Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl Volckhausen
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das Rauhe Haus
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, 43, S. 649–652, 678–681
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[649]
Das Rauhe Haus.[1]
Ein Charakterbild aus dem Reiche der innern Mission.
I.

Der ehemalige Candidat der Theologie, jetzige preußische Oberregierungsrath Wichern rief vor einigen dreißig Jahren den Hamburger Reichthum an zu Gunsten der armen Jugend, die in den berüchtigten Gängen und Höfen der Großstadt in leiblichem und geistigem Elend zum Laster heranreift. Sein Ruf fand Gehör, und auf Grund einer Schenkung von sechs Scheffelsaat Land und eines Legats von sechs oder sieben Tausend Thalern begann die Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder unter Wichern’s Leitung ihre Thätigkeit. So entstand das vielbesprochene, berüchtigte und berühmte Rauhe Haus in Horn bei Hamburg.

Jedoch nur einen Antheil an der Existenz des Rauhen Hauses hat die vielbewährte Hamburgische Philanthropie. Mitgewirkt hat dabei ein anderer Factor – der positive Glaube. Ja, dieser Factor spielt für den Bestand der Anstalt heute jedenfalls die Hauptrolle. Wie Herr Wichern die Kinder retten wollte nach einer bestimmten Methode, durch eine streng religiöse Erziehung, durch die Erziehung im specifisch christlichen evangelischen Glauben, so recrutirten sich auch die Gönner und Unterstützer seines Unternehmens schon von vornherein vorzugsweise aus den Kreisen der ihm gleichgesinnten Gläubigen. Solche Gläubige hat das genußfrohe, weltlich gesinnte, dogmatischen Subtilitäten abholde Hamburg nicht gar zu viele; aber rasch wandte sich dafür auch die sympathische, hülfebereite Aufmerksamkeit der glaubenseifrigen Partei in Deutschland auf das junge Institut. Die Verbindung des Rauhen Hauses mit dieser Partei mochte die Hamburger Philanthropie stutzig machen, was that’s? – in jener Verbindung erweiterten sich die Ziele und vergrößerten sich die Mittel. Aus der Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder wurde nach und nach ein Complex von Instituten, die sammt und sonders einer scharf markirten, nicht nur für Hamburg und Deutschland, sondern für die ganze evangelisch-christliche Welt berechneten Propaganda dienen.

Diese kosmopolitische Tendenz und Wirksamkeit der auf kleinstaatlichem Grunde erwachsenen Anstalt wird es rechtfertigen, wenn ein kosmopolitisches Journal wie die Gartenlaube Notiz von ihr nimmt und mir gestattet das Institut zu schildern.

An einem Nachmittage, zu Anfang Juli, wanderte ich nach dem Dorfe, Flecken, oder richtiger gesagt nach der Vorstadt, Horn hinaus. Ein Hügelland, die Abdachung der Geest zur Marsch, erstreckt sich von Hamburg stundenweit nach Osten. Dieser Saum, mit Häusern besetzt, bildet die Vorstadt Hamm, dem sich Horn dicht anschließt. Hat man die Hamburg zunächst gelegene Vorstadt St. Georg passirt, so führt eine Hauptstraße am Fuße jener Abdachung, eine zweite oben auf der Höhe hin; zwischen beiden Straßen an dem Hange selbst liegen die hübschen Hammer und Horner Häuser und Villen mit ihren Gärten, mitten unter ihnen, reichlich Fünfviertel Stunde von Hamburg, die Colonie des Rauhen Hauses.

Ich war die untere Straße entlang gegangen und trat durch ein offen stehendes hölzernes Pförtchen auf das von lebendigen Hecken umrahmte Gebiet der Colonie. Auf meine Mittheilung, daß Jemand da sei, der die Anstalt sehen wolle, ward mir dann ein ferner gelegenes Haus bezeichnet, wohin ich mich zu wenden habe, und ein Knabe lief vorauf, mich anzukündigen.

Nicht lange, so kam ein junger Mann, der sich mir als Führer vorstellte. Er war, wie ich nachher im Gespräche mit ihm erfuhr, ein Candidat der Theologie aus der Pfalz, einer der sechs sogenannten „Oberhelfer“, welche unter des Generals Wichern und des Vicegenerals Rhiem Leitung den theologischen Generalstab der Anstalt bilden.

Wir begannen den Rundgang mit der Capelle oder dem Betsaal. Es ist das ein größeres Gebäude, das ungefähr in der Mitte der nördlichen Front des Gartens, hart an der auf der Höhe hinlaufenden Straße, liegt. Schmale Bänke ohne Lehne stehen wohlgeordnet rechts und links in dem oblongen Raum, zu dem eine Art Vorhalle führt; in gemessenen Zwischenräumen liegt darauf je ein ziemlich abgegriffenes Buch, es ist das Gesangbuch der Zöglinge, von Bunsen zusammengestellt, vom Rauhen Hause verlegt. An den Wänden laufen Bänke hin für die Brüder; im Hintergründe sind die Plätze der Oberhelfer. In der Vorhalle finden wir neben Bildern aus der „heiligen Geschichte“ das Portrait des Dr. Sieveking, der im Jahre 1833 der Anstalt die sechs Scheffel Land schenkte, und das Portrait von Wichern’s Mutter. Mein Führer erläuterte, die Verstorbene habe sich sehr eifrig und aufopfernd der Zöglinge angenommen. Nachher erfuhr ich, daß auch noch andere Glieder der Wichern’schen Familie mit der Anstalt verknüpft sind. Seine Tochter ist an den Vorsteher des vom Rauhen Hause betriebenen Verlagsgeschäfts verheirathet; seine Schwester folgte einem Mitgliede der Brüderanstalt in’s Ausland.

Der Betsaal ist nicht nur seiner Lage nach der Mittelpunkt der Anstalt. Er ist überhaupt das Centrum, um welches sich das Leben der Colonie in strenger Regelmäßigkeit bewegt. Jeden Morgen um sieben ein halb Uhr versammelt man sich hier, um Andachtsübungen zu verrichten, die Zöglinge mit der Bibel in der Hand, auf eine Viertel-, eine halbe oder eine ganze Stunde. Abends um acht Uhr finden eben solche Andachtsübungen statt. Am Sonntag sind besondere Stunden der Erbauung im Betsaal; außerdem wird die nahgelegene Kirche in Hamm besucht. In der Advents- und Fastenzeit kommt zur Morgen- und Abendandacht noch eine Mittagsandacht.

Vom Betsaal führte mich der Oberhelfer zunächst in den westlichen Theil der Anlagen. „Hier,“ sagte er vor einem niedrigen Häuschen stehen bleibend, „hier wohnt eine unserer Knabenfamilien, das Haus heißt die ,Fischerhütte’.“ Der Name kommt von einem Wassertümpel, der nahe dabei liegt, wie denn jede der für die Knaben der Rettungsanstalt bestimmten meist in Schweizerstyl erbauten Wohnungen der bequemeren Unterscheidung halber ihren Namen hat.

Die Rettungs- oder Kinderanstalt, ursprünglich der einzige und noch heute der dem Besucher in die Augen fallendste Zweck des Rauhen Hauses, zählt gegenwärtig etwa hundert Zöglinge, zu zwei Dritttheilen Knaben, zu einem Dritttheil Mädchen, die ersteren in fünf, die letzteren in zwei Abtheilungen getheilt. Jede Abtheilung mit den ihr sich widmenden Erziehern heißt eine Familie. Die Zöglinge sind Kinder von ungefähr zehn bis sechzehn Jahren, großentheils in Hamburg zu Hause, theilweise aber auch aus andern deutschen Staaten gebürtig, Kinder, die von ihren Eltern der Anstalt übergeben, und andere, die ihr von irgend einer Commune überwiesen sind, Kinder, die vor ihrem Eintritt blos einer guten Erziehung entbehrten und in den ersten Stadien der Verwilderung standen, aber auch solche, die bereits wegen verschiedenartiger Vergehen der Polizei in die Hände gefallen waren oder gar Gefängniß- und Zuchthausstrafen verbüßt hatten. Die Anstalt nimmt die Kinder unentgeltlich auf, kleidet sie, nährt sie, unterrichtet sie, ohne daß irgend eine Zahlung dafür beansprucht würde.

Die „Fischerhütte“ wird von etwa zwölf oder vierzehn Knaben, vier Brüdern und einem Oberhelfer bewohnt. Zu ebener Erde befindet sich die gemeinsame Wohn- und Arbeitsstube, ein gemeinsames Schlafzimmer, und ein kleiner Raum zum Waschen und Ankleiden. Eine Treppe hoch unter dem kleinen Ausbau im Dach sind das Wohn- und das Schlafzimmer der Brüder und des Helfers. Am längsten verweilte ich in dem Wohnzimmer der Kinder; das Bücherbret der Knaben fesselte mich. Ich nahm ein Buch nach dem andern heraus; in jedem Fache standen dieselben Werke, und mein Führer bestätigte mir die Vermuthung, daß ich hier das gesammte Unterrichtsmaterial der Rettungsanstalt vor mir habe. Und worin bestand es? Zuerst fiel mir Luther’s kleiner Katechismus in die Hände, mit curiosen erläuternden Holzschnitten versehen, im Verlage des Rauhen Hauses erschienen. Dann kam derselbe Katechismus noch einmal, aber ohne Bilder. Ferner: das Hamburgische Gesangbnch; ferner: ein „Geistliches Gesangbüchlein“: ferner: achtzig Kirchenlieder der Regulative. Dann: „Unsere Lieder“, eine Sammlung, die im Verlag des Rauhen Hauses erschienen ist und neben religiösen auch vaterländische und andere weltliche Lieder enthält. Darauf: das Münsterberger Lesebuch. Ferner: ein neues Testament. Endlich: die Bibel.

„Auch die Bibel geben Sie den Kindern in die Hände?“ fragte ich den Helfer.

[650] „Die Bibel?“ sagte er mit einem Tone der Verwunderung, und fuhr dann fort: „Die Bibel ist der Grund und Text alles Unterrichts.“

Ich wollte mich nur belehren, hatte nicht die Absicht mich durch eine Diskussion stören zu lassen und antwortete dem Helfer also nicht, daß ich die Bibel mit ihren hie und da unsaubern und mit der Moral unserer Zeit in schroffem Widerspruch stehenden Geschichten nicht sehr geeignet hielt zum Handgebrauch für Kinder, zumal für solche, deren Lernbedürftigkeit und Wißbegierde auf so schmale Kost gesetzt sei, wie auf das Münsterberger Lesebuch[2] im Rauhen Hause.

An der Wand des Wohnzimmers hing ein Blatt, auf dem Bibelsprüche standen, Wochensprüche, ich glaube auch Jahressprüche, die immer und immer wieder hergesagt werden. Sprüche für diesen Zweck berechnet sind zusammengestellt in einem Büchlein, das den Titel führt: „die dreifältige Schnur“. Der Stundenplan vervollständigt die Einsicht in das Wesen des Unterrichts. Die Knaben bekommen wöchentlich neun Stunden religiösen (dogmatischen oder geschichtlichen) Unterricht; das Singen, fast lauter religiöser Lieder, muß man hinzurechnen, macht zwölf Stunden. Der Sach- und Sprachunterricht ist mit acht Stunden angesetzt, aber auch der letztere muß sich zum Theil um religiösen Stoff drehen, da die Kinder um anderen Stoff verlegen sein würden. Von Sach- und Sprachunterricht habe ich auf dem Plane für den Sommer nur zwei Stunden „Weltkunde“ gefunden und mir erläutern lassen, daß in diesen Stunden Geographie und Botanik getrieben wird. Dem Rechnen sind nur drei Stunden gewidmet; wenn die Fortschritte der Kinder darin von Angestellten des Rauhen Hauses besonders gerühmt werden, so darf man wohl annehmen, daß sie selber die Leistungen in Sach- und Sprachunterricht nicht hoch anschlagen.

Die Zöglinge sind, wie das in Bezug auf ihre Vergangenheit ohne Zweifel nothwendig ist, auch außer den Unterrichtsstunden unter steter Aufsicht. Sie sind nie sich selbst überlassen. Auch in dem übrigen Tagesleben spielt das religiöse Element noch seine Rolle. Mit einem Morgengebet beginnt um fünf Uhr früh der Tag; vor Tische wird gebetet, nach Tische desgleichen, ebenso Mittags und Abends. Am Mittwoch Nachmittag ist eine Plauderstunde unter Leitung eines Bruders anberaumt; ein Capitel aus der Bibel giebt das Material dazu her.

Von der Fischerhütte wendeten wir uns einer Reihe von Gebäuden zu, in welchen die beiden Mädchenfamilien der Rettungsanstalt untergebracht sind und sich die Unterrichtszimmer für die Knaben, Waschküchen der Gesammtanstalt und dergleichen befinden. Die Organisation der Mädchenfamilien ist ähnlich wie die der Knaben, nur leben statt der „Brüder“ „Schwestern“ mit ihnen zusammen. Ich fand die Schwestern mit ihren Zöglingen im Freien, beschäftigt, Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. Viele der Kinder sahen ganz gesund aus und blickten unbefangen um sich her; hier und da leuchtete aus einem Paar kecker Augen freilich ein Weltsinn, von dem ich nicht zu sagen wage, wie er sich mit der religiösen Disciplin und Lehre von Inspector, Helfern, Brüdern und Schwestern verträgt.

In den Oekonomiegebäuden der Anstalt, die wir nun besichtigten, dem Backhaus der Colonie, der großen Halle mit Schneider-, Tischler-, Schuhmacher- und Schmiedewerkstätten zeugte Alles von einer trefflichen Organisation. Im nordwestlichen Winkel des Gartens steht ein stattliches Gebäude, das zu verschiedenen Zwecken dient. Im östlichen Flügel ist die Verlagsbuchhandlung des Rauhen Hauses, ein Buchhändlergeschäft en gros, das Detail- oder Sortimentsgeschäft befindet sich in der Stadt Hamburg, Hahntrapp Nummer fünf. Das Geschäft ist eilf Jahr später, als die Kinderanstalt, durch verzinsliche Capitalien, die von Freunden der Anstalt vorgeschossen wurden, begründet und hat in den einundzwanzig Jahren seines Bestehens einen außerordentlichen Umfang gewonnen. Nicht die Zahl der Verlagsartikel ist so sehr groß, aber die Anzahl der vertriebenen Exemplare muß ungeheuer sein. Die Schriften dienen bekanntlich dem Zwecke der innern Mission; wohlhabende und reiche Mitglieder der letzteren kaufen zumal die kleineren, billigen und populären Broschüren des Verlags und vertheilen sie gratis weiter; außerdem ist die Vertheilung dieser Schriften ein Hauptgeschäft der Stadt- und Landmissionäre; endlich giebt es besondere Colporteure, die mit „guten“ Schriften und „guten“ Bildern hausiren gehen. Mein Begleiter führte mich auch in diese Räume. Da lagen in Zimmern und Gängen die Verlagsartikel aufgestapelt an den Wänden zu Tausenden. In der Stube, die zugleich zum Comptoir und Laden zu dienen schien, waren auf einem Tische verschiedene Novitäten ausgebreitet: Schillingsbücher, Schriften Wichern’s, Broschüren der mecklenburger Fanatiker Kliefoth und Krabbe, wenn ich nicht irre, u. A. Der Novitätentisch ist wohl lediglich berechnet auf die Besucher der Colonie, die aus der Nähe und besonders aus der Ferne in den Sommermonaten in großer Zahl sich einfinden.

In dem mittleren Theile des Gebäudes befindet sich die Brüderanstalt des Rauhen Hauses. Hier ist sehr wenig zu sehen: Hörsäle, Wohnzimmer. Der größte Theil der Brüder wohnt ja auch in den im Garten zerstreut liegenden Familienhäusern der Knaben, oder in dem Pensionate, wovon sogleich die Rede sein wird. Dennoch ist gerade die Brüderanstalt das bemerkenswertheste Institut des Rauhen Hauses. Sie und der Verlag geben dem Hause seinen eigentlichen Charakter. In beiden prägt sich der Geist, der in den Gesammtbestrebungen waltet, am schärfsten aus; der Geist – ich kann ihn hier einstweilen nicht näher bezeichnen, als der Geist der innern Mission. Auch was die Wirksamkeit betrifft, so überragen Brüderanstalt und literarische Propaganda alles Andere weit; das Andere dient ihnen. Nur der ganz oberflächlich in die Anstalt blickende Besucher kann sich täuschen lassen und glauben, die Kinder-Rettungsanstalt sei die Hauptsache oder ein vom Ganzen abzulösendes Institut.

Mein Begleiter-Oberhelfer, der es sonst als wohlgeschulter Cicerone an erläuternden Bemerkungen nicht fehlen ließ, widmete der Brüderanstalt auch nur ein paar Worte. Ich flechte über die Organisation derselben also in der Kürze das Nöthige ein, was aus den Berichten Wichern’s und aus der bekannten Broschüre Holtzendorff’s, respective der Entgegnung des Bruders Oldenberg erhellt.

Das Wesen der Bruderanstalt des Rauhen Hauses ist mit einem Worte schwer zu definiren. Man hat sie ein Seminar für Sendboten und Jünger der innern Mission genannt; aber man erschöpft damit bei Weitem nicht ihre Bedeutung. Holtzendorf nennt sie einen protestantischen Orden (im Staatsdienst), was die Vertreter des Rauhen Hauses zu einer eifervollen Verwahrung gegen das Wort „Orden“ und zu einer sorglichen Hervorhebung der Unterschiede zwischen der Brüderanstalt und katholischen Orden veranlaßt hat. Nun, ein katholischer Orden ist die Brüderschaft allerdings nicht; Holtzendorf hat das aber auch nicht behauptet. Sagen wir, um jedem Wortstreit aus dem Wege zu gehen: die Brüderschaft ist ein Bund, ein Verein, dessen Mitglieder gelobt haben, sich ausschließlich der Arbeit der innern Mission zu widmen, oder eine Genossenschaft, die sich um das Rauhe Haus als ihren Mittelpunkt gesammelt hat, um, wie die „Ordnungen“ der Brüderschaft selber in dem Missions-Jargon sagen, „um dem Herrn in seiner evangelischen Kirche und zwar in der evangelischen Kirche Deutschlands zu dienen, damit auch durch ihren Dienst innerer Mission das Reich Gottes in unserm Volke gebaut werde in Kraft seines heiligen Namens und in Erweisung der barmherzigen Liebe, die aus dem Glauben stammt und an welcher der Herr einst die Seinen erkennen wird.“ Die Mitglieder dieses Bundes bestehen aus Hausbrüdern, Sendbrüdern und Freibrüdern. Die Ersteren sind diejenigen, welche sich im Mutterhause in Horn befinden; Ende 1863 – für 1864 ist noch kein Bericht erschienen – ungefähr vierzig; der Sendbrüder, d. h. der nach auswärts gesandten, waren zu eben dieser Zeit etwa zweihundert und sechszig; die Freibrüder bilden eigentlich eine Kategorie für sich, sie sind eine Art von Ehrenmitgliedern des Bundes, die sich angeschlossen haben, aber in ihrem bürgerlichen Berufe bleiben. Die Organisation des Bundes ist die folgende: An der Spitze der Verwaltung steht eine Section des Verwaltungsrathes des Rauhen Hauses, Vorsitzender Wichern; dies Curatorium führt die Verwaltung und Oberaufsicht über den ganzen Bund. Unter ihm besteht ein Ober-Convict, Ober-Convictmeister Wichern; die Mitglieder desselben heißen „Oberbrüder“; es leitet die Wirksamkeit des ganzen Bundes und erhält die Disciplin in demselben; ein Helferconvict, der besonders die schriftlichen Angelegenheiten der Brüderschaft besorgt, steht ihm zur Seite. Das Gros der Bundesmitglieder ist dann in Convicte getheilt; mehrere Convicte bilden einen Convent. Es giebt geschlossene Convicte, aus Brüdern bestehend, die in einer Anstalt [651] oder sonst nahe beisammen wohnen, und Correspondenz-Convicte, aus Brüdern bestehend, die zerstreut leben. Die Convicte und Convente führen meist biblische Namen; so heißt der Convict des Königreichs Sachsen Salem, der Convent in Moabit (Berlin), der aus sechs Convicten besteht, Ebenezer, im Rauhen Hause selbst sind die sechs Convicte Bethlehem, Nazareth, Bethel, Cana, Emmaus und Tabor, die den „Convent des Brüderhauses“ bilden. An der Spitze jedes Convicts steht ein Convictmeister, vom Oberconvict eingesetzt; ohne Concession des Oberconvicts kann sich kein Convict bilden und keiner auflösen. Die „geschlossenen“ Convicte versammeln sich regelmäßig zu gewissen Zeiten, mindestens alle sechs Wochen, sonst alle vierzehn Tage. Die Sitzungsprotokolle sendet der Convictmeister an den Bundes-Obersten, Wichern, dieser sie mit seinen Randbemerkungen versehen zurück an den betreffenden Convict. Die Verhandlungen in den Convictversammlungen gelten als Familienangelegenheiten der Brüderschaft; gegen Nichtbrüder darf davon nicht gesprochen werden.

Die sechs Convicte in Horn sind nun zugleich die Pflanzschule des Bundes. Aus jungen Männern zwischen zwanzig und dreißig Jahren, meist dem Handwerker- und Lehrerstande angehörig, natürlich vor allen Dingen vom rechten Glauben beseelt, recrutirt sich der dortige Convent, sobald der Abgang eines Mitgliedes als Sendbruder eine Lücke reißt. Sie werden vom Vorsteher Wichern, vom Inspector Rhiem und von den Oberhelfern unterrichtet und geschult, als Gehülfen der Kinderanstalt ein paar Jahre praktisch ausgebildet, um dann gleichfalls als Lehrer, als Missionäre, als Gefangenwärter, Krankenpfleger, Hausväter und Gehülfen in anderen Rettungshäusern in die Welt zu gehen. Die „Ordnungen“, nach denen Leben und Wirken der Brüder geregelt ist, zeugen sowohl von dem „frommen“ als von dem praktischen Sinne Wichern’s, der ohne Zweifel an der Aufstellung dieser Ordnungen den hervorragendsten Antheil hat. Zum täglichen Gebet und täglichen Bibelgebrauch, zur gemeinschaftlichen, periodisch zu wiederholenden Fürbitte für den Erfolg des Bundes und für die Ausbreitung des Reiches Gottes unter den Heiden, zum regelmäßigen täglichen Gebrauch der schon erwähnten „dreifältigen Schnur“, zur fleißigen Theilnahme an den sogenannten Gnadenmitteln der Kirche verpflichten sich die Brüder wie für Alles, was ich gleich anführen werde, durch Handschlag und Namensunterschrift, und werden durch Verweis vom Vorsteher Wichern, in zweiter Instanz vom Oberconvict durch Exclusion und Verlust des Anspruchs an die gemeinschaftliche Hülfscasse bestraft. Sie sind in ihrem Missionsberufe je ihren unmittelbar Vorgesetzten, resp. dem Vorsteher zu Gehorsam verpflichtet; Jedem wird bei der Entsendung bekannt gemacht, wann er sich verheirathen kann; will er zur Verlobung schreiten, so hat er dem Vorsteher der Brüderschaft zuvor vertrauliche Anzeige zu machen; Jeder hat die Verbindung mit dem Brüderhause durch Correspondenz mit dem Vorsteher, durch Entrichtung des „Bruderthalers“ an die gemeinschaftliche Hülfscasse, durch Bericht über seine Convictbrüder, wenn diese vielleicht Aergerniß geben und in Gefahr sein sollten, irre zu gehen und zu fallen, an den Vorsteher, durch Ueberwachung und sittliche Förderung der ihm etwa beigegebenen jüngeren Gehülfen, durch Anrufung des Vorstehers in Collisionsfällen, aufrecht zu erhalten; Jeder verpflichtet sich, ohne Consens seiner Vorgesetzten keinerlei fremdes Amt oder Handlung neben dem ihm anvertrauten Berufe zu treiben.

Ob man diese wohl- und festgegliederte Verbindung einen Orden nennen darf? Ich überlasse die Entscheidung dem Leser und fahre in dem Bericht über meine Wanderung fort.

An das Brüderhaus stößt das Pensionat, der westliche Flügel des mehrerwähnten Gebäudes. Hier werden Knaben bemittelter Eltern gegen Kostgeld als Zöglinge aufgenommen. Im Gegensatz zu den Eleven der eigentlichen Rettungsanstalt sind es lauter Fremde, etwa zwanzig, Hamburg hat zu dem gegenwärtigen Bestand keinen einzigen geliefert. Der Oberhelfer sagte mir mit einer gewissen Genugthuung, daß Söhne sehr vornehmer Leute, Kinder von Grafen und Baronen, darunter seien. Ein paar aus Kurland; woher die andern waren, die er nannte, habe ich vergessen. Es sind Knaben, deren Erziehung den Eltern schwierig wurde. Die Einrichtungen im Pensionat sind denen in der Kinderanstalt ähnlich, nur bemerkt man, daß bei aller Einfachheit die Rücksicht auf Sparsamkeit nicht so maßgebend war. Auch der Unterricht ist umfassender, er soll einem Gymnasialunterricht bis zur Secunda (einschließlich) ungefähr gleich stehen. Die Pensionäre unterliegen derselben religiösen Disciplin, wie die Kinder der Rettungsanstalt und werden auch in körperlicher Arbeit geschult.

Wir gingen nun quer durch die Colonie, an im Garten arbeitenden Kindern vorüber, mit denen sich zu unterhalten dem Fremden indeß nicht gestattet ist, vom nordwestlichen Winkel nach dem südöstlichen.

„Ist das Wichern’s Wohnung?“ fragte ich, als wir in die Nähe eines schönen, leuchtend weiß angeworfenen Hauses gelangten, auf das ich schon vor meinem Eintritt in die Colonie auf der Horner Straße von einem Vorübergehenden, den ich nach dem Wege fragte, aufmerksam gemacht war.

„Das ist die Wohnung des Herrn Doctor Wichern,“ entgegnete der Oberhelfer; „er lebt im Sommer hier, den Winter über in Berlin.“

„Man darf ja wohl etwas näher treten, um sich die hübsche Villa ein bischen anzusehen ?“ sagte ich und bog auf den Weg zu, der in das die Wohnung vollständig umrahmende Gebüsch führte.

„Nein,“ sagte der Oberhelfer eilig, „das Gebäude ist lediglich Privatwohnung, das geht nicht an.“

„Nun,“ erwiderte ich stehen bleibend, „ich beabsichtige auch gar nicht, in die Privatwohnung zu dringen, aber einen Blick aus größerer Nähe auf das Haus zu werfen, wird doch verstattet sein?“

„Ich bedaure, auch der Garten ist Privatgarten,“ sagte der Candidat, „das Haus wie der Garten ist Eigenthum des Herrn Doctor Wichern und liegt zwar hier am Rande der Anstalt, gehört aber derselben nicht.“[3]

Also weiter! Ungefähr in der Mitte des Gartens liegt die Druckerei des Rauhen Hauses; abermals ein geräumiges, seinem Zwecke wohl entsprechendes Gebäude. Sie druckt zunächst die Schriften der Verlagsbuchhandlung, nimmt aber auch anderweitige Aufträge an. Sie steht unter einem Factor, und der Gewinn, den sie macht, ist für die Kinderanstalt bestimmt. In ihr, wie in der dicht dabei liegenden Buchbinderei, werden auch Zöglinge unter Leitung von Brüdern im Setzen, Drucken und Buchbinden unterwiesen.

Im südöstlichen Winkel fand ich das Häuschen, das der ganzen Anstalt den Namen gegeben hat – Rauhes Haus. Es war das einzige Gebäude, das im Jahr 1833, wo die Anstalt begründet wurde, auf dem geschenkten Terrain stand, ein Schweizerhäuschen mit Strohdach, von breitastigen, alten, schönen Bäumen beschattet. Wichern und seine Mutter wohnten hier mit den ersten Zöglingen. Um die Erinnerung an das allmähliche Emporwachsen der Anstalt aus winzigen Anfängen zu wahren, hat man es in seiner ursprünglichen Gestalt gelassen. Die Pietät ist wohlbegründet, und der Contrast zwischen einst und jetzt, wo sechzehn bis zwanzig Gebäude auf dem ehedem beinahe wüsten Terrain stehen, frappant. Das Häuschen mit Strohdach hieß eigentlich Ruge’s Haus, nach dem Namen eines früheren Besitzers; Ruge’s Haus ward im Laufe der Zeit verhochdeutscht in Rauhes Haus, und die Leiter der Rettungsanstalt adoptirten diesen Namen. Jetzt dient es als Familienhaus für Knaben.

„Für das Crucifix scheinen die Herren Brüder eine besondere Vorliebe zu hegen,“ äußerte ich zu meinem Begleiter, indem wir das Zimmer der Brüder des ,Bienenkorbs’, eines andern Familienhauses, verließen und die Treppe hinunterstiegen – über den Pulten hing nämlich hier wie fast überall ein Bild des Gekreuzigten[4]

„Aber Sie werden das doch nicht antiprotestantisch oder katholisirend finden?“ sagte der Oberhelfer.

„Darauf reflectire ich nicht,“ erwiderte ich, „ich finde es nur charakteristisch für den hier herrschenden Geschmack.“

Wir näherten uns nun wieder dem Mittelpunkt, von dem wir ausgegangen waren, dem Betsaal und der Inspectorwohnung. Damit war unser Rundgang beendet. Wohl hatte ich den Wunsch, dem Unterrichte beizuwohnen, und sprach ihn auch aus. Mein Begleiter erklärte mir jedoch, daß das nicht gestattet sei, außer auf besondere höhere Erlaubniß, zu besonderem Zweck. Da ich keinen Zweck angeben konnte, als die Wißbegierde oder Neugierde eines Schriftstellers, so mußte ich verzichten. Der Candidat ersuchte mich noch, in das Fremdenzimmer der Inspectorwohnung zu treten, um meinen Namen in ein für diesen Zweck bestimmtes [652] Buch zu zeichnen. Ich hatte Nichts dagegen. Im Zimmer stand eine Büchse zur Aufnahme der freiwilligen Gaben der Besucher. Zur Casse des Rauhen Hauses – wenn auch nur ein paar Schillinge – beizusteuern, konnte ich mich jedoch nicht entschließen. Ich dankte dem Oberhelfer aufrichtig für die Mühe, die er mehrere Stunden lang durch mich gehabt, und schied. –

„Aber – ein paar Schillinge hätten Sie doch in die Büchse werfen sollen, sei’s auch nur Anstands halber,“ sagte eine zufällig anwesende Freundin meiner Frau, als ich nach der Heimkehr von meinem Besuch im Rauhen Hause erzählte.

„Verehrte Frau,“ entgegnete ich ihr, „ich glaube, Ihre Bemerkung richtet sich selbst. Eine Gabe der Sympathie wagen Sie mir nicht zuzumuthen, aber die Gabe des Anstands soll ich nicht versagen? Ich denke, daß solche mit kaltem Herzen gereichte Anstandsgaben uns sehr wenig ‚anstehen‘. O über die Anstandsrücksichten und das sogenannte anständige Handeln! Eine lange Vorlesung ließe sich darüber halten, den Männern und den Frauen! Der Anstand, dies hohle Wort, beherrscht unser Leben. Um des Anstands willen scheuen wir es, offen und rückhaltlos Partei zu ergreifen, um des Anstands willen verbergen wir unsere Ueberzeugungen, um des Anstands willen unterstützen wir sogar unsere schlimmsten Gegner!“

„Schlimmsten Gegner?“ sagte unsere Freundin; „aber sollten wir in der Anstalt des Rauhen Hauses denn blos etwas Gegnerisches finden und nicht auch etwas uns Verwandtes? Ich habe keine Vorliebe für diese Methode der Rettung verwahrloster Kinder. Die Erziehung, wie Sie dieselbe schildern, ist mir viel zu fromm, viel zu religiös, viel zu pietistisch. Ich mag nicht dies unablässige Beten, dies herzbrechende Seufzen über die Sünde, dies hirnverdrehende und geisttödtende Aufsagen biblischer Sprüche. Ich meine, daß verständige Belehrung, menschlich-liebreiche Behandlung, freundliche Gewöhnung an regelmäßiges Arbeiten ohne den Glaubensapparat besser den Zweck der Rettung verlorner Kinderseelen erreichen würden, als Herrn Wichern’s Methode. Aber ich dächte, wie der Zweck und das Ziel der Rettungsanstalt – das Retten überhaupt – ein edles wäre, so hätten Sie auch in Ihrer Erzählung anerkannt, daß in der Anstalt Manches zu loben sei. Steht diese Anerkennung nicht im Widerspruch mit einer Feindseligkeit, die auch die kleinste Gabe versagt?“

„Ich denke nicht,“ erwiderte ich. „Doch zur Verständigung darüber werden wir nicht zwischen Thür und Angel“ – die Freundin war aufgestanden und hatte den Hut genommen – „gelangen. Erinnern Sie mich, wenn wir uns wiedersehen, daß ich Ihnen eine Antwort schuldig geblieben bin.“



[678]
II. Behandlung der Zöglinge. – Innere Mission. – Beschützer und Vorstände derselben. – Ihre Literatur und ihr Kampf gegen den Fortschritt. – Die Gönner und Colporteure des Rauhen Hauses. – Die rettende Liebe und der streitende Glaube.

Es verstrichen ein paar Wochen, bis das im ersten Abschnitte erwähnte Gespräch wieder aufgenommen wurde. Inzwischen hatte ich in Begleitung eines auswärtigen jungen Freundes der Anstalt noch einmal einen Besuch gemacht, bei dieser Gelegenheit den Inspector Rhiem getroffen und mit ihm eine mehrstündige Unterhaltung gehabt, durch die sich mein Urtheil über die Organisation und das Wesen des Rauhen Hanses in Einzelheiten klärte und im Ganzen befestigte. Ich fasse für den Leser in möglichst gedrängter Kürze zusammen, was ich der Freundin in behaglicher Breite auseinandersetzte.

Indem ich wiederum von der Kinderanstalt ausgehe, muß ich zunächst, wenn ich so sagen darf, die Anerkennung, die ich ihr hie und da gezollt, vervollständigen, oder richtiger die Vorurtheile, die ihr gegenüber herrschen, beseitigen. Man sagt, die Kinder werden dort mit barbarischer Strenge behandelt, bekommen viel Prügel, müssen hungern u. s. f. Diese Nachrede ist ohne Zweifel falsch. Sie ist, wie die andern sogleich zu erwähnenden, im Allgemeinen auf die instinctive Abneigung der hamburgischen Bevölkerung gegen die specifisch christliche Rettungsmethode überhaupt, im Besonderen auf einzelne in die Oeffentlichkeit gedrungene Fälle aus dem Leben des Rauhen Hauses zurückzuführen. Es kam und kommt vor, daß Kinder entlaufen, es kam sogar vor, daß Kinder sich zu entleiben versuchten, und das Publicum machte daraus seinen Rückschluß auf die Behandlung der Kinder. Wenn man jedoch bedenkt, daß [679] in der Anstalt Zöglinge sind, welche vor ihrem Eintrit den Diebstahl schon handwerksmäßig betrieben hatten, in die Reize eines liederlichen Vagabundenlebens und die Genüsse berauschender Getränke bereits tief eingeweiht waren, so verlieren diese ohnehin verhältnißmäßig seltenen Fälle ihr Auffallendes. Eine straffe Disciplin ist für eine solche Anstalt unerläßlich; von einer barbarischen Disciplin sind trotz der Wachsamkeit des Hamburger Publicums und trotz der offenen Thüren keine Fälle constatirt. Auch zu der landläufigen Behauptung, das Rauhe Haus erziehe die Kinder zu Kopfhängern und Pietisten, muß ich einen Vorbehalt machen. Was man für gewöhnlich Kopfhängerei nennt, der mondsüchtige, süßliche, sentimentale Pietismus der Romantiker regiert im Rauhen Hause nicht. Nicht, als ob es an Gewinsel über Sünde und Sündhaftigkeit fehlte, aber dasselbe hat ein Gegengewicht an dem Nachdruck, der auf den rechten Glauben, auf das orthodoxe Bekenntniß gelegt wird.

Endlich ist man in Hamburgs liberalen Kreisen wohl nicht immer ganz gerecht in Bezug auf die praktischen Leistungen der Kinderanstalt. Ich habe zahlreiche Hamburger Handwerker gefragt und von ihnen die einstimmige Antwort erhalten: „Man nimmt die Zöglinge des Rauhen Hauses ungern als Lehrlinge, sie werden leicht rückfällig oder sind heuchlerische Betbrüder.“ Es wird etwas Wahres hieran sein. Die Alternative, Rückfällige oder Heuchler zu werden, liegt für junge Menschen, welche aus einer mit Religion übersättigten Treibhausluft in die kühlere wirkliche Welt treten, sehr nahe. Der Unterschied ist zu groß, die meisten Zöglinge ergreifen ein Handwerk, gehen in Seedienst oder werden Knechte und Mägde – wer die religiöse, Freunde des Rauhen Hauses sagen natürlich die irreligiöse, Stimmung dieser Hamburger Kreise kennt, wird es von vornherein bezweifeln, daß die von Wichern und den „Brüdern“ gegebene Parole dort durchweg befolgt wird. Indeß muß man Zweierlei in Anschlag bringen: erstens, daß der in unserm großstädtischen Leben sonst ganz allgemeine Trieb, im Leben emporzukommen und es weiter zu bringen als es die Eltern gebracht haben, in der Kinderanstalt nicht nur nicht gepflegt, sondern eher systematisch unterdrückt wird; man giebt den austretenden Zöglingen durchschnittlich nur die dürftigsten Kenntnisse mit und predigt ihnen unter dem Namen der christlichen Demuth das bescheidene und resignirte Verharren auf den untersten Sprossen der socialen Rangleiter. Zweitens bemüht sich die Verwaltung des Rauhen Hauses nach Kräften, die Verbindung mit den entlassenen Kindern aufrecht zu erhalten, sie sorgt für deren Unterkommen bei frommen Meistern, in „christlichen“ Familien; sie versieht sie mit Lectüre, läßt sie durch Sendbrüder besuchen und heißt sie willkommen in der Anstalt, wenn sie dort Rath und Hülfe suchen oder die Festlichkeiten des Rauhen Hauses mit begehen wollen. Wie der niedrige Stand der Bildung aber ein Präservativ gegen die Heuchelei, so ist der dauernde Zusammenhang mit dem Mutterhause ein Präservativ gegen den Rückfall in alte Fehler oder Laster. Fasse ich Alles in Allem zusammen, so möchte ich dem Rauhen Hause das Verdienst nicht bestreiten, daß es jährlich zwanzig bis dreißig Kinder von der Gasse hinwegnimmt und an ein geordnetes, den Gesetzen entsprechendes Leben gewöhnt.

Und doch war die Rede von den schlimmsten Gegnern? Gewiß. Verirrt sich die in Hamburg herrschende Antipathie gegen die Rettungsanstalt auch hier und da zu schlechtbegründeten Anklagen und kleinlichen Urtheilen, so ist der antipathische Instinct im Ganzen doch nur zu wohl berechtigt. Ich habe schon einmal gesagt, daß man die Kinderanstalt nicht ablösen darf von dem Gesammtzweck des Rauhen Hauses: sie ist ein festeingefügtes Glied des Ganzen, ein integrirender Bestandtheil des großen, dem Dienste der inneren Mission geweihten Instituts.

Das Rauhe Haus mit allen seinen Verzweigungen ist ein geschlossener Cirkel. Brüder arbeiten als Missionäre in Hamburg und schaffen das lebendige Material für die Kinderanstalt; die Kinderanstalt ist das Recrutirungsmagazin für die „Brüderschaft“, denn die fähigeren unter den Kindern werden zu Gehülfen ausgebildet; die Kinder sind das Object, an dem die Brüder ihre Studien machen. Die literarische Propaganda wirkt für die Kinderanstalt; die letztere als in die Augen springendes Monument des Strebens und Schaffens für die Brüderanstalt und die Literatur des Rauhen Hauses. Dazwischen eingefügt, der Kinderanstalt coordinirt, steht das Pensionat, den höheren Sphären der Gesellschaft bietend, was jene den niederen Kreisen leistet. Alles aber – Unterricht und Literatur, Brüderschaft und Rettungsinstitut – durchdringt derselbe Sinn, derselbe Gedanke, derselbe Geist, der Geist der innern Mission.

Der Geist der innern Mission! Die innere Mission datirt in ihrer äußern und innern Bestimmtheit bekanntlich vom Jahre 1848. In Wittenberg trat damals eine Versammlung von etwa fünfhundert Personen, großentheils protestantische Geistliche, zusammen, das eigentliche Gegenparlament der Frankfurter constituirenden Versammlung. Sie schleuderte ihr Anathema gegen die volksthümlichen Bestrebungen, das Vaterland einig und frei zu machen, proclamirte das Festhalten am positiven, geoffenbarten Glauben als Mittel und Zweck ihres Wirkens und Strebens und setzte, energischer als das Frankfurter Parlament, sofort einen Vollziehungs-Ausschuß nieder, den Central-Ausschuß für die innere Mission. Der Central-Ausschuß hatte seinen Sitz in Hamburg und in Berlin. Wichern war die Seele des Ausschusses, wie er es noch heute ist. Was bisher an christlichen Rettungshäusern, christlichen Vereinen vereinzelt bestanden hatte, wurde nun in Zusammenhang gebracht. An die innere Mission klammerten sich alle religiösen, der freien Entwicklung feindlichen Elemente. An ihr rankten der preußische Treubund und ähnliche Vereine empor. Auf sie stützten, mit ihr verbündeten sich die Regierungen, von Manteuffel bis zu Hassenpflug und Hannibal Fischer und Bismarck. Hauptquartier und Arsenal ward das Rauhe Haus. Der geschmeidige Wichern besaß das Vertrauen Friedrich Wilhelm’s des Vierten und seiner Gemahlin Elisabeth; er wußte auch die höchsten Persönlichkeiten des jetzt regierenden Königshauses zu gewinnen. Er schlich sich mit bewundernswerther Gewandtheit von der Manteuffelei durch die „neue Aera“ zur neuesten Reactionsperiode. Er spielt, mutatis mutandis, bei den Hohenzollern der Gegenwart die Rolle des Pater Joseph bei dem Habsburger Ferdinand des siebzehnten Jahrhunderts. Von Missionswegen predigt man Gehorsam gegen die factisch bestehende Obrigkeit; von Regierungswegen empfiehlt man die Schriften der inneren Mission, leistet ihr Vorschub an allen Ecken und Enden und nimmt die Dienste der „Brüder“ in Anspruch.

Es ist eine ganz unverkennbare Aehnlichkeit zwischen dem Jesuitismus in der katholischen Kirche und der innern Mission in der protestantischen Welt. Beide bezeichnen ein krampfiges Emporraffen der altgläubigen gegen die ungläubige Welt. Die innere Mission will gleich der Gesellschaft Jesu den großen welthistorischen Proceß der Entwicklung aufhalten; als eine geharnischte Glaubensarmee wirft sie sich in die Bresche, welche Wissenschaft und Leben in die Dogmatik der protestantischen Secten, in den Buchstabenglauben, in die Lehren der Bibel gebrochen. Alles, was noch fest hält am Bekenntniß, am Buchstaben der Schrift, will sie sammeln; sammeln unter einer Fahne, in einem großen Heer, gegen einen Feind. Darum erscheint sie und erscheinen ihre Jünger in gewissem Sinne vorurtheilslos. Die Parole der innern Mission ist: kein Zank und Zwiespalt unter den Gläubigen; kein Streit um die alten Differenzpunkte unter den protestantischen Parteien, keine Polemik gegen den Katholicismus; fechten die Parteien immerhin unter den alten Fähnlein, wenn sie nur zusammenstehen unter der großen Fahne, als eine geschlossene Phalanx im Kampf gegen die rationalistische, ungläubige und halbgläubige, fortschrittliche oder indifferente Menschheit. So saßen oder sitzen Stahl und Wichern, Nathusius und Bethmann-Hollweg, Nitzsch und v. Tippelskirch, Snethlage und Senfft v. Pilsach (Oberpräsident von Pommern) brüderlich vereint im Central-Ausschuß für die innere Mission. Mögen sie abweichender Meinung sein in Bezug auf diese oder jene dogmatische Subtilitäten oder in Bezug auf einzelne politische Fragen: in der Hauptsache, in der Bekämpfung des gemeinsamen Gegners, sind sie einig.

Diese allerdings sehr begrenzte Vorurtheilslosigkeit hob der Inspector Rhiem, als ich mich mit ihm über die Tendenz des Rauhen Hauses unterhielt, sehr nachdrücklich hervor. „Man identificirt uns häufig mit der Kreuzzeitungspartei,“ sagte er, „aber das ist unrichtig.“ Ich fand keinen Grund, diese Behauptung zu bestreiten; denn in der That steht die Sache so, daß das Rauhe Haus und die innere Mission allerdings nicht eine Fraction der Kreuzzeitungspartei sind, daß die Kreuzzeitungspartei aber eine Fraction der Partei der innern Mission ist. Eine über die oben skizzirten Grenzen hinausreichende Vorurtheilslosigkeit jedoch, die der Inspector [680] Rhiem dem Rauhen Hause vindiciren wollte, konnte ich nicht gelten lassen. „Wir wollen,“ sagte Jener, „im Grunde nur dasselbe, was Schulze-Delitzsch mit seinen Genossenschaften, das Volk emporheben aus dem physischen und sittlichen Elend!“ – „Das kommt mir seltsam vor,“ entgegnete ich, „denn noch vor ein paar Tagen las ich in Wichern’s ,fliegenden Blättern aus dem Rauhen Hause (1864)’ einen von Wichern geschriebenen Aufsatz, worin derselbe constatirt, daß die Berliner Arbeiter und Genossenschafter sich auf das allen Religionen gleich heilige Gebot der Nächstenliebe und auf den Satz: .Bedenke, Mensch, wie groß Du bist, Dein Wille Dein Erlöser ist,' berufen, und in Folge deß ein Lamento anstimmt, daß man vom Christenthum nichts mehr wisse.“ – „Ich erinnere mich deß nicht,“ meinte Herr Rhiem, „aber – Wichern ist doch auch nicht das Rauhe Haus.“

Demjenigen, der das Rauhe Haus und die innere Mission kennt, wird diese, – darf ich sagen Verleugnung? – des Meisters nicht gar zu auffallend erscheinen. Die Partei weiß sich – auch darin ihrem katholischen Vorbilde ähnlich – nach dem Erforderniß des Augenblicks zu richten und nach der Decke zu strecken. „Bei Jünglingen,“ räth der Stuttgarter Prälat von Kapff, in einer vom Rauhen Hause verlegten, vom Centralausschusse der innern Mission herausgegebenen, gekrönten Preisschrift, „bei Jünglingen dürfen wir aber nicht zu fromm sein.“ Und als mein Freund Ludwig Walesrode vor mehreren Jahren die Anstalt in Horn besuchte, entschuldigte sich ihm gegenüber einer der höheren Beamten des Instituts wegen der Inverlagnahme und wegen des Vertriebs des berüchtigten schmutzigen Romans „Eritis sicut deus“ damit, daß derselbe von hoher Hand dem Rauhen Hause übermittelt worden. Eine Entschuldigung freilich, aber was für eine!

Indeß über das Wesen und die Tendenz des Rauhen Hauses kann trotz alledem für jeden nur ein wenig schärfer Hinblickenden kein Zweifel sein. Die Gesammtliteratur, der Gesammtverlag des Instituts ist eine untrügliche Quelle und ein unverdächtiger Zeuge.

Auf die eben citirte Schrift von Kapff, „die Revolution, ihre Ursachen, Folgen und Heilmittel“, mache ich vor allen Dingen aufmerksam. Sie ist ihrem Inhalte nach gleichsam das Compendium der Tendenzen der innern Mission, und der Preis, der ihr ertheilt ist, bürgt für das Ansehen, in dem sie steht. Nach ihr giebt es nur eine gemeinsame Quelle alles Bösen – den unkirchlichen, unchristlichen, ungläubigen Sinn, nur ein Heilmittel – den positiven Glauben. Zu dem grausen Bilde, das dort von der Revolution entworfen wird, haben die Schriften Heinzen’s, wie die Crawalle von 1848, die Bestrebungen der Demokratie, der liberalen Opposition und des flügellahmsten Fortschritts die Farben liefern müssen; Atheismus und Communismus, Rationalismus und Republicanismus ist bunt durcheinandergemengt; Alles, was freie Menschen lieben, wird verketzert, verdammt und denuncirt. Unsere Dichter, unsere Philosophen, unsere politischen Märtyrer werden begeifert; die Ideale Schiller’s sind nicht „hoch“ genug, weil der Glaube darin fehlt; gegen die Entwicklung der Wissenschaft, gegen die Freiheit der Presse und der Vereine ruft man das Evangelium und daneben den Polizeistaat zu Hülfe. Mit ekelerregender Lust wühlt der Prälat in den menschlichen Fehlern und Lastern, mit widerlichem Behagen verweilt er bei den einzelnen, bei jedem versichernd, daß die unchristlichen und unkirchlichen wie die rebellischen Gesinnungen daraus hervorgingen. Ich glaube, es giebt keine Gemeinheit, die der würtembergische Generalsuperintendent nicht hervorzieht. Er spricht des Breiteren von der Sünde Onan’s und setzt hinzu: „Wie bei vielen Ungläubigen, so gewiß (was wohl ein Lessing’scher Graf Appiani zu diesem „gewiß“ sagen würde?) bei vielen Revolutionären ist diese Sünde der Wurm, der das Herzblatt des Lebens zerfressen hat und taub macht gegen jede bessere Stimme.“ Er deutet auf den Gräuel Sodoms hin und fügt bei: „So beschmutzte Seelen sind natürlich Empörer gegen Gott und gegen alles göttliche und menschliche Gesetz.“ Jene jesuitische Methode, wonach die Wurzel aller freien Bestrebungen in den unfläthigsten Lastern, die Wurzel der unfläthigsten Laster im Abfall vom Glauben gesucht wird, jene Methode ist die des Prälaten Kapff und der inneren Mission überhaupt.

Denn die Winke, die der Prälat giebt, sind in den übrigen Schriften des Rauhen Hauses nur zu gut befolgt. Ich habe die meisten dieser Schriften gelesen, darunter gegen sechszig „Schillingsbücher“. Die letzteren verdienen vor allen Dingen Beachtung. Es sind lauter kleine Hefte von wenigen Bogen, großentheils je eine tendentiöse, novellistische Erzählung enthaltend. Ich weiß nicht, was ich an ihnen mehr bewundern soll, das Geschick, auf die verschiedensten Interessen, Bedürfnisse und Ideen des Volks einzugehen, oder das Geschick zu verleumden. Die Personen, welche redend und handelnd eingeführt werden, sind aus allen Sphären des niedern Lebens: das eine Mal ein reicher Bauer, das andere Mal eine arme Näherin, dann ein paar Buchdrucker, ein Messerschmied, ein Stadtsoldat, ein Schiffer etc. Bald ist die Tendenz recht grell aufgetragen, bald so versteckt, daß sie nur der Kundige findet, etwa in einem Hinweis auf die segensreiche Wirksamkeit Wichern’s und des Rauhen Hauses. Das ganze Register der specifisch-christlichen Töne, von der drastischen und cynischen Sprache der „Kreuzzeitung“ bis zu der jeden Anstoß meidenden Redeweise des „Daheim“, kann man da studiren. Auf die ökonomischen und materiellen Verhältnisse der kleinen Leute nehmen die Schillingsbücher besondere Rücksicht. Manchmal scheint es deshalb bei flüchtiger Lectüre sogar, als sei die Empfehlung der Sparsamkeit, der Ordnung, kurz der wirthschaftlichen und bürgerlichen Tugenden der einzige Zweck, bis man genauer nachsieht und den Hinweis auf den Glauben entdeckt. Tugend ohne den Glauben ist keine Tugend. „Ehrlichkeit,“ heißt es in einer Erzählung, „ist nur ein leeres Traumbild ohne die schauerlich bestätigende Bürgschaft des Himmels und der Hölle.“ Auch die reactionäre politische Tendenz offenbart sich oft nur in scheinbar ganz beiläufig hingeworfenen Bemerkungen; so etwa, wie in der Erzählung „Mönchsküche“ am Schlusse ein Säugling auftaucht mit einer schwarz-weißen Fahne in der Hand, oder wie in dem Schillingsbuche „nur ein Schwein“ den königstreuen Sackträgern von Danzig, denen gegenüber „die Demokraten und Rebellen sich nicht hätten mucksen dürfen“, eine Standrede gehalten wird.

Viele Schillingsbücher aber gehen directer auf das Ziel der innern Mission los und lassen deren Fahne freier flattern. Die politisch-religiöse Reaction spricht aus ihnen ohne Blume und ohne Scham und behandelt in allen möglichen Nüancirungen das Thema: aus der moralischen Verkommenheit entspringen der Unglaube und der politische Liberalismus und umgekehrt. Hier macht man sich die Sache einfach: man hält sich nicht etwa bei den Abstufungen des politischen und religiösen Liberalismus auf, man verurtheilt in Bausch und Bogen; man spricht sein Schuldig auf Motive hin, welche zwar nicht der Sache selbst entnommen, aber dem Volke verständlich sind; die Personen der Gegenpartei, welche geschildert werden, entbehren aller Moralität, sie sind schlechte Haushalter, unordentliche Leute, Verschwender, Trunkenbolde, Lügner etc. Die Demokraten, die Republicaner, die Freien und Freigemeindler, diejenigen, welche die Portraits freigemeindlicher Prediger oder dasjenige Robert Blum’s auf ihrem Zimmer hängen haben, sind regelmäßig verluderte Subjecte. Die Handwerkervereine – natürlich die Jünglingsvereine der innern Mission ausgenommen – sind die Brutstätten des liederlichen und lasterhaften Lebens; der schwarze Kasten am Rathhause, wo man die Civilehen proclamirt, wird signalisirt als ein Schlupfwinkel für liederliche Dirnen und unehrliche Mädchen.

Was die Wirkung dieser vergifteten Pfeile, welche die Schillingsbücher in Gestalt von Anklagen auf Immoralität und von Denunciationen auf den gesammten Liberalismus abschießen, glücklicherweise schwächt, ist die anderweitige Inhaltlosigkeit und geistige Armuth jener Scharteken.

Auf eine Widerlegung der gegnerischen Meinungen, auf Gründe lassen sie sich nicht ein. In einem der Hefte wird einem Gläubigen eine Schrift gegeben, welche die Wunder Jesu kritisirt und von Widersprüchen in der Bibel redet; es wird sodann gefragt: „Was sagst Du dazu?“

„Gar nichts!“ sagte der Gefragte.

„Gar nichts?“

„Nein, gar nichts, denn mit Leuten, die dergleichen schreiben und die dergleichen für wahr halten, läßt sich nicht disputiren und aus dem Disputiren kommt ohnedies nichts heraus. Ich für meinen Theil thue dies nicht mehr. Wer zum Glauben nicht Lust hat, wird ihn aus dem Disputiren nicht lernen.“

Selbstverständlich sind damit die Schriften Strauß’s, Renan’s, Schenkel’s, Wislicenus’ und die Bestrebungen des Protestantentags verurtheilt.

[681] Mit dieser Theorie machen die Schillingsbücher in der That Ernst. Sie discutiren über den Inhalt und die Berechtigung der freieren Ansichten nicht, sie begründen den Glauben nicht, sie stellen ihn nur hin als eine conditio sine qua non des sittlichen Lebens und der Seligkeit, als das höchste Gut. Der Glaube hat einen unschätzbaren Werth an sich und deckt vieles Andere zu. Von diesem Standpunkte aus kann man einen Werth darauf legen, wenn ein wüster, zum Nachtwächter degradirter, aber zum Glauben bekehrter Bauer in seinem nächtlichen Rundgesange den dreieinigen Gott lobt, aber außer der Predigt von Buße und Glauben, von Gehorsam gegen die Obrigkeit und von der Sünde und den Sündern bringt man dem Volke auch nichts. An dessen intellectuelle Fähigkeiten wendet die innere Mission sich nicht, dessen geistigen Horizont sucht sie nicht zu erweitern. Diese Welt soll womöglich bleiben, wie sie ist, dörflich, spießbürgerlich, die Vernunft in den Fesseln des Glaubens. Wie man sein Schwein mästet und seinen Acker baut, darüber hinaus soll man nicht denken! Man hat den Katechismus und die Sonntagspredigt, darüber hinaus soll man nicht grübeln!

Mit dieser geistigen Bettelhaftigkeit, die sich nicht nur in den Schillingsbüchern, sondern auch in dem Unterrichtsplan des Rauhen Hauses ausprägt und in dem übrigen Treiben der innern Mission nur mit Mühe verdeckt wird, – mit dieser geistigen Bettelhaftigkeit wäre die innere Mission und mit ihr das Rauhe Haus auch niemals die Macht geworden, die sie sind, wenn sie an dem reactionären Staate unseres Jahrhunderts nicht eine Stütze gefunden hätten. An der Hand des vormärzlichen hamburgischen Polizeistaates kam das Rauhe Haus empor; Senatoren saßen im Verwaltungsrath desselben, die Polizei vermittelte anfangs dem allgemein verbreiteten Gerüchte zufolge, daß die Kinderanstalt Zöglinge bekam, der öffentliche botanische Garten in Hamburg lieferte für die Anlagen in Horn Pflänzlinge von Bäumen und Gesträuchen. Der nachmärzlichen politischen Reaction hat sich die innere Mission mit ihrem Centrum, dem Rauhen Hause, unentbehrlich zu machen gewußt: sie gilt jener als der festeste Damm, der sich der freien Entwickelung entgegenbauen läßt.

Niemand wird verkennen, von welch’ bedeutendem Einfluß es schon sein muß, wenn die höchsten Würdenträger des Staats, die, wie die Listen der Beiträge zum Rauhen Hause ergeben, die Hauptgönner und Förderer derselben sind, mit freigebiger Hand ihre Schatullen öffnen zum Besten eines Bundes von Gläubigen, die es meisterhaft verstehen, diese Huld der „Großen“ mit christlicher Demuth bei „kleinen Leuten“ zu verwerthen. Wenn der König von Preußen für das nach dem Muster des Rauhen Hauses gegründete und organisirte Johannesstift in Berlin Tausende schenkt, und wenn die Königin einen „Bruder“ des Rauhen Hauses zu ihrem Almosenier ernennt, so sind das Signale, die von den Staatsministern, den auf Avancement hoffenden Beamten, dem Hofadel und dem weiblichen Personal der Reaction rasch verstanden werden. Aber dieser Einfluß maßgebender Personen, so nützlich er der Partei ist, hat immerhin doch nur einen privaten Charakter. Indeß er erstreckt sich weit über die Privatschatulle hinaus. Zunächst auf die Kirche, deren wichtigste Aemter zum großen Theil unter gar keiner oder unter einer sehr beschränkten Mitwirkung der Gemeinden von den fürstlichen summis episcopis besetzt werden. In Mecklenburg, in Hannover, in den Lippe’schen Fürstenthümern und vor Allem in Preußen sind z. B. die höchsten Kirchenämter durchweg im Besitz von Parteigängern der innern Mission. Unter ihrem geistlichen Druck bilden und erweitern sich Missionsvereine, werden Rettungshäuser gestiftet und wird die literarische Propaganda organisirt. Von der Kirche rückt der Einfluß dann weiter auf die Schule: der Lehrstoff wird für sie zugemessen und zugeschnitten nach rauhhäuslerischem Maß, und manchem armen rationalistischen Volksschullehrer wird von seinem Geistlichen das irdische Leben so lange heiß gemacht, bis er empfänglich geworden ist für das himmlische Commißbrod eines Wichern und seiner schwarzen Garde.

Und auch hiermit ist die Unterstützung, die der Staat dem Wirken dieser die Freiheit, Vernunft und Wissenschaft bekämpfenden religiösen Fraction leistet, nicht erschöpft. Die zweitausend Thaler Kostgeld, die aus preußischen Staatsmitteln an die Brüderschaft des Rauhen Hauses gezahlt wurden, sind zwar auf Veranlassung des Abgeordnetenhauses zurückgezogen, und ich kann nicht behaupten, daß ein Landesfonds gemeint ist, wenn Wichern berichtet, daß der Staatsminister Graf zu Eulenburg „einen zu seiner Disposition stehenden Fonds von 2500 Thalern“ dem Johannesstift überwiesen habe. Aber die Verwendung der Brüderschaft, der geistlichen Corporation, im Dienste des preußischen Staats, in den Strafanstalten desselben – eine Verwendung, die von Holtzendorff mit Recht so scharf gerügt worden ist – dauert fort, und, was praktisch noch viel bedeutsamer, der Staat gewährt dem rauhhäuslerischen Treiben auf dem Boden des Vereinslebens und der Presse eine völlig privilegirte, monopolisirte Stellung. Den Verfolgungen und Maßregelungen von Arbeitervereinen, freien Gemeinden und liberalen Preßorganen muß man die ungehemmte Bewegung der Missionsvereine und die ungestrafte Circulation der rauhhäuslerischen Literatur, worin ein unbedingter Gehorsam gegen die „Obrigkeit von Gott“ gepredigt und verfassungsmäßige Institutionen des modernen Staats geschmäht und verketzert werden, nothwendig entgegenhalten, um eine richtige Vorstellung von der Lage der Dinge zu gewinnen.

Aber immer noch nicht genug: der Staat, d. h. die Inhaber der Staatsgewalt, helfen selbst bei der Verbreitung der Literatur der innern Mission. An sich ist die literarische Propaganda allerdings auch schon wohl organisirt. Die Brüder des Rauhen Hauses in der Fremde sind die natürlichen buchhändlerischen Agenten. Sie stehen meist in der Mitte von Vereinen, deren Mitglieder Abonnenten auf die fliegenden Blätter des Rauhen Hauses und Abnehmer anderer Schriften sind. Diese Abnehmer vertheilen die Schriften gratis. Aber die Missionsvereine oder in ihrem Namen die „Brüder“ engagiren auch besondere Colporteure, die entweder jahraus jahrein oder jährlich ein paar Monate lang je einen bestimmten Bezirk bereisen und gegen einen Taglohn oder gegen Rabatt ihre Schriften an den Mann zu bringen suchen. In den Städten ist der Absatz meist gering, auf dem Lande größer. Die Colporteure dieser billigen, nur nach Pfennigen berechneten Broschüren sind ohne Concurrenten und würden auch bei eintretender Concurrenz in den von der Cultur wenig beleckten ländlichen Districten, zumal wenn ihnen das Fürwort des Pfarrers oder Küsters nicht fehlt, einstweilen noch siegreich bestehen. Indeß, wie gesagt, auch hier hilft der Staat. Nicht nur durch die officielle Empfehlung der Literatur des Rauhen Hauses und der innern Mission, sondern in den fliegenden Blättern Wichern’s lese ich in dem Bericht eines schlesischen Missionsvereins, daß den Landräthen von einer Schrift je hundert Exemplare zugeschickt wurden. Daß diese sie an die Dorfschulzen u. s. w. befördert haben, steht nicht dabei, aber nach dem, was mit den reactionären politischen Blättern vorgekommen, ist nicht daran zu zweifeln.

Die innere Mission und das Rauhe Haus sprechen von der „rettenden Liebe“, allein dasjenige, um das es ihnen eigentlich und hauptsächlich zu thun, ist der „streitende Glaube“. Auf diese Predigt des streitenden verfinsternden Glaubens hin giebt ihnen der Absolutismus ein Privileg und ein Monopol. Und in dieser privilegirten Stellung, die sie in dem größten Staate Deutschlands einnehmen, ruht die Gefahr, womit sie das deutsche Leben bedrohen.

Um so mehr Ursache haben die Philanthropie und der gesammte Liberalismus, dem Rauhen Hause und Allem, was mit ihm zusammenhängt, gegenüber, die Augen offen zu halten. Hier ist das Hauptquartier eines gefährlichen, gemeinschaftlichen Gegners. Es mag als eine komische Consequenz erscheinen, wenn der rationalistische Hamburger Hauptpastor Schmalz es einstens ablehnte, der Uebermittler einer für das Rauhe Haus bestimmten Gabe zu sein, aber im Grunde hatte der Mann doch Recht. Mit dieser jedem Fortschritt sich entgegen stemmenden Institution, mit diesem nach rückwärts gewandten Verein, mit diesem auf dem positiven Glauben und dem mittelalterlichen Dogma fußenden Bruderbunde sollten wir Kinder der modernen Welt, die wir nur ein Fünkchen von Liebe hegen für die Freiheit und für freie Einrichtungen, freie Kunst und freie Wissenschaft, keine Gemeinschaft haben, ihnen keinerlei Vorschub leisten.

Karl Volckhausen.



  1. Bei der Wichtigkeit dieser Brütanstalt kirchlicher und staatlicher Reaction glauben wir unsere Leser auf den vorstehenden, durchaus auf Wahrheit beruhenden und vollkommen unparteiischen Aufsatz ganz besonders aufmerksam machen zu müssen.
    D. Red.
  2. Es ist im preußischen Seminar zu Münsterberg verfaßt.
  3. Durch die Unterstützung seiner Gönner ward Wichern Ankauf des Terrains und Bau des Hauses ermöglicht.
  4. Ein solches steht auch auf dem Arbeitstische des Inspectors Rhiem.