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Artikel „Giesebrecht, Heinrich Ludwig Theodor“ von Franz Kern in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 159–161, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Giesebrecht,_Ludwig&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 12:58 Uhr UTC)
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Giesebrecht: Heinrich Ludwig Theodor G., Dichter und Historiker, der dritte Sohn Benjamins G., geb. den 5. Juli 1792 zu Mirow, gest. den 18. März 1873 zu Jasenitz. Mit seinem Zwillingsbruder Friedrich genoß er die erste Bildung auf der Schule seines Geburtsortes. Beide besuchten darauf die oberen Classen des Gymnasiums zum grauen Kloster in Berlin und bezogen zusammen[WS 1] 1812 die dortige Universität. In Berlin verlebten sie die inhaltsschwer, sie mächtig anregende Zeit bis zum Frühling 1813. Da unterbrachen sie das Studium und traten als Freiwillige in das mecklenburgisch-strelitzsche Husarenregiment ein. Mit einander nahmen sie an der Schlacht bei Katzbach Antheil. Bald darauf verfiel Ludwig G. in eine lange und schwere Krankheit, die ihm die Rückkehr zum Kriegsdienst unmöglich machte. Nach seiner Genesung setzte er seine Studien in Greifswald fort, mit historischen und poetischen Arbeiten, die ihn schon auf der Schule besonders angezogen hatten, unausgesetzt beschäftigt. Als der Krieg von neuem begann, trat auch er wieder ins Heer ein, zog mit nach Frankreich, ohne diesmal an einem größeren Gefechte Theil zu nehmen. Nach dem Friedensschluß kehrte er in die Heimath zurück, ging aber schon Anfang 1816 nach Stettin, um an dem dortigen vereinigten königlichen und Stadt-Gymnasium [160] als Lehrer einzutreten. Hier in dieser seiner zweiten Heimath lebte er ein äußerlich wenig bewegtes, innerlich sehr reiches Leben, gelehrte Forschungen treibend oder poetisch das gestaltend, was sein Gemüth erregte, beschränkt auf seine glückliche Häuslichkeit. Nur einmal war er auf längere Zeit von Stettin abwesend, als seine Mitbürger ihn zum Abgeordneten für die Frankfurter Nationalversammlung gewählt hatten. An der Schule unterrichtete er als einer der ausgezeichnetsten Lehrer derselben über funfzig Jahre (seit 1826 Professor) hauptsächlich im Deutschen, in der Geschichte und in der Religionswissenschaft. Zu Michaelis 1866 trat er in den Ruhestand. Doch seine wissenschaftliche und dichterische Arbeit ruhte nicht; und er, der früher nur sehr selten zu kurzen Reisen sich entschlossen hatte, machte nun wiederholt längere Reisen nach dem Süden Deutschlands, nach Tirol und Norditalien und erfrischte sich an der herrlichen Gebirgsnatur, an dem Anschauen von Kunstwerken, an dem Verkehr mit seinen beiden Neffen, mit Eduard Böhmer (jetzt Professor in Straßburg, damals in Halle), den er auf seinen Reisen nach dem Süden wiederholt besuchte, und mit Wilhelm von Giesebrecht, bei dem er längere Zeit in München lebte. In seinen letzten Lebensjahren wohnte er bei einer Tochter in Jasenitz (nicht weit von Stettin oderabwärts), bis wenige Stunden vor seinem Tode mit litterarischen Arbeiten beschäftigt. Sein historisches Hauptwerk sind die im J. 1843 erschienenen „Wendischen Geschichten aus den Jahren 780 bis 1182“. Diesem Buche waren viele monographische Arbeiten über nordische Geschichte voraufgegangen, die zum Theil als selbständige Broschüren erschienen, zum Theil als Programme des Gymnasiums von ihm veröffentlicht wurden, zum größten Theil aber in Zeitschriften, besonders in den pommerschen Provinzialblättern (zuerst von Haken, dann von G. und Haken gemeinschaftlich herausgegeben) und in den baltischen Studien, dem Organ der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Alterthumskunde enthalten sind. In seinen wendischen Geschichten hat er ein neues reiches Quellenmaterial verwandt, manche vergangenen Zustände zuerst aufgehellt, den Zusammenhang vieler Vorgänge zuerst erkannt und so eine klare Einsicht in eine vordem in tiefes Dunkel gehüllte wichtige historische Entwicklung zuerst erschlossen, so daß dieses Werk der Ausgangspunkt für alle Forschungen geworden ist, die sich auf die Zustände des alten Wendenlandes beziehen. Ein größeres geschichtliches Werk ist außerdem von ihm das „Lehrbuch der Geschichte“ in drei Theilen, als Grundlage für seinen Unterricht im Gymnasium ausgearbeitet („Lehrbuch der alten Geschichte“, Berlin 1833. „Lehrbuch der mittleren Geschichte für den Gebrauch der oberen Gymnasialklassen und zum Selbstunterricht“, Stettin 1836. „Lehrbuch der neueren Geschichte“, Stettin 1846). Als Schulbuch ist das Werk wegen seines reichen Inhalts weniger geeignet, aber es zeichnet sich nicht blos aus durch die meisterhaft concise, bei aller Gedrängtheit edle und fließende Darstellung, sondern es ist auch in ihm der gewaltige Stoff dergestalt in innere Verbindung gebracht, wie es kaum in einem andern derartigen Werke geschehen ist. Was er auf dem Gebiete der Philosophie, der Theologie, der Litteratur- und Kunstgeschichte geforscht und gedacht hat, findet sich fast alles in der seit dem Jahre 1860 von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Damaris“, deren Aufsätze in den drei ersten Jahrgängen ihn allein zum Verfasser haben. Für die beiden letzten Jahrgänge (1864 und 1865) verband er sich mit Eduard Böhmer zu gemeinschaftlicher Herausgabe. Eine Zeitschrift in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes ist die Damaris nicht; weil sie aber der Ausdruck einer rückhaltlos wahrhaftigen Persönlichkeit, die Arbeiten eines scharf denkenden, umfassend gelehrten, phantasievollen, für alles Hohe und Heilige begeisterten Mannes enthält, so bleibt diesen in classisch edler Sprache geschriebenen Aufsätzen ihr Werth für alle Zeiten. Dichterisch ist G. thätig gewesen von den ersten Jünglingsjahren an bis an sein [161] Lebensende. Viele von seinen dichterischen Productionen sind nie veröffentlicht worden, so die meisten von seinen geistlichen Poesien, von denen nur ein geringer Theil in die Sammlung seiner Gedichte aufgenommen ist, so fast alle seine Dramen, von denen nur eins, „Lazar“ in den pommerschen Provinzialblättern erschienen ist, endlich alles, was er nach dem Jahre 1866 gedichtet hat. Oeffentlich hervorgetreten ist er zuerst mit den von seinem Freunde Karl Löwe, dem bekannten Balladencomponisten in Musik gesetzten Oratorien (die sieben Schläfer, die eherne Schlange u. a.). Die erste Sammlung seiner Gedichte erschien im J. 1836 (bei Emil Güntz in Leipzig), eine zweite sehr vermehrte, mit vielen erläuternden Anmerkungen, die oft zu längeren Darlegungen werden, im J. 1867 (bei Th. v. d. Nahmer in Stettin). Es sind gedankenreiche innige Poesien, bald durch schlichteste Anmuth, bald durch schwungvolle Erhabenheit den Leser fesselnd. Nirgends abgegriffene Münzen aus werthlosem Metall, sondern echtes Gold mit neuem eigenthümlichem Gepräge. Es ist in manchen dieser Gedichte viel mehr enthalten, als es auf den ersten Anblick scheinen will: die Gedanken so gedrängt, die Worte so bedeutsam, daß die Fülle des Inhalts oft für mehr als ein Gedicht ausgereicht hätte. Allerdings ist dadurch und durch manche Anspielungen auf Thatsächliches, das dem Leser unbekannt ist, nicht selten Dunkelheit in die Gedichte gekommen, so daß erst die in der zweiten Ausgabe hinzugekommenen Anmerkungen dem Leser den vollen Inhalt mancher Gedichte erschließen. Die Diction paßt sich dem Gedanken auf das innigste an; es ist, als ob es der durch die Natur der Sache selbst gegebene Ausdruck wäre, frei von jeder Ziererei, von jedem rednerischen, hohlen Pathos, von jedem gesuchten Bilderschmuck, so schlicht und natürlich, wie etwa in Goethe’s Iphigenie oder in sophokleischen Dialogen, die er selber wiederholt als sein unerreichbares Vorbild bezeichnet hat. Weitaus am bedeutendsten ist er als Lyriker. Auch von seinen epischen Poesien sind einige vortrefflich, andere leiden an Dunkelheit. Den dramatischen Dichtungen fehlt die rechte individualisirende Charakterisirung. Der Inhalt seiner Poesien ist mannigfaltig genug. Frühling und Liebe, das Glück der stillen Häuslichkeit und die Schicksale seiner Heimath, der engeren wie der weiteren, das einsame Sinnen des Denkers und die Arbeit an der Schule, kriegerische Begeisterung und unverbrüchliche Treue dem Herrscherhause gegenüber, sein zweifelndes Grübeln und angstvolles Ringen, das seines schwer erkämpften Glaubens gewisse, gottergebene Gemüth – alles das tönt durch die Lieder unseres reichen Dichters. So haben seine Dichtungen, vor allem seine Lieder, einen sehr viel höheren Werth, als man nach der verhältnißmäßig geringen Verbreitung derselben schließen möchte. Auch in seiner praktischen Wirksamkeit war G. ein bedeutender eigenartiger Mann, weniger in seiner vorübergehenden politischen Thätigkeit, in welcher er seiner beschaulichen Natur gemäß nie besonders hervorgetreten ist, als während seiner mehr als fünfzigjährigen pädagogischen Arbeit. Denn er hat durch seine Persönlichkeit als Lehrer gewirkt reinigend und begeisternd, nachhaltig und tief anregend wie wenige, seine Schüler erziehend zur Freiheit nicht minder als zur Besonnenheit, ein unversöhnlicher Feind alles flachen, phrasenhaften Geredes, jeder nebelhaften Unklarheit. Er hat viele Schüler gehabt, die mit Verehrung zu dem Manne emporschauten, der idealen Sinn, ein Hinwenden des Geistes aus der platten Nützlichkeit, aus der flüchtigen Lust auf das Ewige und Unentreißbare nicht pathetisch predigte, sondern in dem leuchtenden Beispiel seiner eigenen Lebensführung ihnen vor die Augen stellte.

Vgl. Ludwig Giesebrecht als Dichter, Gelehrter und Schulmann, dargestellt von Franz Kern, Stettin 1875.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: zusamemen