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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[753]

No. 48. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


An Alle, die es gut mit dem Volke meinen.

Wer hätte in manchem bangen Augenblicke, in mancher angstvollen Stunde nicht schon bitter beklagt, daß er gerade von dem ihm Nächstliegenden und Nothwendigsten, dem menschlichen Körper und der Bewahrung und Wiederherstellung von dessen Gesundheit, am Allerschlechtesten unterrichtet ist? Wer hätte es nicht schmerzlich genug erfahren, daß er rathlos dastand, wenn er oder eines seiner Lieben plötzlich erkrankte; wenn äußere Verletzung oder jäher Unglücksfall lebengefährdend hereinbrach und die Hülfe des Arztes nicht sogleich zur Stelle war? Wer sollte daher nicht mit dankbarer Freude den Lehrer, den Rathgeber, den Helfer begrüßen, welcher ihm jetzt geboten wird, einen Freund, den er überall zur Seite haben kann, daheim und auf der Reise, der ihn nirgends im Stiche läßt und sich auch dem Unbemitteltsten nicht versagt? Dieser Lehrer, er ist allen Lesern der Gartenlaube eine wohlbekannte Autorität, es ist Niemand anders als der Professor Dr. Carl Bock in seiner neuesten Schrift:

Volks-Gesundheits-Lehrer.
Zum Kennenlernen, Gesunderhalten und Gesundmachen des Menschen,

welche er selbst mit den nachstehenden Worten einführt:

Ohne Gesundheit kein Streben, ohne Streben keine Zukunft!

Nur der Gesunde vermag sein und seiner Mitmenschen, sowie seiner Nachkommen Wohl zu fördern, denn das, was er dazu bedarf: ein klarer Verstand, ein kräftiger Wille und ein echt menschliches Gemüth, kann nur in einem gesunden Körper durch richtige Gewöhnung (Erziehung) erzeugt werden. Daß diese Eigenschaften zur Zeit nur Wenigen eigen sind, hat seinen Grund darin, daß die meisten Menschen von der Einrichtung und Behandlung ihres Körpers auch nicht die geringste Kenntniß haben; daß sie die ihrem Körper schädlichen Einflüsse ebensowenig wie die unentbehrlichen Lebensbedürfnisse desselben kennen, kurz daß sie von den Bedingungen des Gesundseins, Gesundbleibens und Gesundwerdens auch nicht das Geringste wissen. Diese Unkenntniß, die leider in allen Ständen, bei Jung und Alt gefunden wird, sie ist es nun, welche den meisten Menschen schon von Geburt an durch eine falsche körperliche und geistige Behandlung das ganze Leben vergällt, – welche die Schulen mit körperlich und moralisch verkrüppelten Kindern füllt, - welche so viele Jünglinge für ihren spätern Beruf als Männer und Vaterlandsvertheidiger ebenso untauglich macht, wie die Jungfrauen für ihren Beruf als Frauen und Mütter, – welche die Mehrzahl der Arbeiter zu fortwährend der Reparatur bedürftigen Maschinen herabwürdigt, – welche der zum großen Theile entnervten Mannheit entweder einen herrschsüchtigen, oder einen sclavischen Charakter aufdrückt. – und welche das Leben viel zu früh dem Welken und Untergange zuführt.

Eine heilige Pflicht muß es deshalb jedem Menschen sein, sich über sein Ich gehörig zu unterrichten, damit er zunächst schon im Kinde, und zwar von dessen Geburt an, einen festen Grund zum körperlichen und geistigen Wohlsein in den spätern Lebensaltern zu legen vermag, damit er sodann als Erwachsener in seinem und der Gesammtheit Interesse sein Leben so gesund, nutz- und genußbringend als nur möglich einzurichten verstehe, kurz damit er, weß Standes er auch sei, von Allem Kenntniß habe, wobei sein und seiner Mitmenschen Wohl betheiligt ist. Um nun zur Erreichung dieser

Kenntniß beim Volke in Etwas beizutragen, schickt der Unterzeichnete hiermit diese kurze und gedrängte Beschreibung des menschlichen Körpers und seiner Pflege im gesunden und kranken Zustande unter dem Namen
„Volks-Gesundheits-Lehrer“
zum Kennenlernen, Gesunderhalten und Gesundmachen des Menschen in die Welt. Weder Verleger noch Verfasser haben bei diesem Gesundheits-Rathgeber pecuniäres Interesse im Auge, wie der Umfang, die Ausstattung und der Preis des Schriftchens beweisen.
Bock.
Das Buch, 15 Bogen stark, kostet nur 5 Neugroschen.

Auch dem Unbemitteltsten ist somit Gelegenheit geboten, sich und den Seinigen einen Lehrer und Berather bei Leibes- und Lebensgefahren in das Haus zu schaffen. Und wo es nicht geschehen kann, wo selbst diese kleine Ausgabe noch schwer in das Budget des Familienvaters fällt, da tritt es als eine Pflicht ein aller derjenigen, welchen die Sorge um das Wohl ganzer Volks- und Arbeiterclassen zunächst obliegt, diesen Helfer in der Noth in Massen in die Hände der Unbemittelten zu legen und so das Hauptbetriebscapital derselben – die Gesundheit – auf jede Weise zu erhalten und zu fördern.

Wir fordern deshalb alle Staats- und Eisenbahnbehörden, alle Fabrikherren, Besitzer und Leiter industrieller Etablissements, alle Meister und Vorstände von Lehrer-, Turn-, Arbeiter- und Bildungsvereinen hiermit auf das Dringendste auf, für die Verbreitung dieses Buches aus eigenen oder gemeinschaftlichen Mitteln Sorge zu tragen. Es ist eine Pflicht der Menschlichkeit, die hier zu erfüllen ist, und Behörden und Arbeitgeber werden sich in kurzer Zeit des lohnenden Erfolges zu erfreuen haben, welcher aus dem Sichselbstkennenlernen und Gesunderhalten des Menschen ihnen und der Gesammtheit erwächst. Es handelt sich hierbei, wie jeder Vernünftige aus dem Umfange des Buches und dem fabelhaft billigen Preise leicht ermessen kann, nicht um eine Speculation, sondern um einen

Act der Humanität, und deshalb hielt die Unterzeichnete es für eine Ehrenpflicht, diesen Haus- und Familienfreund allen denen auf das Wärmste zu empfehlen, die ein Herz für das Wohl des Volkes haben.
Die Redaction der Gartenlaube.
[754]
Der Dorfcaplan.
Erzählung aus Oberbaiern nach einer wahren Begebenheit.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


3.

Der Weihnachtstag kam herrlich herauf. Sommerblau und rein lag der Himmel über dem weiten Stromthale, das der Wilde Kaiser abschloß, glänzend und blitzend im Sonnenschein, als habe er dem Feste zu Ehren seinen Eispanzer blankgescheuert und den weißen Kaisermantel um die Felsenschultern geschlagen. Der Ostwind strich kalt über die flimmernde Schneelandschaft hin, daß der Hauch vor dem Munde fror, den Landleuten, die von den entlegenen Höfen herangewandert kamen, sich Haar, Bart und Hut bereiften und weit und breit hin an allen Sträuchern und Zweigen Milliarden von Eisnadeln und Schneekrystallen glitzerten und funkelten.

Im Dorfe selbst war die Stimmung nicht so festlich, wie draußen in der freien Natur; die Vorgänge der Nacht lagerten darüber, wie oft auf den Schornsteinen und Firsten der Rauch haftet und sich niederschlägt, wenn eine ungünstige Luftströmung ihm wehrt, fröhlich und kerzengerade emporzuwirbeln. Die Plauderhaftigkeit der Dienstboten im Pfarrhofe, die Bosheit des triumphirenden Lehrers hatten rasch und genügend dafür gesorgt, daß die aus der Christmette Heimkehrenden auch die Kunde des Vorgefallenen in Hütten und Häuser auseinander trugen, als Würze zu Sauerkraut und frischgeschlachtetem Schweinefleisch, das nach der langen Fastenzeit im Advent auch auf dem ärmsten Heerde brodelte. Der Eindruck war verschieden, nach den vielerlei Köpfen, auf die er wirkte; der allgemeinste war der der Verwunderung, wie so Etwas so buchstäblich über Nacht habe kommen können, und einer gewissen Schadenfreude; denn es gab Manche, die von dem Hochmuth des Pfarrfräuleins gekränkt ihm eine Strafe und Demüthigung gar wohl gönnten. Der Herr Caplan ward bedauert, denn die Bauern hatten ihn lieb und Bauernherzen sind zäh; was einmal Wurzel gefaßt in den treuen Gemüthern, das halten sie fest und es braucht manch harten Ruck, bis sie es sich entreißen lassen.

War auch der Hauptgottesdienst schon während der Nacht gefeiert worden, so gab es doch Männer und Bursche genug, die sich Vormittags zur Kirchenzeit auf dem Platze vor der Kirche zusammenfanden, um zu plaudern und alle die Begebenheiten seit dem letzten Begegnen zu verarbeiten. Darunter waren der Wagner des Orts, ein stämmiger Mann mit soldatischer Haltung, der Schneider, der Bader und der Eisenkrämer; ein schmächtig aussehender Mensch mit ruppigen Händen ließ den Schuster nicht verkennen; einen Andern verrieth das Päckchen, das er unter dem Arme trug. Es war der „Beter“-Macher, der seine Waare, allerlei Rosenkränze, immer bei sich trug, um augenblicklich zum Handel bereit zu sein.

„Da kann man’s einmal mit Händen greifen,“ sagte der Betermacher fromm thuend, als das Gespräch wieder auf Isidor kam. „Hochmuth kommt vor dem Fall! Hab’s erst gestern noch von dem Schullehrer gehört, daß der Herr Caplan immer obenaus gewollt hat … da hat unser Herrgott die Hand von ihm abgezogen und er ist in die Schlingen des Teufels gefallen!“

„Laß den Teufel in Ruh, Betermacher,“ entgegnete der Wagner barsch, „der muß nit überall seine Hand d’rinn haben, es giebt Leut’ genug, die für ihn die Arbeit thun!“

„Wie kannst’ so reden, Wagner!“ rief der Schuster, entsetzt. „In ein’ so frommen Haus, wie der Pfarrhof ist!“

„Eben deswegen! Ist keine Kirchen so klein, die Capelle muß auch dabei sein … und wenn der Teufel sonst gar keinen Platz findet, schlupft er in einen Weiberrock …“

„Ja, das ist wahr!“ rief der Betermacher wieder und verdrehte die Augen. „Die Franzi! Ein so kreuzbraves Mädl! Wer hätt’ das von der Franzi gedacht!“

„Nun, die hab’ ich gerad’ nicht gemeint!“ lachte der Wagner. „Wir werden ja sehen, was dahinter ist; in ein paar Tagen wird man wohl Alles wissen!“

„Wir könnten’s gleich erfahren,“ sagte der Schuster. „Wie wär’s, Männer, wenn wir zum Pfarrer gingen, so wie eine Deputation von der Gemeind’, und thäten ihm unser Bedauern sagen, daß er einen solchen Verdruß hat haben müssen …“

„Zum Herrn Pfarrer?“ rief der Wagner grob. „Warum? Unsereiner hat auch genug Verdruß im Haus, aber ich hab’ noch nie gehört, daß der Pfarrer ’kommen ’wär und hätt’ Einem sein Bedauern gesagt … was wir gemeine Leut’ zuwege bringen müssen, das wird er als ein studirter Herr wohl auch vermögen …“

Er ging und ließ Schuster und Betermacher stehen; unbekümmert über ihren unverhohlenen Aerger, winkte er dem Bader und Schneider mit den Augen zu und schritt mit Beiden davon. „Wie ist es denn?“ sagte er flüsternd. „Es hat ja geheißen, auf Weihnachten käm’ er wieder herüber … Ihr wißt schon, wen ich mein’ …“

„Versteh’ alle Wort’,“ sagte der Schneider wichtig und geheimnißvoll, „gewiß weiß ich’s nit … es soll gar viel Schnee haben, wo er heraus muß … aber ich denk’ wohl, er kommt, und sobald ich’s weiß, laß ich Alles herrichten …“

Sie winkten sich zu und trennten sich, vorsichtig umherblickend, ob auch Niemand die geheime Zwiesprache belauscht. –

Auch auf dem Moosrainer-Hofe bildete der Festtag einen trüben Gegensatz zu der heitern Festlichkeit, die erst so kurz dort begangen worden. Noch war es völlig Nacht gewesen, als die Thür des Pfarrhauses sich geräuschlos aufthat und der Verstoßene auf der Schwelle stand, die er mit ahnungsvollem Widerstreben betreten. Es war dunkel in ihm und um ihn her; aus den Fenstern der Kirche kam der rothe Schein der ewigen Lampe so schwach herüber, als wenn sie mit dem Erlöschen kämpfte, aber gerade vor ihm blitzte und funkelte der Morgenstern in seltener Pracht, als wär’ es eine geschwungene Fackel in Engelshand, um wie von einem Leuchtthurme aus zu mahnen, daß der Himmel über uns unerschütterlich feststeht, auch wenn unter uns die trügerische Erde wankt. Durch Frostschauer und beginnendes Schneegeriesel schritt er dem Vaterhause zu, unendliche Wehmuth und Trauer in der Seele, daß er so dahin zurückkehren mußte; doch es blieb kein anderer Ausweg, um Aufsehen zu vermeiden. Einen Tag wollte er Herberge nehmen in der Heimath, um sie dann für immer zu verlassen und unbekannt an einem fremden Ort die Entwickelung seines Geschickes abzuwarten. Das Haus stand finster in der Finsterniß; kein Lichtschein zeigte, daß Leben in ihm sei, und es war doch schon die Stunde vorüber, die den Bauer in Scheune, Stall und Haus zu den Arbeiten weckt, von denen auch der höchste Feiertag ihn nicht befreit. Dennoch standen Thür und Thor weit auf, als würde Jemand erwartet; aber Niemand kam dem Eintretenden entgegen. Lautlos tastete sich Isidor über den unerhellten Vorplatz, die Treppe hinan zu seiner früher bewohnten Stube. Sie war nicht verschlossen, im Ofen brannte behagliches Feuer und auf dem Tischchen war eine Kerze, Stein und Schwamm bereit gestellt; es war unverkennbar, man erwartete ihn im Hause, allein man scheute sich, ihm zu begegnen.

Isidor hatte kein Verlangen nach Licht; ihm war es wohl in der matten Dämmerung, welche das Schneelicht durch die Scheiben warf; die ganze Herbheit des Erlebten kam über ihn und machte ihn beinahe verzagen. Da kam die Natur als liebende Vermittlerin ihm zu Hülfe, die Stille, die Wärme, die sichere Einsamkeit wirkten schmerzstillend auf ihn und der Schlaf senkte sich auf seine heißen Augen und tobenden Schläfen, wie ein kühlender Verband.

Er hatte nicht lange geschlummert, als ihn Lichtschein weckte, der alte Moosrainer stand in der Stube, die klugen Augen fest und fragend auf den Sohn geheftet.

„Vater!“ rief dieser aufspringend und wollte mit weit ausgebreiteten Armen sich ihm an die Brust werfen dieser aber trat einen Schritt zurück und streckte den Arm wie zur Abwehr gegen ihn aus.

„Bleib’, wo Du bist,“ sagte er, „erst muß ich wissen, wie wir Zwei miteinander stehn! Ich hab’ Dir’s gesagt, Isidor, Du wirst niemals so groß wachsen, daß ich aufhören thät’, als Vater mit Dir zu reden; ich hab’ Dir die Thür offen gelassen, damit es vor den Nachbarn keinen Spectakel giebt, aber deswegen darfst Du den Moosrainerhof doch nit für einen Taubenschlag ansehn, [755] wo man aus- und einfliegt, wie man nur will… Was thust da, Isidor?“ fuhr er mit strengem Tone fort, „warum bist Du nit da, wo Du hin gehörst?“

„Sorgt nicht, Vater,“ erwiderte Isidor, nicht ohne Zurückhaltung, „daß ich Euch lange zur Last fallen werde. Mit dem Frühesten …“

„Wär’s dann anders?“ unterbrach ihn der Alte. „Wenn das wahr ist, was die Leut’ reden, ist für Dich im Moosrainerhof kein Platz, nit einmal über Nacht… O Bub, Bub!“ fuhr er in unwillkürlich gemildertem Tone weiter, weil er gewahrte, wie Isidor bei diesen Worten noch mehr erblaßte und zusammenzuckend die Hand an’s Herz preßte, „warum thust Du mir solch ein Leidwesen an? Du weißt, wie hart es mich an’kommen ist, Dich studiren zu lassen, ich hab’ mich nur mit der Meinung getröst’, daß es zu Dein’ Glück und Heil sein wird, daß Du das, was Du einmal angefangen hast, auch richtig und fest hinausführst, wie sich’s gehört … aber daß ich das an Dir erleben muß … daß Du mir in’s Haus zurückkommst, in Schand und Spott, wie ein davongejagter nichtsnutziger Knecht … das, Isidor, das ist der Nagel zu meinem Sarg … das druckt Deinem alten Vater das Herz ab…“

Die Stimme bebte ihm, er drückte mit dem Rücken der rauhen Hand an die Augen, als wolle er die Thränen zurückdrängen, aber die widerspenstigen Tropfen glitten doch über die braune Wange herab.

„Vater,“ sagte Isidor feierlich, „bei Allem, was heilig ist, ich habe nichts Unwürdiges begangen …“

„In Deinem Sinn vielleicht,“ entgegnete der Alte, „wir Bauern deutschen uns so was selber aus, und der Sinn ist so viel werth, wie Dein studirter … also sag’, wie’s ’gangen ist.“

Isidor erzählte; anfangs befangen, dann immer ruhiger und sicherer, denn bei jedem Worte trat ihm das Vorgefallene bestimmter in seiner wahren Gestalt entgegen, wie aus fallendem Nebel die Umrisse einer unbekannten Gegend.

„Ist’s das Alles?“ fragte, als er geendet, nach kurzer Pause der Vater. „Und wenn es so ist, was soll nun daraus werden?“

„Der Herr Pfarrer wird seinen Bericht an das Ordinariat erstatten …“

„Was ist das?“

„Der Bischof und seine Räthe, die werden dann auch mich und meine Vertheidigung hören, und ich hoffe zu Gott, das Ende wird sein, daß man mich auf einen andern Posten, vielleicht weit weg beruft, und gewarnt und gewitzigt soll es mir dort gar bald gelingen, den ganzen Vorfall vergessen zu machen …“

„Vergessen zu machen?“ erwiderte der Alte und wiegte sinnend das eisgraue Haupt, „ich will das glauben, Isidor … aber wirst Du’s auch selber vergessen? … O Isidor, lieber Bub,“ fuhr er herzlich fort, während dieser befangen die Augen senkte – er fand nicht Muth und Ton zu dem Ja, auf das die Frage des Vaters wartete. „Ich sorg’, Du wirst ein unglücklicher Mensch … Schau, vor Deinem Vater brauchst kein Geheimniß … ich hab’ Angst, Dein Herz ist nit mehr bei Dein’ Stand, es reut Dich wohl gar … mir kommt’s vor, als wenn ich Recht gehabt hätt’, als wenn Dein Herz unterm Bauernkittel lustiger schlagen thät’, als unter dem heiligen Gewand da …“

Isidor drückte ihm wie unwillkürlich die Hand. „Der Frieden wird denen, die um ihn streiten,“ sagte er feierlich, „ich will redlich um seine Palme ringen …“

„Thu’s, lieber Bub,“ sagte der Alte herzlich, „nur nit auslassen, was einmal ang’fangen ist, dann wird noch Alles gut … Bleib’ also bei mir, so lang Du willst, Isidor, ich kann nit sagen, daß Du so ein großes Unrecht gethan hast! Du hast ja die Hand nit selber zum Schlagen aufgehoben, hast das Blut nit vergießen wollen, Du hast abgewehrt, hast ein Anderes vertheidigt … ich glaub’ immer, ich hätt’s auch nit viel anders gemacht, und kann nit gut stehn, ob mir der Arm nit auch ausgerutscht wär’ … Also gieb Dich zur Ruh, halt’ mit Dir selber und unserm Herrgott Rath und bleib’ in Deiner Stuben, daß das Gered’ ein End’ hat … am Abend komm’ ich wieder’ und such’ Dich heim…“

Er wollte fort, aber Isidor hielt ihn. „Und die Mutter?“ fragte Isidor dringend.

„Die? Ja, bei der hast Du’s schon auf eine Weil’ verschütt’t; die will Dich nit sehn, die Fräul’n ist ihr so in’s Herz gewachsen; ich glaub’, es wär’ ihr lieber, sie hätt’ den Puff von Dir bekommen, als die hochnasige Person … aber kränk’ Dich nit darum, ich werd’ ihr Alles erzählen, da wird der Zorn auch nit lang dauern, Du weißt es ja, daß sie nirgends zu spät kommen will …“

Er hatte schon die Thürklinke gefaßt, Isidor rief ihm nochmals nach. „Vater,“ sagte er stockend, als dieser erwartend still stand, „ich kann nichts mehr für sie thun; was ich thäte, würde man nur ausbeuten, mich neu zu verdächtigen, aber Ihr werdet sie nicht verlassen … nicht wahr?“

„Du meinst die Franzi?“ sagte der Alte, „… was ist es mit ihr?“

„Weiß ich es denn? Ich habe sie nicht wieder gesehen, aber als ich während der paar endlosen Nachtstunden am Fenster hin und wieder schritt, sah ich Jemand aus dem Hause schlüpfen; ich müßte mich sehr geirrt haben, wenn es nicht Franzi war … das böse Weib hat sie ohne Zweifel noch in der Nacht fortgejagt …“

„Wie werd’ ich sie verlassen?“ entgegnete der Alte und bot dem Sohne mit eigenthümlichem Lächeln die Hand. „Ich hab’ sie ja immer schier so lieb gehabt, wie ein eignes Kind … ich werd ihr nachfragen; im Dorf darf sie nit bleiben, aber ich denk’, ich werd’ schon ein Plätzel ausfinden, wo ihr nit zuweh geschieht!“

Der Tag ging still vorüber, hauptsächlich wohl, weil dem Gerede und der Erregung der Gemüther jede Nahrung fehlte. Von den Personen, die bei dem Vorfalle hauptsächlich genannt wurden, ließ sich keine sehen, denn die Haushälterin des Pfarrers war angegriffen und krank oder gab sich mindestens den Anschein es ;u sein. Die Nacht kam so ruhig, als ob der Tag gar nichts Ungewöhnliches gebracht; früher als sonst sogar ward es still im Dorf und zeitiger erloschen die Lichter.

Nur wer noch eine späte Wanderung gegen den Strom hin zu machen hatte, der mochte gewahren, daß auf dem hinter den Dorfe vorspringenden Hügel noch einiges Leben wachte. Dort lagen die Ruinen einer kleinen Bergfestung, die zum Schutze der Grenze gebaut, im österreichischen Erbfolgekriege aber von den Rothmäntlern ausgebrannt worden und, dürftig wieder hergestellt, allmählich zu verfallen begann. Jetzt sind davon nur die kargen Reste eines Thurmes übrig, damals war ein Theil der Dächer erhalten und es gab noch einige Gelasse, die man zur Noch bewohnen konnte. In der ehemaligen Wachstube am gewölbten Thorgang hatte ein Holzarbeiter mit seinem Weibe sich eingebaut. Er hielt eine Winkelschenke und trieb allerlei anderes heimliches Gewerb. Die Schmuggler, die aus Tirol herüberkamen, fanden da willkommene Herberge, um tagsüber still zu liegen, und wer sonst einer Zuflucht bedurfte in der Gegend, dem bot das winklige, den Einsturz drohende und darinn nicht viel betretene Gemäuer einen sicheren Versteck. Unter den Ruinen der Capelle stand ein kellerartiges Gewölbe noch unversehrt, das einmal eine Art unterirdischer Kirche, eine Krypta, gewesen sein mochte und zu welchem, durch eine hohe Thurmwand verborgen, einige schadhafte und wankende Steinstufen hinunterführten. Schwacher Lichtschein drang von dort herauf und führte über Geröll und Trümmer in die ziemlich ansehnliche Halle.

Eine Schaar Bauersleute aus dem Dorfe und den Einzel-Weilern der Gegend hatte sich hier zusammengefunden; Männer und Weiber standen, kauerten oder lehnten herum, je nachdem an den Wänden entlang und auf den Trümmern sich dazu Gelegenheit bot. Der Wagner, der Bader und der Schneider fehlten nicht; hinter ihnen, in eine dunklere Ecke gedrückt, erhob sich des Moosrainers kräftige Gestalt. Aller Augen waren dem Chore zugewandt, wo sich noch die Trümmer eines ehmaligen Altars erkennen ließen; jetzt stand an dessen Stelle ein aus rohen Baumästen rasch zusammengebundenes Kreuz und vor ihm ein Mann in einem dunklen Mantel, der wie ein priesterartiges Gewand gefaltet war.

In einer Ecke unter einem Sprung des Gewölbes, durch welchen der Nachthimmel schwarz hereinsah, verglimmten die Reste eines Holzfeuers, das den Raum nothdürftig erwärmt hatte und nun seine rothen unruhigen Lichter über die Versammlung warf und über den Mann vor dem Kreuze, der mit ausgebreiteten Armen laute mächtige Worte rief. Obwohl die Züge des Gesichts noch kein so hohes Alter verriethen, war doch der Schädel des Mannes völlig kahl; unter dichten buschigen Brauen flackerte ein Paar unheimlich leuchtender, fast irrsinniger Augen hervor. Seine Stimme klang gedämpft und hohl, aber sie war dennoch stark und es war Etwas in ihrem Ton, was unwillkürlich das Ohr des [756] Hörers fesselte. Er sprach von den ersten Tagen der Christenheit, als die Gläubigen noch in Höhlen und Grabgewölben heimlich sich versammeln mußten, als die kleinen Gemeinden noch in vollständiger brüderlicher Gemeinschaft aller Verhältnisse lebten, und forderte auf, zur alten Einfachheit der Sitten, zur alten Einfalt der Gemüther zurückzukehren.

„Wahrlich, so verkündet es mir der Geist,“ schloß er seine Rede, „der über mich kommt in den Stunden der Erleuchtung …, der Antichrist ist Herr geworden über den Erdball, aber ich werde kommen und ihn bändigen und seinen Thron umstürzen! Diejenigen sind der Antichrist, die sich anmaßen, meine Priester zu sein … Ich, der Herr von Anbeginn, will keine Priester, die vor mir knieen und mir räuchern. Ein Jeder unter Euch soll mein Priester sein und über welchen ich das Wort ausgieße, der soll es den Brüdern verkünden! Gleich sollt Ihr untereinander sein, wie Ihr vor mir Alle gleich seid – Alle Brüder! Darum gehet hin und machet, daß die Wege bereit sind, wenn der Herr kommt, seinen Einzug zu halten, denn sein Gericht wird furchtbar sein und nicht mehr fern ist die Stunde der Rechenschaft – wohl dem, den sie gerüstet findet. Amen!“

Der Prediger schwieg und sank wie erschöpft an den Fuß des Kreuzes hin; lautlos erhoben sich die Anwesenden, kletterten durch den Kellerhals die Stufen empor und verschwanden schweigend aus dem Gemäuer in die Winternacht. Nur der Schneider vermochte nicht die Erregung seines Gemüths in sich zu verschließen. „Recht hat er, der Frater’ Anderl … und wenn wir Männer sind und nit Hasenfüß’, so machen wir uns daran und gründen wieder eine allgemeine Brüdergemeinde wie die ersten Christen! Wir brauchen keinen Pfarrer, dann brauchen wir auch keinen Zehnt zu geben! Ueber Jeden kann die Gnade kommen …“

„Der Schneider ist ganz verzückt,“ sagte der Wagner, „er glaubt, er steht schon auf der Kanzel …“

„Das werd’ ich auch!“ erwiderte dieser pathetisch. „Wer will dem Wind wehren, der in das Feuer bläst? Auch ich kann das Wort verkünden! Ich bin nicht umsonst in meinen jungen Jahren in Paris gewesen … ich habe Bürger Mirabeau gehört und den großen Danton … Brüder sind wir, werd’ ich sagen, und Brüder müssen wir wieder werden …“

Heftig vor sich hin redend und sich geberdend eilte er hinweg; der Moosrainer hielt den Wagner zurück. „Was ist es denn eigentlich mit dem Frater?“ fragte er.

„Das weiß Niemand recht,“ erwiderte dieser, „es ist ein entsprungener Student, von Kitzbühel glaub’ ich … er hat Geistlicher werden wollen, aber sie haben ihn nit ausgeweiht – warum, weiß ich auch nicht recht; es heißt, er hätt’ ein Buch geschrieben, das ihnen nit recht war. Da wollten sie ihn in den Soldatenrock stecken, drüber ist er tiefsinnig geworden und ist im Armenhaus eingesperrt und muß beim Viehhüten helfen. Sie haben ihn schon hart geschlagen, wenn er gepredigt hat, in Tirol d’rinnen getraut er sich auch nicht … aber manchmal stiehlt er sich doch heimlich fort bei der Nacht …“

Der alte Moosrainer erwiderte nichts; ihn dauerte die treffliche Kraft, die, vielleicht zum Besten bestimmt so kläglich zu Grunde ging, weil sie bei Seite gedrängt, gezwungen und in ihrem natürlichen Laufe aufgehalten worden; er gedachte an Isidor und seine dunkle Zukunft, und ein tiefes, namenloses Weh zuckte ihm durch das starke Herz.

– – Wochen vergingen; Isidor lebte im Hause des Vaters, das er nie verließ; von Franzi hörte und wußte Niemand; dennoch war es in den Gemüthern der Dorfbewohner nicht ruhiger geworden, die Gährung hatte sich sogar gesteigert. Das Verhältniß der Gemeinde-Angehörigen zu dem Pfarrer war beiderseits nie ein besonders freundliches gewesen und hatte sich in den förmlichen Schranken des alt Hergebrachten gehalten. Dazu kamen vielfache Anlässe, wo der Pfarrer, immer klagend über die schlechten Zeiten und die noch schlechteren Kornpreise, auf seinen Rechten und Bezügen mit einer Strenge bestand, die manchmal an Härte streifte und die Entfremdung steigerte. Sie ward zur Erbitterung, als er um Neujahr mit der Forderung hervortrat, daß ihm künftig auch der Klein- und Blut-Zehent, also der zehnte Theil der kleinern Feldfrüchte, das zehnte Huhn und das zehnte Ei gereicht werden müsse, während ihm bisher nur der Großzehent von den eigentlichen Getreidearten gebührt hatte. Die Bauern steckten murrend die Köpfe zusammen, erzählten einander von ihren alten Rechten und wie seit Menschen-Gedenken ein solches Begehren nicht gestellt worden sei. Der alte Moosrainer mit ein paar Andern fuhr in’s nächste Städtchen und brachte die Nachricht mit, daß der Advocat im besten Falle einen langwierigen und kostspieligen Proceß in Aussicht stelle. Damals war das Maß des Unmuths aufgerüttelt voll; es bedurfte noch eines Tropfens, so mußte es überfließen.

Auch an diesem sollte es nicht fehlen.

Das Fräulein im Pfarrhofe hatte die Niederlage nicht verschmerzt, die ihr durch Isidor zu Theil geworden; sie ruhte nicht, bis sie in Verbindung mit dem Lehrer den allzeit zurückweichenden Onkel für ihre Absicht gewonnen hatte. An einem der letzten Sonntage hatte er ungewöhnlich scharf über die zunehmende Verschlechterung des Menschengeschlechts losgezogen und schloß damit, zur Gründung eines Tugendbundes aufzufordern und diejenigen, die sich aus der Sündfluth in die Arche retten wollten, einzuladen, nach dem Hochamte in den Pfarrhof zu kommen und sich in die Liste der Tugendhaften einzuzeichnen. Es fehlte nicht an solchen, welche sich einfanden, voran der Anhang des Fräuleins, mit dem Lehrer an der Spitze; auch manches minder eifrige Weiblein schloß sich an, um nicht für gleichgültig oder geringer zu gelten, als eine Andere; manche endlich führte auch nur die Neugier herbei, was in dem Tugendbunde wohl Alles zur Verhandlung kommen möge. Aber was als ein Werk des Friedens gedacht war, bewährte sich sogleich als ein Samenkörnlein, daraus Zwietracht und Feindschaft aufschossen wie wucherndes Unkraut. – Das Fräulein empfing die Ankommenden als vorausbestimmte Vorsteherin des neuen Bundes, nahm die Anmeldungen an und saß dann mit einigen Vertrauten darüber zu Gericht, wer der wirklichen Aufnahme würdig sein möchte. Mehrere Frauen wurden zurückgewiesen wegen kleiner Makel, die an ihrem Lebenswandel hafteten und von denen sie sich erst durch Reue und Buße freimachen sollten. Damit war dem Faß der Boden ausgeschlagen, die Weiber schlugen Lärm und nöthigten die Männer, sich ihrer anzunehmen; sie beriethen und murrten untereinander, und selbst der alte gelassene Moosrainer verlor einen Augenblick seine ruhige Haltung, als seine Alte schluchzend und schreiend mit der Nachricht nach Hause kam, daß auch sie als des Tugendbundes unwürdig erklärt worden sei, weil die Erfahrung bewiesen, daß sie offenbar die Erziehung ihres Sohnes gröblich vernachlässigt haben müsse. „Na, tröste Dich nur, Alte,“ sagte er anscheinend unbefangen, während er vor Aerger die Hände in den Taschen ballte, „und laß den Isidor nichts davon erfahren, es thät’ ihn kränken und hilft doch zu nichts! Hättest Du fein abgewartet, wie es mit dem Tugendbund gehen wird, so hättest Du Dir den Verdruß erspart; das hast Du davon, daß Du überall vorn dran und die Erste sein mußt! … Aber schlimm ist’s bei alledem,“ murmelte er für sich weiter, „und nimmt kein gutes Ende!“ –

Ein paar Stunden seitwärts vom Dorfe in die Berge hinein, wo es gegen den Wendelstein hin geht und gegen die Almhütten in der Grafenherberg, verbarg sich in tief eingeschnittenem Felsenthale ein einfaches Köhlerhaus. Die Kohlstätte hatte schier seit Jahrzehnten nicht zu rauchen aufgehört und der Köhler, ein alter, halbtauber Mann, sein Leben damit zugebracht, einen Meiler nach dem andern aufzurichten, anzuzünden und wieder abzuräumen. Dann kamen die Fuhrwagen und verluden die Kohlen, er selbst aber kam fast nie unter die Leute und wußte daher von Allem nichts, was unter ihnen geschah, zumal im Winter. Dahin hatte der Moosrainer Franzi geflüchtet, damit sie dem Alten die kleine Wirthschaft führe und in seinem Schutze wohlgeborgen sei, denn er kannte den Mann von Jugend auf als ein treues, verlässiges Gemüth und als Einen, der, wenn er auch gebrechlich aussah, doch seine Schürstange so mächtig zu führen verstand, daß wohl Keiner gewagt hätte, ihm ernstlich zu trotzen.

Der Abend verglühte in veilchenfarbigem, kaltem Nebelduft und die Nacht senkte sich auf die schwarzen Buchen- und Tannengehänge der Schlucht so dunkel herab, daß der glimmende Meiler immer heller und röther durch den Rauchqualm sichtbar wurde. Der Schein spiegelte sich in dem kleinen Fensterchen der Hütte und beleuchtete Franzi’s Angesicht, die, den Kopf auf den Arm gestützt, nachdenklich in die Nacht, in Rauch und Gluth hinausstarrte. Sie war bleich, aber in ihren Mienen war nichts mehr, was Sorge oder Erregung verrieth; wenige Tage der Einsamkeit hatten hingereicht, und sie war in kindlichem Gebet der Schwäche ihres Herzens Meister geworden, sie dachte an Isidor, doch wie an einen

[757]

Das Cannstadter Wagenrennen.
Originalzeichnung von Otto Fikentscher.

[758] nicht irdischen Freund, wie an eine Art von Schutzgeist, und was noch an andern Regungen in ihr keimen wollte, das ward unerbittlich von dem Entsetzen zertreten, welches sie bei dem bloßen Gedanken erfaßte, daß ihr Herz an einem geweihten Diener des Herrn anders hängen könne, als mit den Gefühlen gläubiger Frömmigkeit und Verehrung.

In ihrem Sinnen ward sie nicht gewahr, daß ein Schatten an dem Kohlenmeiler vorüber zu ihr hinhuschte, und sie fuhr mit freudigem Schrecken auf, als eine Hand an’s Fenster tippte und das treuherzige Runzelgesicht der alten Kathrin ihr durch die Scheiben entgegenlachte.

„Du bist es?“ rief sie freudig, „Du kommst zu mir, Du gute Kathrin? Wie hast mich nur g’funden?“

„Narr,“ erwiderte die Magd, indem sie der Thür zueilte, „wie sollt’ ich Dich nit finden? Bist mir überall ab’gangen und weißt wohl, wenn man was so recht ernsthaft sucht, nachher find’t man’s auch! Ich hab’ mir eingebild’t, Du könntest nit gar weit fort sein, und hab’ dem alten Moosrainer auf den Weg gelauert … da war’s nit schwer! Es verdrießt Dich doch nit etwa, daß ich zu Dir komm’?“

„Wie kannst so was denken! Das ist die erste fröhliche Stund’, seit … nun, Du weißt es schon, seit wann … Aber wo bist Du jetzt untergekrochen?“

„Beim Wirth, Franzi. Die Frau ist mir schon lang drum angelegen … Da hab ich, wie Du fort warst, meinen Bündel g’schnürt … Aber Dir ist’s nit schlecht ’gangen derweil! Bleich siehst wohl aus, aber ich mein’ schier, Du bist noch säuberer als zuvor …“

„Und Du bist noch immer die alte böse G’sellin,“ sagte Franzi schmollend und wandte sich ab, um ein Erröthen zu verbergen.

„Meinethalben,“ fuhr Kathrin fort und machte sich’s auf der Ofenbank bequem, nachdem sie den Schnee von den Schuhen gestampft. „Und Du fragst mich um gar nichts? Macht nichts, ich erzähl’ Dir doch, weil ich weiß, daß Du’s doch gern wissen möchtest … Also – der Herr Caplan hat jetzt seinen Bescheid bekommen, er soll auf ein halbes Jahr in die Straf’ gehn in’s Priesterhaus …“

„Um meinetwegen!“ rief Franzi unter vorstürzenden Thränen. „O Du armer, armer, Du guter Isidor!“

„Ja, gut ist er g’wiß – sonst hätt’ er seine Sach’ wohl g’scheider angefangen, wär’ Moosrainer geworden und hätt’ eine Gewisse zur Bäurin gemacht …“

Franzi senkte den Kopf, als habe sie nichts gehört. „Und was wird er thun?“ fragte sie dann.

„Wer weiß das? Aber es heißt, er will nit folgen. Er sagt, der Bischof hätt’ ihn gar nicht gehört, hätt’ ihn nit einmal um seine Vertheidigung gefragt – ein solches ungerechtes Urtel und eine solche Straf’ thät er nicht annehmen!“

„Ich hab’ mir’s denkt,“ jammerte Franzi, „aber wie soll’s dann werden mit ihm? Dann hat er ja ganz und gar verspielt bei den Herren und ist verloren für alle Zeit!“

„Er soll nit viel reden davon, selbst zu sein’ Vater nit, aber die Pfarrer-Fräulen sprengt aus … Aber nein, es ist g’scheider, das brauchst Du nit zu wissen …“

„Was, Kathrin?“ fragte Franzi hastig aufspringend und faßte sie drängend an den Händen. „Was sprengt die Fräulen aus? Red’, ich muß Alles wissen …“

„Sie sagt,“ begann die Magd zögernd, „er thät’ sein’ Glauben abschwören und luthrisch werden, damit er … Dich heirathen könnt …“

Franzi stand wie versteint – der letzte Blutstropfen war aus ihrem geisterbleichen Antlitz gewichen …

„Sie sagen noch Anderes … er wollt’ fort gehn in ein fremdes Land, übers Meer, wo Euch Niemand kennt, da wolltet Ihr miteinander leben …“

Jetzt löste sich Franzi’s Erstarrung und Thränen quollen ihr wieder aus den Augen. Sie sagte nichts; die Hand an die Stirn gepreßt, die Augen fest auf den Boden geheftet, schritt sie langsam hin und wieder, als suche sie ein kostbares verlorenes Kleinod; dann trat sie rasch entschlossen vor die Freundin.

„Gehst Du heut noch zurück ins Dorf hinunter?“ sagte sie. „Dann geh’ ich mit Dir, ich werd’ gleich zusammengericht’t sein.“

„Du willst mit? Franzi, denk, was willst im Dorf?“

„Kannst Du so fragen? Ich will, was ich muß – ich will den Leuten die Mäuler stopfen …“

„Das ist unmöglich, Franzi – das kannst Du nit! Wie wolltest das anfangen?“

„Ich kann’s, Kathrin – red’ mir nit ab; wie ich’s mach’, das ist meine Sach! Ich bin ein arm’s schlecht’s Dirndel – ein Kind, das von seiner Mutter schon in der Geburt ist verleugnet worden, an mir ist nichts gelegen! Wenn ich mit mein’ lieben Herrgott in Ordnung bin, frag’ ich nit darnach, was die Leut’ von mir reden – aber vom Isidor … von meinem guten lieben Bruder, von dem braven Menschen, der meinetwegen im Unglück ist, soll Niemand eine schlechte Meinung haben – von dem soll kein Mensch ein unschöns Wörtl reden … Komm’ nur, Kathrin – ich stopf’ den Leuten die Mäuler!“

(Schluß folgt.)




Das schwäbische Wagenrennen.
Eine Scene aus dem Cannstadter Volksfest.
Mit Abbildung.

Straßenlärm vor dem Hotel, in dem ich gestern spät Abends Quartier genommen hatte, weckte mich. Ich stand auf und schaute zum Fenster hinaus, da waren schon in erster Morgenfrühe die Gassen der alten innern Stadt Stuttgart voller Menschen. Magnetisch zieht diese alle der eine Pol Cannstadt an. Um mich nicht gegen Schwaben zu versündigen, will auch ich mir das schwäbische Volksfest beschauen, das eben dort im Gange ist; rasch kleide ich mich an und rüste mich zur Wallfahrt mit den Tausenden von Wallern. Das Frühstück wird mit einer gewissen Eile servirt, denn offenbar wollen Köchin und Kellner ebenfalls zum Feste. Man bietet mir Programme und Druckschriften an und drängt mich zur Eile, wenn ich noch ein Plätzchen auf den Schaugerüsten finden wolle. Es ist ein herrlicher Morgen, so schön ihn nur der Herbst aufweisen kann, und ich eile hinaus aus dem engen Häusergewühl auf einen der rebenbepflanzten Hügel, welche das freundliche Stuttgart umgürten. Der Weg ist eine Landstraße und wimmelt von Fuhrwerken und Menschen; von den Bergen südlich der Stadt kommen Haufen von ländlichen Volksfestfahrern herab und leihen der wunderlieblichen Landschaft eine lebenvolle Staffage. Allen brennt die Sohle unter dem Fuße, alle Gesichter lachen und leuchten in Vorfreude. Was kümmert diese Menschen Staub und Hitze? sie amüsiren sich dennoch.

Am Bahnhofe wird das Gedränge lebensgefährlich. Zwar geht von Viertelstunde zu Viertelstunde ein riesiger Zug nach Cannstadt, das man in sechs Minuten erreicht, aber man reißt sich beinahe die Kleider vom Leibe, um zur Casse und gar erst in die Waggons zu gelangen. „Komm, Minele, mir ganget durch d’Anlaga!“ (Komm, Minchen, wir gehen durch den Park) flüstert ein blühendes reizendes Mädchen neben mir ihrer Freundin zu, und ich folge den Beiden. Ein schöner Park mit schattigen Baumalleeen und stattlichen Gruppen alter Bäume führt beinahe in gerader Richtung vom Königsschlosse nach Cannstadt. Auf allen Wegen des Parkes wogt der Menschenstrom; Jung und Alt, Arm und Reich, Herr und Magd schreitet rührig aus, noch einen guten Platz zu erlangen, um die Sehenswürdigkeiten zu schauen. Der Schlangenweg, dem wir folgen, biegt aus den Bäumen heraus, ein Stück staubiger Straße entlang, und vor uns entfaltet sich das hier weitgesprengte, von sanften Hügeln eingeschlossene Thal des Neckars. Auf zwei Hügelkuppen leuchten königliche Schlösser im goldenen Strahl der Frühsonne; am Fuß eines andern Hügels erhebt sich ein saracenischer Bau, eine Villa mit Gewächshäusern und Gärten in maurischem Styl – die sogenannte Wilhelma, eine Schöpfung des verstorbenen Königs. Zwei Stege führen über die Arme des fast versiechten Neckars, und mit einem Male reißt uns der drängende [759] Menschenstrom zwischen Jahrmarktbuden dem weiten Wiesenplan zu, welcher, der Mittelpunkt einer Landschaft von ausnehmender Lieblichkeit, wie geschaffen ist, um Hunderttausende von Festgästen aufzunehmen. Vor uns liegt die improvisirte Stadt von Bier-, Wein- und Kaffeebuden, von Zelten und Baracken mit Sehenswürdigkeiten, Schießständen, Pulcinellen, Bänkelsängern, dressirten Hunden, Tanzböden und der übrigen Zubehör aller Jahrmärkte und Volksfeste. Gaukler, Seiltänzer, Raritätenmänner schreien, unharmonische Musik ertönt, Staubwolken hüllen uns ein. Schulter an Schulter drängt die Menge zunächst in der einen Richtung hin, wo ein weiter Ring von hohen Schaugerüsten eingefriedigt ist, an dessen Umkreise sich noch ein Theil der Schau- und Schenkbuden hinzieht.

Tausenden und aber Tausenden behagt dies Hin- und Herwogen in blendendem Staub und betäubendem Lärm. Mich treibt es zwar auf eines der Gerüste zu gelangen, die gegen ein mäßiges Eintrittsgeld ihre schattenlosen Sitzplätze ohne Lehne den Schaulustigen eröffnen; aber ich sehe plötzlich zwei Bekannte vor mir, welche ostwärts abbiegen, und gelange, ihnen unbemerkt folgend, zu stattlicheren Gerüsten und zu einem luftigen Bau, den grüne Fichtenreiser bekleiden, während auf den Vorsprüngen, welche seine flache Bedachung unterbrechen, sinnige Verzierungen von Getreidegarben, Feld- und Gartenfrüchten, Thyrsusstäbe mit Wein- und Hopfenranken prangen und über dem Aufsatz der Mitte ein Obelisk oder Säulenschaft mit zierlicher bunter Bekleidung von Mais, Obstarten, Weintrauben, Kürbissen etc. sich erhebt, wie es die Abbildung zeigt. Dies ist die Tribüne der Centralstelle für die Landwirthschaft, wozu der Zutritt nur geladenen Gästen gestattet ist. Ihr Erdgeschoß ist eine nach Südwest geöffnete Halle zur Ausstellung von landwirthschaftlichen Erzeugnissen, Modellen und dergleichen und mit einer Nische für die mit der Leitung des landwirthschaftlichen Festes betrauten Beamten. Dieser Tribüne gegenüber, die wohl über hundert Schritt lang sein mag, hat man auf einer Estrade ein luftiges elegantes Zelt für die königliche Familie und den Hof errichtet. Eine Reitbahn von vielleicht dreißig Schritten Breite zieht sich zwischen den amphitheatralischen Schaubühnen und dem Festplatze hin, abgesteckt durch starke Pfosten mit Flaggen und dicke Taue. Nach innen hin theilen ähnliche Pfosten und Taue wieder concentrische Kreise und andere Bezirke ab, welche entweder zur Ausstellung von Preis- und Schau-Vieh, Rennwagen und Rennpferden, landwirthschaftlichen großen Maschinen und Geräthen dienen, oder Baracken und Zelte zu verschiedenen Festzwecken enthalten. Hier liegen lange Reihen von Pflügen, Eggen und anderen Ackerwerkzeugen neuester Construction, dort pustet und zischt eine Locomobile und setzt Dreschmaschinen und andere Hülfsmittel im Großgewerbe des Ackerbaues in Bewegung; dort drüben ist eine Art Hauptwache für die Gensd’armerie; dort eine Art Feldlazarett, mit Arzt und Apotheke gegen mögliche Unglücksfälle. Hier stehen wild und düster blickende riesige Bullen, dort wimmelt in Wagenkörben der zahlreiche Ferkelwurf kolossaler Schweine. Hier tänzeln wild und muthig, aber leicht und zierlich herrliche arabische Pferde von der edelsten Zucht aus den Privatgestüten des Königs; dort wiehern schwere Hengste vom Zugthierschlage, brüllen zierlich blumengeschmückte Färsen, oder blöken feinfließige scheue Schafe. Alles kann jetzt noch betrachtet werden, denn noch hat das Fest nicht officiell begonnen. Plötzlich aber erscheinen flinke Reiter in sehr hübscher Uniform mit niedrigen Bärenmützen und räumen das Innere des Kreises von Allen, die nicht officiell und officiös mit dem Feste zu thun haben.

Es ist jetzt hohe Zeit für mich, mir einen Platz auf dem Schaugerüste zu sichern. In der Stunde, welche ich mit Beschauen der landwirthschaftlichen Sehenswürdigkeiten verbracht, haben sich die hellen Gerüste ringsumher mit dichten dunklen Menschenmassen bedeckt. Nur mit Mühe erkaufe ich mir noch einen Stehplatz auf der obersten Stufe eines Gerüsts in der Nähe der Festtribüne; reizende, blühende Mädchengesichter in meiner Nähe rechtfertigen den Ruf von dem Liebreiz der Schwäbinnen, verrathen jedoch Ungeduld und Erwartung. Die Sonne brennt mit Hundstagsgluth und gegen den Gebrauch der Sonnenschirme protestiren die an der Aussicht verkürzten Nachbarn. Die Verkäuferinnen von Obst und köstlichen Weintrauben circuliren auf den Gerüsten, machen gute Geschäfte und erlangen fabelhafte Preise. Die Sonne rückt dem Zenith näher, die Ungeduld wächst und man blickt forschend nach dem Königszelt, das sich allmählich mit den Angehörigen des Hofes füllt, ob denn die Majestäten noch nicht kommen. Mir ist der Aufschub nicht unerwünscht: von unserm Standpunkte herab kann ich mit Muße das wundersam liebreizende, reiche Gelände betrachten, in dessen Mittelpunkt ich mich befinde. Ein unsäglicher Zauber stiller Anmuth liegt auf diesem Schwabenlande und seinen weichen Hügelformen. Dort nach rechts, wo die Budenstadt sich hindehnt, ist Staub und Qualm, Gewühl, Lärm und Unruhe. Hier nach links, das freundliche Thal hinauf, sind heitere Ruhe, holder Friede, idyllische Anmuth; bunte Tinten von Gelb, Roth und Braun verweben sich in das Grün von Obstwald, von Forst und Weinberg; goldene Lichter lagern auf dem wasserarmen Fluß, seinen weißen Kiesbänken, auf den verdorrten Wiesen und dem braunen Stoppelfeld; in fleckenloser Reinheit blaut der milde Himmel, und in der Luft zittert ein feinflimmernder silberner Duft, welcher mich an Florenz und sein weites schönes Thal erinnert. So im Naturgenuß versunken, höre ich nur mit halbem Ohr auf die Scherze und gutmüthigen Neckereien, womit die Nachbarn die Zeit des lästigen Harrens vertreiben.

Horch, ein Schmettern von Fanfaren! ein lautjubelnder Hochruf! Reiter sprengen heran: der König und sein Gefolge; Galawagen dringen in den Kreis, dahinter ein Geschwader von Reitern in kleidsamer Uniform halb russischen, halb französischen Schnitts: die Stuttgarter berittene Bürgerwehr, die nach altem Brauch ihrem Landesherrn das Festgeleite giebt. Zwei Musikcorps spielen abwechselnd auf der Tribüne. Der König setzt sich zu Pferde, reitet an dem preisgekrönten Schauvieh vorüber und besichtigt die Maschinen; der Blick von Tausenden folgt ihm vergleichend, ob er es auch mache, wie sein Vater, der vierundvierzig Jahre lang dieses Fest besuchte. Die Sache wird aber bald langweilig, wie alles Officielle. Sobald der König die Thiere besichtigt, setzen sie sich in Bewegung, die ganze Rennbahn zu umkreisen, damit er männiglich sie im Vorüberzuge mustern kann, bis ihre Eigenthümer oder Züchter, vor dem königlichen Zelte angekommen, aus der Hand der Beamten den ihnen zuerkannten Preis in goldenen und silbernen Medaillen und gemünztem Gold in Empfang nehmen.

Ist dies vorüber, so bemächtigt sich der Zuschauer eine gewisse fieberische Hast. Die Rennen beginnen, für die meisten Schaulustigen der wesentlichste Anziehungspunkt. Heute rennen nur Pferde von einheimischer Zucht, morgen aber ist ein „Herrenrennen“, vom Würtembergischen Wettrennverein arrangirt. Ich hätte nie geglaubt, daß man einem so bedächtigen und relativ nüchternen Volksstamme, wie dem schwäbischen, eine solche leidenschaftliche Vorliebe für den Turf beibringen könne, wie sie sich nun bei jedem Alter und Geschlecht offenbarte. Als die Renner zur Schau vorbeiritten, welche Theilnahme, welche Discussion! Man stritt, man wettete. Dann das Rennen selbst, wo die Reiter die Bahn, welche ungefähr eine Strecke von einer englischen Meile (2000 Schritten) einnehmen mag, dreimal durchmessen müssen, was in unglaublich kurzer Zeit geschah. Hierauf folgte das weit unterhaltendere Wagenrennen im Trabe auf leichten, einspännigen Karren, ein Schauspiel, um dessen willen ich hauptsächlich das Fest besuchte, das alle Zuschauer wahrhaft elektrisirte und zu lebhaften Erörterungen Anlaß gab, ob der blaue oder der weiße, der rothe oder der orangegelbe Wagen den Sieg davontrage.

Es war aber auch eine Lust, zuzusehen, wie diese Wirthe, Bäcker, Metzger und Bierbrauer aus Cannstadt und der Residenz, sowie die Bauern aus dem Strohgäu und von der Alb mit ihren zum Traben eingeschulten Pferden als Kutscher excellirten und einander den Siegespreis streitig machten. Bei diesem Wagenrennen ist die Bestimmung getroffen, daß die Preise nur im Trab gewonnen werden können. Die Controle hierüber führte ein stattlicher Reiter in schmuckem Habit, wie ich höre, ein Bereiter von einem königlichen Gestüt. Den ersten Preis gewann ein Wirth aus Cannstadt mit einem feurigen Originalaraber, welcher seinen Nebenbuhler, einen stattlichen Bauersmann aus dem Strohgäu, zur Freude seiner zahlreich vertretenen Cannstadter Freunde um eine erkleckliche Strecke überholte. Die glücklichen Sieger wurden von der Menge mit lautem Jubel begrüßt, indessen den später Ankommenden ein minder beneidenswerthes Loos zu Theil wurde; man sah sie alsbald mit trübseligen Gesichtern seitwärts fahren, das Fest verwünschend, an dem ihnen statt Preis und Ehre spöttisches Lächeln und höhnender Empfang zu Theil wurden. Mehr Mitleid übrigens, als die letzten Ankömmlinge unter [760] den Wagenlenkern (zwei junge Metzgermeister aus Stuttgart), erregte bei mir eine stattliche Turnerschaar, welche unmittelbar nach den Rossen um den Ehrenpreis als Schnell- und Dauerläufer zu buhlen hatte, – sie ist heuer zum ersten Male auf dem Cannstadter Rasen als Preisbewerber erschienen und wird sich hoffentlich nicht wieder produciren.

Der übrige Verlauf des Festes bot für mich des Interesses weniger; überdieß ist er auch schon so oft geschildert worden, wie ja die Würtemberger Zeitungen alle Jahre die ausführlichsten Berichte darüber in die Welt senden„ daß ich mir selbst das Anschauen und den Lesern der Gartenlaube die Beschreibung der weitern Festlich­keiten füglich erlassen konnte.




Die Indianer beim Lachsfang.[1]
Mittheilung eines Deutschen aus dem fernen Westen Nordamerikas.

Wer von den Hunderttausenden der Leserinnen und Leser der Gartenlaube wird nicht mit innerem Wohlbehagen an manches saftige Gericht eines marinirten, geräucherten oder gebratenen Lachses denken, jenes seltsam erzogenen Kindes der Wasser, dessen röth­liches Fleisch uns hungrigen Sterblichen oft so einladend, so delicat und so poetisch entgegenlächelt – wenn er die Ueberschrift dieser aus fernem Welttheil über den halben Erdball herübergewanderten Skizze liest?

Ein echter Weltbürger, hat sich unser rosiger Fisch fast auf der ganzen nördlichen Hemisphäre eingebürgert und ist jetzt auch schon auf Entdeckungsreisen nach südlichen gemäßigten Zonen begriffen. Die tropischen Meere dagegen scheinen seiner durch ein kälteres Klima gekräftigten Constitution nicht zuträglich zu sein.

Nicht zufrieden mit dem weiten Reiche der salzigen Tiefe, eilt er alljährlich unzählige Ströme hinauf und gewährt die bei Fischen äußerst selten vorkommende Erscheinung, daß er abwechselnd im Salz- und im Süßwasser leben kann. Ein unermüdlicher See­fahrer, vor keinen Hindernissen zurückschreckend, scheint er sich dort am wohlsten zu fühlen, wo es gilt, Hunderte von Meilen stromaufwärts zu dringen, wilde Katarakte hinanzuspringen und sich durch brausende Stromschnellen, zwischen zerrissenen Felsmassen hindurch, einen Weg vom Meere bis in die fernsten Gebirge hinauf zu suchen, um dort, in idyllischem Stillleben, die Sorgen der Fortpflanzung seines Geschlechts zu übernehmen.

Alljährlich zieht er so von den Meeren die verschiedenen Stromläufe hinan, mit einer bewundernswerthen Energie die sich ihm entgegenstellenden Hindernisse bewältigend. Durch Stemmen des Schwanzes gegen das Wasser schnellt er sich mitunter bis zu vierzehn Fuß hoch empor und springt oft in langem Bogen über Fel­senriffe oder künstliche Wehren hinüber. Auf Island durchschwimmt er sogar, nach Faber, mineralische, schwefelhaltige und milchwarme Gewässer, um zu seinen Laichplätzen zu gelangen, die er mit Sicherheit wiederfindet.

Wie Amerika das alte Europa in der Natur an Ungeheurem überbietet, an riesigen Waldungen Horizonte auf Horizonte umfassenden Prairieen, endlosen Strömen, so auch mit unserm rosigen Segler der feuchten Tiefe, der hier in Heeressäulen stromaufwärts dringt, gegen welche die Armeen seiner transatlantischen Brüder wie Corporalswachen gegen die Völkerwanderung erscheinen. Hier am fernen nördlichen Stillen Ocean, von Japan im großen Bogen bis zum goldnen Thor bei St. Francisco, scheint er seine Haupt­reserven concentrirt und sich den Columbia, diesen Strom endloser Wildniß, dessen grünliche Wogen zwischen den golddurchflochtenen, nackten Gebirgen des unerforschten Oregon hinbrausen, als seine Hauptheerstraße auserwählt zu haben. In der Nähe der Insel Vancouver, am Puget Sound (Piudschet Saund), einem vielver­zweigten Meeresarme, der sein Salzwasser bis auf mehr als vierzig deutsche Meilen in das Innere des Territoriums Washington ergießt, und am Frazerflusse findet man den Lachs, von dem man in Amerika bis jetzt siebenzehn verschiedene Arten kennt, in solchen Mengen, daß ihre Zahl alle Begriffe übersteigt. Hat man dort mit einem einzigen Netzzug doch schon dreitausend gefangen! Für die an dieser Küste wohnhaften Indianer bilden die Lachse fast ausschließlich den Lebensunterhalt, Sollte der Fisch einmal seine jährlich wiederkehrenden Wanderungen die Stromläufe hinauf einstellen, so würden die Rothhäute geradezu verhungern müssen.

In den Jahren 1853 und 1854 machte man den Versuch, diese amerikanischen Lachse auf die Hauptweltmärkte zu bringen. Große Massen derselben wurden nahe der Mündung des Columbia und einhundert und zwanzig Seemeilen weiter oberhalb, bei den Stromschnellen der Cascades eingefangen, gesalzen und in’s Ausland verschifft. In neuerer Zeit hat man großartige Lachspackereien bei Astoria errichtet und es leidet wohl keinen Zweifel, daß der Lachsfang, systematisch betrieben, diesem fernen Westen dereinst von unberechenbarem Nutzen sein wird. Ehedem, als die bekannte Hudsonsbay-Company noch ihre Pelz- und Handelsdepots in Oregon hatte, war der Lachshandel zwischen genannter Compagnie und den Indianern sehr bedeutend. Jetzt fangen die Indianer sie meistens zum eigenen Gebrauche, essen sie frisch und bewahren sie als Wintervorrath auf, versorgen auch die Städte und nahegelege­nen Ansiedelungen der Weißen damit, was ihnen noch immer einen erklecklichen Erwerb abwirft.

Im Monat Juli ist die Hauptsalmenernte der Indianer. Es war Ausgangs dieses Monats und noch dazu blauer Montag, also ein Tag, an welchem ein guter Bürger sich Etwas zu gute thun soll; ich schlug daher einem wanderlustigen Freunde vor, zur Erholung von den Anstrengungen des Geschäftslebens einmal eine kleine Vergnügungstour zu machen und die etwa sechs englische Meilen oberhalb Dalles in Oregon gelegenen Fälle des Columbia (The Dalles) zu besuchen, bei denen die Indianer ein Sommer­lager zum Lachsfang aufgeschlagen hatten, um die Herren Rothhäute beim Fischfang dort persönlich zu beobachten,

Gesagt, gethan! Das Wetter war allerdings etwas windig, – leider ein unverbesserlicher Naturfehler dieser Gegend – und die Staubwolken zogen wie Höhenrauch das wilde, von fast aller Vegetation entblößte und von nackten Bergen eingeschlossene Thal des Columbia hinauf; aber daran hatte ein längerer Aufenthalt im goldenen Oregon uns gewöhnt und wir hätten lange warten können, bis es hier einmal nicht wehte. Da das Wetter sonst zu einem Marsche über die Berge einladend und nicht zu warm war, so konnte der Wind uns nicht von unserem Ausfluge ab­halten.

Bald hatten wir den nöthigen Proviant in Gestalt solider und flüssiger Magen- und Herzstärkungen eingelegt, eine wichtige Vorsichtsmaßregel, da wir uns nicht bei den Wilden zu Lachs und Heuschrecken zu Gaste einzuladen wünschten und dort auch keine Hôtels zu erwarten waren. Die goldgelben Meerschaumpfeifen wurden mit echtem Virginia gestopft, mein wanderlustiger Freund nahm seinen knorrigen Ziegenhainer und ich meinen Gemsenstock, dessen Heimath auf den silbernen Alpen am Weißen Berge ist, zur Hand, die Pfeifen wurden angesteckt, und lustig ging’s, blaue Wolken emporwirbelnd, den Staubwolken zum Trotze, die uns umhüllten, auf dem Eisenbahndamm dem Ufer des Columbia ent­lang, dem Lager unserer rothen Freunde entgegen.

Der Weg auf diesem allen deutschen Eisenbahnbauten Hohn sprechenden, unebenen und in fortwährenden Biegungen sich hin- und herschlängelnden Eisenbahndamm war entsetzlich holprig. Besonders unangenehm war die Passage über ein paar luftige, sehr wackelige Holzbrücken, welche wir jedoch, ohne einen weiten Umweg über die mit Felsgeröll bedeckten Berge zu machen, nicht wohl vermeiden konnten. Der Leser denke sich eine Holzbrücke, die an sechszig Fuß hoch einen über Felsen dahinbrausenden Wasserlauf ein paar hundert Schritte weit überspannt. Schritt für Schritt mußten wir von einer Schienenschwelle zur andern, die mitunter un­angenehm weit auseinander lagen – auf einer Stelle vier bis fünf Fuß weit von einander entfernt – über den Abgrund [761] schreiten, dabei ab und zu von heftigen Windstößen berührt, mit einer höchst romantischen Aussicht in die felsige Tiefe unter uns, die sich zwischen den Schienenschwellen aufschloß. Gewiß wird er uns verzeihen, daß wir vorsichtshalber unsere Meerschaums in die Taschen steckten, bis wir wieder auf festem Boden anlangten!

Rüstig weiter marschirend, begegneten wir öfters Indianern in bunt-liederlichem Costüm, zu Fuß und zu Roß – meistens zu Zweien auf einem Pony reitend – mit Packpferden im Gefolge, welche mit Binsenmatten, aus denen die Rothhäute ihre Hütten bauen, mit allerlei Apparaten zum Fischfang und muk-a-muk (Eßwaaren) beladen waren. Auf unsere wiederholte Anfrage, ob es in diesem Jahre viele Lachse im Columbia gebe, erhielten wir jedesmal die freudige Antwort: „na-wit-ka! hei-ù samon, sicks!“ (Ja, ungeheuer viele Lachse, mein Freund!)

Wenn man glaubt, daß die Indianer heutzutage den prächtigen Heldengestalten aus Cooper’s Romanen oder denen aus Longfel­low’s „Hiawatha“ auch nur im Allermindesten ähnlich sind, so thut es dem Verfasser leid, solche Phantasie durch Darstellung der Wirklichkeit grausam enttäuschen zu müssen. Anstatt jener stolzen Söhne der Wildniß, mit muthblitzenden Augen, prächtig tättowirt und mit Pantherfellen und buntgestickten Togas geschmückt, findet man vielmehr wahre Jammergestalten, ungewaschen und unge­kämmt, in Kleidern, gegen welche die eines italienischen Lumpensammlers Galaanzüge sind, Geschöpfe, die vor Schmutz und Unge­ziefer buchstäblich umkommen, und mit nichtssagenden, stieren Blicken und verdummten Gesichtern öfters halb blödsinnig aussehen, trotzdem aber in allen Kniffen des Diebshandwerks- außerordentlich bewandert sind.

Wer an die holde Min-ne ha-ha (lachendes Wasser) des Dichters Longfellow denkt und dann eine dieser Squaws (Indianerfrauen) betrach­tet, welche von der schmutzigsten Zigeunerin verächtlich über die Achsel angesehen werden möchten, der wird sich eines Seufzers über den Verfall der Indianerrace nicht enthalten können oder vielleicht arg­wöhnen, daß die Herren Cooper und Longfellow ihre Indianer durch magisch verschönernde Brillen angeschaut haben, was – im Vertrauen sei’s gesagt – nach des Verfassers bescheidener Ansicht gar nicht so unwahrscheinlich ist.

Der Boden, über den wir hinschritten, wimmelte von Crickets (eine Heuschreckenart), welche in diesem Jahre hier zu Lande eine wahrhaft ägyptische Plage und den wenigen Farmern, die um Dalles herum ansässig sind, ungeheuren Schaden auf den Feldern zufügen. Die Seiten der Berge waren ganz lebendig von diesen sich sämmtlich nach einer Richtung mit eleganten Seitensprüngen fortbe­wegenden Heuschrecken. Für die Indianer sind die Crickets ein wahrer Gottessegen, da sie dieselben für eine große Delicatesse hal­ten; – und manche Squaw sahen wir, die sich eifrig bückte und ihrem solche Arbeit verschmähenden Gemahl eine Hand voll der lustigen Springer als Imbiß einfing, welche er dann, die Lippen schnalzend, mit Haut und Haaren verzehrte.

Je mehr wir uns dem Indianerlager näherten, um so wilder ward die Gegend. Schwarze, lava- und basaltähnliche Felsmassen lagen in wüstem Chaos über- und durcheinander, immer lauter brauste der Columbia und stürzte sich schäumend durch sein zerris­senes Felsenbett, und der Wind, der sich augenscheinlich bemühte, uns umzublasen und aus allen Ecken des Himmels zugleich zu wehen schien, brachte manchen ungalanten Fluch beinahe bis auf unsere Lippen. Daß die Indianer den Schauplatz einer uralten Teufelssage, nach welcher der Böse, von grimmigen Feinden be­drängt, diese Berge mit seinem Schwanze auseinanderschlug, um sich durch die Oeffnung hindurch zu retten, hierher verlegt haben, macht der Phantasie der Rothhäute alle Ehre.

In der Felsenwildniß vor uns gab’s Schaaren von Indianern, alle waren fleißig beschäftigt beim Fangen und Zubereiten der Lachse zum Wintervorrath. Rothe Männer standen mit langen Stangen und Netzen am Rande der zahlreichen, engeren Stromschnellen und ihre Ehe­hälften schleppten die gefangenen Fische weiter hinauf auf’s Trockene oder nach den Binsenhütten, wo sie dieselben in der Sonne und am Feuer dörrten, räucherten, das Fleisch von den Gräten schabten und zerstampften. Fischgräten und halb in Fäulniß übergegan­gene Salmen lagen, wo man nur hinsah, und wenn der Wind die Luft von den pestilenzialischen Gerüchen nicht etwas gereinigt hätte, so wäre es für civilisirte Nerven geradeweg nicht zum Aus­halten gewesen. Aber auch so verging mir der Appetit zum Lachsessen auf lange Zeit!

Vorsichtig schritten wir über die von Lachsfett schlüpfrigen, schwarzen Felsmassen, es möglichst vermeidend, auf die zahllosen Gräten, Rogen und zerrissenen Fische zu treten, um zunächst an den Rand der Stromschnellen zu gelangen und die rothen Herren Fischfänger dort zu besuchen. Am Felsenufer eines etwa zwanzig Schritte breiten Canals machten wir Halt, durch den sich die wilden Wasser, wie toll über- und durcheinander stürzend, hinzwängten und entlang tobten, mit einer Gewalt, daß es fast unglaublich schien, wie es den Fischen möglich ward, dagegen anzuschwimmen.

Eine Gesellschaft von Rothhäuten im Feigenblätter-Costüm die sich zum Fischfang am Rande des Canals zu beiden Seiten entlang postirt hatten, begrüßten uns mit einem freudigen „Kla-hoim, sicks!“ (ich grüße Dich, mein Freund!) offenbar sehr geschmeichelt, daß die bleichen Gesichter sie besuchten, um ihre Geschicklichkeit im Lachsfang zu bewundern.

Die meisten der Indianer hatten lange, am untern Ende mit Eisenhaken versehene Stangen in den Händen. Auf Gerathewohl steckten sie diese Stangen in’s wild brausende Wasser und zogen sie, einen kurzen Ruck damit gegen die Strömung machend, augenblicklich wieder heraus. Alle paar Minuten zappelte ein Fisch am Haken, der lose an der Stange sitzt und abrutscht, sobald ein Lachs daran steckt, und wurde vermittels einer am Haken befestig­ten Schnur auf’s Trockene geschleudert, wo man ihn mit einem kurzen Knüppel unbeholfen auf den Kopf schlug und vorläufig be­ruhigte.

Hunderte von Indianern waren auf diese Weise dem Rande der zahlreichen Stromschnellen entlang in Thätigkeit, und wenn ich hinzufüge, daß der Lachsfang dergestalt Monate lang ununter­brochen fortgesetzt wird, so wird der Leser wohl über die Zahl dieser Salmen-Heerschaaren erstaunen, welche in jedem Sommer den Columbia hinaufziehen.

In den Höhlungen zwischen den Felsplatten lagen hie und da die Lachse haufenweise aufgeschichtet, wo sie beim Fallen des letzten hohen Wassers sitzen geblieben waren und nicht wieder in den Strom zurückgelangen konnten. Da bei den Indianern jedoch der Aberglaube herrscht, daß der Große Geist es ihnen verbietet, diese unglücklichen Lachse zu benützen, so bleiben dieselben ruhig dort liegen, bis sie in der Sonne in Fäulniß übergehen und vertrocknen, wobei sie buchstäblich in ihrem eigenen, durch die Hitze herausbratenden Oele schwimmen.

Einige der Indianer fingen die Lachse in Handnetzen, welche sie ab und zu in’s Wasser warfen, mit der Strömung hinunter­ gleiten ließen und dann wieder herauszogen; beiweitem die größere Zahl jedoch benützte die oben erwähnten Hakenstangen. Angeln werden gar nicht gebraucht, da die Lachse nicht anbeißen, indem sie auf der ganzen Reise, vom Meere bis nach den Felsengebirgen hinauf, gar nichts fressen.

Ein paar alte Bekannte unter den Indianern waren so freund­lich, uns auf eine Zeit lang ihre Hakenstangen zu überlassen, damit auch wir unser Glück im Salmfang versuchen könnten. So einfach es nun auch aussah, die muntern Fische aus dem Wasser herauszuholen, so stand uns doch der Schweiß in großen Tropfen auf der Stirn, ehe es uns gelingen wollte, einen der Fische mit dem eisernen Haken unterm Bauch zu fassen zu bekommen.

Vor Freude emporspringend, endlich einen erwischt zu haben kam ich auf der glitscherigen Felsplatte plötzlich in eine sitzende Positur, und als ich mich wieder aufgerichtet hatte und den gewaltig an der Schnur zappelnden schmucken Burschen mit einem graziösen Ruck auf’s Ufer schleudern wollte, da – Hohn des Schicksals! – schnellte der Fisch zu meinem nicht geringen Aerger vom Haken wie­der in’s Wasser hinunter, um seine Reise nach den Felsengebirgen fortzusetzen, was meinen rothen Freunden ein homerisches Geläch­ter entlockte. Glücklicher war mein Begleiter, der so lange fortfuhr auf gut Glück im Wasser herumzuhaken, bis er einen sku-kum (gewaltigen) Fisch herausgeholt den ich, ihm zu Hülfe springend, mit einem freundschaftlichen Knüppelchen reglementmäßig über den Styx beförderte.

Unsern sku-kum Fisch, der an zwanzig Pfund schwer sein mochte, dem tei-i (Häuptling) überlassend verabschiedeten wir uns von den rothen Männern am brausenden Columbia und wanderten nach den ein paar hundert Schritte vom Ufer entfernt gelegenen Indianerhütten, um den reizenden Squaws dort einen Freund­schaftsbesuch abzustatten.

[762] Da lagen sie in poetischem Negligé unter den langen Binsenmatten-Hütten, romantisch gruppirt und in zerlumpten Gewändern, sammt und sonders mehr oder weniger fleißig bei der Arbeit, die frisch eingefangenen Salme zum Wintervorrath zuzubereiten. Als Kopfbedeckung trugen sie aus Binsen geflochtene Hüte, die wie das stumpfe Ende eines halb durchgeschnittenen Zuckerhutes aussahen, nur etwas gelber und dabei schwarz geädert. Diese Hüte sind wasserdicht und werden auch noch als Kochtöpfe benutzt. Man füllt sie mit Mehlbrei und wirft einen glühend heißen Stein hinein; wenn dann die Speise gahr ist, dienen sie auch noch als Eßschüsseln.

Behutsam, um nicht etwa die Bekanntschaft zudringlicher kleiner Hautkneifer zu machen, von denen diese Indianerwohnungen wimmeln, hoben wir eine der Binsenmatten von der Seitenwand der Hütte und nahmen auf einem losen Basaltblock Platz, indem wir uns von jeglicher Berührung mit indianischen Toilettengegenständen fern hielten. Unter dem niedrigen Dache der Hütte hingen an unzähligen Querstangen auseinandergeschnittene, gedörrte und geräucherte Salmen, aus denen die Eingeweide und Gräten entfernt waren, in Reihen nebeneinander, die kleinen und großen hübsch sortirt, deren liebliches Aroma und appetitliches Aeußere einem Lucull sicherlich das Wasser auf die Zunge gebracht haben würden. Die Kiemen und Kiefern, jede Sorte für sich, hingen als besonders delicater muk-a-muk getrennt von den Fischen an besonderen Stangen. Neben uns stampfte ein Squaw-Fräulein getrocknetes, von ihren Schwestern mit den Fingern kleingerissenes, röthliches Lachsfleisch in einem großen, mit Bärenfell überzogenen Steinmörser zu Pulver, aus welchem mit Zuthat von Eichelmehl delicate Kuchen gebacken werden.

Nachdem die Lachse gehörig getrocknet und geräuchert oder auch pulverisirt sind, werden sie in Körben und Matten zum Wintervorrath fest verpackt. Salz zum Aufbewahren der Fische wird von den Indianern wenig oder gar nicht gebraucht. Um das Fleisch leichter von der Haut und den Gräten abzulösen, werden die frischgefangenen Salmen zuerst im Freien auf einer Felsplatte ein paar Stunden lang dem brennenden Strahl der Mittagssonne ausgesetzt und dort so lange liegen gelassen, bis das Fett unter der Haut zu schmelzen beginnt; worauf die zarten Hände der Squaws die Fische auseinanderreißen und das Fleisch von der Haut und den Gräten mit einem Stück Holz herunterschaben – ein äußerst appetitliches Schauspiel!

An mehreren Stellen brannten oder vielmehr qualmten in der Hütte Holzstöße, über denen in Hälften zertheilte Lachse geräuchert wurden. Das dazu nöthige Holz wird von einer eigens dazu angestellten Squaw-Abtheilung aus einer Entfernung von mehreren englischen Meilen in Bündeln herbeigeschleppt, da nahe den Fällen des Columbia weder Baum noch Strauch gedeiht.

Während wir unsere Siesta auf dem Basaltblock vor der Hütte hielten, langte gerade eine Abtheilung solcher Holzträgerinnen im Lager an. Ein über die Stirn geschlungenes breites Band hielt die auf gebogenem Rücken getragene Last. Im Gänsemarsche kamen diese Squaws von den Bergen herunter und über die Felsen daherspaziert und bildeten in ihren zerlumpten Kleidern, aus deren Falten hier und da halb untergegangene Crinolinen verschämt hervorguckten, den mit Kochtöpfen bedeckten Köpfen und mit chinesischem Vermillon geschmackvoll decorirten Gesichtern eine äußerst reizende Gruppe. Eine andere Abtheilung von Squaws schleppte die von ihren Herren eingefangenen Salmen von den Stromschnellen herbei; der Rest der weiblichen Gesellschaft war, wie bereits erwähnt, beim Zubereiten der Fische in und bei den Hütten beschäftigt, so daß das ganze Lachsgeschäft ordnungsmäßig ineinandergreift.

Die Herren Rothhäute überlassen alle diese Geschäftssorgen ausschließlich ihren fleißigeren Ehehälften und vertreiben sich die Zeit beim Lachsfang oder auch mit Rauchen, Essen und Schlafen, da sie die Arbeit eines Mannes unwürdig und für eine Schande erachten.

Im Innern der Hütte krochen eine Menge junger Indianer beiderlei Geschlechts auf dem Boden umher, von denen die kleinsten, welche eben erst zu sprechen (wa-wa) lernten, mit bunten Glasperlen und messingnen Ringen spielten oder mit kleinen Glocken (ting-tings) klingelten, indeß die älteren theils ihren Müttern beim Reinigen der Lachse halfen, theils die Anfangsgründe der Malerkunst auf ihren gegenseitigen Gesichtern mit flammenden Farben zu bemeistern suchten. Trotzdem alle Squaws mehr oder weniger beschäftigt waren, sah man ihnen doch in jeder ihrer Bewegungen die der rothen Race angeborene Trägheit an. Sogar die Hunde, wahre Scheusale von Häßlichkeit, mit struppigem Haar und weinerlichen Augen, schienen von der Faulheit der Indianer angesteckt zu sein und das Bellen ganz und gar verlernt zu haben. Eine Squaw-Matrone, welche sich die Runzeln im Gesicht mit feuerrothem Zinnober nach den Regeln der Wissenschaft linirt hatte, brachte uns ein pikant duftendes Gericht von Salmen und Heuschrecken in ihrem Hut als muk-a-muk und lud uns mit gewinnenden Blicken ein, nicht blöde zu sein, sondern nur tüchtig zuzugreifen. Unhöflicher Weise wiesen wir indeß die Einladung zurück und regalirten uns statt dessen mit unserm von Dalles mitgebrachten Boston-man muk-a-muk (Essen für Weiße).

Die meisten der Indianer, welche in dieser Gegend jeden Sommer beim Lachsfang beschäftigt sind, kommen aus weiter Ferne, sowohl aus Oregon als aus dem Territorium Washington, zum Theil bis zu zweihundert englische Meilen weit her, um sich den unentbehrlichen Wintervorrath einzufangen. Da jeder Stamm einen ihm eigens angewiesenen Platz zum Fischen hat, den er mit ängstlicher Genauigkeit inne hält, so geben die in zahlreichen Gruppen zerstreuten Indianer dem ganzen Bilde einen äußerst lebendigen Anstrich. Von der Regierung der Vereinigten Staaten sind ihnen die Fischereien an den Fällen des Columbia durch besondern Vertrag vorbehalten worden, und es ist den Weißen verboten, dort zu fischen. Wäre es diesen erlaubt, sich beim Fischfang an den Fällen zu betheiligen, so würde die Lachsernte hier Resultate liefern, deren Zahlen in’s Unglaubliche gehen möchten, denn es wäre ein Leichtes die halbe Armee der Salme bei ihrem Marsche den Columbia hinauf mit Stellnetzen in den Stromengen einzufangen.

Nachdem wir unsere Meerschaumpfeifen ausgeraucht hatten, beschenkten wir die Töchter der Wildniß mit bunten Glasperlen und hei-u Tabak und nahmen würdig mit Handschütteln von ihnen Abschied. Einigen trägen Hunden, die uns nicht aus dem Wege gehen wollten, waren wir genöthigt, unsanfte Fußtritte zu geben, was sie jedoch kaum zum Aufstehen bewog, bis das allgemeine Geschrei von „Dschu! Dschu!“ (das indianische Wort für „Hund“) sie in Bewegung setzte. Durch die Felsenwildniß, denselben Weg, den wir gekommen, wanderten wir langsam zur Stadt zurück.

Von den Schienenschwellen auf der nächsten, an siebenzig Fuß hoch überm Wasser schwebenden hölzernen Eisenbahnbrücke herab hatten wir eine recht interessante Niederschau auf ein Dutzend tief unter uns wie Enten im Wasser umherschwimmender Squaws, denen wir so lange zuschauten, bis das sich schnell nähernde Donnergetöse des von Celilo kommenden Bahnzugs uns ermahnte, statt die Schwimmkünste der braunen Nixen zu kritisiren, lieber an unsere Sicherheit zu denken und uns so schnell wie möglich von der gefahrdrohenden Brücke herunter zu begeben. Kaum hatten wir diese glücklich hinter uns, als der Bahnzug, gedrängt voll von biedern Goldgräbern, die, mit Goldstaub beladen, vom obern Columbia und von Boise kamen, bei uns vorbeiraste, dem wir dann möglichst schnell nach Dalles folgten, um von den braven Goldjägern noch vor Abend möglichst viel schnöden Mammon für elegante Kleidungsstücke einzutauschen - denn, auch das soll der Leser wissen, wir sind die glücklichen Besitzer eines Stores, d. h. einer Niederlage für Alles, im fernen Westen.

     Aus dem Staate Oregon, Ende Juli 1865.

Theodor Kirchhoff.




Ein verfassungstreuer Kriegsminister.
Von Schmidt-Weißenfels.

Im September des Jahres 1848 war die politische Stimmung in Berlin eine äußerst erregte. Das Hoffen hatte den Befürchtungen Platz gemacht, ein tiefes Mißtrauen beherrschte die Gemüther, die Masse des Volks hielt sich für betrogen und ließ den Unmuth, den die Furcht gebiert, bereits an der Nationalversammlung aus, welcher alle moralische Souverainetät überlassen [763] worden war, ohne daß sie jedoch irgend welche physische Macht in Händen besaß. Sie selbst, von welcher das Volk Alles erwartete, fühlte sich gelähmt und war unfähig, einer peinlichen Situation zu entgehen. Der Hof und seine große Partei standen ihr in feindseliger Kälte gegenüber und belehrten sie, daß ihre Arbeit eine nutzlose sein werde; die Armee haßte die Nationalversammlung, weil diese den Stein’schen Antrag angenommen, wonach den Officieren die reactionäre Agitation verboten wurde; die Zeichen gaben sich kund, daß diese feindlichen Elemente einen Schlag gegen sie vorbereiteten und daß ein Gewitter langsam drohend heraufziehe. Andererseits waren die Berliner nur zu sehr geneigt, die Nationalversammlung dafür verantwortlich zu machen, daß die Verfassung noch nicht proclamirt, Preußen noch kein fertiger constitutioneller Staat, die Reaction nicht ohnmächtig gemacht worden sei.

Da äußerte sich auch plötzich eine Thatkraft des bisher förmlich resignirten Hofes. Das Ministerium Kühlwetter-Auerswald-Rodbertus hatte seine Entlassung genommen – man ließ es fallen ohne Bedauern, weil es im Sturm der Sommerzeit wie ein Rohr hin- und hergeschwankt. Aber desto gespannter wartete man auf die Ernennung des neuen Ministeriums. Hoffen und Fürchten hielten sich acht Tage lang die Wage. Man wußte, daß Beckerath mit dem Könige unterhandle; man hörte, daß sein Programm verworfen sei. Was nun? Das Mißtrauen wuchs; man fühlte das Nahen einer Krisis. Und nun vernahm man gleichzeitig die Ernennung Wrangel’s zum Obercommandanten in den Marken, eine Stellung, die nach militärischen Maßnahmen gegen Berlin aussah; die drohende Ansprache des Generals an die Berliner Bürgerwehr mit der Hinweisung auf die Kugeln im Lauf der Gewehre und die haarscharf geschliffenen Säbel seiner um die Hauptstadt gelagerten Truppen; die ganz ähnliche drohende Proclamation des Grafen Brandenburg an die schlesischen Truppen, und endlich die Ernennung eines Generals, des Herrn von Pfuel, zum Ministerpräsidenten und Kriegsminister. Es war klar, daß eine Militärregierung ihren Anfang genommen hatte und ein System in Wirksamkeit treten sollte, welches die Reaction während ihrer Zurückgezogenheit seit Monaten klug ersonnen. Bestürzung war denn auch der erste Eindruck dieser Nachrichten und Niemand ahnte Gutes, als am 21. September der General von Pfuel in das Ministerhôtel einzog. Lag es nicht allzu nahe, daß er der ausgesuchte Mann sei, den Proclamationen Wrangel’s und Brandenburg’s den rechten Inhalt zu geben? Mußte man nicht glauben, daß mit der unverkennbar eingesetzten Militärregierung Herr von Pfuel die Mission übernommen habe, die Reaction mit Thaten zu beginnen?

Je größer Furcht und Mißtrauen waren, welche das neue Ministerium begrüßten, in dem auch der verhaßte Name Eichmann figurirte, desto beeiferter zeigte man sich, den Charakter des Ministerpräsidenten, Generals von Pfuel, festzustellen, seine Thaten sich in Erinnerung zu rufen, aus seiner Vergangenheit auf die Politik zu schließen, die von ihm zu erwarten war. Freilich, der General war nichts weniger als unpopulär; er war sogar als ein leutseliger, redlicher, schlichter Soldat beim Volke beliebt und durch seine vorzügliche und von den Berlinern vielbesuchte Schwimmschule in einen volksthümlichen Ruf gekommen; ebenso hatte er als Gouverneur von Berlin am 18. März durch seine Humanität und seinen Widerwillen gegen Gewaltmaßregeln sich ein gutes Andenken hinterlassen. Aber dies Alles galt unter den obwaltenden Umständen nicht viel und wurde nicht in Anschlag gebracht, da man den volksthümlichen Charakter Pfuel’s nicht mit den militärischen Maßnahmen des Hofes, Wrangel’s und Graf Brandenburg’s in Einklang zu bringen vermochte. War doch auch „Vater Wrangel“ bis dahin und als Generalissimus in Schleswig-Holstein für einen echt volksthümlichen Soldaten gehalten worden, der nicht zu den Vertretern des absolutistischen, reactionären Militärstaates gezählt wurde – bis die Proclamation den Berlinern die Augen öffnete und sie sich nun mit einem Male von „Vater Wrangel“ nichts Gutes mehr versprachen, trotzdem er ihnen versichert hatte, daß er „keine Reaction“ machen wolle. So fiel denn auch von dem General von Pfuel die Hülle des Volksthümlichen in den Augen der Berliner plötzlich ab und sie sahen in dem neuernannten Ministerpräsidenten nichts als den energischen und bewährten Soldaten, dem, gleich Wrangel, nicht viel zu trauen sei. Anfänglich setzte man wohl bei ihm Milde und Humanität voraus; aber desto sicherer erwartete man jetzt eine feste Politik der Reaction von ihm, die dem Hofe über alle bisherigen Zugeständnisse und constitutionelle Versprechungen hinweghelfen solle. Suaviter in modo, fortiter in re – mild in der Form, aber energisch im Handeln, so, dachte man, sei es von oben herab Pfuel und Wrangel anbefohlen worden, die Beide eine Allianz abgeschlossen hätten, dem Treiben in Berlin und in der Nationalversammlung, kurz und gut dem ganzen constitutionellen, allen Militärs zum Gräuel gemachten Kram, allen verwünschten Märzerrungenschaften ein Ende, allenfalls mit Blut und Eisen, zu bereiten.

Und wie nun unter solchen Erwartungen das Bild des Generals Pfuel schnell gemalt wurde, repräsentirte es allerdings nichts als den bloßen Soldaten, bei dem die sonst populären Züge nur sehr dunkel gehalten waren. Ernst von Pfuel, aus einer altadeligen Familie, die mit den Ascaniern in’s Land gekommen und so reich begütert war, daß man ihren Gütercomplex das Pfuelen-Land nannte, wurde von Hause aus zum Soldaten bestimmt, trat nach seiner Ausbildung in der damaligen école militaire zu Berlin mit siebenzehn Jahren in das Regiment des Königs ein, welches zu Potsdam in Garnison stand und machte den Feldzug von 1806 als Adjutant des Generalstabes von Blücher mit. Durch die Capitulation Blücher’s bei Rattkau kam auch er in französische Kriegsgefangenschaft, wurde indeß auf sein Ehrenwort, nicht mehr gegen Frankreich zu fechten, entlassen.

Pfuel nährte aber einen solchen Haß gegen Napoleon, daß er sich nach dem beendigten Kriege mit Preußen seines Wortes für entbunden hielt und in die Verbindung jener Patrioten trat, welche freiwillig einen erbitterten Krieg gegen die Herrschaft des Cäsarismus mit Wort und Schrift und mit Thaten unterhielten. Als Deutschland zum ersten Male seit der Zertrümmerung Preußens wieder mit Hoffnungen auf Erlösung erfüllt wurde in Folge des Krieges, den Oesterreich von Neuem gegen Napoleon begonnen, da war auch Pfuel einer von denen, die der Haß gegen den Cäsar in die Reihen der österreichischen Armee trieb. Als Hauptmann im General-Quartiermeisterstabe machte er den Feldzug mit; seine Thätigkeit, namentlich in Tirol, lenkte die Aufmerksamkeit der Franzosen besonders auf ihn und sie konnten es nicht lassen, ihn in effigie an den Galgen zu hängen, woraus sich der junge Officier bei seinem Phlegma freilich äußerst wenig machte.

Nach dem Frieden und unter der Zeit der tiefsten Erniedrigung Deutschlands hing Pfuel keineswegs die Flügel. Auch er war sicher, daß es mit der Unterdrückung Deutschlands nicht mehr allzu lange dauern und die Volkskraft unter dem Druck endlich so weit erstarken werde, um das Joch abzuschütteln. Als Mitglied des Tugendbundes agitirte er mit für die Kräftigung des nationalen Geistes, und wie Vater Jahn später in der körperlichen Ausbildung der Jugend durch Turnen ein Mittel erkannte, den Geist des Volkes frisch und frei zu machen, so hat auch Pfuel das Verdienst sich erworben, durch seine Einrichtung der Schwimmschulen, speciell für die Soldaten, die vernachlässigte Sorge körperlicher Erziehung und Geschicklichkeit der Jugend an’s Herz gelegt zu haben. Während der lethargischen Zeit bis zu dem Ausbruch des russischen Krieges richtete er in Oesterreich Militär-Schwimmschulen nach seinem Muster ein; erst ein Jahrzehnt später gründete er eine solche in Berlin, welcher er noch als Greis vorsteht. Bis in den November hinein sieht man hier den Alten sich baden und schwimmen nach der Methode des Frosches.

Selbstverständlich gehörte auch Pfuel zu denjenigen verabschiedeten preußischen Officieren, die 1812 in russische Dienste traten, um gegen Napoleon zu fechten. Diesmal wurde die Hoffnung auf die Nemesis für den Unterdrücker nicht getäuscht. Als Chef des Generalstabes von Tettenborn rückte er mit der russischdeutschen Legion im Beginn des Jahres 1813 in sein Vaterland, dem die Stunde der Befreiung schlagen sollte. Bis 1815 blieb Pfuel in russischen Diensten und machte den Feldzug mit; erst nach der Rückkehr Napoleon’s von Elba trat er wieder in die preußische Armee und zwar als Oberst im Generalstabe von Blücher’s, seines alten und verehrten Generals, Hauptquartier. Seiner speciellen Energie gelang es, den Aufstand des sächsischen Truppencorps in Lüttich, am 2. Mai 1815, zu unterdrücken und die beabsichtigte Decimirung der Aufständischen mit seinem humanen Geiste zu verhindern.

Nach dem glorreichen Feldzug von Waterloo, an dessen Ehren auch er vollen Antheil genommen, ward er zum Commandanten von Paris ernannt, während General Müffling Gouverneur der preußischen Hauptstadt wurde. Er hatte in dieser Stellung einmal [764] Gelegenheit, sich persönlich bei den Herren Franzosen in Respect zu setzen. Ein französischer Capitain hatte sich über irgend Etwas bei Pfuel beschwert und war deshalb höflichst zur Thür gewiesen worden. In Folge dessen forderte er den Commandanten zum Duell. Mit größter Liebenswürdigkeit fragte ihn Pfuel nach den Waffen und als der Franzose Degen verlangte, ließ er zwei solcher Dinger nach dem Vorzimmer bringen und der Kampf begann. Nach einigen Ausfällen des Franzosen sah derselbe mit dem verdutztesten aller Gesichter plötzlich seinen Degen wegfliegen, Herrn von Pfuel ihn höflich grüßen und sich in sein Zimmer zurückbegeben. Der preußische Officier hatte dem französischen so glatt den Degen aus der Hand geschlagen, wie Erde aus einem Blumentopf.

Nach dem Frieden kam Pfuel nach Berlin zum Generalstabe. Hier hielt er u. A. vor größeren Officierkreisen Vorträge, die, später vom General Decker unter dem Titel: „Ansichten der Kriegführung im Geiste der Zeit“, herausgegeben, zu den geschätztesten Büchern der militärischen Literatur gehören. Später Brigadier in Magdeburg, darauf Divisionär geworden, erhielt er 1831 die Sendung nach Neuchâtel, wo eine Empörung gegen die preußische Oberhoheit ausgebrochen war. Als Sieger in Neuchâtel wurde er zunächst Gouverneur dieses Ländchens, welches vornehmlich von lauter gesetzlich erlaubten Republikanern, nämlich Schweizern, bevölkert ist und sich 1848 bekanntlich auch wirklich von Preußen losriß; dann stieg er zum Generallieutenant und 1837 an Müffling’s Stelle, dem er gewissermaßen immer auf die Hacken trat, zum commandirenden General des siebenten Armeecorps. Sechs Jahr später ward er General der Infanterie, dann Chef des dreizehnten Infanterieregiments. Und da die Orden für die Leute noch immer so viel werth sind, daß sie das Verdienst, wenigstens eines Soldaten, darnach bemessen, so diene zur Notiz, daß Pfuel, wie alle preußischen Generale, nicht genug Tuch auf der Brust besaß, um alle die blitzenden Sterne mit Anstand unterbringen zu können. Er konnte auch mit dem Orden pour le mérite, mit dem eisernen Kreuz, sogar mit dem schwarzen Adler- und dem schwedischen Seraphinenorden aufwarten, der einer anderen als fürstlichen Brust nur höchst selten zur Zierde gereichen darf.

Da im Herbst der alte Müffling aus seiner Stellung als Gouverneur von Berlin schied, wer anders hätte ihm darin folgen sollen, als der alte Pfuel? Am 18. März, als in Berlin die Revolution ihre Gewaltschläge entlud, setzte es die militärische Partei durch, daß noch vor dem Kampf gegen die Barricaden Pfuel durch eine Mission nach St. Petersburg von seinem Gouverneurposten entfernt wurde. Der General mußte den Thatlustigen kein rechtes Vertrauen einflößen; er war während der unruhigen Tage vorher ihnen zu nachsichtig gewesen und hatte nicht die Energie militärischer Maßnahmen entwickelt, die nach den ominösen zwei Schüssen des 18. März als Parole ausgegeben wurde. Aber schon zwanzig Stunden später mußte der Gouverneur von Berlin das Schloß räumen lassen.

General Pfuel.

Wie bereits gesagt, die Ernennung Pfuel’s am 21. September zum Ministerpräsidenten wurde unter den gleichzeitig auftretenden Anzeichen einer reactionslustigen Militärregierung mit dem größten Mißtrauen aufgenommen. Um so größer war das Erstaunen, als der neue Minister am Tage nach seiner Ernennung der Nationalversammlung beiwohnte und durch seine Ansprache die Gemüther zu beschwichtigen suchte. Man konnte es unter den Umständen von einem zum Minister ernannten General gewiß nicht erwarten, daß er förmlich eine Lobrede auf die constitutionelle Verfassung hielt und sein Interesse dafür äußerte, es möge bald das Werk der Nationalversammlung, die constitutionelle Verfassung Preußens, zu Stande kommen. Ja, noch mehr, General Pfuel erklärte sich im Sinne des angenommenen Stein’schen Antrags, vor dem Rodbertus und Auerswald die Segel gestrichen, gegen die reactionären Tendenzen und Agitationen in der Armee und theilte mit, daß den Officieren diese seine Ansicht kund gethan sei. Er beruhigte wegen der Proclamation Wrangel’s und dessen Ernennung zum Cominandirenden in den Marken und erklärte, daß erst auf Verlangen der Bürgerwehr an ein Einschreiten des Militärs zu denken sei. Und aus dem Munde Pfuel’s hatte diese Sprache besonderen Werth. Offenheit und Ehrlichkeit war so recht das Gepräge seines Charakters, wie es schon aus seiner ganzen Erscheinung ersichtlich war. Wenn man ihn in’s Auge faßte, diesen General mit dem gebleichten Haar, groß und dürr, eckig und eher von bürgerlichem Habitus, dies verwetterte schmale Gesicht mit den tief eingefallenen Wangen, den scharfen Zügen und Furchen und den offenen hellen Augen – dann gewann die Ueberzeugung Raum, daß er es gut und ehrlich meine und von ihm nie ein Staatsstreich zu erwarten sei.

Mit dem Gewinn des Vertrauens bei den Bürgern büßte es der General von Pfuel aber bei den militärischen Reactionären ein, die ihre Zeit gekommen glaubten. Seine Verordnung an die Officiere hatte böses Blut unter denselben gemacht; die bald darauf stattfindenden Debatten der Nationalversammlung gegen den Adel und die Orden und die Beschlüsse gegen dieselben wurden zum guten Theil dem Minister angeschrieben, weil er sich dagegen still verhalten. Die Stellung des Herrn von Pfuel mußte denn wohl bald sich als unhaltbar erweisen. Angesichts einer sich rüstenden und mit Militärmacht versehenen Reaction verlangte das Volk eine Thatkraft des Ministeriums in seinem Sinne, die dem General Pfuel erstlich nicht innewohnte und die zweitens an dem entschiedensten Widerstand des Königs auch gescheitert wäre. Andererseits genügte Herr von Pfuel am allerwenigsten der Partei, die auf [765] Wrangel und Brandenburg blickte und die ungeduldig auf den Losbruch harrte. In diesen Kreisen ließ man ihn auch sofort fallen, und wenn ihn, wie vorauszusetzen, die Hoffnung auf seinen Platz gestellt, er werde geschickt einige entscheidende Schläge gegen die Nationalversammlung und die Berliner Demokratie führen, worin Vater Wrangel ihn auf’s Kräftigste unterstützt hätte, so kann man sich die Enttäuschung denken. Als nun gar in der Armee mit geflissentlichem Eifer erzählt wurde, der Minister, General Pfuel, habe, um dem tumultirenden Pöbel vor den Thüren der Nationalversammlung zu entgehen, das Anerbieten des „rothen“ Assessors Jung angenommen, sich unter dem Schutze desselben aus der Versammlung zu begeben; er habe ferner in der Wohnung dieses Demokraten eine Tasse Thee zu sich genommen, während sein Adjutant, im Gefühl der „echten“ militärischen Ehre, lieber vor der Thür die Rückkehr seines Chefs abwartete, als daß er sich durch das Betreten der Wohnung eines demokratischen preußischen Abgeordneten erniedrigt hätte – da war General von Pfuel mit allen seinen Würden und Orden ein abgethaner Mann, den man für alt und kraftlos ausgab, um nicht das Entsetzliche zu constatiren, daß ein preußischer General, einer im besten Sinne des Worts, auch im steten Bewußtsein eines redlichen constitutionellen Ministers, im Gefühl des Patriotismus und in Erinnerung an die Zeit der Befreiungskriege als ein braver deutscher Mann gehandelt hatte und handeln wollte.

Anfangs November des Jahres 1848 nahm Pfuel seinen Abschied; statt seiner kamen Brandenburg und Manteuffel, um die Reaction durchzuführen. Der letzte constitutionelle Minister Preußens aus dem Jahre 1848, der alte General von Pfuel, hatte seine Laufbahn geschlossen. Als er in der ersten Blüthe der Reaction einmal nach Charlottenburg zum König geladen war, fragte ihn im Vorzimmer ein Officier höhnisch:

„Und Excellenz haben noch nicht den Abschied genommen?“

„Noch keine Veranlassung, mein Verehrtester,“ antwortete er in seiner phlegmatischen Weise.

Als verabschiedeter General lebt er seitdem sehr zurückgezogen vom öffentlichen Leben in Berlin, fünfundachtzig Jahr alt, aber noch immer ein rüstiger Schwimmer. Beim großen Gedenkfeste der Leipziger Schlacht gehörte er zu den gefeiertsten Veteranen.




Ein fürstlicher Goldmacher und Geisterseher.


Wer die Landkarte von Deutschland sich gründlich in’s Gedächtniß prägen will, hat auch heutzutage noch ein gut Theil Geduld nöthig und ein tüchtig Stück Arbeit zu bewältigen, denn wie erst vorm Jahre die Gartenlaube an’s Licht gestellt hat, hocken gerade mitten im allerschönsten und deutschesten Deutschland die schwarzweißen, weißgrünen, rothweißen, grünschwarzgelben, ja selbst schwarzrothgoldenen und anderen zwei- und dreifarbigen Grenzpfähle so dicht aufeinander, daß es wohl geschehen mag, daß etwa ein Jäger in Sachsen-Gotha sich auf den Anstand postirt und allda sein Gewehr losdrückt, durch Weimar und Meiningen durchschießt, in Kurhessen oder Preußen den unglücklichen Lampe niederstreckt und etliche Schrotkörner noch über Schwarzburg-Sondershausen oder Schwarzburg-Rudolstadt verstreut.

Doch was will dies heitere Bunt gegen die reiche Mannigfaltigkeit bedeuten, als wir nicht blos mit dreißig und einigen allerhöchsten, höchsten und hohen Landesvätern beglückt waren, sondern uns deren mehr denn eines Vierteltausends erfreuen durften und jedem lokalen deutschen Unterthan die glückliche Chance winkte, dreihundertfacher Commissions- oder Commercienrath zu werden, – welche Perspective! – Dazumal war es auch, wo die Fürsten ihre Ländchen sammt Völkerschaften wohl unter ihre meist zahlreiche Nachkommenschaft zu theilen pflegten, um diese von vornherein gegen alle etwaigen mittelstaatlichen Gernegroßgelüste gebührend zu wahren. Eine solche Theilung seines Reiches ordnete bei seinem Ableben auch Herzog Ernst, der Fromme genannt, von Sachsen-Gotha an. Er hatte sieben Söhne, und so entstanden aus dem alten Stammfürstenthume sieben verschiedene neue Herzogthümer: Gotha-Altenburg, Coburg, Meiningen, Römhild, Hildburghausen, Saalfeld und Eisenberg. Das letztere fiel dem Prinzen Christian zu, der mit seinem Bruder Heinrich in Römshild die Auszeichnung theilte, der erste und zugleich der einzige Monarch eines neugeschaffenen Herzogthums zu sein.

Noch vor einem Jahrzehnt lag das Eisenberger Ländchen mit seiner Hauptstadt gleichen Namens zwar wie heute in einem allerliebsten grünen Winkel unweit der aus den Waldbergen des sächsischen Voigtlandes herabfließenden weißen Elster, aber doch in einem Winkel, welchen die großen Straßen der Menschen draußen nicht berührten und die Strömung von Leben und Cultur nur in ihren letzten matten Wellenringen streifte. Jetzt braust die Locomotive wenigstens auf Stundenweite heran, wenn auch vorbei und nur auf einer kurzen Zweigbahn des großen Thüringer Schienenweges, jener Zweigbahn, die, mustergültig durch ihre Geschwindigkeitsleistungen und Rastfristen, von Weißenfels über Zeitz nach Gera im Reußenstaate führt und somit Thüringen und Osterland verbindet.

Dies Eisenberg also, das beiläufig kein unfreundliches Oertlein ist mit manchem behäbigen Hause und reichgewürzter Lohgerberatmosphäre, erkor sich unser Herzog Christian zum Sitze seines neugestifteten Reichs, und da er ein kunstliebender Mann war und seinen Geschmack auf Reisen in Frankreich und Welschland gebildet hatte, so erbaute er sich alsbald auf einem Hügel ganz nahe bei der Stadt ein stattliches Residenzschloß im italienischen Stile, das noch heute steht und mit seinen wohlgepflegten Gärten die Hauptzierde der Umgegend bildet – wenn man dafür nicht lieber das weitberühmte, räumige Schützenhaus gelten lassen will mit seinem vielbesuchten sommerlichen Vogelschießen und seinen kühlen Bierkellern.

Herzog Christian, sorgfältig erzogen wie seine sechs Brüder auch, war ein Mann von trefflichem Herzen und von den besten Absichten für Völkchen und Land beseelt. Mit Ernst nahm er sich der Regierungsgeschäfte an, wohnte regelmäßig den Sitzungen seiner geheimen Hofkanzlei und seiner Kammer bei, in denen er meist eigenhändig das Protokoll der Verhandlungen führte, und regelte seine eigenen Ausgaben und die seines Gefolges mit lobenswerther und geschickter Sparsamkeit. Außerdem war er ein großer Gönner von Kunst und Wissenschaft und sein ausgedehnter Briefwechsel mit deutschen und ausländischen Gelehrten nahm nicht den kleinsten Theil seiner Zeit in Anspruch. Da der Herzog überdies mit seiner Gemahlin, einer Prinzessin aus dem damals noch blühenden herzoglichen Hause Sachsen-Merseburg, in tadelloser Eintracht lebte, so hätte er wohl eines guten Nachrufs gewiß und ein wahrhaft glücklicher Mann sein können, wäre nicht eine Liebhaberei gewesen, welche der Herzog mit so Vielen seiner Zeit theilte und die nach und nach zur unbezähmbaren Leidenschaft wuchs und ihn schließlich geistig und finanziell zu Grunde richten sollte. Es war die Modepassion jener Tage, der Wahn, durch alchymistische Proceduren Gold machen zu können, dem sich selbst viele der erleuchtetsten Köpfe nicht zu entziehen vermochten.

Dieser Wahn, aus unedlen Metallen Gold herstellen zu können, umdüsterte damals gleich einem langsam fortschreitenden Gifte die freien Geister und zählte in allen Ständen eine Menge Anhänger und Verehrer. In einem zu solchen Experimenten erbauten Laboratorium verbrachte der Herzog oft ganze Nächte unter anstrengenden Untersuchungen, die seine Gesundheit untergruben und seine Finanzen erschütterten. Sicherlich geschah dies Alles nicht ohne Mitwirkung seiner nächsten Umgebung, die, ihre eignen selbstsüchtigen Zwecke hierbei fördernd, den Herzog in seinem Glauben, bei seinen alchymistischen Versuchen von helfenden Geistern umgeben zu sein, wesentlich mit bestärkte. Mit diesen erträumten Geistern (Hiob, dem König von Waldeck u. a. m.) wechselte der Herzog unablässig Briefe, wobei er sich mit dem Namen „Theophilus, Abt der heiligen Jungfrau zu Laußnitz“ zu unterschreiben pflegte.

Bereits im Jahre 1696 hatten ihm die Geister den Besitz beträchtlicher unterirdischer Schätze versprochen, unter denen sich ein massiv goldner Sarg, ein Diamant von einem Pfund an Gewicht, eine goldne Schabrake, die der König von Waldeck getragen, goldne Schilder und Spangen, zwei goldne Schlaguhren u. dergl. m. befanden. Ferner wollte der Herzog den verborgenen Schatz im nahen Kloster zu Laußnitz, der zehn Millionen enthalten sollte, mit Hülfe der Geister heben. Er correspondirte deshalb unter Andern mit dem damals hochberühmten Spener in Halle. Nächst dem [766] Schatze hatten ihm die Geister eine goldne Krone und ein silbernes Kreuz verheißen, auch vorgegeben, daß in dem genannten Kloster die wahre Goldtinctur zu finden sei. Zur Hülfe bei Hebung dieses Schatzes sollten dem Herzog zwei Priester gesendet, denselben aber dafür eine Capelle an dem Orte, wo in den ehemaligen Klosterzeiten die Nikolauscapelle gestanden, von diesem Reichthume erbaut werden. Nach dem aufgefundenen Tagebuche des Herzogs wurde demselben im Jahre 1704 angesagt: „Er solle nun seine unentbehrlichen Zimmer und Kammern bewachen, in welche die verheißenen Schätze durch die Pfaffen hineingetragen werden sollten.“ Hunderte von Säcken mußte er herbeischaffen und die Schlüssel zu den Zimmern abgeben. „Wären dieselben gefüllt,“ hieß es weiter, „so wolle ihn der König von Waldeck hineinführen und ihm Alles, was darin sei, feierlich übergeben.“

Während der Herzog erwartungsvoll diesem glücklichen Tage entgegensah und in seinem edlen, menschenfreundlichen Herzen bereits die Rechnung, wie das zu Erhaltende zum Besten seiner Unterthanen verwendet werden sollte, entworfen hatte, erfahren wir aber, daß der König von Waldeck plötzlich hatte verreisen müssen. Ehe derselbe aus der neuen Welt, wo er sich befand, zurückgekehrt wäre, könnte durchaus nichts Entscheidendes geschehen. Inzwischen wurde der betrogene Herzog mit neuen Versprechungen hingehalten. Laut dem Tagebuch schrieb der König von Waldeck am 22. Februar 1706 dem Herzoge, „daß er große Last tragen müsse“, und am 10. März abermals, „er verhoffe, die Ostermesse im Kloster zu Laußnitz zu halten“. Der Herzog harrte vergeblich. Endlich kam die Nachricht: „Er könne unter vierzehn Tagen oder drei Wochen noch nicht kommen; der Herzog solle sich aber auf Gott verlassen und fleißig beten. Denn Gott habe versprochen, den reisenden König wieder in sein Land zu schaffen. Drei Tage vor seiner Ankunft solle der Herzog Nachricht davon erhalten, so wahr Gott lebe.“ Der König von Waldeck war damals in Jerusalem, wohin derselbe angeblich zur Regulirung der projectirten Schatzgräberei sich begeben haben wollte, und dahin mußte ihm der Herzog durch einen Boten die Säcke schicken. Hiermit endigt der historische Theil des Tagebuchs.

Der Herzog scheint zuletzt des langen fruchtlosen Harrens müde geworden zu sein. Die entworfene Rechnung aber ist als fingirte Ausgabe in dem vorgefundenen fingirten Einnahmebuche des Herzogs noch heutigen Tages zu lesen. Danach hatten ihm die Geister für das Jahr 1704 allein an baarem Gelde beinahe fünf und eine halbe Million Thaler zu bringen versprochen, die Kleinodien, das geschmolzene Gold und Silber, die Perlen und anderen Kostbarkeiten ungerechnet, deren Werth jene baare Summe wohl zehnmal überstiege. Für diese Schätze hatte Christian bereits einen ganz speciellen Verwendungsplan entworfen. Seine Gattin sollte eine halbe Million, seine Tochter 600,000 Thaler, von seinen Brüdern jeder 500,000 Thaler erhalten und seine Hofchargen waren sämmtlich mit hohen Summen bedacht, ja Niemand von des Herzogs Dienerschaft war vergessen, selbst Stubenheizer, Stallmägde und Wäscherinnen waren berücksichtigt.

Mit der aufopferndsten Hingebung und standhaftesten Geduld war die treue Gemahlin bemüht, den Herzog von seinen alchymistischen Träumereien möglichst abzuziehen. Es gelang ihr nicht. Vielmehr vertiefte sich der Herzog mit der Zunahme der Jahre immer eifriger in seine kostspieligen Versuche und anstrengenden Untersuchungen, so daß er endlich in seinen schwärmerischen Träumereien noch im vorletzten Jahre seines Lebens durch eine Geistererscheinung sich täuschen ließ.

Herzog Christian lag im Jahre 1705 auf dem Ruhebette seines noch jetzt ganz in dem früheren Zustande erhaltenen Betzimmers, mit seinen mystischen Fragen beschäftigt, als er an die Thür anklopfen hörte. Ohne zu begreifen, wie Jemand unangemeldet sich ihm nähern und unbemerkt von der Wache und der Dienerschaft zu ihm kommen könne, rief er dennoch: „Herein!“ Eine Dame in altfürstlicher Tracht trat ein. Den Herzog überlief ein leichter Schauer. Schnell jedoch wieder gefaßt überzeugte er sich, daß er wache, und fragte die Dame nach ihrem Begehr.

„Entsetze Dich nicht,“ antwortete dieselbe freundlich, „ich bin kein böser Geist. Ich bin Anna, eine Fürstin Deines Geschlechtes, und war die unglückselige Gemahlin Herzog Johann Casimir’s von Coburg.[2] Du wirst meine Geschichte kennen.“

„Ich kenne sie. Was bringt Dich aber jetzt aus Deiner stillen Ruhe in die Welt zurück?“

„Eine Bitte an Dich.“

„An mich eine Bitte? und welche?“

„Ich starb, ohne mit meinem Gemahl ausgesöhnt zu sein. Gott hat in seinem Gerichte diese Söhnungszeit bestimmt, die nun sich nahet, und Du bist erkoren, uns auszusöhnen. Selig bin ich zwar, doch stehe ich noch nicht vor Gottes Throne und befand mich bisher an einem stillen Orte angenehmer Ruhe. Mein unversöhnlicher Gemahl aber hat zwischen Zeit und Ewigkeit in Finsterniß und Kälte gelebt, jedoch nicht ohne Hoffnung der Seligkeit.“

„Wie aber sollte das möglich sein? Wie sollte zugehen, daß –“ frug der Herzog.

„Glaube meinen Worten, denn was ich sage, ist Wahrheit. Wie viele Dinge kann der menschliche Verstand nicht fassen, und dennoch sind sie! Was Du jetzt nicht begreifen kannst, wirst Du dereinst schon begreifen lernen. Dich mit vielen Worten zu belehren, ist mir nicht erlaubt. Die Erfahrung wird Dein Lehrmeister sein, dort, wo wir Alle gläubig sehen und erfahren, was wir hier kaum ahnen.“

Der Herzog schwieg betroffen still, und der belehrende Geist sprach weiter: „Wir sind erfreut, Dich als das Werkzeug unserer Versöhnung erlesen zu wissen. Nach acht Tagen werde ich wiederkommen, um Deine Erklärung zu vernehmen. Gott sei mit Dir!“ Sie sprach’s und verschwand.

Der Herzog blieb verlegen zurück und dachte dem nach, was er soeben gesehen und erlebt. Endlich beschloß er, sich an den Superintendenten Hofkunz in Torgau, einen berühmten Gottesgelehrten, der zugleich einer seiner fleißigsten Correspondenten war, zu wenden, diesem seine Lage zu schildern und sich bei ihm Raths zu erholen. Hofkunz schrieb dem Herzoge: „Wenn nichts Abergläubisches dabei vorkomme und er Muth genug habe, möge er sich mit Gebet und Vorsicht dem Versöhnungsgeschäfte unterziehen.“

Die bestimmte Zeit verfloß. Die Herzogin kam wieder und fragte, ob der Herzog bereit sei, ihren Wunsch zu erfüllen. Als dieser bejahte, sprach sie: „Mein Gemahl that mir Unrecht. Vergebens ließ ich ihn auf meinem Todtenbette um Vergebung bitten; er wollte mir dieselbe nicht gewähren. Damit wir nun Beide zur Verklärung und zum göttlichen Anschauen gelangen können, wollen wir uns versöhnen. Ich habe Dir schon gesagt, wo wir uns jetzt befinden. Diesen Aufenthalt sollen wir nach Gottes Willen jetzt verlassen, und Du bist von der Vorsicht erkoren, das Werk unserer Versöhnung zu vollziehen.“

„Was soll ich aber bei der Sache thun, wie mich dabei verhalten?“

„Künftige Nacht sei bereit, uns Beide zu empfangen. Denn nur ich kann am Tage kommen, nicht mein Gemahl. Dann wollen wir Dich bitten, Recht unter uns zu sprechen, unsere Hände zum Zeichen der Versöhnung ineinander zu legen, den Segen des Herrn uns zu geben und mit uns Gott zu loben.“

Dies versprach der Herzog und die Dame verschwand wieder. Die Erscheinenden würdig zu empfangen, bereitete sich Christian vor. Er ließ Wachskerzen anzünden und dieselben auf einen Tisch zwischen Bibel und Gesangbuch setzen, verdoppelte die Wachen vor seinem Zimmer, überließ sich geistlichen Betrachtungen, betete und erwartete die Zeit der Erscheinung mit Fassung, doch nicht ganz unbefangen.

Es schlug eilf Uhr. Die Herzogin trat ein, lebhaft und freundlich wie immer, und trug dem Herzog ihre Sache vor. Nach ihr kam ihr Gemahl, finster und bleich, und sagte, was er zu sagen hatte, ziemlich rauh und unfreundlich. „Nun entscheide Du,“ sprach die Herzogin Anna, „auf den wir unser Vertrauen setzen, Sprosse unseres Stammes, geliebter Nachkomme unseres Geschlechts!“

Herzog Christian fand sich bewogen, dem Herzoge Casimir Unrecht zu geben, und rieth ihm zur Versöhnung mit seiner schönen Gemahlin. Der Geist sagte: „Du hast weise Worte gesprochen und recht geredet; ich versöhne mich mit meiner Gemahlin.“

Der Herzog ergriff des Sprechenden eiskalte Hand, legte sie in die warme, runde Hand der Fürstin und sprach den Segen über die Versöhnten. Beide sprachen „Amen!“ und die Herzogin setzte freundlich hinzu: „Habe Dank!“ Hierauf stimmte der Herzog den Gesang an: „Herr Gott, dich loben wir,“ und die Versöhnten sangen Beide mit.

[767] Nach geendigtem Gesange nahm die freundliche Fürstin wieder das Wort und sagte: „Den Lohn für diese Deine Liebe und Güte wirst Du von Gott erhalten und bald bei uns sein.“ Darauf entfernten sich die Geister.

Der Herzog blieb in feierlicher Stimmung noch eine lange Zeit. Von der Unterredung aber hatte die Wache nach ihrer Aussage nur die Worte des Herzogs gehört und die Erscheinenden nicht gesehen. Er berichtete das Vorgefallene seinem Rathgeber, dem torgauischen Superintendenten Hofkunz, und bereitete sich zu einem seligen Ende vor. Die Prophezeiung der beiden Geister, daß auch er bald im Reiche der Geister sein werde, scheint auf den ohnedies schon kränkelnden Herzog einen tiefen Eindruck gemacht zu haben; wenigstens wurde er tagtäglich düsterer und in sich gekehrter, und selbst die vernünftigsten Vorstellungen waren nicht im Stande, ihn von seinem Trübsinne abzuziehen und ihn den mit seinen alchymistischen Versuchen verbundenen, lebensgefährlichen Beschäftigungen zu entreißen. Hierzu kam außer der vereitelten Hoffnung auf Bergbausegen in seinem Lande, zu welchem Zwecke er sogar ein besonderes Bergamt in Eisenberg errichtete, der tiefe Ruin seines ganzen Finanzwesens noch hinzu. Daß aber diese Schuldenlast nicht eine Folge leichtsinniger Verschwendung, sondern vielmehr ein Ausfluß seiner allzu menschenfreundlichen und darum leider nur zu oft für selbstsüchtige Zwecke benutzten Gesinnungsweise war, erhellt aus allen Handlungen und Unternehmungen seines privaten sowohl, wie seines öffentlichen Lebens und Wirkens. Denn von der ihm durch die Geister zugesagten Summe von beinahe sechs Millionen Thalern an baarem Gelde sollte (laut der in seinem von ihm selbst geführten Tagebuche vom Jahre 1696–1704 aufgestellten Berechnung) nur ein Dritttheile in seinem Interesse, dagegen zwei Dritttheile zu Nutz und Frommen seiner nächsten Umgebung und seines Landes verwendet werden. Sogar noch wenige Monate vor seinem Tode erließ der Herzog im festen Glauben auf die baldige Gewinnung eines unermeßlichen Reichthums durch Geisterhülfe den sämmtlichen Unterthanen seines Landes die Steuern auf drei Jahre. Christian verschied am 28. April 1707 an einer Nervenvertrocknung, einer Folge der bei seinen alchymistischen Operationen gebrauchten starken Gifte. Nach seinem Tode nahm das Haus Gotha wieder von Eisenberg Besitz, wodurch dieses aufhörte, ein selbstständiges Fürstenthum zu bilden.

Die Christiansburg, seit 1829 von dem Prinzen George von Hildburghausen, dem nachmaligen Herzog Georg von Sachsen-Altenburg, wieder bewohnt, steht gegenwärtig aufs Neue verwaist. Doch ist in den Räumen, wo Herzog Christian lebte und starb, so ziemlich Alles im früheren Zustande erhalten worden. Daß der ganze Gespenstertrug, welcher einen dem Mystischen zugewandten Geist vollends verwirrte, auf Rechnung hab- und herrschsüchtiger Geistlichen und auf die Werkzeuge der katholischen Propaganda zu setzen ist, bedarf für unsere Leser keiner weitern Ausführung.




Blätter und Blüthen.

Kalendertag in London. Der Nebelmonat par excellence, der spleenbefördernde, Hängungsgelüste weckende November bringt den Londonern zur Unterbrechung der trüben Monotonie seines vom Gaslicht erhellten dickzähen Dunstgraus alljährlich zwei volksfestliche Tage: am 5. den Erinnerungstag an die bekannte Pulververschwörung des Guy Fawkes, ein Hauptfest der Straßenjugend, die zum Gedächtniß jener bekannten Parlamentserrettung allerhand große und kleine Puppen als Guy Fawkes unter Trommelschlag und musikalischem Gelärm in den Gassen umherträgt und umherführt, dabei ihren politischen Antipathien nach Herzenslust freien Lauf lassend, und am 9. die mit mittelalterlichem Gepränge von statten gehende Auffahrt des neugewählten Cityhauptes, des Lord-Mayors, nach dem Westminsterpalaste. Außerdem aber darf sich dieser seelen- und leibermörderische November noch eines merkwürdigen Tages rühmen, welcher für gewisse Geschäftskreise eine große Bedeutung hat und mit seinem Einfluß in alle Schichten der Londoner Bevölkerung nicht nur, sondern weit in’s Land hinausreicht und die ganze Zukunft gewissermaßen unter sein Regiment stellt. Es ist der Kalender- oder Almanachstag.

Am 22. November nämlich Glock drei Uhr Nachmittags erfolgt in der Londoner Buchhändlerbörse – wenn wir so die Bezeichnung des Innungsgebäudes der Buchhändlerzunft, die Stationers’ Hall, verdeutschen wollen – mitten im belebtesten Theile der City die Ausgabe von dreizehn Kalendern und Almanachen auf das nahende künftige Jahr. Wer von unsern Lesern jemals in Leipzig gewesen ist, wenn in den Nachmittagsstunden des Freitags die neue Nummer der Gartenlaube in die Hände des Publicums geliefert wird; wer gesehen hat, wie die Körbe und Buchhändlerwagen, in denen die Commissionäre der verschiedenen auswärtigen Buchhandlungen die beliebte frische Geisteswaare in Empfang nehmen, gleich einer Wagenburg um den Keil’schen Gartenlaubenpalast aufgepflanzt sind; wer sich gar, wie Schreiber dies, so manches liebe Mal durch das Gewühl von Menschen, von Colporteuren, Buchhändlerburschen, Zeitungsfrauen und sonstigem journalhungrigen Publicum hat schlagen und drängen müssen, welcher die Vorhalle der Expedition erfüllt – der hat ein Miniaturbild des Gewirrs im Kopfe, das am Kalendertage sich um die riesigen Tafeln gruppirt, die in der großen Halle der Londoner Buchhändlerbörse aufgestellt sind.

Schon Tage vorher werden die Tausende von Ballen hereingeschafft und ihrer Hüllen entkleidet, welche die verschiedenen Kalender enthalten, und sowie die Glocken des St. Paulsdomes die Mittagsstunde verkünden, thun sich draußen die eisernen Gitterthore vor Stationers’ Hall und drinnen die Thüren des Hauses auf, und wie ein tosendes Meer fluthet das Heer der Expectanten von der Straße herein, mit Lebensgefahr und manchem Stoße sich Bahn brechend, bis der gewaltige Raum der Halle nur noch ein undurchdringliches Chaos von menschlichen Köpfen und Armen zu sein scheint. In eben solchem Sturme läuft die Fluth wieder ab; Jeder will der Erste sein, die neuen Kalender auf seinen Wagen und Karren zu laden, Jeder der Erste, damit nach dem bekannten Buchhändlergäßchen von Paternoster-Row zu gelangen. In weniger als zwei Stunden ist die ganze ungeheuere Stadt mit Kalendern versorgt, in derselben Zeit enteilen die andern nach Nord und Süd, gen Osten und gen Westen auf den Fittigen des Dampfes über das gesammte Königreich von Großbritannien und Irland, und nur die allerärmsten Hütten sind es, wo keiner der Almanache der Stationersgenossenschaft mit seiner Belehrung und Unterhaltung, seiner Sonnen- und Mondlaufoffenbarung, seiner Sturm- und Regenverkündigung einspricht. Mehrere dieser Kalender werden in fabelhaften Auflagen, Auflagen von unterschiedlichen Hunderttausenden über das europäische und außereuropäische Bereich der englischen Zunge verbreitet und die meisten erfreuen sich ihrer Volksthümlichkeit schon seit Hunderten von Jahren. So ist der Gärtnerkalender (The Gardeners’ Almanac) bereits 1664, das Damen- und Herren-Tagebuch (the Lady and Gentleman’s Diary) 1709 gegründet und seitdem ununterbrochen veröffentlicht worden, während auch die übrigen fast sämmtlich ihre goldene und diamantene Jubelfeier hinter sich haben.

Früher stand der Buchhändlercooperation ausschließlich das Recht der Kalenderherausgabe zu; dies Monopol ist jetzt zwar aufgehoben, allein noch immer genießen die Almanache der Stationers’ Hall den Vorzug vor allen ähnlichen Publicationen, weil sie sich namentlich durch die Genauigkeit ihrer astronomischen Angaben und eine Fülle von praktischer Belehrung für das tägliche Leben auszeichnen. Der Engländer ist und bleibt einmal durch und durch conservativ, so auch in der Wahl seiner Kalender, und als vor einigen Jahren in einem derselben die Rubrik in Wegfall gekommen war, welche von dem Einfluß des Mondes auf die verschiedenen Theile des menschlichen Körpers handelt, erhob sich das Publicum wie ein Mann und gab empört die verstümmelten Kalender den Lieferanten zurück.

Die Buchhändlergenossenschaft, oder wie ihr förmlicher Titel lautet, „Meister und Bewahrer, oder Hüter und Gemeinschaft des Geheimnisses oder der Kunst des Buchhandels in der City von London“, hat sich ihren ursprünglichen Charakter durch alle Jahrhunderte treu bewahrt; es ist die einzige Londoner Gilde, deren Mitglieder nur aus Kunstgenossen bestehen, während alle übrigen, ähnlich wie in manchen Städten der Schweiz, unter ihrer Zunftbezeichnung Männer der verschiedensten Gewerbe und Berufsclassen vereinigten. Uebrigens existirte und blühte die „Bruderschaft der Buchhändler“ schon lange vor der Erfindung der Buchdruckerkunst, erst Anfangs des siebenzehnten Jahrhunderts aber erhielt sie von Jacob dem Ersten das Privilegium der ausschließlichen Herausgabe von Gebet-, Gesang- und Psalmbüchern wie von Kalendern und „Prophezeiungen“ und von sämmtlichen in den gelehrten Schulen des Landes benützten lateinischen Werken und Handbüchern. Natürlich ist dies Monopol nunmehr längst erloschen und die erwähnten Kalender und ein lateinischer Gradus ad Parnassum bilden die einzigen Verlagsartikel, welche die Londoner Buchhändler als Genossenschaft in die Welt senden. Jedes Buch aber, das in England erscheint, muß vor der Ausgabe in die Register der Stationers’ Hall eingetragen werden, soll es den Schutz der Gesetze wider den Nachdruck genießen. Die Buchhändlerbörse selbst, wie sie jetzt steht, wurde kurz nach dem großen Feuer errichtet, welches im Jahre 1666 die ganze City von London in Asche legte, und enthält in ihren zahlreichen Sälen und Gemächern neben ausgezeichneten Holzschnitzereien und Glasmalereien eine Reihe vorzüglicher Gemälde älterer und neuerer britischer Meister, darunter namentlich die Portraits der Literaturkoryphäen des vorigen Jahrhunderts.

Als der Lordmayorstag noch mit feierlicherem Prunke vor sich ging; als der neue Bürgermeister und sein Gefolge in vergoldeten Staatsgondeln auf der Themse nach Westminster ruderten, da war es die edle Gilde der Buchhändler, die ein Hauptelement der schimmernden Procession bildete, und wenn Königin Elisabeth von ihrem Landhause an der Themse sich nach dem Whitehallpalaste begab, pflegten die „schicklichsten Personen der Zunft“ in rothen Sammetwämsen mit schweren goldenen Ketten und langen Wachsfackeln die unmittelbare Escorte der Monarchin abzugeben, wie sie auch bei verschiedenen öffentlichen Gelegenheiten gewissermaßen zur Trabantenschaft des im jenseitigen London, in Lambeth, residirenden Erzbischofs von Canterbury gehörten, ohne dessen Genehmigung vormals keiner der von der Corporation veröffentlichten Kalender in Umlauf gesetzt werden durfte. Heute machen die Londoner Stationers die ansehnliche Gesellschaft von etwa zwölfhundert Mitgliedern aus, deren höchst respectables Vermögen ihnen alljährlich verschiedentliche üppige Galabankets gestattet.
S.



[768] Für einen Volksdichter. Unsere Zeit ist der Poesie so ungünstig wie möglich. Sie verlangt offenen Blick für die Conflicte politischer und socialer Natur und mahnt durch ihren Materialismus davon ab, andächtig in die innere Welt des Gemüths zu schauen. Ein Dichter ist heut im Grunde ein Anachronismus; ein armer Poet gar, blaß, dürr, mit langen Locken, Augen zum Himmel und in schäbigem Oberrock bei zehn Grad Kälte, den begreift man nicht mehr. Warum wird er ein Weber und läßt sich von einem Drang treiben, der mit dem Drang seiner Zeit nicht harmonirt? Mag ihn der Teufel holen! Aber wie unheimlich dem realistischen Sinn der Gegenwart eine solche vormärzliche unglückliche Poetennatur erscheint, so sympathisch berührt es denselben, wenn ihm auf des Lebens prosaischen Kreuz- und Querfahrten einmal ein mit Gott und seinem Geschick zufriedener, gutgenährter Mensch begegnet, eine Leier am blauen Band, streichend durch den Wald mit frohen Augen, singend frische Lieder, muntere Weisen – kurz und gut, seines Zeichens ein Poet, ein deutscher Poet, sagen wir gleich. Ei, mein Gott, also Dichter! Seien Sie mir herzlich willkommen – es lebe die Kunst!

Ich hab’ mich immer gefreut, wenn ich nach dem Oasenparadies von Freienwalde am der Oder kam und den guten braven, großen, kräftigen Papa Weise besuchen konnte, justement, weil er auf seine alten Tage noch unter die deutschen Poeten gerathen ist. Ihr kennt doch den Dichter Carl Weise, habt doch gewiß einmal von seinen herzigen, duftigen Liedern im „Familienleben“ gehört, oder auch gar seine „Braut des Handwerkers“ gekauft, weil der schlaue Verleger einen Prachtband daraus gemacht? O, ganz bestimmt, den Dichter müßt ihr kennen! Denn ist’s auch ringsum prosaisch und conflictlich, im Familienleben ist doch für Jeden noch Poesie geblieben, wo der Friede des Herzens nach dem Hader mit dem Leben gesucht wird. Und wer hat inniger, herziger, drolliger, anheimelnder das Familienleben besungen, diese einzige erlaubte Poesie unserer Tage, als Carl Weise, zünftiger Drechslermeister in Freienwalde an der Oder? Glaubt ihr’s nicht, so geht in eine Buchhandlung, laßt euch sein „Familienleben“ oder sein „Zaubertöpfchen“ geben, blättert darin, leset ein paar Seiten und legt es dann dankend wieder auf den Tisch und empfehlt euch aus dem Laden – dann könnt ihr doch wenigstens über diesen Carl Weise reden, über diesen Naturdichter, wie man ihn heißt, weil er’s Dichten nicht studirt hat, sondern es directement aus dem Herzen dringt, wenn’s da voll ist.

Klimmt man das alte Pflaster der Freienwalder Hauptstraße nach dem Brunnen hinauf, dann kommt man an ein altes, windschiefes Haus, ärmlich, mit griesgrämigem Gesicht, an dem sich ein blaues Bretschild befindet, worauf geschrieben steht: „Carl Weise, Drechslermeister.“ Da tappe ich denn hinein, klinke die Stubenthür auf und da seh’ ich ihn stehen, den großen, kräftigen Mann, dem man seine sechsundfünfzig Jahre nicht anmerkt; in seinen schwarzen, lockigen Haaren haben sich die Hobelspähne eingenistet – er wirft mit der einen Hand die eben bearbeitete Treppentraille in die Ecke, mit der andern – eine recht gesunde, feste Arbeiterhand – packt er die meine, und dann leuchten seine hellen, lebhaften Augen zu dem herzlichsten aller Willkommen, und dann kommt aus dem Wohnzimmer sein liebes, schlichtes Weib mit dem Jüngsten auf dem Arm, und hinter ihr her, wie Orgelpfeifen abgestuft, eines nach dem andern von seinen goldlockigen, lärmenden, heiteren Mädchen – und „Guten Tag!“ hier, „Guten Tag!“ da, Hände und Händchen zum Drücken; ja, der Mann kann wohl das Familienleben besingen, denn er hat eine recht zahlreiche und kreuzfidele Familie! Dabei ist auch der Geldbeutel immer einladend leer; denn, du lieber Gott! die Drechslerkunst bringt in dem kleinen Freienwalde nicht viel ein und das Handwerk als Dichter, na, das hat jedenfalls keinen goldenen Boden. Und darauf hat Carl Weise auch sein Lebtag nicht gerechnet. Wär’ im Leben vielleicht nichts von ihm gedruckt worden, wenn nicht ein paar Menschen, die echtes Gold von falschem unterscheiden konnten, mit einem Vorrath seiner Gedichte zu einem Buchhändler gegangen wären, der es dann über sich gewann. Heute noch, wo ihm wohlfeile Gönner so manchmal den Kopf verdrehen möchten, ohne daß es ihnen gelingt, bleibt der Drechsler bei seiner Hobelbank und bringt’s erst nach Feierabend zu Papier, wenn ihn Etwas auf dem Herzen drückt.

Freilich, verdient hätte er’s wohl, daß er ein bischen weniger Sorgen um das tägliche Brod habe, eben weil er ein schlichter Arbeiter ist, der das

Gold der Poesie im Herzen trägt. Das haben auch die Handwerker, seine Collegen, am ersten eingesehen und der Wrietzener Handwerker-Verein hat eine Sammlung für Carl Weise in die Hand genommen, um wenigstens so viel für ihn zusammenzubringen, daß er sich ein kleines Häuschen bauen kann. An fünfhundert Thaler haben die Handwerkervereine auch schon beisammen; aber was ist das? Das langt nicht zu. Ach, für einen Dichter fallen die Groschen schwer ab! Einen halben Morgen Land zum Bauen haben sie ihm zwar auch schon in Aussicht gestellt, Andere nämlich; aber am Ende ist ein Habich besser als ein Dutzend Hättich. Und wahrhaftig, traurig wär’s doch, wenn nun dem guten, wackern, reichbegabten Weise die Hoffnung zu Wasser würde, die sie in ihm ohne sein Zuthun aufgerufen! Ein tausend Thälerchen für einen so guten Volksdichter, den man alle Tage bei der Drechslerbank aufsuchen kann, die müßten doch wohl nicht schwer zu beschaffen sein. Aber natürlich wissen muß man’s, daß es gut wäre, daß es eine schöne That bildete, einem solchen Dichter ein Häuschen zu beschaffen, damit es ihm nicht allzu sauer würde, seine große Familie zu ernähren, und damit er mit mehr Ruhe noch manches solcher Lieder dichte, welche ihn so vielen Familien aller Kreise lieb und werth gemacht haben! Und damit man’s weiß und damit der geben kann, der will, ist für Carl Weise dies Geschichtchen geschrieben worden. Lieber Leser, denk’ a Bissel nach, denk’ a Bissel dran!
Sch…dt.




Das Carl Heine’sche Testament und die israelitischen Vereine in Hamburg. Allgemein bekannt ist das großartige Heine’sche Testament, worin über viele Millionen Mark Banco verfügt wurde, am meisten aber war das Bedenken milder Stiftungen und Vereine aller Confessionen Hamburgs und Altonas, sogar der Vereine für die innere Mission, auffallend, da der Verstorbene sich von allem specifisch Confessionellen fern gehalten. Als im vorigen Monat (October) die Testamentsvollstrecker die Vertheilung an die jüdischen Vereine und Anstalten in Hamburg ausführten, da stellte sich heraus, daß die jüdische Gemeinde Hamburgs vielleicht die meisten Wohlthätigkeits-Anstalten besitzt. Die Talmud-Thora-Freischule (orthodox) erhielt bei der Vertheilung 12,000, die (freisinnige) israelitische Freischule 10.000, die Mädchenschule der israelitischen Gemeinde 5000, die israelitische Mädchenschule von 1798: 5000, das deutsch-israelitische Waiseninstitut 8000, Paulinerstift 6000, das israelitische Vorschußinstitut 5000, der Verein israelitischer Armenfreunde zur Vertheilung von Brod und Suppe 3000, Anstalt zur Bekleidung armer Schüler der Talmud-Thora 3000, israelitischer Frauenverein zur Unterstützung armer Wittwen 4000, Frauenverein für arme Wöchnerinnen 4000, Gesellschaft zur Vertheilung von Feuerung an israelitische Arme 2000, israelitischer Miethe-Verein 5000, Dr. Ed. Kley’sche Stiftung 2000, Verein zur Förderung nützlicher Gewerbe unter den Israeliten 1000, neue israelitische Beerdigungs-Gesellschaft 5000, israelitischer Wohlthätigkeitsverein 1000, israelitischer Unterstützungsverein 1000, Verein zur Unterstützung armer israelitischer Greise 1500, weiblicher Krankenverein 3500, israelitischer Frauenverein für Krankenpflege 2000, israelitischer Mädchen-Bekleidungs-Verein 2000, Unterstützungs-Verein von 1829: 500, Stift zum Andenken an die Emancipation der Juden 2000, Stipendien-Verein für israelitische Studirende 1000, neuer israelitischer Feuerungs-Verein 1500, Wohlthätigkeits-Institut der jüdisch- portugiesischen Gemeinde 2000, israelitischer Gevatter-Verein 500, Miethe-Hülfsverein 5000, Unterstützungsverein für dürftige Familien 500, Verein zur Bekleidung armer Israeliten 500 Mark Banco.




Das Rauhe Haus. Die Leser der in Nummer 41 und 43 enthaltenen bedeutenden Aufsätze über das Das Rauhe Haus und die innere Mission machen wir auf die letzte Nummer der „Deutschen Blätter“, Beiblatt zur Gartenlaube, aufmerksam, in welcher sich eine auf diese Artikel bezügliche Erklärung sammt Gegenerklärung befindet.


Kleiner Brlefkasten.


R. E. Die metabolische Maschine ist unseres Wissens noch gar nicht in Deutschland zu haben. Exemplare können jetzt wohl blos durch den Verleger des betreffenden Buches: R. Bentley, bookseller, London, oder durch Asher und Co. in Berlin oder Denicke in Leipzig bestellt werden.




Soeben ist complet erschienen und in allen Buchhandlungen vorräthig:

Das gesammte Turnwesen.
Ein Lesebuch für deutsche Turner,
enthaltend an hundert abgeschlossene Musterdarstellungen von den
vorzüglichsten älteren und neueren Turnschriftstellern,
gesammelt und herausgegeben von
Georg Hirth.
(Mit den Bildnissen von Jahn, Gutsmuths, Vleth, Eiselen, Spieß und Martens.)

Es enthält dieses Werk, mit dessen Erscheinen einem längstgefühlten Bedürfnisse abgeholfen wird, in gediegener Auswahl und übersichtlicher Anordnung das Beste, was bisher von einem Arndt, Bock, Dürre, Eiselen, Goetz, Georgll, GutsMuths, Jahn, Ideler, Kloß, Lion, Martens, Passow, Pestalozzi, v. Raumer, Spieß, Vleth, Waßmannsdorf u. v. a. über die Bedeutung und die verschiedenen Seiten der Leibesübungen, über das Schul- und Vereinsturnen, über Militär- und Heilgymnastik etc., geschrieben und gesprochen worden ist. Begleitet von einer eingehenden turnerisch-biographischen Uebersicht vom Herausgeber, wird es ein unentbehrliches Lehr- und Lesebuch für alle mit dem Turnwesen Beschäftigten sein, und können wir es nicht nur den Mitgliedern und Büchersammlungen der Turnvereine, den Vereins-, Schul- und Militärturnlehrern, sondern auch allen Freunden einer gesunden Volkserziehung und namentlich allen Lehrern angelegentlichst empfehlen, die darin eine reiche Fundgrube nützlicher Winke und Rathschläge finden werden.

Complet in einem Band Preis 23/4 Thlr., oder 11 Lieferungen à 7½ Ngr., die einzeln bezogen werden können.
Leipzig.
Ernst Keil.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Diese touristisch-ethnographische Skizze ist in der That „über den halben Erdball“ zu uns herübergewandert, aus dem Staate Oregon im fernen Westen Nordamerikas und aus derselben Feder kommend, welcher die Gartenlaube (1865, Nr. 20) den mit so allseitigem Interesse aufgenommenen Aufsatz über die rheinischen Hurdy-Gurdys verdankt.
    Die Redaction.
  2. Dieser ließ diese seine Gemahlin im Jahre 1593 aus eifersüchtigem Verdachte anfangs in Eisenach gefangen setzen und dann in’s Kloster Sonnenfeld bringen. Im Jahre 1603 ward sie auf die Veste Coburg zurückgebracht, wo sie 1613 starb.