepfeffertes kommt ein guter Magen schon eher hinweg.
Der dumpfe Lärm, der im Saale herrscht, ist sehr unbequem für den, welcher die Redner zu hören begehrt. Er wird nicht unerheblich verstärkt durch das Hin- und Herlaufen von etwa einem Dutzend kleiner Burschen, welche den „Members“ als Lakaien und Postillone aufwarten, die Wünsche der Redner nach einem Glase Wasser ausrichten, Aufträge in die Stadt besorgen, Botschaften aus derselben bringen, Briefe wegtragen und im Saale abgeben. Man ruft sie durch Händeklatschen herbei, wie im Orient die Haussclaven, und es sind – mit Verlaub zu sagen, denn wir haben in ihnen freie Jünglinge der „freiesten und erleuchtetsten Nation“ vor uns – recht flinke Sclaven.
Der Sprecher des Hauses beweist in glänzender Weise, daß Uebung den Meister macht. Es muß außerordentlich schwer sein, unter den erwähnten Umständen der Debatte zu folgen. Oft wird dieselbe durch Fragen und Einwürfe unterbrochen, daneben summt es im Hause wie in einem Bienenstock, und häufig sind die Redner für uns ganz unverständlich. Der Sprecher aber thut seine Pflicht so sorgfältig, als ob alle diese Hindernisse nicht existirten. Freilich nicht mit der Würde, die wir an unsern Herren Präsidenten hoher zweiter Kammer gewöhnt sind. Aber man muß billig sein, und zur Würde hat man hier keine Zeit. Scharf und kurz angebunden, wie der Ruf des Croupiers am grünen Tische, wenn die Glückskugel zu rollen beginnt, klingt des Sprechers Stimme, wenn ein Redner an der Reihe ist; scharf und kurz, wenn ein Vortrag unterbrochen wird, und der Betreffende zu fragen ist, ob er sich die Unterbrechung gefallen lassen will. „Der Gentleman aus Illinois hat das Wort.“ (Die Repräsentanten werden nicht bei ihren Namen, sondern als Herren aus dem oder jenem Staate aufgerufen). „Der Gentleman aus Indiana wünscht den Gentleman aus Kentucky etwas zu fragen.“ – „Der Gentleman aus Kentucky giebt ihm Erlaubniß.“ – „Der Gentleman aus Indiana.“ So geht es unaufhörlich fort, bis das Haus abstimmt, wo der Sprecher divinatorische Gaben zu entwickeln und in den Herzen und Nieren der Gesetzgeber zu lesen scheint. „Die Gentlemen, welche für den Antrag sind, werden Ja (Aye, nicht yes) sagen,“ ruft der Lenker der Legislationsmaschine. Nicht ein Laut ist zu hören. „Die Gentlemen, die gegen den Antrag sind, werden Nein sagen.“ Wiederum vernimmt man nicht ein Wort. Der Sprecher aber [782] weiß, woran er ist. „Die Ja haben die Mehrheit“ oder: „die Nein haben die Mehrheit,“ verkündigt er von seinem Marmortisch, und die Maschine arbeitet weiter. Wie in einer Druckerei die Bogen, werden hier die Amendements erledigt. Alles geschieht mit äußerster Raschheit, wenn nicht eine Hauptdebatte ist, und alles wird mit derselben tonlosen, seelenlosen, theilnahmlosen Automatenstimme dirigirt. Wir Profanen finden das langweilig und unschön, die Eingeweihten aber werden es wohl besser wissen, und jedenfalls wird es praktisch sein.
Die Sitzungen des Hauses beginnen um die Mittagsstunde und dauern gewöhnlich bis gegen Abend, sehr selten bis acht Uhr, niemals wie in London die Nacht hindurch. Die Zahl der Mitglieder, die bekanntlich vom Volke gewählt werden, während der Senat oder die erste Kammer aus Wahlen der Legislaturen in den einzelnen Staaten hervorgeht, beträgt jetzt 236, von denen während des Krieges gegen sechszig, statt auf ihrem Platze, im südlichen Lager waren. Die meisten Repräsentanten, dreiunddreißig, sendet New-York, der „Empire State“, in den Congreß, dann folgt Pennsylvanien mit fünfundzwanzig, dann Ohio, der zu einem Drittel deutsche Staat der Buckeyes, mit fünfundzwanzig Repräsentanten. Und so geht es herab bis zu Delaware, Florida und Kansas, die nur mit je einer Stimme vertreten sind.
Gehen wir durch den Vorsaal zurück nach der Rotunde, so begegnen wir einer Menge von pfiffig aussehenden, geschäftigen Gesellen, die mit einzelnen Mitgliedern angelegentlich discutiren, Briefe und Bittschriften übergeben und allerlei geheime Anliegen befürworten. Es sind „Lobby-Members“, Vorsaalsmitglieder, Wirepullers und Pipelayers, Parteiagenten, politische Intriganten und Industrieritter, die man auch in den Bureaus der Ministerien zahlreich antichambriren und das „Weiße Haus“ umschwärmen sehen kann. Ueberall darauf bedacht, im Trüben zu fischen, sind sie eines der unsaubersten und gefährlichsten Elemente im amerikanischen Staatsleben. Doch thun wir wohl, uns nicht zu gratuliren, daß unter uns diese Sorte von Politikern fehle. Wir haben sie auch, sie schmarotzen an den Höfen und sie schmarotzen am Volke, nur treten sie nicht so keck und dreist in die Öffentlichkeit wie jenseits des großen Wassers.
Der Sitzungssaal des Senats liegt in dem rechten Flügel des Capitols und ist ähnlich wie der des Repräsentantenhauses eingerichtet, nur etwas kleiner, da gegenwärtig nur vierunddreißig Staaten existiren, und, indem jeder demselben zwei Senatoren stellt, nur achtundsechszig Sessel und Pulte nöthig sind. In einiger Zeit wird es anders aussehen. Es ist noch genug Raum für Senatoren von Canada, Neu-Braunschweig etc., und dieser Raum wird ausgefüllt werden, darauf kann sich John Bull, wie sehr es seinen Stolz auch verdrießen mag, mit aller Bestimmtheit verlassen. Im Senat ist das Dirigiren der Debatte, welches hier nach der Constitution dem Vicepräsidenten der Union obliegt, nicht so schwierig, wie im andern Hause, und zwar nicht blos, weil die Mitgliederzahl geringer ist, sondern ebenso, weil hier ältere Herren von gesetzterem und manierlicherem Wesen die Versammlung bilden. Doch sind auch hier bisweilen starke Reden gefallen, die nichts mit dem Complimentirbuch gemein hatten; ja eine der fatalsten Kundgebungen südlichen Anstandsgefühls – die förmliche Durchprügelung Charles Sumner’s, „Gentlemans“ von Massachusetts, durch Brookes, „Gentleman“ von Südcarolina – ereignete sich gerade in diesem hohen und in der öffentlichen Meinung der Amerikaner höher als die zweite Kammer des Congresses geachteten Hause.
Man sieht, die Zukunft hat noch Manches zu bessern in Washington wie in Amerika überhaupt, aber sie wird es auch bessern. Ob sie die Lücken im Plane der Stadt ausfüllen, ob sie derselben Statuen, welche das Auge des Kunstfreundes nicht beleidigen, ob sie der großen Rotunde des Capitols einmal einen Raphael geben wird, der sie würdig schmückt, wird abgewartet werden können. Mehr Gefahr im Verzuge findet der Freund der Union in Betreff der Würde des legislatorischen Verfahrens und in Bezug auf jenen Schweif von politischen Industrierittern, die sich um die Gesetzgeber wie um die Offices der Regierung beutesuchend herumschlängeln. Dieser Schweif sollte zuerst abgehauen werden. Der Krieg aber, der sonst Manches bei Seite gethan, hatte ihn eher verlängert als gekürzt.
Von Hermann Schmid.
(Ende.)
Es konnte nicht fehlen; die Vorgänge im Dorfe machten Aufsehen, das Gerücht trug sie vergrößert bis in die Hauptstadt, wo man sie wichtig genug fand, einen eigenen Commissär zur Untersuchung abzusenden, und bei der günstigen Stimmung der Einwohner war es vollkommen erklärlich, wenn die Verhöre zum Nachtheile für die Pfarrhofbewohner ausfielen und Isidor im besten Lichte erscheinen ließen. Als besonderes Verdienst ward ihm angerechnet, daß er es gewesen, der den Ausbruch des drohenden Tumults mit wenigen Worten verhütet hatte, und das der Aufklärung geneigte Regiment jener Zeit nahm davon Anlaß, auch die Kirchenbehörde zu einer mildern Auffassung zu bestimmen. So ward es möglich, die Vorfälle mit einem Bescheide abzuschließen, der nach allen Seiten hin befriedigte, um so leichter, als der Pfarrer, dem der Ort verleidet war, seine Stelle freiwillig niederlegte und sich auf eine einträgliche Pfründe im nächsten Städtchen zurückzog.
Er reiste eines Morgens unerwartet ab und reiste allein – von dem Fräulein war nichts mehr zu hören und zu sehen: von dem Augenblicke ihrer Flucht an war sie spurlos verschwunden.
Auch Franzi’s Schicksal blieb ungewiß bis das Frühjahr zu Ende ging und die Wasser anfingen, sich zu verlaufen, da ward draußen, weit im ebenen Lande, eine weibliche Leiche gefunden, zwar entstellt und unkenntlich, aber bäurisch gekleidet – fortan zweifelte Niemand mehr, daß das Mädchen den Tod im Strome gesucht und gefunden.
Isidor ward als Verweser der Pfarrei berufen und bezog den Pfarrhof, Vater und Mutter mit sich nehmend, denn es war erwünschte Gelegenheit gekommen, das erblose Besitzthum günstig zu veräußern. Die große, mit der Stelle verbundene Landwirthschaft gab Isidor in Pacht und erklärte, auch als ihm nach einiger Zeit angetragen wurde, wirklich Pfarrer zu werden, daß er das nicht annehmen, sondern Caplan bleiben wolle. „Ihr habt es so gewünscht,“ sagte er lächelnd zu der ihn drängenden Gemeinde. „Ihr wolltet keinen Pfarrer mehr haben und ich will Euch den Willen thun!“ Dabei blieb er auch standhaft Jahre hindurch und beschränkte sich auf einen kleinen Theil der Einkünfte, den übrigen weit größern überließ und verwendete er zu öffentlichen Zwecken. Vor Allem lag ihm die Schule am Herzen; der alte, ungefüge Lehrer mußte einem tüchtigen, gebildeten Manne weichen, der im Sinne Isidor’s und Hand in Hand mit ihm arbeitete. Das Schulhaus ward vergrößert, die Einkünfte des Lehrers vermehrt und der Besuch auch den Aermsten möglich gemacht; mit liebevollem Ernste hielt er daran fest, daß Alle die Schule besuchten, und hatte bald die Genugthuung, daß Kinder und Eltern, war es auch nur ihm zu Gefallen, darin wetteiferten. Er nahm an Allem Theil, was in den Familien und Häusern seiner Pfarrkinder vorging; ohne je sich aufzudrängen, war er immer nahe und bald war er überall der vertraute Freund und Berather, an dessen Thür man zuerst pochte in der Trübsal und der nicht fehlen durfte, wenn es galt, einen Tag häuslicher Freude zu begehen. Auch von den öffentlichen Vergnügungen schloß er sich nicht aus; er hielt es für seine Pflicht, solche Anlässe durch sein Erscheinen unmerklich zu regeln und zu zügeln, und war der Ansicht, nur der kenne den Menschen, wer ihn in der Freude gesehen, und nur wer ihn vollständig kenne, vermöge auf ihn zu wirken.
Seine wenige übrige Zeit widmete Isidor den vielfachsten Studien; er wollte in allen Dingen, die dem Landmann und dem Kleinbürger nöthig oder nützlich sind, die vollste Kenntniß haben, um in Wirklichkeit das anzustreben, was zu sein er für seine Aufgabe hielt, der Tröster, der Berather, der Freund Aller.
[783] Er selber war still geworden, noch mehr in sich gekehrt als früher, aber er genoß jener heitern, innerlichen Freudigkeit, ohne welche dem Menschen nichts gedeiht und gelingt. Sein redliches Ringen nach Frieden hatte sich gelohnt; der Sturm hatte die Wurzeln seiner Entschlüsse befestigt, der Schmerz seine Seele geläutert – er stand wie in einer Landschaft, über welche ein furchtbares Gewitter vernichtend und doch Segen bringend hinweggezogen; in dem Gewölke verborgen war die Sonne der Leidenschaft hinuntergegangen, aber das schmerzlich-wehmüthige Andenken an die holde unglückliche Gefährtin seiner Jugend stand in der Höhe, wie in dem dämmerigen, wieder gereinigten Himmel der einsam schimmernde Abendstern. Es war eine Sühne, die er für die eigene Schuld sich auflegte; kein Tag verging, wo er nicht in frommem Gebet der treuen Verstorbenen gedachte, die um seinetwillen sich geopfert, um ihn zu retten, sich vor den Thron des ewigen Richters gedrängt, eh’ dieser sie gerufen.
Jahre zogen gleichmäßig so dahin.
Da traf eines Tages im Pfarrhause ein Brief aus der Hauptstadt ein, von unbekannter Hand und ohne Unterschrift; er enthielt die Aufforderung an den Caplan, schleunigst an einen ihm bezeichneten Ort in der Hauptstadt zu kommen; bei seinem Eifer für das Seelenheil der Seinen ward er beschworen, nicht zu zögern und nicht zu zweifeln und sich einer Sterbenden zu erbarmen, deren belastete Seele sich von dem siechen Körper nicht zu trennen vermöge, bis sie ihre ganze Schuld in seinen Busen ausgeleert … Isidor besann sich nicht lange; war ihm auch Schrift und Siegel völlig fremd, lag auch die Möglichkeit einer Täuschung nahe – er wollte lieber getäuscht sein, als sich sagen zu müssen, er sei einem Rufe nicht gefolgt, der in so ernst mahnender Weise an ihn ergangen.
Der nächste Tag fand ihn an dem bezeichneten Orte, einem einfachen in Gärten gelegenen Häuschen, an dessen Schwelle eine Magd stand und ihn zu erwarten schien. Sie geleitete ihn eine schwach beleuchtete Treppe hinan, deren Stufen wie die Hausflur so dicht mit Teppichen belegt war, daß der Fuß lautlos darüber glitt. Kaum war er in das ihm bezeichnete Zimmer getreten, das gleich dem ganzen Hause etwas Nonnenhaftes und Klösterliches an sich trug, als eine Thür gegenüber aufging und eine Frauengestalt ganz in Schwarz gekleidet an der Schwelle stand; das Antlitz war ernst und sorgenvoll, unter dem dunklen Schleier schimmerte weißes Haar.
Es war Amélie, das Pfarrfräulein.
„Sie sind es, mein Fräulein?“ rief Isidor und trat einen Schritt zurück. „Sie wagen es, noch einmal meine Wege zu kreuzen und durch eine neue Lüge mich hierher zu locken? Es ist eine Sterbende, zu der ich gerufen bin!“
„Sie sind nicht getäuscht, mein Herr,“ entgegnete das Fräulein unterwürfig, „leider sind Sie es nicht; Sie werden an ein Sterbebett treten müssen … aber erst hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe …“
Isidor ließ sich unruhig auf den angebotenen Sitz nieder; ein Gefühl unsäglicher Bangigkeit kam über ihn.
„Erlauben Sie, daß ich von mir selbst beginne,“ fuhr das Fräulein fort, „es ist unerläßlich, damit Sie fassen, was Sie zu hören haben … Vor Allem glauben Sie nicht, daß ich noch dieselbe bin, wie ich Ihnen früher gegenüber gestanden; wie mein Körper, hat auch meine Seele gealtert … ich bin eine Andere geworden, ich habe dem Schein und der Heuchelei entsagt, ich habe mit dem Haß gebrochen, um der Liebe willen … Ihr Edelmuth an jenem verhängnißvollen Tage schlug mir die Waffen aus der Hand … die schreckliche Stunde in der dunklen Einsamkeit jener Kammer vollendete die Wandlung … ich hörte jedes Wort, das draußen gesprochen ward, und ein Blitz schlug in meine Seele, der mich niederwarf, aber zugleich auch mit seiner Flamme den Weg zur Rettung beleuchtete … Sie kennen meine Abstammung,“ begann sie nach tiefem Aufathmen wieder, „Sie wissen, daß mein Vater ein sehr hochgestellter Beamter war; meine Jugend verging in gedankenloser Freude, denn mich umgaben Schönheit, Reichthum und Rang, ich war die Gefeierte in den Kreisen der Gesellschaft und die Bewerber drängten sich von allen Seiten – mein Hochmuth war Ursache, daß ich mit der Wahl zögerte, denn ich wollte keinen Andern wählen, als den, der sich wirklich als der Erste und Ansehnlichste von Allen erweisen würde … So schien ich kalt vor der Welt und rein – vor mir selber war ich es nicht! Einer der Männer, denen ich zum Unterricht anvertraut gewesen, hatte seine Stellung mißbraucht, eine sträfliche Neigung in mir zu wecken … während man meinen Wandel als einen musterhaften pries, lag ich heimlich in den Banden des Lasters … bis der Donnerschlag kam, der mich aus meinem Sündentaumel aufrütteln sollte! … Ich fühlte mich Mutter … der Verzweiflung nahe, durch das Geheimniß noch mehr an den Verführer gefesselt, war ich vollends, war ich willenlos seinen listigen Rathschlägen preisgegeben … Es gelang meiner Heuchelei, meinem edlen arglosen Vater die Erlaubniß zu einer kleinen Reise abzuschmeicheln; ich reiste nicht weiter, als in den von meinem Genossen bereit gehaltenen Schlupfwinkel … mein unglückseliges Kind. das ich nie gesehen, blieb in den Händen jenes Mannes … er wußte mich zu überzeugen, daß zur Rettung meiner und seiner Ehre jede Spur desselben verschwinden müsse … ich kehrte in das Haus meines Vaters zurück, als habe eine plötzliche Erkrankung mich zur Unterbrechung meiner Reise bewogen … das Kind ward an einem Orte ausgesetzt, wo es sicher war, gefunden zu werden …“
„Gott, mein Gott!“ rief Isidor. „Welche Ahnung wecken Sie in mir!“
„Die Ahnung …“ fuhr sie mit Anstrengung fort, „täuscht Sie nicht … mögen Sie über mich urtheilen, wie Sie wollen, mögen Sie mich verdammen, wie ich es verdiene, Sie müssen Alles wissen. Die Behörden der Stadt mußten des Kindes sich annehmen, sie gaben den Findling auf’s Land, zu Bauersleuten in die Pflege … Jenes unglückliche Mädchen, das ich verfolgt, das ich in den Tod getrieben … es war … meine Tochter …“
Sie war in der Qual des Bekenntnisses vom Stuhle herabgeglitten und barg das Gesicht in den Kissen – wortlos, erschüttert stand der Caplan.
„Als ich das Mädchen nach Jahren zuerst erblickte,“ sagte das Fräulein nach einer Weile mit mühsamer Fassung, „da stieg eine unsäglich freudige Regung in meinem Herzen auf … o daß ich ihr gefolgt! Ich hätte mein Leben und auch wohl das ihre in einen Blumengarten verwandelt – aber ich hatte mein Herz gewöhnt, zu schweigen, ich hatte mich eingeübt, alle Regungen in mir zu ersticken … der stille Groll über mein Geschick, der heimliche Neid fraß an mir, denn die Stellung, in der ich mich damals befand, widerstrebte meinem Stolz, und doch war ich gezwungen gewesen sie anzunehmen … das Geheimniß meines Lebens fing ja an, wenn auch nur als ferne Vermuthung, ruchbar zu werden … der Gram riß meinen Vater rasch dahin, ich stand allein und fühlte bald, wie sehr ich es war. So war mir das Anerbieten meines Onkels ein willkommenes – ich konnte dennoch herrschen, konnte eine Rolle spielen, konnte der Verbissenheit meines Gemüths Luft machen und Andern einen Theil des Leids anthun, das ich innerlich empfand – so ward die anfängliche Neigung zu ihrem Gegensatze, zum Hasse … Urtheilen Sie nun, was in mir vorging, als ich in jenem Versteck gefangen von dem Ringe mit den drei Sternen hörte … ich wollte heraus stürzen in Verzweiflung, meine Schmach und mein Verbrechen vor Allen zu bekennen und meine Strafe zu fordern – aber ein Gedanke, der wie eine Erleuchtung mich überkam, hielt mich zurück: der Gedanke, daß vielleicht noch Hülfe möglich sei … ein Fenster öffnete sich meiner Flucht … ich wollte die Rettung versuchen, wo nicht, den Tod finden, wo mein Kind ihn gefunden …“
Sie hielt inne; Isidor hatte sich erhoben. „O, vollenden Sie,“ rief er in größter Erregung, „meine Seele horcht Ihren Worten entgegen!“
„Ich kam,“ fuhr sie fort, „lange vor Ihnen am Ufer des Flusses an; ich sah, wie die Fußtritte im Schnee unmittelbar in den Strom führten, und rannte trostlos hin und wieder … da gewahrte ich, daß eine gute Strecke stromaufwärts dieselben Spuren wieder aus dem Wasser heraus führten … das Mädchen war also in den Fluß getreten, dann im Flusse stromaufwärts eine Strecke fortgegangen und wieder an’s Ufer gestiegen … sie hatte also nicht die Absicht zu sterben; sie wollte nur für todt gelten … das durchzuckte mich mit einmal mit Blitzesklarheit … Ich suchte weiter, sie konnte ja noch keine große Entfernung erreicht haben und zu meinem namenlosen Entzücken gewahrte ich sie bald, im Gebüsche liegend, aber in tiefer Ohnmacht, fast erstarrt von der furchtbaren Erkältung im Wasser, das ihr an den Kleidern gefror …“
„Heiliger Gott!“ rief Isidor und faltete die Hände zum Gebet. „Ist es denn ein Traum? Auch den letzten Stachel nimmst [784] Du aus meinem Herzen, den Gedanken, daß sie als Selbstmörderin geendet! … O Du treues Gemüth, wie tauchst Du in noch schönerem Glanze vor mir auf! O reden Sie,“ fuhr er, gegen Amélie gewendet, fort, „sagen Sie mir Alles! Was ist mit Franzi geschehen? Lebt sie noch? Wo ist sie?“
„Sie lebt,“ begann Amélie wieder, „es gelang mir, sie zum Bewußtsein zurück zu bringen und von meiner geänderten Gesinnung zu überzeugen … für uns Beide bestand die gleiche Nothwendigkeit, vor den Augen der Bekannten zu verschwinden, todt zu sein für die ganze Welt … sie folgte mir. Die Grenze war bald erreicht – von da gab ich meinem Onkel Nachricht, raffte mein Vermögen zusammen und ging mit Franzi nach dem Norden, in eine ferne deutsche Stadt, wo ich sicher sein durfte, ungekannt zu bleiben … Dort gab ich mich ganz ihrer Liebe, ihrer Pflege, ihrer Ausbildung hin – eine Reihe von Jahren begann für mich, worin jeder Tag ein Himmel war und doch die ganze Qual der Hölle in sich trug!“
„Unbegreiflich!“ rief Isidor, „Ich sollte glauben, die Freude, eine solche Tochter wieder gefunden zu haben …“
„Halten Sie ein!“ rief das Fräulein, schmerzlich abwehrend. „Zeigen Sie mir die Seligkeit nicht, der ich entsagen mußte! … Durfte ich ihr das sagen, was sie mir ist? Mußte ich nicht fürchten, daß sie eine Mutter verabscheuen und von sich stoßen würde – eine Mutter, die herzlos genug, das kaum geborene hülflose Wesen in die Welt zu schleudern, herzlos genug, es allem Jammer, allem Elend, allem Frevel der Welt schutzlos preis zu geben … grausam genug, sie mit der Wuth des Hasses aus der letzten Freistatt zu treiben und in den Tod zu stürzen … Wie oft, wenn sie sich in meine Arme schmiegte, wenn sie mich mit Liebkosungen eines unverdienten Dankes überhäufte, wie oft drängte sich da das Wort des Bekenntnisses auf meine Lippen … aber ich sprach es nicht aus, ich drängte es zurück … ihre Freude nicht zu stören, mir selbst zur Buße, setzte ich den Fuß nicht auf die Grenze meines Canaan, wies ich den Wonnebecher von mir, nach dem meine Seele lechzte … Ich habe Franzi als meine Tochter gepflegt, mit aller Sorgfalt und Liebe einer Mutter – daß ich es ihr in Wahrheit bin, weiß sie nicht …“
„Sie weiß es nicht?“ rief Isidor staunend. „Ich bewundere diese Entsagung; daß Sie ihrer fähig waren, versöhnt mich Ihnen … Aber Sie sagten wiederholt, daß Sie Franzi gepflegt … Was ist mit ihr, daß sie der Pflege bedarf?“
„Sei’n Sie gefaßt, das betrübteste Wort zu hören,“ sagte das Fräulein und richtete sich in dem Stuhle auf, in den sie gesunken war. „Franzi’s Gemüth klärte und beruhigte sich mit der Zeit, der Gedanke, ihr Vorhaben gelungen zu wissen, goß Oel auf die stürmenden Wellen … aber nur zu bald zeigte sich, daß ihr Körper zu erliegen begann … sei’s wegen der angebornen Zartheit ihres Wesens, sei’s wegen der über ihr dahingebrausten Stürme, denen sie nicht gewachsen war… Beängstigende Vorboten zeigten sich, Alles was die Kunst der Aerzte vermochte, ward aufgeboten. vergebens, sie schwand und verzehrte sich immer mehr, bald blieb die einzige Hoffnung, daß es einem Aufenthalt in einer mildern südlichen Gegend gelingen werde, das rasche Verwelken um Stunden und Tage aufzuhalten … Dies hat uns wieder in diese Gegenden geführt, dies und der Wunsch der Leidenden, vor ihrem Ende, das sie nahen fühlt, den Mann noch einmal zu sehen, dem ihre ganze verdiente Liebe gehört … Treten Sie in jenes Zimmer, Franzi ist die Sterbende, zu der Sie gerufen sind …“
Isidor stand zögernd, das Tuch vor die Augen gedrückt. Amélie hielt einen Augenblick inne; dann fragte sie: „Sind Sie gefaßt?“
„… Ich bin es …“
„Und ehe Sie eintreten … vergeben Sie auch mir …“
„Das will ich nicht mit Worten thun, die That soll zeigen, daß ich es schon gethan …“
Er reichte ihr die Hand, die sie hastig ergriff, indem sie ihn in das Gemach führte. Wortlos sank er an dem Lager nieder, von welchem eine bleiche hagere Gestalt ihm ebenfalls stumm die abgezehrte bebende Hand entgegenstreckte … da war kein Hoffen, keine Täuschung mehr möglich, in dem einst so lebensfrischen Antlitz hauste schon der Tod und nichts war von früher geblieben, als die dunklen Augen mit ihrem spiegelnden Abgrund von Treue …
„Isidor,“ sagte sie schwach, „o … das ist eine Freud’, die ich kaum mehr gehofft hab’ … jetzt geh’ ich wohlgetröst’ aus der Welt … Können Sie mir verzeihn, daß ich Sie so betrogen hab’?“
„Was hätte ich zu verzeihen,“ erwiderte Isidor innig, „wo jedes Wort von mir nichts ist und sein soll, als Dank … Täglich hab’ ich Deiner als einer Verstorbenen gedacht, mit der ganzen Trauer der Liebe …“
Franzi’s Augen leuchteten noch heller auf; sie wollte sprechen, aber ihre Ermattung war zu groß. Mit innigster Besorgniß beugte das Fräulein sich über die Zurücksinkende, schob leise den Arm unter das Kissen und richtete sie sanft empor. „O wie gut Sie mit mir sind,“ sagte Franzi mit einem Blick voll Dank, „das verdien’ ich ja nit! Ich kann es Ihnen niemals verdanken, was Sie an einem so geringen Madel wie ich Alles thun … Ich hab’ auch,“ setzte sie mit himmlischem Lächeln hinzu, „keine Zeit mehr zum Danken …“
„Sprich nicht so,“ jammerte das Fräulein, „Du weißt nicht, wie Du mein Herz zerreißest …“
„Das möcht’ ich nit,“ flüsterte Franzi, „ich bin ja so glücklich jetzt und möcht’, Sie sollen es auch sein, und Sie … Du auch, Isidor! Jetzt ist es wohl kein Unrecht mehr, wenn ich so zu Dir sag’ … Daß ich das kann, ist eine große Freud’ für mich … fast noch größer, als wie dazumal, wo ich das Kranzel hab’ tragen dürfen an Deinem Ehrentag …“
„Wer weiß,“ sagte Isidor weich, „ob Dir nicht eine noch größere Freude vorbehalten ist! Wie wenn ich Dir Nachricht brächte von den Deinen … wenn ich Deine Mutter Dir zuführen könnte …“
Trotz der Schwäche richtete Franzi sich hastig auf, ein fieberisches Zucken überflog ihren Körper. „Meine Mutter …“ stammelte sie, „… sie lebt … darf ich sie etwa gar sehen?“
„Sie lebt – Du darfst sie sehen, wenn Du Dich stark genug fühlst …“
„Wo … wo ist sie …“ rief sie fieberisch und die längst verblichenen Rosen ihrer Wangen erblühten noch einmal.
„Hier!“ erwiderte Isidor, auf Amélie deutend, welche am Bette zusammenknickte und vor Schluchzen nichts zu stammeln vermochte als „… Vergebung …“
„Meine Mutter …“ stammelte die Sterbende, „Sie … Du? O, wenn das wahr ist, warum nimmst Du mich nit an Dein Herz … daß ich sagen kann, ich bin am Herzen meiner Mutter gelegen … nur ein einzig’s Mal, wenn’s auch das letzte Mal ist …“
Amélie zog sie an die Brust. „Mein Kind …“ weinte sie, „mein gutes, liebes, mein unglückliches Kind!“
„Mutter … mein’ Mutter,“ sagte Franzi leise und wie für sich hin, als horche sie der Süßigkeit des Tones in dem noch nie vernommenen Worte; dann bemeisterte sich ihrer vollends die Schwäche. Die Anspannung war zu groß gewesen für das zarte, in seinen tiefsten Fasern erschütterte Leben; sie haschte nach Isidor’s und Amélie’s Hand … „Droben … bei unserm Herrgott … mein’ Mutter … mein Bruder …“ Die Stimme brach, aber aus den Augen quoll ein letzter Strahl unendlicher Liebe, aus ihm schwebte die schöne Seele von hinnen!
– – – Isidor kehrte gebeugt und doch innerlich gehoben an den Ort seines Berufes zurück, dem er fortan mit verdoppeltem Eifer gehörte. Nach einiger Zeit kam das Fräulein in’s Pfarrhaus, ein bescheidener und stiller Gast, der genug Staunen und doch wieder Genugthuung hervorrief, daß es dem allgeliebten Manne gelungen, auch dieses feindlich widerstrebende Herz zu versöhnen. Ihr Vermögen wendete sie der Schule zu.
Ihr Geheimniß blieb mit Franzi begraben.
Isidor ward ein Mann, von dem auf die Umgebung Segen träufte, wie von einem Palmenbaum; er durchmaß das Leben bis an die äußersten Grenzen und hatte die Freude, die Secundiz, das fünfzigjährige Jubelfest seiner Priesterweihe, an demselben Altare in der Heimath zu feiern. Von den Gästen, die ihm damals so fröhlich das Geleit gegeben, waren die meisten schon dahin; auch der Moosrainer schlief schon lange neben seiner Alten, die vor ihm gestorben war … „Ich glaub’,“ sagte er die Augen wischend, wenn er ihrer gedachte, „sie hat sich nur deswegen so von mir weggetummelt, daß sie bei der alten Gewohnheit bleibt und ja nicht zu spät kommt …“
Wenige Tage nach dem Jubelfest blieb Isidor’s Zimmer ungewöhnlich lange verschlossen; als man eintrat, saß er in seinem Lehnstuhl mit auf die Brust gesenktem Haupte und ruhigen Zügen, als ob er schliefe; auf dem Tische lag die Bibel aufgeschlagen, im Lesen war er dahingegangen zu denen, die ihn erwarteten.
Es ist lange her, daß dies geschehen, im Volke aber lebt sein Andenken fort und Mancher, der damals ein Kind war, erzählt weiter, was er von ihm gehört, und zuckt die Achseln, wenn man die spätern Pfarrer lobt, und sagt: „Alles recht – ich nehm’ ihnen nichts, aber einen solchen Herrn kriegen wir halt doch nit wieder, wie unsern Dorfcaplan!“