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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[533]

Die Rechte des Herzens.


I.

„Es drängt mich, Sie zu sprechen, Henriette, ich muß Sie sprechen, denn ich leide! Doch nein, ich leide nicht, ich bin im Gegentheil glücklich, da ich Sie diesen Abend auf dem Balle sehen kann. Ach, Sie werden in Ihrem blauen Kleide so schön sein, daß Sie einem Engel glichen, wenn Sie nicht schon ein Engel in Wirklichkeit wären. Da ich vermeiden will, daß die schlechte Welt unsere Liebe ahnt, beklatscht und bekrittelt, so werde ich mich auf dem Balle nur wenig mit Ihnen unterhalten; aber finden Sie sich um elf Uhr, wo der Tanz am lebhaftesten ist und Niemand unsere Abwesenheit bemerkt, in der Orangerie eh. Als Zeichen der Gewährung meiner Bitte befestigen Sie die rothe Rose in Ihrem Gürtel, die ich Ihnen während des ersten Walzers, den wir zusammen tanzen, geben werde. Ich bringe ein schweres Opfer, indem ich Sie den ganzen Abend am Arme eines Andern sehe, aber ich bringe es der Welt wegen.

Adolf M ..“

Diesen Brief hatte Adolf Morgens an die Adresse befördert, und Abends war er der erste, der mit hoffnungsfrohem Herzen das kleine duftende Wäldchen betrat, denn er hatte die rothe Rose in Henriette’s Gürtel gesehen. Aber auch die Eifersucht hatte sich seiner bemächtigt, die Eifersucht auf einen jungen Mann, der oft mit der reizenden Henriette getanzt hatte. In tödtlicher Unruhe erwartete er die Stunde des Stelldicheins. Es war das erste Mal, daß ein Zweifel, eine finstere Ahnung in ihm erwachte.

Endlich schlug die ersehnte Stunde; aber es verging noch einige Zeit ehe Henriette erschien. Sie war sichtlich aufgeregt und zitterte.

Die beiden jungen Leute traten Arm in Arm in die Dunkelheit des Wäldchens. Die ruhige, aber mondlose Nacht verbreitete nur einen schwachen Schimmer über die schlummernde Erde. Geheimnißvoll, wie die Liebesgedanken, welche diese beiden Herzen bewegten, war das rings herrschende Schweigen.

„Warum sind Sie so traurig, mein lieber Freund?“ fragte Henriette mit sanfter, schmeichelnder Stimme.

Er antwortete nicht sogleich, die Eifersucht beherrschte ihn völlig. Erst nach einigen Augenblicken schilderte er mit Schmerz und Leidenschaft die Ahnungen, die sich ihm aufdrängten, und die Furcht, daß dieser Ball ihrer Liebe verhängnißvoll werden könne.

„Sie sind thöricht!“ rief sie aus. „Also deshalb, weil ich mit einem andern jungen Mann getanzt habe, quälen Sie sich mit Sorgen und Befürchtungen! Gestehen Sie es nur, Sie sind auf Otto Winter eifersüchtig!“

„Ja, Henriette, ich bin auf ihn eifersüchtig!“

„Ich schwöre Ihnen, Adolf, daß er nicht ein Wort von Liebe zu mir gesprochen hat.“

„Wahrhaftig? Ach, Henriette, dieses Geständniß macht mich unaussprechlich glücklich! Aber es schien doch, daß er sich oft zu Ihnen neigte. Jedes Wort, das Sie ihm sagten, war für mich ein Dolchstoß.“

„Er unterhielt mich von meiner Cousine Friederike, die Sie kennen; auch befragte er mich über das Vermögen meiner Tante.“

„So will er Friederiken wohl heirathen?“

„Man möchte es glauben.“

„O welch’ ein Glück!“

Nun folgte ein süßes Schweigen, das den Verliebten eine glückseligere Unterhaltung gewährt, als die leidenschaftlichsten Worte. Dieses Schweigen unterbrach Henriette; ganz leise, als ob sie fürchtete von einem Lauscher gehört zu werden, flüsterte sie:

„Sie wissen es ja, Adolf, daß ich nur Ihnen angehören werde!“

„O wiederholen Sie noch einmal diesen süßen Schwur, daß ich ihn in mir aufnehme und in den geheimsten Falten meines Herzens aufbewahre!“

Und wie schon oft, so wiederholten jetzt feuchte Blicke und zärtliche Händedrücke zum hundertsten Male jene heiligen Gelübde, die nur Gott allein hört.

Das Gesicht des jungen Mannes flammte in Purpurröthe; er ergriff die Hand Henriette’s, legte sie auf sein heftig klopfendes Herz, und sagte:

„Wie Sie, habe auch ich einen Eid zu leisten – wie Sie, Henriette, nehme auch ich Gott zum Zeugen, daß ich Sie liebe, und daß ich nie eine Andere lieben werde! Ich schwöre, daß ich von Morgen an alle Energie und Kraft, die in mir ist, anwenden werde, um Ihrer würdig zu werden und Sie vor den Augen der Welt besitzen zu können. Nehmen Sie diesen Eid an, Henriette, und wenn ich je meineidig werde, so verdammen Sie mich ohne Mitleiden!“

Der Engel der Liebe, der die Herzen und Gewissen durchschauen kann, und mit Liebe aufrichtige Seelen sucht, um einen Augenblick bei ihnen zu ruhen, hätte vor Glück erbeben und den reinen Duft zu Gottes Thron emportragen müssen, der diesen Abend dem geheimnißvollen Wäldchen entströmte.

„Bewahren Sie die rothe Rose, die ich Ihnen geschenkt habe und die Sie im Gürtel tragen,“ fügte Adolf hinzu.

„Und ich gebe Ihnen diese rothe Rosenknospe, die ich für Sie gepflückt habe!“ sagte Henriette.

[534] „Diese beiden Blumen werden uns wie Blicke des Himmels bis zu dem Augenblicke beschirmen, wo ich Ihrer würdig sein werde!“

Die beiden Glücklichen vergaßen, daß sie sich auf der Erde befanden. Da plötzlich umschwirrte eine Fledermaus mit ihren schwarzen Flügeln die Häupter der Liebenden. Henriette schmiegte sich erschreckt an den jungen Mann; dieser wehrte den Unglücksvogel mit der Hand ab. Aber Adolf war tief erschüttert – ein kalter Schauer durchrieselte seinen ganzen Körper. Beide sagten sich indessen so oft, daß sie sich liebten, sie entwarfen so viel thörichte Pläne, daß sie für den Augenblick die unheilvolle Vorbedeutung vergaßen.

Henriette kehrte in den Ballsaal zurück. Der junge Mann, berauscht von seinem Glücke, machte einen Spaziergang auf das Land, der sich auf die ganze Nacht ausdehnte – erst spät am Morgen betrat er die Stadt wieder.


II.

Der Leser wird fragen, wer ist, was arbeitet Adolf; was für einen Zweck verfolgt er, und was hofft er in der Gesellschaft für eine Stellung einzunehmen, die er seiner Henriette bieten kann? Was will er werden? Adolf war ein armer Künstler, der sich einen Ruf erwerben wollte, ein Künstler, der keinen andern Schutz hatte, als den Gottes und seines Genies, der keine andere Hoffnung hegte, als daß einst die Menge sich nach ihm drängen und ihm Beifall spenden sollte. Es war dies eine etwas kühne Hoffnung – aber einem Musiker schien die Verwirklichung derselben nicht unmöglich. Rührt nicht die Musik, mehr noch als die Dicht- und Malerkunst, die Herzen der Menge? Ist sie nicht das sympathetische Band zwischen dem Menschen und Gott, die unsichtbare Leiter von den sichtbaren zu den unsichtbaren Dingen, die geheimnißvolle Stimme, die auf der Erde die Sprache des Himmels zu reden scheint?

Adolf hatte keine Eltern mehr. Die Unwissenheit eines Vormundes hatte ihm seine Carrière gehemmt; aber dadurch war sein Eifer nur noch reger geworden. Er war nur erst einundzwanzig Jahre alt, und schon hatte er sich bemerkbar gemacht, aber leider nicht so bemerkbar, daß er eine Stellung einnahm. Adolf sollte noch ein Jahr eifrig studiren, und dann, so hatte man ihm versprochen, würde er Gold und Ehre ernten. Seit er Henrietten das feierliche Eheversprechen gegeben, studirte er mit einem glühenden Eifer die Partituren Weber’s, Mozart’s und Beethoven’s. Er hoffte eine Krone zu gewinnen, die der reinen Stirn seiner Geliebten würdig war.

Getrieben von seinen edeln Gesinnungen, arbeitete der junge Künstler Tag und Nacht, um groß und geachtet zu werden. Er zählte fest auf Henrietten; die Liebe verklärte den Horizont seiner Zukunft mit einem rosigen Scheine, und wurden ja einmal Zweifel wach, so fragte er sich: was habe ich zu fürchten? Henriette hat mir im Angesicht? Gottes einen feierlichen Eid geschworen, und Gott gibt nicht zu, daß man vergebens einen Eid schwört.

Die kleine rothe Rose, die Henriette mit ihren Lippen berührt, war längst verwelkt; aber Adolf trug sie stets wie einen Schatz auf seiner Brust.

Wie ist man doch glücklich mit einundzwanzig Jahren, und wie gut denkt man von Welt und Menschen!

Eines Abends kehrte er aus dem Conservatorium der Musik in seine Wohnung zurück. Sein Gesicht verklärte ein edler Stolz, denn der Direktor hatte ihm angekündigt, daß er bei einer ausgeschriebenen Konkurrenz den ersten Preis verdient habe. Dieser Diamant war kostbar genug, um ihn der Geliebten anzubieten. Der glückliche Musiker dachte nur an den Augenblick, wo er Henrietten würde sagen können:

„Diese Krone und dieser Ruhm, der meine Stirn verklärt, gebührt Ihnen, denn ich habe ihn mit einem Theile meiner Seele erkauft, und meine ganze Seele ist ja schon seit langer Zeit Ihr Eigenthum!“

Als er sein Zimmer betrat, fand er einen Brief auf dem Tische, den man für ihn in seiner Abwesenheit abgegeben hatte. Da er nicht ahnte, von wem er kam, erbrach er ihn erst nach einigen Minuten. Er las folgende Zeilen:

               „Mein Herr!

     „Unterzeichnete beehren sich, Ihnen anzuzeigen, daß Ihre Tochter Henriette gestern mit Herrn Otto Winter, Wechselagenten an hiesigem Platze, verheirathet ist. Das junge Ehepaar

geht heute auf das Land.
F. Wilda und Frau.“

Es waren kaum acht Monate verflossen, seit Henriette ihm geschworen hatte, nie einem andern Manne als ihm anzugehören, und schon hatte sie sich Otto Winter hingegeben, oder – verkauft!

Der arme Adolf stieß keinen Schrei der Wuth, keine Verwünschung aus; er vergoß weder Thränen der Verzweiflung noch des Schmerzes. Ruhig legte er den Brief auf den Tisch zurück, setzte sich auf einen Stuhl, stützte die Stirn in die Hand, und starrte mit trockenen, brennenden Augen das Papier an. Sein Verstand verwirrte sich! Eine Art Wahnsinn bemächtigte sich seiner, als er so plötzlich das Band zerreißen sah, das sein ganzes Wesen umschlungen hielt; sein Geist konnte die Last eines hoffnungs- und resultatlosen Lebens nicht ertragen. Adolf’s Zustand war mehr eine völlige Muthlosigkeit und Zerschlagenheit, als Wahnsinn.

Der arme Musiker war einem Bewohner des Himmels zu vergleichen, den Gott zur Erde sendet und verdammt, Jahrhunderte unter schlechten und gleichgültigen Menschen zu leben.


III.

Es liegt nicht in der Absicht des Verfassers, alle die kleinen Hülfsmittel, die Blicke, Galanterien, Versprechungen, Toilettenkünste u. s. w. zu erzählen, die Otto Winter angewendet, um Henriette Wilda zu besiegen. Es würde dies eine uninteressante Geschichte werden. Die Andeutung genügt: Henriette war ein vorzeitig gereiftes Kind. Sie mochte achtzehn Jahre alt sein, als eine ihrer Tanten einst sagte:

„Henriette wird eine Frau, die Kopf hat!“

Ich weiß nicht, ob der Leser die Frauen von Kopf liebt; aber ich muß gestehen, daß mir Frauen von Kopf wie frühzeitig gereifte Kinder vorkommen. In beiden Fällen hege ich kein Vertrauen zu diesem Ueberflusse von Hirn. Kinder und Frauen brauchen Herz, viel Herz, und nicht einen großen Reichthum von Geist. Der Geist bildet sich stets nur auf Unkosten des Herzens; er gleicht einer rasch aufblühenden Blume, die keinen Duft verbreitet.

Die geistreiche Henriette nun hatte mit kaltem Verstande über die Liebe kalkulirt, und die Wünsche ihrer interessirten Eltern hatten sie nur zu rasch gelehrt, die positive Seite des Lebens im Auge zu halten. Es gibt übrigens in dem Herzen aller Frauen einen geheimnißvollen Ort, den nie eine Sonde erreicht hat; sie werden oft von einem Taumel ergriffen, der sie, ohne daß sie es wissen, hinreißt, und Gefühle in ihnen erzeugt, aus denen jene Thaten hervorgehen, die zu analysiren der Romantiker verzichten muß.

Am 30. Juni brachte ein Journal folgenden Artikel: „Gestern fand mit der gewöhnlichen Feierlichkeit die Vertheilung der Preise an unserm Conservatorium der Musik statt. Der Minister, Herr von F., hat eine Rede gehalten, die mit großem Beifall aufgenommen wurde. Seltsam war es, daß Herr Adolf M., der in diesem Jahre den ersten Preis errungen, bei der schönen Ceremonie fehlte. Der junge Mann ist seit einigen Tagen verschwunden, und Niemand weiß, wo Forschungen nach ihm anzustellen sind.“

Der Verfasser weiß es, und er beeilt sich, es den freundlichen Lesern mitzutheilen.

Als die Nacht anbrach, saß Adolf immer noch in dem Stuhle; seine starren Blicke hingen immer noch an dem Briefe, der auf dem Tische lag. Er schien unfähig zum Denken zu sein – selbst das Athmen fiel ihm schwer. Plötzlich schien ein Lichtstrahl seinen Geist zu erhellen; er stand auf, holte die vertrocknete Rose von seiner Brust, legte sie in den verhängnißvollen Brief, und schloß den Brief in ein Portefeuille, in dem sich bereits das Portrait Henriette’s befand. Dann packte er seine Kleidungsstücke und seine Violine ein, steckte zwanzig Louisd’or zu sich, die er in einem Secretär aufbewahrte, ließ seine wenigen Möbel als Zahlung für die Wohnung zurück, und verließ das Haus und die Stadt, um nie zurückzukehren. Er vergoß keine Thräne, äußerte kein Wort – dachte an Nichts!

Die ganze Nacht hindurch setzte er hastig seinen Weg fort. [535] Mit dem Anbruche des Morgens hatte er eine Eisenbahnstation erreicht. Er kaufte sich ein Billet, stieg in den Wagen als der Zug ankam, und fuhr der Schweiz zu, die er vierundzwanzig Stunden später erreichte. Mit der Post reisete er nach Genf. Hier miethete er eine kleine Wohnung, und richtete sich bescheiden ein. Dann schrieb er an seinen Vormund, bat ihn, seine Rechnungen zu ordnen, und ihm die Hälfte des Vermögens zu senden, da er mündig geworden sei. Die andere Hälfte solle der Vormund behalten. Die Wünsche Adolf’s waren bald erfüllt: er erhielt die Hälfte seines Vermögens.



IV.


Zwei Jahre sind verflossen.

Adolf bewohnte ein bescheidenes, aber freundliches Stübchen, das ihm Collin, ein armer Uhrmacher, vermiethet hatte. Vater Collin konnte nicht mehr arbeiten, weil seine Augen so schwach geworden waren, daß er in einer ewigen Dämmerung lebte. Er hatte früher ein eigenes Geschäft gehabt, war aber durch Unglücksfälle herabgekommen und hatte dann, um eine zahlreiche Familie zu ernähren, in einer der großen Uhrenfabriken Genfs arbeiten müssen. Seine drei ältesten Söhne hatten bereits das väterliche Haus verlassen, um sich selbst zu ernähren; zwei lebten in Paris, einer war nach Deutschland gegangen. Nur Melanie, ein reizendes Mädchen von achtzehn Jahren, war noch bei ihren Eltern; sie half der stets kränklichen Mutter in der Wirthschaft, und vermehrte die spärliche Einnahme, indem sie für ein großes Magazin feine Stickereien fertigte.

„Vater,“ sagte Mutter Collin eines Tages zu ihrem Manne, „hast Du nicht bemerkt, daß mit unserer Melanie eine Veränderung vorgegangen ist?“

„Du weißt, Mutter, daß ich über ihr Aussehen nicht entscheiden kann. Vor einem Jahre war es mir mit Hülfe meiner Brille noch möglich, zu erkennen, daß unsere Melanie ein schönes, blühendes Gesicht und einen gesunden, frischen Körper hatte. Ist es jetzt nicht mehr so?“

„Nein, das meine ich nicht. Trotzdem die gute Melanie oft bis spät in die Nacht arbeitet, so hat dennoch ihr frisches Aussehen nicht gelitten, und ich muß sagen, daß sie mit jedem Tage schöner wird.“

„O, über die Eitelkeit einer Mutter!“ rief Vater Collin, indem er sich lachend in seinem Sorgenstuhle aufrichtete. „Willst Du nicht auch die Behauptung aufstellen, daß Melanie das schönste Mädchen in der Stadt ist? Sprich es nur aus, Mutter, denn ich merke schon, es drückt Dir das Herz ab!“

„Nun, ich will nicht leugnen, daß ich unsere Melanie für ein sehr schönes Mädchen halte, und wer uns nicht kennt, wird sicherlich nicht glauben, daß sie die Tochter armer Eltern ist. Ach, Georg, könntest Du nur ihr Madonnengesicht und ihren eleganten Wuchs sehen, ihre kleinen Füße und ihre kleinen Hände, Du würdest Dich nicht minder darüber freuen, als ich.“

„Bleibe bei der Sache!“ rief ungeduldig Vater Collin. „Du sprachst von einer Veränderung, die mit unserer Melanie vorgegangen sein soll.“

„Melanie ist nicht mehr so heiter, als sonst; sie spricht wenig, und sucht sich der Gesellschaft zu entziehen. Stunden lang sitzt sie in ihrer Schlafkammer allein, und dabei arbeitet sie so emsig, als ob sie nicht genug verdienen könne. Gestern hörte ich sie einen tiefen Seufzer ausstoßen. Was fehlt Dir, Melanie? fragte ich erschreckt. Da ward sie feuerroth, zitterte am ganzen Körper und trocknete schnell die Thränen, die sich aus ihren Augen hervordrängten. Dann warf sie wie ärgerlich die Stickerei bei Seite, indem sie sagte: da habe ich schon wieder eine schöne Blume verdorben! Mir will Nichts mehr gelingen, seit ich für das neue Magazin arbeite! – Während sie sich eine Beschäftigung in der Küche machte, sah ich die Stickerei nach: Georg, die Arbeit war wunderschön, daß selbst ein Maler nichts daran zu tadeln gehabt haben würde. Du weißt, daß ich solche Sachen beurtheilen kann. Das arme Kind hatte diesen Vorwand ersonnen, um mich zu täuschen.“

„Und was glaubst Du nun, Mutter?“

„Ich glaube, daß Melanie verliebt ist.“

„In wen?“

„In unsern stillen Miethsmann, der das kleine Giebelzimmer bewohnt. Sobald sie ihn sieht, erheitert sich ihr Gesicht; sie grüßt ihn selbst mit einer Art Ehrfurcht. Sein Stübchen hält sie so sauber und rein, als ob sie es selbst bewohnte. Die Blumen pflegt sie mit einer besonderen Vorliebe, und neulich erst hat sie eine schöne Monatsrose in das Fenster gestellt, wahrscheinlich um ihm eine Freude zu bereiten, denn er liebt die Rosen mehr als alle andern Blumen.“

„Herr Adolf wäre nun eben der Mann nicht, den ich mir zum Schwiegersöhne wünschte!“ murmelte Vater Collin. „Der deutsche Musiker ist ein Sonderling. Man kann zwar Nichts gegen ihn sagen; aber sein stilles verschlossenes Wesen gefällt mir nicht. Seit einem Jahre wohnt er bei uns, und wenn er nicht zuweilen auf seiner Geige spielte, die er mit seltener Virtuosität zu behandeln versteht, so würden wir kaum wissen, daß wir einen Miethsmann im Hause hätten. Nein, Mutter, Melanie ist ein zu aufgewecktes, lebensfrohes Mädchen, sie kann an dem düstern Menschen keinen Gefallen finden. Hast Du bemerkt, daß er Aufmerksamkeit für Melanie zeigte?“

„Nein; er grüßt sie artig, aber kalt, wie er stets gethan. Und hierin glaube ich den Grund des Kummers unserer Tochter zu erblicken, denn ich lasse es mir einmal nicht nehmen: Melanie hat Kummer.“

Das Gespräch wurde durch Melanie’s Erscheinen unterbrochen. Die Mutter hatte nicht zu viel von der Schönheit ihrer Tochter gesagt – das junge Mädchen war ein reizendes, elegantes Geschöpf. Sie war sehr einfach, aber äußerst sauber und geschmackvoll gekleidet. Nachdem sie den kleinen Strohhut und den leichten Sommershawl abgelegt hatte, küßte sie zuerst dem halb erblindeten Vater, dann der Mutter die Stirn. Sie lächelte, aber es sprach sich in diesem Lächeln eine Melancholie aus, die ihrer Anmuth einen rührenden Reiz verlieh. Hätte Vater Collin sehen können, er würde der Ansicht seiner Frau beigepflichtet haben.

In diesem Augenblicke ließen sich die Töne einer Geige vernehmen. Vater Collin warf den Kopf in die Lehne feines Stuhls zurück, sah starr nach der Decke des Zimmers, und horchte mit dem Entzücken, das die Musik in erblindeten Menschen zu erregen pflegt. Mutter Collin, die jedes Geräusch zu vermeiden suchte, um ihrem Manne den Genuß nicht zu stören, ließ sich still neben dem Fenster nieder; aber dabei beobachtete sie Melanie, die in dem Augenblicke, in dem die Musik begann, wie eine Statue neben dem Tische stehen blieb; sie faltete die kleinen Hände und horchte den elegischen Tönen, als ob sie eine wunderbare, himmlische Musik hörte. Und wahrlich, es mußte ein Meister sein, der dem Instrumente solche Töne zu entlocken wußte. Der stille Miethsmann, wie ihn Vater Collin nannte, gab nur auf diesem Instrumente Lebenszeichen von sich, und wollte man von diesen Zeichen auf sein Leben schließen, so mußte man die Ansicht gewinnen, daß es ein trauriges, ein kummervolles war, denn seine improvisirten Melodien sprachen eine tiefe Melancholie, einen rührenden Seelenschmerz aus.

Während der Vater mit angehaltenem Athem lauschte, betrachtete die Mutter verstohlen ihre Tochter. Melanie schien zu beten; ihr feines, reizendes Gesicht drückte eine schwermüthige Freude aus. Plötzlich schien sie sich zu erinnern, daß man sie beobachten könne; sie sah zu ihrer Mutter hinüber. Madame Collin schüttelte das greise Haupt und drohete der überraschten Tochter mit dem Finger. Melanie ward purpurroth; sie wandte sich ab, und schlich leise aus dem Zimmer. Draußen trocknete sie zwei Thränen, die wie Perlen in den langen Augenwimpern flimmerten.

„Es unterliegt keinem Zweifel!“ dachte Mutter Collin. „Das empfindsame Mädchen hat sich durch die Musik von dem armen, aber interessanten Geiger fangen lassen? Gebe Gott, daß es noch Zeit ist, vorzubeugen.“



V.


Acht Tage später ereignete sich ein Vorfall, der die besorgte Mutter in ihrer Ansicht bestärken sollte. Sie war auf dem kleinen Vorsaale mit der Besorgung ihrer Wirthschaft beschäftigt, als die Glocke gezogen wurde. Mutter Collin öffnete die Thür. Ein langer, stattlicher Mann stand auf der Schwelle. Hinter ihm, [536] auf der ersten Stufe der Treppe, stand ein Bediente in glänzender Livree.

„Madame, wohnt hier der Musiker Adolf Mölling?“ fragte der Fremde in einem Dialekte, der den Ausländer verrieth.

„Ja, mein Herr!“

„Kann ich ihn sprechen?“

„Er befindet sich in seinem Zimmer.“

Der Fremde trat ein, nachdem er seinem Diener durch ein Zeichen angedeutet, daß er draußen warten möge. Mutter Collin öffnete die Thür des kleinen Zimmers, das ihr Miethsmann bewohnte.

„Herr Mölling,“ flüsterte sie, „ein vornehmer Herr wünscht Sie zu sprechen.“

Adolf war angekleidet, er wollte ausgehen. Ueberrascht empfing er den Fremden, der sich bücken mußte, um nicht mit dem Kopfe an die niedere Decke zu stoßen. Als die Thür geschlossen war, befand sich Mutter Collin allein auf dem Vorsaale. Die Neugierde, die allen Frauen eigen ist, erwachte in ihr. Die gute Alte hielt es für keine Sünde, ein wenig zu horchen, sie glaubte selbst ein Recht dazu zu haben, seit sie wußte, daß die arme Melanie in den Musiker verliebt war. Die Wände waren so dünn, daß sie ohne große Mühe jedes Wort des folgenden Gesprächs verstehen konnte.

„Ah, Sie sind Herr Mölling!“ sagte die volltönende Stimme des Fremden.

„Kennen Sie mich?“ fragte Adolf bescheiden.

„Ich kenne und bewundere Sie, mein junger Freund!“

„Aber, mein Herr –!“

„Sie haben gestern Abend in dem Concerte, das die armen Italiener gaben, vortrefflich gespielt. Ich komme, um Ihnen meine Bewunderung auszudrücken, und einen Antrag zu machen. Wie armselig wohnt ein Künstler, den ich zu den besten zähle, die ich kenne. Man sollte es kaum für möglich halten! Wollen oder können Sie aus Ihrem herrlichen Talente keinen Vortheil ziehen?“

„Mein Herr, wer gibt mir die Ehre seines Besuches?“ fragte Adolf in sichtlicher Bewegung.

„Ich bin der russische Fürst W…“ (er nannte seinen Namen.)

Adolf verbeugte sich.

„Die Musik ist diejenige Kunst, die ich am meisten liebe und achte,“ fuhr der Fürst fort. „Deshalb halte ich mir in meinem Vaterlande eine kleine, aber tüchtige Kapelle. Mir fehlt ein Virtuos, wie Sie sind. Ich biete Ihnen einen jährlichen Gehalt von tausend Silberrubeln – haben Sie Lust, mir nach Moskau zu folgen?“

Mutter Collin schlug die Hände über dem Kopfe zusammen.

„Tausend Silberrudel für das Jahr!“ flüsterte sie. „Mit einer solchen Summe könnte meine Melanie, die an Sparsamkeit gewöhnt ist, schon haushalten.“

Gespannt wartete sie aus die Antwort des Musikers. Nach einer kurzen Pause fuhr der Fürst fort:

„Und damit Ihre Zukunft gesichert, ist, werde ich einen Kontrakt auf zehn Jahre mit Ihnen abschließen. Nach dieser Zeit zahle ich oder mein Erbe Ihnen die Hälfte des Gehaltes als Pension.“

Melanie’s Mutter zitterte vor Aufregung an: ganzen Körper; sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß Adolf vor freudiger Bestürzung nicht zu Worte kommen konnte, und daß er den Kontrakt begierig annehmen würde.

„Sie sind bewegt,“ hörte sie den Fürsten sagen. „Die plötzliche Umgestaltung Ihrer beschränkten Lage mag Ihnen vielleicht wunderbar erscheinen – aber zweifeln Sie nicht daran, es steht bei Ihnen, sich eine glückliche Zukunft zu schaffen. Uebrigens gebe ich Ihnen acht Tage Zeit zu überlegen – ich wohne im Hotel Belle vue, besuchen Sie mich, sobald Sie einen Entschluß gefaßt haben.“

„Gnädiger Herr,“ sagte Adolf mit fester Stimme, „ich werde die Ehre haben, Ihnen sogleich meinen Entschluß mitzutheilen.“

„Das ist gescheidt!“ dachte Mutter Collin. „Wenn man das Glück beim Zipfel hat, muß man es nicht aus der Hand lassen.“

„Ihr Antrag, gnädiger Herr, ist für mich so ehrenvoll, daß ich vergebens nach Worten suche, um Ihnen meinen Dank auszudrücken. Trotzdem aber ist es mir unmöglich, Ihnen zu folgen.“

„Wie?“ fragte der Fürst.

Mutter Collin glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.

„Ich kann Genf nicht verlassen,“ fügte Adolf hinzu.

„Ich errathe,“ rief lächelnd der Fürst: „vielleicht fesseln Sie süße Bande!“

„Gewiß, gewiß!“ flüsterte die Lauscherin. „Er liebt Melanie, und das Mädchen liebt ihn wieder.“

„Wenn das ist,“ fuhr der Fürst fort, „so können wir uns arrangiren. Der Kapellmeister des Fürsten W… wird ohne Zweifel Gehör finden, wo er anklopft. Die Kosten der Reise und der Einrichtung in Ihrer neuen Heimath trage ich. Noch einmal: es wird mir Freude machen, wenn ich einen so tüchtigen Künstler, wie Sie sind, besitzen und glücklich machen kann. Ueberlegen Sie reiflich und theilen Sie mir binnen acht Tagen Ihren Entschluß mit.“

Der Fürst trat aus dem Zimmer, ging an der erstarrten Lauscherin vorüber, und verließ die Dachwohnung. Als Mutter Collin aus dem Fenster in die Straße hinabsah, fuhr eine glänzende Equipage davon. Der Diener, der auf der Treppe gestanden hatte, saß bei dem Kutscher auf dem Bocke.

„Er will Melanie’s wegen Genf nicht verlassen!“ flüsterte die Alte. „Seine Liebe muß wahrlich groß sein. So weit sind die beiden Verliebten also schon gekommen. Und ich habe es erst seit einigen Tagen bemerkt! Großer Gott, wo habe ich denn meine Augen gehabt? Das ist eine ernste Geschichte: nimmt Herr Adolf den Posten an, so kann er Melanie heirathen, aber wir müssen uns von ihr trennen, müssen sie nach dem fernen Moskau ziehen lassen, und es fragt sich, ob wir sie je wiedersehen; lehnt er den Antrag ab, so bleibt er zwar in Genf – aber an eine Heirath ist nicht zu denken, denn wir sind arm, und er ist arm, wie wir. Ich bin doch neugierig, was mein Alter dazu sagt.“

Kaum war die gute Frau mit den Betrachtungen zu Ende, als Adolf aus seinem Zimmer trat; er grüßte höflich, indem er vorüberging, und verließ die Wohnung.

„Er sieht sehr bleich aus,“ dachte Mutter Collin; „aber er ist doch ein schöner Mann. Ich wollte, der Fürst hätte seine Residenz in Genf!“

Zehn Minuten später wußte Vater Collin, was vorgegangen war; er schüttelte den Kopf und murmelte:

„Der deutsche Musiker ist kein Mann für meine Tochter“



VI.


Denselben Abend hatte Melanie ein scharfes Examen zu bestehen. Vater Collin, der den ganzen Nachmittag sehr unruhig gewesen war, wollte Gewißheit haben, um seine Vorkehrungen treffen zu können. Der Gedanke, das Glück seiner Tochter mit einer vielleicht ewigen Trennung erkaufen zu müssen, lag mit Centnerlast auf seiner Seele. Adolf Mölling war zwar schon länger als ein Jahr sein Miethsmann, und hatte stets pünktlich die Monatsrechnungen bezahlt; aber der halbblinde Mann, der sich gern unterhielt, hatte ihn noch nicht kennen gelernt, ein flüchtiger Gruß und das Geigenspiel war Alles, was er von ihm gehört hatte. Adolf war ihm ein völlig unbekannter Mann, und wenn Vater Collin ihn für einen Sonderling oder Melancholiker hielt, der für seine lebensfrohe Tochter nicht paßte, so hatte er allerdings Grund genug dazu. In der Meinung, daß seine Frau sich täuschte, nahm er sich vor, sorgfältig zu sondiren, ehe er den väterlichen Machtspruch that.

„Frau,“ sagte er, „wenn ich mit Melanie spreche, wirst Du sie beobachten, nichts weiter, als beobachten – hörst Du? Später theilst Du mir mit, was Du gesehen hast. Also merke Dir: Du siehst für mich, und ich spreche für Dich. Jetzt gib mir meine Brille, und dann suche Melanie unter irgend einem Vorwande zu veranlassen, daß sie in diesem Zimmer bleibe. Aber ich wiederhole Dir: schweige so lange, bis ich Dir die Erlaubniß zu sprechen gebe.“


(Fortsetzung folgt.)
[537]

Graf Rudolf von Bökelnburg.

Kommt her, mein Graf von Bökelnburg, der Bauer bringt den Zins,
Kommt her, mein Graf, und schaut vom Thurm, und seid vergnügten Sinns!

Der Bauer dachte Herr zu sein, – wie schlecht bekam’s ihm doch!
Jetzt kommen sie wie Ochsen dort, im Halfter und im Joch.

5
Frau Walburg saß im seidnen Kleid und zierlichem Gelock,

Der Bauer kam durch Dick und Dünn mit Halfter und mit Pflock.

Sie brachten Wagen voller Korn, und Sack auf Sack gebaut,
Der Graf mit seinem stolzen Weib vom Thurm herniederschaut.

So kommt, Herr Graf, und lass’t uns ein, und nehmt es an in Huld!

10
Der Bauer kommt mit Pflock und Joch, zu zahlen Euch die Schuld!


Da lacht er in den grauen Bart, sie lacht in ihr Gebiß,
Und ging, die Ochsen anzusehn, die man in’s Burgthor ließ.

Sie zogen durch das offne Thor mit Wagen und mit Roß,
Sie zogen ein in langen Reih’n, der Letzte warf’s in’s Schloß.

15
Der Letzte sperrt das Thor und ruft: der Bauer ist kein Sklav’!

Nun rührt die Hand und lös’t das Band und auf den Bökelgraf!

Da wurden Beide kreideweiß, wie die gekalkte Wand,
Da sprang aus jedem Sack ein Kerl, das Messer in der Hand.

Und nun, Herr Graf, nehmt Euren Zins, o nehmt ihn an in Huld!

20
So zahlt der Bauer seinem Herrn die lange, schwere Schuld.[1]
Klaus Groth.
  1. Nach Müllenhof’s Chronik zwang im Jahre 1145 ein Graf Bökelnburg in der That die Bauern, den Zins an Getreide und Früchten zur Burg auf Wagen zu bringen, denen sie sich wie das Vieh mit „Halfter und Kummet“ vorgespannt. Das gemarterte Volk rächte sich auf furchtbare Weise.
[538]
Aerztliche Strafpredigten.
Nr. II. Gegen das kalte Wasser als Stärkungsmittel.


Ist die Peitsche für ein mattes Pferd deshalb etwa ein Stärkungsmittel, weil sie dasselbe eine kleine Strecke weit zum schnellern Lauf antreibt? Und was wird denn wohl endlich mit dem matten Pferde, wenn es fortwährend gepeitscht wird?

Die Antwort auf diese Fragen kann sich sicherlich ein Jeder selbst geben. – Ganz so wie mit der Peitsche und einem matten Pferde verhält es sich nun aber auch mit dem kalten Wasser und einem an sogen. Schwäche und Blutarmuth (Bleichsucht) leidenden Menschen. Das kalte Wasser (äußerlich angewendet als kaltes Flußbad, Seebad, kalte Waschungen und Uebergießungen u. s. f.), – dessen heilsame Wirkungen bei gewissen Krankheitszuständen übrigens hiermit durchaus nicht weggeleugnet werden sollen, – ist blos Peitsche, d. h. ein Antreibungsmittel für den Schwachen, niemals ein Stärkungsmittel, ja anstatt die Schwäche zu vertreiben, vermehrt es dieselbe in der Regel nur, und macht den Schwachen nur noch reizbarer. Wer freilich in seiner Kurzsichtigkeit blos nach der sofortigen Wirkung des kalten Wassers urtheilt, die gewöhnlich in angenehmer Belebung und scheinbar stärkender Erfrischung besteht, der muß allerdings zu der falschen Ansicht kommen, das kalte Wasser stärke. Dann würde man sich aber auch stärken, wenn man sich durch Spirituosa ein Räuschchen antrinkt, was ja, wie bekannt, selbst den Leidenden auf kurze Zeit seine Leiden vergessen läßt, scheinbar gesund und munter macht, aber doch Katzenjammer mit Ermattung hinterläßt. Einen ähnlichen, nur langwierigen Nervenkatzenjammer erzeugt bei Schwachen die Reizung durch kaltes Wasser. Darüber wird man sich auch gar nicht wundern, wenn man die Wirkung des kalten Wassers auf die Haut bedenkt. Es bedingt nämlich die Kälte des Wassers, abgesehen von der Zusammenziehung der Blutgefäße und Fasern der Haut, eine ziemlich starke Erregung der zahlreichen Empfindungsnerven der äußern Haut und diese pflanzt sich, wie eine Nachricht durch elektromagnetische Telegraphendrähte zur Hauptstation, so hier zum Mittelpunkte aller Empfindungen, zum Gehirne hin fort. Findet nun diese Nerven- und Hirnerregung öfters statt, dann wird, wahrscheinlich durch Störung der Ernährung dieser Organe, vielleicht in Folge zu starken Nervenmasse- und Blutverbrauchs, die Erregbarkeit und Thätigkeit derselben in krankhafter Weise entweder gesteigert oder endlich auch herabgesetzt. Daher kommt es denn, daß die meisten Kaltwasserliebhaber bleich und reizbar (nervös nennt es der Laie) werden und an Kopfschmerz oder Eingenommenheit des Kopfes, Schlaflosigkeit, Herzklopfen, sowie an großer Empfindlichkeit gegen Licht und Schall; selbst an Krampfzuständen leiden, daß sie leicht erschrecken, über die Maaßen empfindsam und verletzbar sind, sich und Andere mit ihren Nerven quälen, ja sogar nicht blos in Bezug auf das Gemüth, sondern auch auf Verstand und Willen leiden. Wie Viele sind nicht schon durch Kaltwasserkuren geisteskrank und geistesschwach, ja sogar so albern geworden, daß sie die Kaltwasserkur, trotz der schlimmen Erfahrungen, die sie selbst gemacht haben, doch noch laut preisen und andern Nervösen anempfehlen. Man sollte nur in Seebädern und Kaltwasseranstalten das Unheil sehen, was das kalte Wasser bei vielen Patienten anrichten würde, wenn daneben nicht die Luft, das Licht und die Nahrung wären, um das wieder gut zu machen, was das kalte Wasser verdirbt. Und trotz dieser ausgezeichneten Hülfsmittel kommen doch noch eine weit größere Anzahl von Personen, welche Kräftigung im Seebade und in der Kaltwasseranstalt suchten, mehr verschlechtert als gebessert aus diesen Heilanstalten zurück. Ja, gingen Nervenschwache in solche Bäder und Anstalten und badeten hier nicht kalt, sondern erst warm, mit abnehmender Schwäche und steigender Kraft lau, und endlich kühl, sie würden sicherlich großen Vortheil für ihre Gesundheit davon haben. Kurz das kalte Wasser ist und bleibt geradezu Gift für Nervenschwache und Blutarme, es mögen die Kaltwasserdoctoren und Kaltwasserfanatiker reden und schreiben, was sie wollen.

Ebenso wie das kalte Wasser, so sind nun aber auch Spirituosa (Wein), Kaffee und Thee, ätherisch-ölige, gewürzhafte und balsamische Substanzen nichts als Reizmittel, die Wohl, durch sanftere oder stärkere Antreibung der Nerventätigkeit, auf kurze Zeit bei Schwachen scheinbar ein stärkeres Kraftgefühl und vorübergehend auch kräftigere Bewegungen und ein regeres Thätigsein veranlassen, niemals aber auf die Dauer Stärkung bewirken können. – Trotz alledem erben doch die falschesten Ansichten über die Stärkung des geschwächten menschlichen Körpers, sogar bei vielen Aerzten fort und fort und auf die Frage: „was ist Schwäche,“ hört man vom Laien gewöhnlich antworten: „wenn Einer in’s Seebad geht,“ während der Practicus dabei fast nur an Eisen oder Eisenwässer (Pyrmont), an China und Wein denkt. Ich möchte dagegen jedem Schwachen rathen, sich an ein abgetriebenes Pferd und an Futter und Stall, nicht aber an die Peitsche zu erinnern. Eine solche Pferdekur ist menschlicher als die jetzt gebräuchlichen Kräftigungskuren, besonders als die unsinnigen Kaltwasserkuren.

Was stärkt und kräftigt denn nun aber den geschwächten Körper? Das thut Nahrung, Luft, Licht, Wärme und Ruhe neben mäßiger und passender Bewegung, sonach also das, was die Ernährung aller unserer Körpertheile, vorzugsweise aber des Blutes, der Nerven und Muskeln, gehörig unterhält. – Die Nahrung (Speise und Trank) kann nur dann kräftigen, wenn sie in sich alle die Stoffe enthält, aus denen unser Blut und Körper aufgebaut ist, sonach: Wasser, Eiweißsubstanzen, Fett und Salz. Deshalb ist Milch (aber so wie sie die Kuh gibt, nicht etwa abgerahmt) das allerbeste und kräftigendste Nahrungsmittel, nach ihr das Ei (natürlich mit dem Weißen und lieber weich als hart) und das Fleisch mit seinem Safte; aus dem Pflanzenreiche haben hier nur die Hülsenfrüchte und Getreidesamen einen Nahrungswerth. Ganz falsch ist es, Fett und Salz so viel als möglich aus den Speisen zu verbannen; gerade diese Stoffe sind sehr nöthig zur Kräftigung. Aber auch auf die Art und Weise, die Speisen zuzubereiten und zu genießen, muß Bedacht genommen werden; weich und leicht löslich müssen sie sein, tüchtig gekaut und wenig auf einmal, aber öfterer genossen. – Auf gute reine Luft ist, da sie ja die Lebenslust (Sauerstoff) in unser Blut schafft, ebenso wie auf kräftigende Nahrung zu halten und darum muß die Wohnung, besonders aber das Schlafzimmer, stets eine solche Luft enthalten. Ganz vorzüglich ist aber Berg-, Wald- und Seeluft zu empfehlen, dagegen vor Sumpf- und Abtrittsluft zu warnen. – Sonnenlicht, welches die Entwickelung der Lebenslust aus den grünen Pflanzentheilen vermittelt, ist für den menschlichen Körper, zumal für die Nerven, ein weit wichtigeres Erhaltungsmittel, als man bisher geglaubt hat und deshalb unterstützt der Aufenthalt in sonniger Luft und Wohnung die Heilung eines Schwächlings gar sehr. – Auch die Wärme, bei der ja wie bekannt jedwede Vegetation gut gedeiht, dient zur Unterstützung der Kräftigung geschwächter Personen. – Was die Ruhe betrifft, so muß diese ebenso eine körperliche wie geistige, eine gemüthliche und geschlechtliche sein, aber natürlich nicht bis zum absoluten Nichtsthun ausarten, sondern mit mäßigem, sich allmälig steigerndem Thätigsein abwechseln. Der Schlaf, auch das Vormittags- und Nachmittagsschläfchen, ist erquickend und stärkend. Ausführlicheres hierüber findet der Leser in der Gartenlaube 1854. Nr. 23.

Nur diese sind die naturgemäßen Hülfs- und Heilmittel bei geschwächten Kräften, die aber freilich niemals so schnell kräftigen können, wie es die Schwachmatiker verlangen. Denn wer heut zu Tage viele Jahre lang in seine Gesundheit hineingewüstet hat, der möchte, wenn er endlich nicht mehr so fortwirthschaften kann, wo möglich in einigen Tagen oder Wochen vom Arzte, von Charlatanen oder durch ein Bad so reparirt sein, daß er mit ungeschwächter Kraft seine frühere schlechte Lebensweise beginnen könnte. Ueberhaupt übersteigt die Unverschämtheit, mit welcher viele Kranke gesund werden wollen, oft so alle Begriffe von Menschenverstand, daß man an der ganzen Menschheit verzweifeln möchte.

Bock.

[539]
Eine Schande des neunzehnten Jahrhunderts.

Wenn man in Paramaribo, Hauptstadt der holländischen Kolonie Surinam in Südamerika, an dem Gouvernementsgebäude vorüber, die Grafenstraße zu Ende geht, dann erblickt man zur Linken ein, nur wenige Fuß emporragendes und ganz allein stehendes hölzernes Gebäude. Es macht einen trüben und abschreckenden Eindruck. Vorn und an der hintern Seite erstrecken sich zwei Höfe, wovon der eine mit Pallisaden, der andere mit einem Bretterverschlage umgeben ist. Hier steht man auf dem Platze, wo Tausende unserer Mitmenschen leiden, auf der Stätte, wo die Sklaven Paramaribo’s gestraft – nein, gepeinigt, gequält, gemartert werden, – auf dem Richthofe der Sklaven.

Inmitten einiger Häuser, die durch Polizeibeamte bewohnt oder als Gefängnisse benutzt werden, in welchen eine Menge Unglücklicher in Ketten schmachten, bemerkt man auf jenem Hofe zwei rothangestrichene, schon in einiger Entfernung sichtbare Pfähle über der Einfriedigung emporragen. Zwischen beiden steht ein mit einem eisernen Fußbügel versehenes Fußstück, zur Aufnahme eines dritten Pfahles bestimmt. Das ist das unheilvolle Marterwerkzeug für jene Unglücklichen. Dorthin stellt die königlich-holländische Polizei Surinams ihre Diener zur Verfügung, um die täglich durch die Bürger ausgesprochenen Urtheile ohne jegliche weitere Untersuchung und äußerst billig, gegen einen Preis von nur einem halben Gulden (ungefähr 8 Ngr.), vollziehen zu lassen.

Fast jeden Morgen und Abend kann man Sklaven und Sklavinnen, fest geknebelt und durch Polizeiagenten geführt, hier ankommen sehen. Manchmal ist der Eigenthümer, öfterer ein jugendlicher Mensch, ja auch eines seiner Kinder bei dem traurigen Aufzuge. Aus der ganzen Haltung des Letzteren schaut die Zufriedenheit über seine Rolle; seine unruhig suchenden Augen, sein trotziges, dünkelhaftes Auftreten und jede seiner Bewegungen verkünden, daß er gern die ganze Stadt zum Zeugen davon machen möchte, wie er mit seinen „verworfenen Sklaven“ umzuspringen weiß. Um den schrecklichen Anblick noch abscheulicher zu machen, benutzt man oftmals zur Transportirung der Sklaven, der Billigkeit wegen, keinen Polizeiagenten, sondern einen andern Farbigen, dessen Loos es vielleicht morgen ist, zu demselben Zwecke hierhergeführt zu werden. Der unselige Platz ist erreicht. Man klopft an das Fenster eines an der Straße liegenden Zimmers, wo der wachthabende Polizist sich aufhält und die Taue zum Knebeln und die Peitschen aufbewahrt werden. Dann wird die Pforte des Platzes geöffnet und der Zug tritt ein.

Der Sklave oder die Sklavin wird sofort gezwungen die Kleider abzulegen und behält nur einen einfachen Schurz, um die Lenden zu bedecken. Durch ein an die Hände befestigtes Tau, das an der Spitze der beiden rothen Pfähle durch zwei Einschnitte läuft, wird der Delinquent aufgezogen und bald hört man das Klatschen der Peitsche und das Angstgeschrei, das Klagen und Heulen des Dulders oder der Dulderin. Hat man den Muth einen Blick auf die Schenkel des oder der Gemarterten zu werfen, so sieht man das Blut auf den Boden rieseln.

Von ärztlicher Untersuchung ist nicht die Rede. Die Beurtheilung der Körperbeschaffenheit oder der Krankheitssymptome ist rohen und unwissenden Polizeibeamten überlassen, die nicht leicht eine bejahende Erklärung abgeben, weil, wenn die Bestrafung nicht zur Ausführung kommt, sie wenigstens 50 Cents verlieren. Und das ist für jene keine Kleinigkeit, denn ihre Besoldung ist gering. Es ist schon eine besondere Güte von ihnen, wenn sie die Exekution aufschieben, denn sie sind nicht dazu verpflichtet.

Und wer sind nun eigentlich die Richter, die diese Strafen verhängen? Es ist furchtbar: die Bestrafung geschieht auf einfache Forderung des Besitzers. Der Herr schickt eigenmächtig seine Leibeigenen so oft zur Marterstätte, als es ihm gutdünkt. Es gibt folglich in Paramaribo so viele Richter als es Sklavenbesitzer gibt, Richter, die ihre Anstellung nur der Geldsumme verdanken, die sie zum Ankauf ihrer Sklaven verwandten; Richter, die durch die holländische Polizei nach Laune und Willkür Menschen quälen lassen, nicht weil sie etwas verbrochen, sondern weil es ihnen unmöglich ist, eine gewisse Summe Geldes zu entrichten, für die sie ihre Freiheit kaufen könnten.

Keine Macht der Erde kann die armen Sklaven von der Vollziehung des gesprochenen Urtheils erretten. Sein Herr kann ihn ebensowohl für das Rechts- oder Linksdrehen des Hauptes mit 25 Streichen züchtigen lassen, als für Diebstahl und sonstige Vergehen. Der Polizeibeamte hat sich keineswegs um das geübte Verbrechen zu kümmern, sondern nur um die Körperkräfte des Sklaven hinsichtlich der ihm zudekretirten Strafe und um die Befugtheit der Person, welche sie fordert. So werden die Gouvernementsbeamten zur Vollziehung körperlicher Züchtigung erniedrigt, auch wenn sie davon überzeugt sind, daß jene ungerecht, und die niederländische Polizei gibt ihre Diener zum Martern Unglücklicher her, die sich nicht vertheidigen können, die nie gehört werden und denen selbst das Anrufen des königlichen Rechtes der Gnade, das selbst der verächtlichste Mörder beanspruchen kann, verweigert ist.

Hunderten von Dramen, das eine abscheulicher noch als das andere, kann man auf diesem verfluchten Strafplatze der Schande Hollands und des neunzehnten Jahrhunderts beiwohnen. Hier nur eine dieser Missethaten.

Lydia war eine junge, schöne Mulattin, sie gehörte einer freien Schwarzen, die wir Johanna nennen wollen. Sie verrichtete täglich bei ihrer Herrin die Hausarbeit, bereitete das Essen und hielt die Wohnung in Ordnung. Ist dies um 10 oder 11 Uhr Vormittags verrichtet, so wird sie ausgesandt, um „Arbeit zu suchen,“ d. h. 32 Cents zu verdienen, die sie dieser Johanna jeden Abend abliefern muß.

Ein „Freier,“ Franz genannt, heirathet Lydia. Er ist Bote und Reiniger in einem Landhause und hat einen ziemlichen Verdienst. Die arme Sklavin ist gerettet. Jeden Morgen, wenn sie die Wohnung ihrer Herrin verläßt, geht sie zu der ihres Gatten, ordnet seinen Haushalt, verlebt mit ihm einige sorglose Stunden und empfängt dann von ihm jene 32 Cents. Franz hat ein kleines Häuschen auf dem Platze des Herrn A., liebt seine Lydia von ganzem Herzen und ist dort mit ihr ganz glücklich, während Lydia mit einer Liebe und Treue ihm anhängt, die als Beispiel dienen könnten. Aber immer hängt über der Gatten Häupter ein drohendes Schwert. Ihre Vereinigung dauert, so lange Lydia’s Herrin sie erlaubt. Diese ist ihr bis jetzt noch unbekannt; sie glaubt, die Sklavin suche und finde Arbeit und bringe darum so regelmäßig ihre 32 Cents.

„Aber wenn sie die Wahrheit erfährt,“ seufzte eines Tages Lydia, als sie gegen den Abend hin einige selige Augenblicke mit ihrem Franz verlebte.

„Nun, wenn sie es erfährt!“ antwortete ihr Gatte, „es kann ihr doch einerlei sein, von woher sie am Abend ihr Geld empfängt, wenn Du es nur bringst.“

„Und doch, Franz, sagt mir eine bange Ahnung, daß es besser sei, ihr die Wahrheit zu verschweigen!“

„So thue es, Frau, und rechne immer auf mich.“

Lydia hatte nicht umsonst gebebt. Als sie einige Monate in dieser seligen Verbindung gelebt hatte, erfuhr ihre Herrin, mit wem sie lebe. An sich war es ihr ganz gleichgültig, mit wem Lydia ein solches Verhältniß habe und aus welcher Quelle sie die 32 Cents schöpfe. Aber sie erfuhr den Namen des Mannes und sagte eines Morgens zu ihrer Untergebenen: „Dieser Franz ist ein brutaler Mulatte. Ich höre, daß Du seine Frau bist und verlange, daß Du ihn verläßt und einen andern Gatten nimmst.“

Die Herrin war ganz in ihrem Rechte. Sklaven heirathen nicht. Die Verbindungen, welche sie schließen, können durch ihre Herren jederzeit gelöst werden, ohne daß sie gezwungen wären, darüber Rechenschaft abzulegen. Jetzt war es nur eine Laune, nichts Anderes – aber auch dann muß der Sklave gehorchen. – Lydia gehorchte nicht. Wenn auch ihre Schönheit ihr die Gelegenheit gab, auf andere Weise die 32 Cents zu verdienen – sie liebte ihren Gatten und war zu jeder Aufopferung für ihn bereit. Lydia gehorchte nicht, und somit machte ihre Herrin von dem Gebrauch, wozu sie gesetzlich befugt war. Sie sperrte eines [540] Sonntags ihre Sklavin auf 24 Stunden ohne jegliche Nahrung ein. Aber am folgenden Tage ging Lydia wieder zu ihrem Franz.

Ihre Herrin war geduldig und langmüthig. Sie ermahnte, warnte, drohete – aber Lydia schwieg zu Allem und ging täglich zu dem „brutalen Mulatten.“

Darf man sich darüber wundern, daß Johanna endlich die Geduld verlor? Wer sollte sie bei solchen „starrköpfigen“ Sklaven nicht verlieren? Es ist sonnenklar, daß Lydia, trotz des Verbotes, noch immer mit jenem Manne lebt, den sie liebt und dem sie dankbar ist, während ihre Herrin verlangt, daß sie mit einem andern lebe, einerlei mit wen, nur gerade nicht mit ihm. Das Maß ist voll. Johanna macht Gebrauch von ihrer gesetzlichen Befugniß.

Ein schrecklicher Zug naht dem Richthofe. Zwei Frauen sind es; die eine gefesselt und durch einen Polizisten geführt, die andere frei und ohne weitere Begleitung. Die eine, strahlend in Schönheit, aber zitternd vor Angst und das Auge vor Scham gesenkt, ist die unschuldige Lydia, die andere, aus deren Zügen wilde Wuth spricht, ihre Herrin Johanna, welche ganz „in ihrem Rechte“ ist. Man hat den Platz der Schmerzen erreicht. Lydia wird entkleidet; wohl versucht sie ihren wogenden Busen mit den Händen zu bedecken, aber diese werden durch rohe Henkersknechte weggerissen, fest zusammengebunden und bei den Händen wird sie am Marterpfahle emporgezogen. Ueber ihre Wangen fluthen die Thränen, flehend ruht ihr Blick auf ihrer Herrin – aber die Exekution geht vor sich. Und warum nicht? S’ist eben nichts mehr, als eine Frau, die von der ihr durch das niederländische Gesetz gegebenen Befugniß Gebrauch macht und niederländische Beamte, die dem Gesetz genügen.

Da klatscht der erste Peitschenhieb, der zweite – sofort gellt ein furchtbarer Schrei zum Himmel, das Blut strömt von zwei Frauenschenkeln herab – still, es ist schon vorüber. Das Gesetz verbietet, mehr als fünfzehn Hiebe zu geben und man sieht, mit dem fünfzehnten hört man auf.

Es ist kein Märchen, das wir erzählen, es ist eine Thatsache, die vor kaum drei Jahren in einer niederländischen Kolonie und unter dem Schutze einer europäischen, der holländische Regierung passirt ist.

Man darf Sklaven nicht mehr als fünfundzwanzig, Sklavinnen und Knaben zwischen sechszehn und vierzehn Jahren nicht mehr als fünfzehn, Mädchen desselben Alters nicht mehr als zehn Hiebe ertheilen lassen. Und doch gibt es Sklaven, die weit schwerer „gestraft“ zu werden verdienen, dennoch gibt es Sklavenbesitzer, die mit einer solchen „Kleinigkeit“ nicht zufrieden sind und für ihre Leibeigenen eine Züchtigung fordern, die weit schwerer trifft. Diesem billigen Wunsche kommt der holländische Gesetzgeber entgegen.

Der Eigenthümer, welcher glaubt, daß ein Sklave wegen Ungehorsam, Widerspenstigkeit oder anderer Fehler eine ernstere Strafe verdient, als er selbst befugt ist, ihm auf dem Richthofe aufzuerlegen, zeigt dies dem Generalprokurator an, der nach gehöriger Untersuchung der Sache den Sklaven auf dem erwähnten Platze schwerer darf züchtigen lassen.

Man sieht, das Drama, das beinahe täglich auf dem Richtplatze gespielt wird, hat mit dem, was wir erzählt, noch keineswegs die äußerste Grenze des Leidens, des Schmerzes und der Quälerei erreicht. Nicht selten werden „schwerere Strafen“ erkannt. Hier aber darf der Sklavenbesitzer nicht nach eignem Gutdünken handeln, hier ist die Vermittelung eines hochgestellten Beamten, des Generalprokurators nöthig und das ist wenigstens einige Bürgschaft. Aber man verliere dabei nicht aus den Augen, daß es hier der Herr ist, der um Bestrafung seines Sklaven nachsucht, daß es in Surinam allgemeine Regel ist, die Macht des Herrn dem Sklaven gegenüber überall geltend zu machen, daß vor Gericht das Zeugniß eines Leibeigenen wider seinen Herrn von gar keinem Gewicht ist, und daß, wenn Streit zwischen Herren und Sklaven entsteht, der letztere immer Worte gebraucht haben wird, denen eine mit seiner Unterthänigkeit streitige Deutung gegeben werden kann.

Worin besteht nun die „gehörige Untersuchung der Sache,“ welche das Gesetz vorschreibt? Wir müssen die Antwort schuldig bleiben und können nur zwei Einzelnheiten mittheilen: Erstens ist es eine der größten Seltenheiten, daß dem Sklaven dem Herrn gegenüber das Recht zugesprochen wird, und zweitens liegen Schriftstücke genug vor, die beweisen, daß lediglich einige Zeilen, eines Sklavenbesitzers ausreichen, dem Sklaven eine furchtbare Strafe zu verschaffen. Hier eins als Beispiel:

„Unterzeichneter ersucht den Herrn Generalprokurator freundlichst dem Sklaven N., Eigenthum von B., 50 Peitschenhiebe zuzählen zu lassen.

Paramaribo, den……………………… (Unterschrift).“

Darunter stand:

Fiat Bestrafung.

Der Generalprokurator der Kolonie Surinam.

(Unterschrift).“

Also weder über die Art des Vergehens, noch über die Motive, welche zur Ausführung der Strafe bestimmten, erfährt man etwas. Man wird jedoch auch solche Schriftstücke lesen können, welche die Missethat nennen. Wir sahen eins, welches 75 Peitschenhiebe für „Aufwiegelung der Sklaven“, eins, das 50 für „Brutalität“ verlangte. Häufig waren es zarte Frauenhände, die ohne Beben solche Billets geschrieben hatten.

Der „schwereren Strafen“ gibt es zweierlei, nämlich: Peitschenhiebe, aber in doppeltem oder dreifachem Maße und Geißelhiebe mit Tamarindenruthen.

Der Sklave oder die Sklavin wird an einen Pfahl gebracht, die Füße werden in eiserne Ringe geschlossen, der Mittelleib mit einem breiten Riemen festgeschnürt, und die Hände werden aufgezogen. Nun werden die Schläge mit den Tamarindenruthen verabreicht. Jeder Schlag bringt eine tiefe Wunde, das Blut spritzt umher, und nicht selten wird das Fleisch lappenweise aus dem Körper des Unglücklichen gerissen. Man kann sich kaum eine Vorstelluug davon machen, in welchem Zustande der Sklave in die Wohnung seines Herrn zurückkehrt. Wochenlang verursacht ihm das zerschlagene Gesäß die unerträglichsten Schmerzen. Der barmherzige Herr versucht dann, ihm die Wunden mit Essig, Salzwasser und andern beißenden Mitteln zu heilen. Man behauptet, daß dies durchaus nöthig sei, um den Tod oder den kalten Brand fern zu halten. Ja, es ist kaum glaublich, es gibt in Surinam Damen, die sich nicht scheuen, die zerrissenen Schenkel ihrer Sklaven zu untersuchen, um zu erforschen, ob die Tiefe der Wunde auch zum bezahlten Gulden im Verhältniß stehe, Damen, die die blutigen Glieder mit spanischem Pfeffer einreiben.

Der Ekel ergreift einem beim Anblick dieses Richthofes, aber wir müssen bitten, uns einen kurzen Augenblick noch zu folgen. Wenn wir auch das Gefühl durch die Schilderung der verschiedenen übrigen Marterwerkzeuge nicht noch mehr beleidigen wollen, so können wir Ihnen doch den Anblick dieser Peitschen nicht ersparen. Das sind nicht gewöhnliche Peitschen, von Hanf geflochten; einige sind von Rindshautstreifen, andere aus der Haut des Flußpferdes verfertigt. Aber diese Peitschen hier sind von Bromus ananas geflochten, und sind sehr stark und hart.

Wir frugen unsern Führer, woher die sonderbare Farbe dieser Peitschen rühre.

„Blut, meine Herren, Blut!“ lautete die Antwort. „Der erste Schlag mit dieser Peitsche gibt eine Wunde, als wenn sie mit einem Messer geschnitten wäre. Sehen Sie hier!“ und er zeigte uns eine andere Peitsche, die schwarz war vom getrockneten und geronnenen Blut.

Die weiteren Mittheilungen des Führers, eines Polizeibeamten, waren haarsträubender Art: „Es werden fast eben so viel Weiber als Männer zur Bestrafung gebracht,“ erzählte er, „Mädchen von vierzehn Jahren sowohl wie Erwachsene. Oft sind ihre Schenkel so weiß, daß man sie von denen eines Europäers kaum unterscheiden kann.“

„Also werden die Frauen auch immer nackt bestraft?“

„Gewiß, sonst würden die Schläge nicht ihre gehörige Wirkung thun. Oft haben wir schöne Mädchen, so weiß wie Sie, an den Pfählen hängen.“

Wir ertrugen es nicht länger. Mit Abscheu und Beben wandten wir uns ab, und wollten uns entfernen.

„Nein, meine Herren, wollen Sie nicht noch die Strafregister ansehen?“

Auf unsre bejahende Antwort wurden uns drei gezeigt. Eins derselben ist zum Aufzeichnen der körperlichen Strafen bestimmt. Die Einrichtung ist sehr einfach. Eine laufende Nummer, der Name des Eigenthümers, der Name des Sklaven oder der Sklavin, [541] das Alter der letzteren, die Anzahl der Hiebe, die Art des Vergehens – das ist Alles. Noch bündiger und einfacher ist die Eintragung in diese letzten Kolonnen. Fast immer wird die Ursache der Strafe mit einem einzigen Wort angegeben: „Pflichtversäumniß“ oder „Brutalität“ oder „Ungehorsam“ sind die drei Prädikate, die vorzüglich miteinander abwechseln. Diebstahl kommt sehr spärlich vor.

Vom 1. Januar bis zum Schlüsse des Jahres 1853 wurden laut dieses Register 507 Unglückliche, Frauen und Männer, Mädchen und Knaben, Farbige und Neger, mit Peitschen und Tamarindenruthen gezüchtigt. Ihre Richter bestanden aus Reichen und Armen, Gebildeten und Ungebildeten, Christen und Juden, Männern und Frauen. Wenn aber auch alle diese 507 Menschen dieselbe Anzahl Schläge empfingen, so war diese Strafe nicht für Alle gleich schwer. Der rohen Negerin, die seit ihrer frühesten Jugend Feldarbeit verrichtete und in der Negerhütte lebte, die zu unzähligen Malen Peitschenhiebe erhielt, der alle Gelegenheit zur Geistesbildung fehlte, wird es oft weniger kümmern, daß sie auf dem Richthofe nackt an dem Pfahl aufgezogen wird, dem wollüstigen Auge einer rohen Menge zur Schau. Wenn aber die Negerin in Paramaribo groß geworden ist, wenn sie dort zu häuslichen Verrichtungen benutzt wurde und in Folge dieses gewohnt ist, sich reinlich und sogar gefällig zu kleiden, wenn sie Bekanntschaften mit freien Leuten hat und in Beziehungen zu ihnen steht, dann wird die Strafe ihr nicht nur körperlich doppelt schmerzhaft sein, es wird sie bis in das Innerste ihrer Seele verwunden, wenn sie, wie die niedrigste Verbrecherin nach der Strafstätte geführt wird, sich dort vor aller Augen entkleiden muß und ihre nackten Glieder durch Henkershände angefaßt werden.

Und nun denke man sich ein jugendliches Mestizenmädchen, dessen Gesichtszüge, Haltung und Farbe ihre europäische Abstammung verräth; ein reizendes Mädchen, erzogen mit den Kindern ihres Herrn, welches sich auszeichnet durch Bildung und gute Sitten. Sie weiß so gut wie ihre Herrin, daß das Schamgefühl eine der schönsten weiblichen Zierden ist; ihre Ehre und ihr guter Name sind ihr Kleinodien. Durch Verkauf oder Erbschaft fällt sie in andere Hände, vielleicht in die einer Johanna. Gerade ihre vortrefflichen Anlagen und ihre Schönheit sind die Ursachen der Unzufriedenheit ihrer Gebieterin. Auch sie soll morgen nach dem Richtplatz geschickt werden. Welch eine Nacht voll Seelenleiden, schmerzhafter als die Quälereien am folgenden Tage, durchwacht sie. Und keine Macht der Welt kann dies Verhängniß von ihr nehmen. – Die Nacht voll Thränen und Verzweiflung wird vom Morgenroth besiegt, die Stunde kommt; sie wird zur Strafstätte geführt; dort werden ihre zarten Hände mit Stricken zusammengebunden, dort werden ihr die Kleider vom Leibe gerissen, dort wird sie völlig nackt den gierigen Blicken der Polizeibeamten und der erbarmungslosen Menge preisgegeben. Ist solches Seelenleiden nicht schmerzhafter als die Peitschenhiebe, die ihre zarte, weiße Haut zerreißen?

Und das Alles geschieht mit Genehmigung einer Regierung, die sich eine christliche nennt, geschieht in einem Jahrhundert und von einem Lande aus, das sich rühmt, ein „humanes“, ein „frommes“ zu sein. Das Alles ist von einem europäischen Staate gesetzlich eingerichtet und sanktionirt, dessen Organe sich spreizen, Civilisation und Bildung nach dem Westen zu tragen. Welch ein Jahrhundert!




Des Engländers Gastrolle.
Eine Erinnerung an Goethe und den „alten Herrn.“[1]

Wir saßen in einem großen Kreise um das rothglühende Kaminfeuer, das unsere Oberkörper vorn versengen zu wollen schien, während es vom Rücken her und an den Füßen – trotz des dicken brüsseler Teppichs – Schnupfen und Rheumatismus drohend entsetzlich „zog“. Die großen Bequemlichkeitsstühle, wie man sie in jedem höheren englischen Gesellschaftszimmer findet, hatten nicht hingereicht, allen Gästen den Rücken gegen den Charakter-„Zug“ aller englischen geheizten Stuben zu sichern. Ich hatte nichts als einen Rohrstuhl mit durchbrochener Lehne und saß dazu in furchtbarer Nähe der Thür, durch deren Ritzen und Spalten sich fortwährend zwölfreaumurgradige Eisluft heulend und heißhungrig nach dem Feuer drängte, während sich von vorn ein Klumpen Weißglühhitze mit Erfolg damit zu beschäftigen schien, mir die Kniescheiben und Schienbeine braunkrustig zu braten. Meine neuen Beinkleider gab ich mit einer gewissen Gleichgültigkeit auf, aber die Masse Rheumatismus, welche die Zugluft auf ihrem Wege in meinen Ohren, im Nacken, im Rücken, im Kopfe absetzte, durchschauerte mich mit einer schrecklichen Ahnung von Zahnschmerzen und einer stillen Wuth gegen den Konservativismus der Engländer, die solch’ einen Zustand, welcher genau dem der Verdammten in Dante’s Hölle gleicht (die bekanntlich unten im Eis sitzen, während sie oben fortwährend gebraten werden) noch immer „comfortabel“ nennen. Sobald ich Gelegenheit fand, fing ich denn auch an gegen dieses Comfortable zu protestiren, dem deutschen Ofen mit seinen stillen, im Verborgenen und solid wirkenden Tugenden eine Lobrede zu halten und meinen Platz aufzugeben. Daraus entspann sich ein Frag- und Antwortspiel über die Vorzüge, die Deutschland vor England und andrerseits England vor Deutschland habe. Dabei hatte ich natürlich eine schwere Aufgabe, als einziger Deutscher in der Gesellschaft 39 Vaterländer gegen eine ganze Armee, darunter recht wunderhübsche, blühende, naseweiße Damen, zu vertheidigen und obendrein mich selbst.

Der Kampf schwebte lange unentschieden hin und her. In meiner Disputirwuth vertheidigte ich sogar Kurhessen, da es wenigstens Oefen und eine schöne Stadt Bockenheim habe, einen klassischen Ort für England, welches schon vor 70 Jahren von daher Hülfstruppen gegen die Republikaner in Amerika und neuerdings angeblich 27 Mann Fremdenlegion bezogen habe. Doch selbst diese Geisterbeschwörung, selbst dieser erhabenste, aufopferndste Beweis von Patriotismus gab mir noch keinen entschiedenen Vortheil im Kampfe, so daß ich jedenfalls als der Besiegte mich hatte ergeben müssen, wenn nicht der Patriarch des Hauses, der Vater von neunzehn verheiratheten Kindern und Großvater von etwa vierzig Enkeln und Enkelinnen siegreich zu Hülfe gekommen wäre.

Er nahm die Brille ab, strich sich sein weißes Haar und gab mir in ganz hübscher, deutscher Sprache die Versicherung, daß er die schönsten Stunden seines nun vierundsiebenzigjährigen Lebens in Deutschland verlebt habe.

„Grandpapa,“ rief ihm jetzt eine sechzehnjährige, rosige Enkelin zu, „jetzt mußt Du Deine Geschichte erzählen. Mr. B., der auch zur Literatur gehört, wird sich sehr darüber freuen. Und dann ist sie für uns auch so hübsch, daß wir sie immer gern wieder hören.“

Well, well,“ fuhr der Alte wieder englisch fort, „das wollt’ ich eben. Auch sind noch Mehrere hier, welche Deutsch lernen und Goethe lieben und meine Geschichte noch nicht gehört haben. Nun gebt Acht, ich werde Euch zugleich erzählen, daß ich schon einmal Schauspieler gewesen bin und mehr Gage erhalten habe, als mancher erste Tenor.

„Meine Kinder haben schon oft gehört, daß ich mit dem Franzosen gar nicht übereinstimme, welcher ein Buch über Deutschland mit der Behauptung anfing: „Die Deutschen sind ein Volk, das Schulze heißt.“ – Ich nämlich behaupte, daß die Deutschen ein Volk seien, welches Müller heißt. Wir wollen hier diesen Streitpunkt nicht weiter untersuchen. Meine Kinder wissen wenigstens, daß mein deutscher Hauslehrer Müller hieß und eine ganze Menge Verwandte hatte, die auch alle Müller hießen. Alle Deutsche, bei denen ich eingeführt wurde, als er mit mir, seinem achtzehnjährigen Schüler eine Reise durch Sachsen, Thüringen u. s. w. machte, hießen ohne Ende und Aufhören Müller. Gut. Also wir reisten durch Central-Deutschland.“

„Muß Mittel-Deutschland heißen,“ fiel ich ein, „der Ausdruck „Central-Deutschland“ ist sogar gefährlich, da dies manchen kleinern Staaten ein Uebergewicht geben und die Extremitäten des deutschen Vaterlandes in Gefahr bringen könnte, ihr Selbstgefühl zu verlieren.“

„Schön, also Mittel-Deutschland. Aber damals war’s Central-Deutschland, wie die Sonne Centrum unseres Planetensystems [542] ist. Wir fußwanderten durch Wälder und Felder, durch Schaf- und Kuhheerden, Dörfer und Städte und an Personen vorbei, die alle so aussahen, als ob sie Müller hießen, bis wir in das niedliche Großherzogthum Sachsen-Weimar kamen, wo wir in einer niedlichen Landschenke am Saume eines duftigen Waldes mit Wiesen, von denen der würzigste frische Heugeruch hervorquoll, festen Fuß faßten, um einige Verwandte Müller’s in der Nähe, die alle ohne Ausnahme wieder Müller hießen, zu besuchen und uns von unseren Wanderungen zu erholen.

„Müller las und rauchte bis spät in die Nacht und stand spät auf, ich aber, damals jung und blühend, voller Kraft und Hoffnungen, stand nicht selten mit der Sonne auf und streifte durch das thaubeperlte Gras, kletterte auf Hügel, suchte Vogelnester auf und guckte hinein – natürlich ohne ihnen das Geringste zu Leide zu thun, las Stellen aus Thomson’s „Frühling“ oder auch im Shakespeare, trank irgendwo auf einem Dorfe Milch und amüsirte mich über die Kinder mit verbrannten Gesichtern und hellblonden Haaren, die Viertelstunden lang wie angewachsen standen und mich mit aller Macht anstarrten, bis ich sie anredete und sie davonliefen. So bekam ich meinen Mentor und Hauslehrer Müller in der Regel erst Nachmittags beim Essen zu sehen. Gegen Abend machten wir wieder Ausflüge und entdeckten manche verborgene Schönheiten des Waldes. Eines Morgens war ich früher wie gewöhnlich aufgestanden, um eine Lieblingsstelle in ziemlicher Entfernung, die wir ein paar[WS 1] Tage vorher aufgefunden, wieder zu suchen. Müller sollte mir zum Mittag nachkommen. Es war ein breiter Wildhügel, an welchem ein lustiges Flüßchen mit einem herrlichen Wasserfall herunter sprang und mit seinem klaren Geschwätz allein die Stille unterbrach, insofern man wenigstens der Gewohnheit wegen die Musik der Vögel nicht rechnet und glaubt, sie gehöre im Juni just zu der Stille des Waldes. Am Fuße des Hügels breitete sich zwischen Bäumen ein halbkreisförmiger Wiesenteppich aus. Das Ganze sah wie ein von der Natur eingerichtetes Amphitheater, durch welches das silberne Flüßchen, noch aufgeregt von seinem Falle, mit unermüdlicher Munterkeit zu den Bäumen hinaufplauderte. Hier wollt’ ich Shakespeare’s Sommernachtstraum lesen, um mir seinen „Puck“ und sonstige sonderbare Geister lebendig zu machen und einsam zu genießen, wie ein – Engländer. Auch war ich damals ein Stück von Geolog, und etwas Botaniker dazu, so daß ich mich leicht durch Blumen oder Quarzstückchen verleiten ließ, Steine zu klopfen oder Staubfäden zu zählen. So hatte ich mich auch diesen Morgen aufhalten lassen, weshalb es bald Mittag war, als ich durch den Wald das grüne Theater im freudigsten Sonnenschein aufleuchten sah.

„Aber ich machte gar große Augen, als ich sah, daß der Sommernachtstraum, den ich lesen wollte, hier eben von lebendigen Personen aufgeführt zu werden schien. Achtzehn oder zwanzig Damen und Herren und etwa ein halb Dutzend in Grau und Silber gekleidete Diener plauderten und sprangen auf dem Wiesenteppich herum. Die Herren trugen eine Art von Jagdkostüm, und die Damen sahen in ihren leichten Sommerkleidern mit ihren schlanken elastischen Gestalten, freudestrahlenden Augen und geröthet von der duftigen Junisonne, feenhaft schön aus.“

„Früher hast Du gesagt, daß eine von den Damen sehr korpulent gewesen,“ bemerkte hier eine der Damen.

„Gut, mein Kind, mag sein. Aber sie waren sehr schön, denn ich war noch nicht zwanzig Jahre alt und stand noch in der Ferne. Uebrigens braucht Ihr nicht zu fürchten, daß ich mir jetzt noch eine Frau und Euch eine Großmutter aus Deutschland, holen werde. Die Dienerschaft beschäftigte sich,“ fuhr der alte Herr fort, „eben damit, bemalte Holzbretter zu einem Theater und Kissen und Umschlagetücher zu Sitzen vor demselben zurechtzumachen, so daß ich alle Vorbereitungen zu meinem Sommernachtstraume im hellsten Sonnenscheine vor mir zu sehen glaubte. Aber etwas mußte schief gegangen sein, denn sie hatten sich inzwischen alle um einen jungen Herrn von majestätischer Größe und noblem Aeußern versammelt und führten eine lebhafte, ängstliche Unterhaltung, welcher der Majestätische keine bessere Wendung geben zu können schien. Auf einmal wandte die ganze Gesellschaft ihre Blicke mit der größten Ueberraschung auf mich, der ich weißhosig und verlegen am Rande der umgebenden Bäume stand, zu meinem Leidwesen noch obendrein grell von der Sonne beschienen. Ich hatte in Verwunderung verloren dagestanden und konnte jetzt am Wenigsten davonlaufen, um so weniger, als die ganze Gesellschaft in ein freudiges Gelächter ausbrach, mit schönen Händen mir Beifall klatschte und ehe ich mich dessen versah, mich in ihre Mitte genommen hatte, um mich mit Fragen und Bitten zu überschütten, ohne daß ich ihnen erst ceremoniell mich vorgestellt hatte.“

„Besitzen Sie Darstellungstalent?“

„Kennen Sie „die Bürgermeister?“

„Wollen Sie den Hermann spielen?“

„Ach ja, bitte mein Herr, spielen Sie den Hermann?“

„Lesen Sie ihn, wenn Sie die Rolle nicht kennen, bitte!“

„Sie sind uns vom Himmel gesandt, Sie dürfen höhern Weisungen sich nicht widersetzen.“

„Auf irgend eine Weise werden Sie den Hermann übernehmen, wenn Sie uns auf das Höchste verbinden wollen.“

„Bitte, kommen Sie, versuchen Sie’s!“

„In der glühendsten Verlegenheit starrte ich von einem schönen Gesicht zum andern, ohne ein Wort zu finden, das ich hätte sagen können. Zum Theater übergehen, Bürgermeister, Hermann, vom Himmel gesandt, ohne Weiteres als solcher Gesandter in Funktion treten, mich wohl gar in eine oder mehrere Damen verlieben –“

„Aber Großvater, das hast Du früher nicht gesagt in Deiner Erzählung.“

„Schon wieder ein Fragezeichen, ob sich, nicht Jemand in Dich verlieben will, Lousi, he? – Kurz, ich wäre wahrscheinlich stumm geblieben, wäre nicht der Majestätische zu meiner Rettung herbeigekommen.“

„Das ist ein seltsamer Empfang, mein Herr, nicht wahr?“ sagte er. „Erlauben Sie, Ihnen unsere Situation zu erklären. Wir sind eine Gesellschaft herumziehender Schauspieler und spielen Komödie, Tragödie, Burleske, Drama in Deutsch, Französisch, Italienisch mit der größten Unparteilichkeit. Heute wollten wir hier „die Bürgermeister“ einstudiren, haben aber unglücklicher Weise für unsere Hauptrolle plötzlich eine Vacanz, da der betreffende Schauspieler (hier zeigte er auf einen Herrn, der im Schatten eines Baumes auf Kissen lag) sich auf unserer Wanderung hierher den Fuß verrenkt hat. Wir haben keinen andern, der ihn ersetzen könnte. Wenn Sie daher den Hermann für ihn übernehmen wollten, würden wir Ihnen alle auf das Herzlichste dankbar sein.“

„Ja gewiß, mein Herr,“ fielen hier mehrere klangvolle, süße Stimmen aus schönen Gesichtern ein.

„Es lag so etwas Nobles und Gewinnendes in der Art des majestätischen Herrn, obwohl ich ihn jetzt blos für den Direktor einer herumziehenden Bande hielt, so etwas Reizendes in der ganzen Situation, so etwas Unwiderstehliches in den schönen Augen um mich herum, daß ich ohne Weiteres beschloß, mich in die Gefahr zu stürzen. Zufällig hatte ich eine entfernte Ahnung von den „Bürgermeistern,“ da ich einer Aufführung derselben mit Müller in Frankfurt beigewohnt, so daß ich mich nicht für so unfähig hielt, als ich im ersten Augenblicke fürchtete. So wurde ich nach wenig Minuten auf die extemporirte Bretterwelt geführt und hinter den Coulissen mit den übrigen Mitwirkenden aufgestellt. Fest hielt ich mein Buch in der Hand und las nach, bis mein erstes Stichwort kam. Kühn und entschlossen trat ich heraus, die Augen fest auf mein Buch gerichtet und scharf Achtung gebend, daß ich auch kein deutsches Wort englisch ausspräche, und so las ich und schritt ich und gestikulirte ich mit der rechten Hand dazu, sogar manchmal mit der linken, obgleich diese als „Buchhalter“ sich im Ganzen eines gesetzten Betragens vor meinen Augen befleißigte.

„Kurz die Sache machte sich Scene für Scene, Akt für Akt zu meiner und der Zuschauer steigender Befriedigung. Der Herr, dem das Theater zu gehören schien, eine schöne, würdige Dame, die ich für seine Gattin hielt und die mir gar nicht wie eine herumziehende Direktrice vorkommen wollte, eine andere sehr geistvoll aussehende Dame und der schöne Herr mit dem verrenkten Fuße bildeten unsere Zuschauer vom grünen Rasen her. Dahinter standen zwar noch einige Personen außer den silbergrauen Dienern, an Bäume gelehnt, aber ich entsinne mich nicht, eine davon persönlich kennen gelernt zu haben.

„Doch besinne ich mich noch sehr genau, wie unsere erste Liebhaberin, eins der reizendsten Mädchen mit der süßesten Stimme, die ich je gehört, die größte Besorgniß und Theilnahme für den invalid gewordenen Schauspieler merken ließ. Ihre reinen, strahlenden Augen verirrten sich während jeder Pause nach ihm; seine [543] leisesten Beifallsbezeugungen erhöhten jedesmal das blühende, jungfräuliche Roth auf ihren zarten, runden Wangen; die Worte ihrer Liebe, die mir, ihrem Herrmann, gelten sollten, wanderten in derselben unkünstlerischen Richtung, bis ein feines, sarkastisches Lächeln bei einer solchen Gelegenheit von Seiten des Theaterdirektors von ihr aufgefangen und verstanden ward, so daß sie in liebenswürdigster Verwirrung feuerroth ward und sehr zu kämpfen hatte, um nicht ganz aus der Rolle zu fallen.

„Glücklicher Invalide, dacht’ ich. Dir schlagen die schönsten Herzen entgegen, ohne daß Du sie suchst, und unsereins in voller dramatischer Liebesglut auf zwei gesunden Beinen (blos mit einer invaliden „buchhaltenden“ Hand) muß just Feuer anblasen, damit sich Andere daran erwärmen! Bin ich ein höherer, reisender Engländer? Warum machen mich diese herumziehenden Mimen zu einem bloßen Blasebalg?“

„Warst Du denn wirklich eifersüchtig?“ fiel hier eine neckische Stimme mit jugendlichem, klangvollem Lachen in die lächelnd ruhige Erzählung des Greises ein.

„O, das war wohl, Tochter Nr. 17,“ erwiederte er. „Kleine Fliege, Du wirst doch nicht eifersüchtig sein auf die nicht aufgegangene, vor fünfzig Jahren stets vor mir vorbei wehende Flamme? – Um von den Bürgermeistern hier weiter nicht zu reden, laß’ ich den Vorhang fallen, denn meine Rolle fing nun erst an. Wir stiegen von den Brettern auf das Gras zu unsern Zuschauern und hörten Urtheile über unsere Darstellung, die in Lob und Tadel ganz von den bei solchen Gelegenheiten gewöhnlichen Phrasen abwichen und den feinsten Geschmack, den gebildetsten Sinn für Verkörperung und Personifikation ideeller Figuren und Zustände kund gaben. Inzwischen waren die Silbergrauen eifrig bemüht, ein kaltes Mahl unter einer schattigen Linde zu arrangiren, das eben so wenig, wie die Schüsseln und Geräthe, am Hungertuche nagende herumziehende Jünger des Thespis Karren verrieth. Wir setzten und lagerten uns herum, aßen und tranken und fühlten uns viel glücklicher und seliger im Feuer der gediegensten, freien und doch fesselndsten Unterhaltung, als in dem des Johannisberger. Wir scherzten, lachten, stießen mir den Gläsern an und waren übermüthig lustig, ohne daß je ein Wort, eine Miene unterhalb des feinsten Tones fiel. Der Invalide nannte mich zuerst seinen Deputirten und trank mit mir aus einer schwanenhalsigen Rheinweinflasche.

„Von dieser Zeit an ward ich stets Herr Deputirter angeredet, ohne daß Jemand nach meinem Namen fragte. Da ich nun meinerseits keinen meiner Collegen, keinen Zuschauer beim Namen kannte und von steifen, gegenseitigen Vorstellungen nie die Rede war, nannte ich meine Collegen ohne Komplimente bei den Namen ihrer Rollen und die Zuschauer nach den Nummern, die sie eingenommen. Vielleicht hießen doch auch die Meisten nur Müller, wie ich damals dachte.“

„Ihre Gesundheit, Herr Deputirter!“ rief der schöne Invalide. „Dieser alte Johannisberger ist wie ein Gedicht von Schiller oder Wieland oder einem andern Dichter, je älter, desto edler die Blume. Viva it vino!“

„Die Gläser klirrten. Der Majestätische stieß mit an, indem er lächelnd bemerkte, daß man hoffentlich auch Kotzebue einschließe.“

Kotzebue!“ rief der Invalide, sich aufrichtend mit einem finstern Gesicht. „Kann man einen Tropfen dieser Gottesgabe nur ansehen, und an diesen Quak-Poeten denken? Eingebildeter denn ein Pfau! Ein Guckguck, der nichts singt, nichts kennt, als sein Bischen Ich! Wo er auch hinkommt, nirgend erkennt er einen Himmel, eine Erde, neue Situationen und Menschen, nirgend die Weihe der Kunst an, die den Künstler in sich aufnimmt und auslöst. Im Gegentheil, immer belächelt er nur eitel sein eigenes Sagen und Thun. Selbst in Tobolsk ist er überzeugt, daß die Sibirier nichts zu thun haben, als seine Stücke zu übersetzen, zu lesen, einzustudiren und auszuführen.“

„Obgleich in diesen Worten nichts bestechend Originelles lag, fiel mir doch dabei zum ersten Male das überaus geistvolle, ausdrucksreiche, edle Gesicht des Sprechenden so auf, daß ich mich desselben noch heute in ganzer Klarheit erinnere. Ich konnte meine Augen nicht von ihm wenden, wie er da auf dem Grase ausgestreckt lag, den Kopf auf die Hand gestützt. Er war schön und intelligent zugleich, Nase und Mund von der schönsten klassischen Form, der Vorderkopf gewölbt zur höchsten, schönsten Stirn, Augen von einem brillanten Schwarz wie die eines der blühendsten Italiener. Doch waren es weniger die eigentlichen Gesichtszüge, als der edle Charakter und die volle Bedeutsamkeit seiner Physiognomie, was den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck auf mich hervorrief; und so horchte ich auf jedes seiner lebhaften Worte und kühn herausgesprochenen Urtheile mit einem Interesse, das ich mir damals kaum zu erklären im Stande war.

„Kotzebue,“ sagte die einfache Dame, die ich Nr. 3 nannte, „ist mehr ein Sitten- als Charakterzeichner.“

„Verbrechen-Maler, sagen Sie lieber, Madame!“ rief der Invalide. „Die Verdorbenheit und Haltlosigkeit der höheren Klassen, des gebildeten Pöbels, ist die Sphäre seines Griffels. Wahre Schönheit des Charakters ist ihm völlig unbekannt und unzugänglich. Er kennt nur Menschen, wie sie nicht sein sollen. Kotzebue weiß wahre Größe, die Herrlichkeit der Mission des Menschen auf Erden nicht zu würdigen. Der Mensch aber war der erste Dialog, den die Natur hielt mit Gott.“

„Es würde ganz unmöglich sein, die Wärme und den eindringenden Ton dieser letzten von ihm gesprochenen Worte zu erklären. Sie zitterten durch mein ganzes Wesen wie eine vibrirende Saite. Auch alle Uebrigen schienen auf ähnliche Weise ergriffen und dem Nachklange dieses Tones in ihren eigenen Gemüthern zu lauschen.

„Sie verlangen von jedem Schriftsteller so viel Originalität,“ sagte der Majestätische nach einer Pause. „Ich preise mich oft glücklich, daß ich nie ein Gedicht zu fabriciren versucht habe, denn ich weiß, er würde mich ganz unbarmherzig mitgenommen haben.“

„Originalität ist blos ein Wort,“ erwiederte der Invalide, der sich in Paradoxen zu gefallen schien. „Es gibt keine Originalität. Der größte Genius wird nie viel werth sein, wenn er sich einbildet, blos aus seinen eigenen Mitteln schaffen zu können. Es gibt freilich Philosophen, die wähnen, daß sie sich 30 Jahre in ihre Bücherstube einschließen können, ohne jemals die Welt eines Blickes zu würdigen, immer ausschließlich aus ihrem eigenen armen Hirn zu spinnen und daraus die Welt mit großen, originellen Schöpfungen zu beglücken. Was kommt dabei heraus? Wolken, nichts als Wolken, Hirngespinste!“

„Bei alledem,“ sagte die Frau des Majestätischen, die blos Madame genannt ward, „kann es keinen Genius geben ohne eigene Mittel, ohne Originalität, die Sie so zu verachten scheinen.“

„Na denn, bitte, Madame, sagen Sie mir gefälligst, was Genius sei, wenn es nicht die Gabe ist, Alles, was uns packt und ergreift, zu ergreifen, zu begreifen und daraus etwas zu machen, alle Dinge zu ordnen und mit Leben zu durchathmen, alle Stoffe, die sich uns bieten; hier Marmor, dort Metall, dort andere Materialien zu nehmen und mit Geist Monumente daraus zu fügen? Ein Werk des Genius bedarf der Stoffe der Natur und des Menschen und wird versorgt und zu Stande gebracht von Tausenden von Personen und Sachen, was nur das eitle, oberflächliche Talent verkennt, um sich mit fremden Federn zu schmücken. Der Genius gerade macht es bescheiden, der Gelehrte, der Unwissende, der Weise und der Thor, alle tragen das Ihrige zu jedem Werke des Genius bei. Sie säen den Herbst, den der Dichter, der Philosoph, der Historiker erntet. Ein großes literarisches Meisterwerk ist deshalb nichts als eine künstlerische Sammlung von Wesen aus dem Reichthum der Natur, welches man je nach den Sammlern hier Plato, dort Shakespeare u. s. w. nennen mag. Glauben Sie mir, um groß, um genial zu sein, muß man social sein. Auch Herkules bedarf der Nahrung. Und durch Umgang mit Astronomen, Botanikern, Chemikern, Mathematikern, Architekten, Professoren und Professionisten aller Art kann der Dichter und Künstler Rohmaterial, Nahrungsstoffe sammeln. Deshalb finden wir die wahrhaft großen Männer inmitten ihrer Nebenmenschen. Plato und Sokrates waren keine Eremiten. Bacon, Camoens, Boccaccio, Dante waren Bürger großer, volkreicher Städte.“

„Darin haben Sie Recht,“ sagte „Madame,“ lächelnd. „Ich für meinen Theil denke hierbei besonders an Paris und verdanke dieser Schwäche sehr viel.“

„Sehr viel? Nein sagen Sie Alles! Es wäre unmöglich zu sagen, wo und in welchem Gegenstande oder Geschäfte,. oder in welcher Wissenschaft wir oft Ideen, die mit diesen Gegenständen, Geschäften oder Wissenschaften gar nichts gemein haben, finden und benutzen. Ich habe Mineralien, Moose, selbst Fische gesehen, welche mir die herrlichsten physiologischen und selbst psychologischen [544] Aufschlüsse über die Menschenwelt gaben. Diese Dinge sind die geheime Zeichensprache der Natur, und wer sie entziffern kann, mag erst im Stande sein, ohne Nachtheil Gesprochenes und Geschriebenes bei Seite zu schieben.“

„Es ist wahr,“ sagte ein moderner junger Herr, „daß eine bis jetzt noch nicht in ihrem ganzen Zusammenhange gefundene Verwandtschaftskette von Kunst zu Kunst, Wissenschaft zu Wissenschaft, Erscheinung zu Erscheinung läuft, wodurch das Eine zum mysteriösen Dolmetscher des Andern wird. So habe ich Gemälde gesehen, die mich ergriffen wie ein Gedicht. So hab’ ich Musik gehört, die mich an Orte meiner Kindheit, bis dahin vergessen, zurückführten.“

„Baukunst ist gefrorne Musik,“[2] rief die schwarzäugige Dame lebhaft.

„Der Invalide sprang mit freudigem Erstaunen aus seiner Lage in eine sitzende Position auf: „Ein reizendes Bild, in der That!“ rief er, „das ich sehr oft gefühlt, doch bis jetzt noch nicht deutlich fassen konnte. Als ich z. B. den Straßburger Münster besuchte, fühlte ich mich durchaus hingerissen von der Erhabenheit und Grazie seiner Proportionen. Ideen von unendlicher Ordnung und Harmonie sprangen in mir auf und fanden sich verkörpert in dem Verhältniß unzähliger, schön ausgeführter Theile zu einem großen einheitlichen, systematischen Ganzen. Es ging mir eine neue Offenbarung des Einfachen und Ewigen, der Universal-Naturgesetze auf. Es war, als lauscht’ ich einem Psalm oder Choral von Bach oder Palästrina mit allen ihren Harmonieen, auf einmal in erhabener Einheit eine über die andere gebaut, und zugleich als säh’ ich die verkörperte Auflösung eines mathematischen Problems.“

„Ich habe manche sonderbare Beispiele von Verwandtschaft zwischen Tönen und Farben[3] gefühlt und erzählen hören,“ entgegnete die Schwarzäugige. „Ich glaube, ein verdienstliches Werk über die Verwandtschaft der Künste muß erst geschrieben werden.“

„Nicht blos über die Verwandtschaft der Künste,“ fügte der Invalide hinzu, „sondern auch der Künste mit dem Menschen, des Menschen mit der Natur, der Natur mit den Künsten. Ich für meinen Theil sehe nie einen Baum oder einen Berg, ohne eine gewisse Verwandtschaft mit ihm zu fühlen – als ob er Theil und Theilnehmer in eines eigenen Wesens sei. Die Analogien zwischen unserer inneren und der Außenwelt sind seltsam und universal. Und dabei dürfen wir nicht die Verwandtschaft der Naturdinge unter sich vergessen. Die Combinationen auf diesem Gebiete gehen in’s Unendliche, selbst bis in den Humor hinein. Nehmen wir z. B. die Schmarotzerpflanzen: wie viel Phantastisches, Komisches, Vogelartiges finden wir unter ihren charakteristischen Eigenschaften![4] Ihre geflügelten Samenkörner setzen sich wie Vögel auf einen Baum, nisten sich auf ihm ein und zehren von ihm, bis die Pflanze groß gewachsen. Seht den Baum dort am Flusse, wie der Mistelzweig sich der Rinde desselben als Nahrungsquelle bedient und aus ihm herauswächst wie ein Adoptivkind. Sein Saft gibt Vogelleim. Nicht damit zufrieden, sich als ungebetener Gast aufzudringen, incommodirt er den Baum so lange, bis er ihm Holz von seinem Holze gibt, um es nie wieder zurückzugeben, und erfüllt es mit einem Safte, der den ungebundenen Schmarotzerpflanzen der Bäume, den Vögeln ihre Freiheit kostet. Die Moose und Schwämme gehören zu derselben Klasse. Die Linde, unter die ihr mich vorhin legtet, ist voll von – von –“

„Er hielt plötzlich inne und sah überrascht und fragend nach einem Punkte hin, den die ganze Gesellschaft sofort aufsuchte und fand. Der Punkt war aber eine lange Latte, die zwischen den Bäumen und unserem Cirkel stand und mit ganzer Seele gehorcht zu haben schien.

„Wen haben wir hier vor uns?“ fragte der Redner ziemlich stolz und ungehalten.

„Ich mußte lachen, schämte mich aber auch zugleich nicht wenig, denn die Latte war eine Person, Namens Herr Müller, mein Mentor und Hauslehrer, der eine gar zu komische Figur bildete, als er in seiner Verlegenheit nicht wußte, ob er die Hacken oder das Gesicht zeigen sollte.

„Dieser Herr ist ein Freund von mir,“ sagte ich etwas verlegen, „in der That mein Hauslehrer, der hierher kam, um mich verabredeter Maßen hier zu treffen. Ich wollte diesen Vormittag hier Einsamkeit und Shakespeare genießen und den Nachmittag mit ihm verleben. Natürlich dachte ich nicht, die Zeit viel erfreulicher und edler in solcher Gesellschaft zubringen zu können.“

„Sie sind sehr gütig,“ erwiederte er, „doch sind wir Ihnen jedenfalls verpflichtet für Ihre Rettung in unserer Noth um einen Hermann. Vielleicht war es auch für Sie gut, uns zu treffen, andernfalls dürften Sie jetzt wohl sehr hungrig sein. Bitte, laden Sie Ihren Freund gefälligst ein, näher zu kommen und ein Glas Johannisberger zu nehmen.“

„Ich winkte Müller, zu kommen. Er folgte mir zögernd und so ungeschickt und verschämt mit seinem Hute in der Hand, daß ich lauter lachen mußte, als die Uebrigen, welche ihre Lachmuskeln gewaltsam im Zaume hielten. Bei jedem Schritte machte er eine Verbeugung, indem er mit Hals und Kopf zwischen die Schultern hineinfuhr, wie eine neugierige Ente, die nachdenkt, ob sie davonlaufen oder den Gegenstand ihrer Besorgniß noch näher kommen lassen soll, ehe sie sich entscheidet. Nach jedem Schritte und Zusammenklappen des Kopfes zwischen den Schultern schien er zu erschrecken und durch neue Ceremonien und Verbeugungen Abbitte dafür thun zu wollen. Die Wahrheit zu sagen, ich hatte ihn noch nie so ungeschickt und unbeholfen gesehen.

„Bitte, treten Sie näher!“ sagte der invalide Apollo ziemlich ungeduldig. „Wir können Ihnen keinen Stuhl anbieten, auch keinen Tisch, aber wenn Sie den Rasen und ein Glas Wein für nicht zu niedrig halten, sind Sie ganz willkommen.“

„Ich – ich –“ stotterte Müller, noch nervöser und leidenschaftlicher knicksend und duckend, „ich würde d. h. wenn Ihre Durchlaucht –“

„Durchlaucht? Was sollte das heißen? Ich sprang auf und fühlte mich plötzlich eben so verlegen als Herr Müller – Ich sah von Einem zum Andern und wußte gar nichts zu sagen.

„Der Majestätische lächelte und sagte mit mehr Würde, als er bisher gezeigt: „Da nun der Knoten unsers Naturspiels: „Incognito“ so unerwartet gelöst ward, muß ich mich wohl selbst in meiner irdischen Person vorstellen. Ich bin Karl August von Sachsen-Weimar und diese Dame ist die Herzogin Louise. Die gütigen Freunde und Dilettanten um uns sind die Damen und Herren meines Hofes. Wir erheitern uns oft während des Sommers in der Weise wie heute; und da dies in Weimar allgemein bekannt ist, stört uns Niemand in dieser Waldeinsamkeit. Die Bewohner ringsum sind sogar durchweg sehr sorgfältig, unsere Privatvergnügungen hier nicht zu stören. Auf diese Weise wußten wir gleich, daß Sie nur ein Fremder sein konnten. Wir beschlossen, Sie zu unsern scenischen Spielen einzuladen, ohne unser Incognito aufzugeben, das ich für eins der angenehmsten Privilegien eines Fürsten halte.“

„Eure Durchlaucht,“ sagte ich darauf, „wird mir vielleicht noch eine Bitte erlauben, ehe ich mich entferne. Die Unterhaltung, der ich die Ehre hatte, zuzuhören, hat mich mit solcher Freude erfüllt und mir einen so hohen Genuß gewährt, daß ich mir die Freiheit nehme, um eine fernere Ausdehnung Ihrer Güte zu bitten. Diese Dame, deren Anschauungen so geistreich und lebendig, dieser Herr, dessen Ideenreichthum so herrlich und trotz seiner Abneigung gegen dieses Wort – so originell, so tief und mannigfaltig, dessen Ausdrucksweise so malerisch – wer mögen sie sein? Denn ich fühle, daß ich in ihnen keine bloßen Personen des – ja ich sage es gerade heraus – Hofes, keine Alltagsdenker vor mir sehe.“

„Diese Dame,“ entgegnete der Herzog mit einer edeln Verbeugung zu ihr, „ist Madame de Staël. Dieser Herr –“

„Dieser Herr, mein edler Hermann,“ unterbrach der Invalide mit glänzendem Lachen seiner Augen den Herzog, „wird sich erlauben, sich selber vorzustellen.“ Er lehnte sich auf seinen Ellbogen, sah mich heiter an und fuhr fort: „Dieser Herr ist Einer von denen, die Ihnen ohne Zweifel gelegentlich schon unter verschiedenen Namen vorgekommen sein mögen, sonst hätten Sie unmöglich meinen „Hermann“ so ohne Weiteres übernehmen können. Diesen Herrn haben Sie hier und da als lächerlich und abscheulich und wohl auch als lobenswerth nennen hören.

„Mein Name ist Goethe.“

[545]

Indischer Feigen-Wald.

[546]
Ein indischer Baum.
(Mit Abbildung.)

Auf keinem andern Punkte der Erde zeigt sich die ewig zeugende und ewig zerstörende Natur herrlicher und furchtbarer, als in Indien, dem Lande, das man die geheimnißvolle Mutter der Menschen, der Religionen und der Civilisation nennt. Das Leben quillt da in so unerschöpflicher Fülle, daß ihm längst kein Raum zur weiteren Entwickelung geblieben sein würde, wenn nicht auch der Tod mit so reichen und gewaltigen Mitteln zur Vernichtung ausgestattet wäre, wie nirgend in der Welt. Die Sonnenstrahlen werden dort zu glühenden Todespfeilen; es wimmelt von den giftigsten Schlangen; die Dickichte sind erfüllt von den blutdürstigsten Thieren; die drückende Hitze erzeugt in den feuchten Niederungen geheimnißvolle Krankheiten, wie Cholera u. A., welche die Menschen zu Millionen hinraffen, und der Mensch selbst muß in seinem Wahne, der ihm den Mord als seiner Gottheit wohlgefällig erscheinen läßt, der Natur als blindes Werkzeug der Zerstörung seines Gleichen dienen. Und trotz dem unendlichen Morden, trotz Seuchen und Hungersnoth mitten in der üppigsten Fülle, trotz endlosen Kriegen seit vielen Tausenden von Jahren, trotz immer sich erneuernden Revolutionen und der blutigsten Herrschaft der scheußlichsten Tyrannen mehren sich die Millionen der Menschen in Indien bis auf den heutigen Tag, wie die unermeßliche Zahl der verschiedensten Thiere, von dem Elephanten bis zu den Heuschreckenschwärmen und Moskitowolken, fort und fort sich neu erzeugt und die Welt der Pflanzen, in ewigem Frühling, in wunderbarer Ueppigkeit gedeiht.

Blicken wir zunächst auf die letztere, so stellt sich uns ein wahrhaft zauberisches Bild dar. An Stellen, wo bei uns gebrechliches, schwankendes Rohr und dünnes Schilf kümmerlich wachsen würde, breiten sich in Indien Bambuswälder aus, deren glatte Stämme rasch emporschießen, bis sie die Dicke von Mannsschenkeln und Häuserhöhe erreichen, und gleich Marmorkolonnaden in Zauberpalästen erscheinen. An sie schließen sich Gebüsche, deren Blüthen in brennenden Farben berauschenden Duft verbreiten und Bäume mit schwarzgrünen, glänzenden, dicken Blättern, die zum allergrößten Theile die herrlichsten Blüthen tragen, während über alle hinweg die Kronen der Palmen ragen, in denen es im geheimnißvollen Geflüster rauscht, und die prächtigen Platanen mit den blaßgrünen, gefiederten Blättern wie zum Schmuck absichtlich daneben gestellt zu sein scheinen. An andern Orten wachsen unter Palmen und Platanen Orangen-, Feigen- und Mandelbäume, oder Mangobäume, deren Blüthen den aromatischsten Geruch weithin verbreiten und deren herrliche Früchte mit nichts besser als mit dem süßesten Rahm verglichen werden können. Die Blüthen fast aller Fruchtbäume Indiens riechen angenehm und stark; von den Rosen- und Resedafeldern wollen wir nicht sprechen; sogar die Blätter und die Rinde mancher Bäume duften lieblich, ja es gibt Gewächse, an denen Alles, Blüthen, Blätter, Rinde und Wurzeln aromatisch ist. Die Reben geben die süßesten, größten Trauben, aber nur, wenn man ihnen einen künstlichen Winter schafft, so daß sie nicht in’s Unendliche forttreiben können. Man thut dies, indem man einen Theil des Jahres über die Wurzeln ganz bloß legt.

Wie die unbegrenzte Fruchtbarkeit Indiens sich in der außerordentlichen Mannigfaltigkeit ihrer Erzeugnisse, namentlich der Pflanzenwelt, zeigt, so auch in der Riesenhaftigkeit einiger ihrer Arten. Und hier brauche ich als Beispiel nur den Baobab (Affenbrotbaum, Adansonia digitata der Botaniker) zu erwähnen, den man den Elephanten unter den Bäumen nennen könnte, da er von gewaltiger Stärke ist, oft dreißig Fuß im Umfange mißt, aber niedrig bleibt, oder doch keine zu dem Umfange im richtigen Verhältniß stehende Höhe erreicht, und den Wunderbaum, den unsere Abbildung zeigt, den Bantan- oder indischen Feigenbaum. Der letztere hat unter allen Herrlichkeiten und Seltsamkeiten der indischen Pflanzenwelt von Alters her die Bewunderung und die Verwunderung der Reisenden im höchsten Grade erregt. Und er hat des Ungewöhnlichen in der That viel an sich. Er wächst ungemein schnell, fast wie der Bambus, da aber sein Holz sehr zerbrechlich ist, so würde er die eigne Last bald nicht tragen können, wenn er sich nicht selbst Stützen wachsen ließe. Er treibt nämlich an der untern Seite der Hauptäste dünne, zarte, fadenartige Triebe hervor, die sich mehr und mehr verlängern, bis sie den Boden unten erreichen, wo sie sich sofort als Wurzeln festheften, um unglaublich schnell zur Dicke junger Bäume anzuschwellen, die dann den großen Aesten, von denen sie ausgingen, die sich nicht selten zwei- und dreihundert Fuß weit von dem Hauptstamm hinausstrecken und durch ihre Last an den Boden gezogen werden würden, als unerschütterliche Stützen dienen. So hat der Hauptast an dem von uns abgebildeten Baume eine Länge, von 225 Fuß und zwölf Stützen. Diese Stützen begnügen sich aber nicht damit, die Aeste zu tragen, sie treiben aus ihren Wurzeln wiederum neue Schößlinge, die sich zu Bäumen gestalten, und wiederum lange Aeste ausstrecken, die sich von Neuem stützen müssen und so fort, daß ein solcher Bantanbaum endlich wirklich einen Wald bildet und von Weitem immer wie ein kleiner Wald aussieht. Der hier abgebildete hat, nach den Zweigen gemessen, einen Umfang von 1345 Fuß und bedeckt eine Fläche von beinahe vier Ackern. Er ist aber bei Weitem noch nicht der größte, denn ein sehr berühmter steht seit uralter Zeit am Narbudda, unter : welchem einmal eine ganze Armee von siebentausend Mann auf dem Marsche Halt machte und Schatten fand und der, obgleich die Flut viel von ihm weggerissen hat, doch noch immer, nur um den Hauptstamm her, einen Umfang von mehr als 2000 Fuß hat.

Schon der alte englische Dichter Milton hat den seltsamen Bantanbaum würdig gefunden, in seinem „Verlorenen Paradiese“ besungen zu werden. – „Töchter wachsen,“ spricht er, „um den Mutterstamm, eine Schattenhalle, von hohen, grünen Bogen überspannt, mit Gängen, wo sogar das Echo weilt und wo oft der Hirt, den heißen Sonnenbrand zu meiden, im Schatten seine ganze Heerde weidet.“

Die scharlachrothen Feigen des Bantan-Baumes werden von Schaaren bunter Papageien, grünen Tauben und zahlreichen andern glänzend befiederten Vögeln aufgesucht, die oft zu Hunderten unter den weit gestreckten Aesten flattern, kreischen und plappern. Eichhörnchen springen von Zweig zu Zweig, lustig einander hinauf- und hinunterjagend an dem glatten Stamme, oft in Sprüngen von sechzig Fuß Weite oder Höhe. Affen sitzen auf den höchsten Zweigen und verzehren die Früchte, oder die Jungen hüpfen und spielen umher, während die alten graubärtigen Affenpatriarchen und die bedächtigen Affenmatronen gravitätisch den tollen Streichen der naseweisen Jugend zuschauen. In den Sonnenstrahlen, welche durch die dichte Blätterhülle hindurchdringen, schwirren kleine Vögel umher, deren Federschmuck in metallischem Glanze blitzt, mitten unter Schwärmen von bunten Käfern und Fliegen und unter Wolken von Moskitos, während in der Nacht Feuerfliegen da leuchten, die oft zu Millionen, gleich funkelnden Smaragden und Diamanten, an einem solchen Baume hängen, und ihn zu einer wahrhaft feenhaften Erscheinung machen.

Freilich wimmelt es auch in den alten Stämmen, die meist hohl sind, von giftigen Schlangen, Skorpionen und anderm Ungeziefer, so daß sich nahe an dieselben nicht so leicht Jemand wagt. Unter den schattigen Zweigen aber sieht man fast immer Bilder des indischen Lebens: Kinder spielen da, jagen die Affen und Eichhörnchen oder suchen die prachtvollen Schmetterlinge zu fangen, die sich gern in diesem Schatten aufhalten; weißbewandete Hindumädchen, Töpfe mit Wasser auf dem Kopf, eilen anmuthig dahin oder sitzen plaudernd neben einander; ernste Braminen schreiten einher; halbnackte Diener tragen Lasten; Reiter jagen dahin; müde Wanderer ruhen aus; Elephanten tappen schwerfällig einher; Buckelochsen und Büffel weiden; aus der Ferne schimmern weiße Paläste und Tempel, und über Alles spannt sich der tiefblaue, klare Himmel Indiens.

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Blätter und Blüthen.


Census der Arbeiter von Paris. Die verschiedenen französischen Regierungen haben sich oft Mühe gegeben, in ihrem Interesse, Alles über Allen und Jeden zu wissen innerhalb der Republik, des Königs- oder Kaiserreichs, sich auch über Gewerbe und Handel genaue statistische Wissenschaft zu verschaffen. Man versuchte es 1791, aber vergebens. Napoleon befahl 1807 seinem innern Minister, zu erforschen, wie viel in jedem Gewerbs- und Handelszweige Menschen beschäftigt seien. Die Ergebnisse waren höchst unvollständig und unsicher. Louis Philipp versuchte etwas Aehnliches 1831, aber auch ohne Erfolg. Die Nationalversammlung von 1848, die eine neue Untersuchung anstellen ließ, bekam blos unvollkommene Notizen aus verschiedenen Departements und aus dem wichtigsten, der Seine, gar keine. Es schien, als entziehe sich das souveräne Volk der bureaukratischen Controle und als wolle es nicht mehr, wie capite censi, gezählt werden. Aber die Handelskammer ging 1849 gründlich und umfassend an’s Werk und hat nach beinahe vierjähriger ununterbrochener Arbeit die Resultate derselben in einem riesigen Buche von anderthalb Tausend Quartseiten ungemein genaue und specielle Kunde über die statistischen Verhältnisse der Gewerbe- und Handeltreibenden von Paris veröffentlicht. Die Untersuchungen beschränken sich auf Paris, den „Polizeibezirk“ von Paris, wie man in Deutschland sagen würde, innerhalb welcher die Municipaltaxe (Octroi) bezahlt wird. Die Bevölkerung betrug damals (1849) 1,053,262 Seelen, 235 weniger als 1846. In dieser Abnahme bildet Paris den schneidendsten Kontrast zu London, das alle Jahre um mehrere ganze Städte und mehr als 100,000 Menschen zunimmt. Die englischen Familien sind fast immer sehr zahlreich und in den mittlern und höhern Klassen sehen die dicken Waden von ein halb Dutzend Kindern in jeder Familie wie die dicksten Orgelpfeifen aus, und ihre blühenden rothen Backen ersetzen beinahe den Sonnenschein an trüben Tagen. In Paris sind zwei dünne, zarte Kinderchen in der Regel Alles, womit eine Ehe gesegnet wird. Oft gibt’s gar nichts, und was zur Welt kommt, geht zur Hälfte wieder davon, ehe es Steuern zahlen, Gewerbe treiben oder Soldat werden kann.

Paris war behufs der Schätzung in 326 Distrikte getheilt worden. Es ergaben sich 325 verschiedene Gewerbe, die darin getrieben wurden. Diese sind in 13 Gruppen getheilt und so arrangirt, daß jeder Distrikt mit den andern verglichen werden kann. Während der Untersuchung wurden über 32,000 Häuser besucht und protokollirt. Da keine Namen gegeben zu werden brauchten und nicht veröffentlicht werden sollten, glaubte man, im Durchschnitt ehrliche Aussagen und richtige Facta erhalten zu haben.

Wir finden in den Tabellen 64,816 Meister und Arbeitgeber verzeichnet, welche 342,530 Menschen beschäftigten. Diese 407,346 Gewerbtreibenden producirten zusammen einen Werth von 400 Millionen Thalern (um Franks u. s. w. stets in verständlichere, anschaulichere Werthe zu übersetzen). Diese ungeheuere Summe schließt freilich alle Kosten der verbrauchten Rohmaterialien in sich und wird blos producirt, wenn, um eine ausgeleierte politische Phrase zu gebrauchen, „Ordnung herrscht in Paris“ und weder von Unten noch Oben diese Ordnung bedroht noch eingeschnürt und ausgesogen wird.

Auch bekamen wir einen Begriff von der viel ventilirten unglücklichen Frage weiblicher Arbeit. Von den Gewerbtreibenden waren 112,891 weiblichen Geschlechts, darunter 4851 Mädchen unreifen Alters, viele unter zwölf Jahren. Von Knaben unter fünfzehn Jahren mußten 16,863 für’s Brot arbeiten. Von Lehrlingen männlichen und weiblichen Geschlechts gab es 19,078. Die Lehrlingszeit variirt von zwei bis sechs Jahren, doch finden wir in 1400 Fällen Bestimmungen für eine unbestimmte Zeit, die von dem Meister abhängig gemacht war. Danach scheint die Lage der Lehrlinge eine sehr unglückliche und der ärgsten Willkür preisgegebene zu sein. Die Lehrlinge, verlassene, schutzlose Kinder, bezahlen in der Regel kein Lehrgeld in hartem Gelde, wahrscheinlich desto mehr in harter Behandlung und Arbeit bin in’s Unbestimmte. Viele erhalten Kost und Logis, worüber man sich sehr dunkele Bilder ausmalen kann.

Die Lohnverhältnisse bewegen sich in einem weiten Spielraume. Während manche Schneider wahre Geheimrathseinnahmen erwerben. 3 Thaler täglich, also wahre Nationalversammlungsdiäten, bringen es andere Schneider wiederum kaum bis 6 Sgr. täglich. Fleischer erhalten von 5 Sgr. bis 1 Thlr. 10 Sgr., Juweliere von 6 Sgr. bin beinahe 4 Thlr. täglich. Die Durchschnittslöhne wöchentlich stellen sich etwa so: Juweliere und Vergolder 10 Thlr., Bäcker und Schneider 6 Thlr., Schuhmacher 5 Thlr., Tischler 6–8 Thlr., Maurer 5 Thlr. 10 Sgr., Kutschenmacher 7 Thlr., Stubenmaler 6 Thlr., Hutmacher 7 Thlr., Drucker und Setzer 7 Thlr., Schlosser 6 Thlr., Putzmacher 6 Thlr., Wäscherinnen 3 Thlr. Von 950 Näherinnen in den verschiedenen Phasen verdient im Durchschnitt täglich keine mehr als 5 Sgr. Hood’s Lied vom „Hemde“ paßt vielleicht noch mehr auf Paris, als auf London.

Eine andere Tabelle läßt uns in die Häuslichkeit der „arbeitenden Klassen“ einen Blick thun: 122,000 männliche und 68,000 weibliche Individuen lebten in Zimmern, von ihnen selbst meublirt, 4000 männliche und 12,000 weibliche mit Eltern und Verwandten, 6000 männliche und 2000 weibliche bei ihren Arbeitgebern und 34,000 männliche und 4000 weibliche in meublirten Zimmern. 38,000 Chambregarnisten! Von den männlichen Individuen konnten nur 147,311 lesen und schreiben, unter den weiblichen 68,219. Und so ist das Verhältniß in dem geist- und wissenschaftsreichen Haupte von Frankreich!

Wie steht es in den Provinzen aus? In den Dörfern? Erklärt dies nicht allein die Schicksale und Ergebnisse des „allgemeinen Wahlrechts?“ In der größern Hälfte Frankreichs reicht man blos durch ein fliegenbeflecktes Portrait der heiligen Jungfrau und eins von Napoleon in der schmutzigen Hütte über die blos thierische, hungrige Existenz hinaus. Und der in Paris concentrirten Kultur fehlt es an sittlicher und intellectueller Basis, an Freiheit im Innern, an Freiheit von Außen. Kultur, Luxus, Industrie, Kunst und Handel huldigen der Form, der Mode, den Bedürfnissen des Scheins und raffinirter Unmoralität. Riechfläschchen, Schminke, falsche Waden und culs, wollüstige Statuetten, transparente Karten und Bücher mit Illustrationen, die nur im Verborgenen fabricirt und verkauft werden aber in solchen Massen, daß die Polizei nicht ernstlich wagt, durch strenge Verfolgung vielen Tausenden das Brot zu nehmen), Fuder von Artikeln, die in England unter dem Titel „French Letters“ an den Schaufenstern berüchtigter Winkelstraßen feil geboten werden, und sonstige Bedürfnisse der blasirtesten, übersättigten Ausschweifung und Verirrung der Civilisation bilden eine Hauptphase französischer Produktion. Die pariser Industrie namentlich ist zu den Bedürfnissen gesunder, moderner Kultur, die die Menschen sittlicher, einfacher, geschmackvoller und gesunder macht, in Widerspruch gerathen. Sie arbeitet hauptsächlich für Roués und Dandys, für den Schein und Schund der civilisirten Menschheit, welche inzwischen von ihrem eigenen, immer besser erkannten Interesse mehr und mehr zum Soliden, Sittlichen und Schönen getrieben wird. Deshalb zeigt Paris immer sichtlichere Spuren des Verfalles. Die bloße Abnahme an Bevölkerung um einigt Hunderte ist relativ zu dem ungeheuern Wachsthum anderer Brennpunkte der Bildung der Beweis eines ganz bedeutenden Verfalles in physischer, sittlicher und produktiver Potenz überhaupt. Ohne den Zufluß und die starke Vermehrung der Deutschen in Paris würde in manchen Straßen längst Gras wachsen. Die arbeitenden Klassen von Paris sind bereits ziemlich zur Hälfte Deutsche. Und in deren Händen sind meist die gesunden, lebenskräftigen, nützlichen und schönen Industrien. Die Pariser selbst und deren starke Vermehrung aus den Provinzen kommen immer kürzer gegen die dämonischen Elemente, welche an dem Verfalle der großen, schönen, glänzenden, jetzt kaiserprächtigen französischen Metropolis still und ununterbrochen arbeiten. Die ganze „westliche Civilisation“ wird unter vielen, blutigen Opfern durch eine lange, theure Schule der Erfahrung im Kampfe mit dem Osten und ihrer eigenen Ungesundheit erst allmälig zu einer soliden, neuern Basis und Phase getrieben werden.





Eine Meeresfahrt im Archipel. (Ein Erlebniß von Pr. v. C.) Es war eine heitere Gesellschaft, die das Schicksal den 4. Mai 1853 auf dem Verdeck des kleinen griechischen Dampfboots „Suliot“, versammelte, Engländer, Italiener, Deutsche, Armenier, Griechen, Polen, meist aber Franzosen, und zwar Französinnen saßen in bunten Gruppen auf den Polsterdivans umher, und im Gemisch der Stimmen und Sprachen war es auch hier die französische, die alle Nationalitäten verschmolz und es den schlanken griechischen Stutzern und den ernsten Armeniern möglich machte, mit den Damen schöne Worte und vielleicht auch jene flüchtigen Gefühle zu tauschen, die, wo südliche Feueraugen in die sanfteren des Nordens blicken, so schnell die Herzen beschleichen und die Elasticität der Gemüther erhöhen. Zwei blonde Töchter der Provence, die mit ihrem Vater, einem reichen Seidenhändler, von Smyrna nach Marseille unterwegs waren, sangen, von jungen Landsleuten unterstützt, Romanzen und Lieder in die laue Sommerluft hinaus, denen bald die übrige Gesellschaft lauschte; die Engländer unterbrachen ihr Schachspiel, die Italiener politische Discourse und ein paar deutsche Gelehrte, die von der Ebene von Troja kamen, ihren Streit über die Lage von Priams Weste, um den Melodien der provencalischen Liebeslieder zu horchen, die so sanft und schmelzend über die Lippen der schönen Mädchen glitten, und so gut zu dem herrlichen Abend stimmten, der die phantastischen Formen der griechischen Felseninseln mit Purpur färbte. Man hatte am Vormittag den Golf von Smyrna verlassen, und wogte nun, vom linden Südwind getrieben, unter der Küste von Chios, der schönsten Insel des Archipels, hinter derem kühn geschweiften Felsgebirge, das die Myrthe und der Lorbeer ewig grün umkränzen, die Sonne niedersank. Wie ein kolossaler Blumenkorb ragt Chios aus der schwarzblauen See, und aus den Thälern voll Orangenhainen trug der Abendwind die Blüthendüfte weithin über das Meer, das hier spiegelglatt zu schlummern scheint, und wenig den Ungestüm ahnen läßt, mit dem es an dem Klippengestade im Norden der Insel brandet.

Die Gesellschaft am Bord war bezaubert von dem Reiz den Abends, und als das letzte Sonnengold aus den Fluten erblich, und wir im Hafen von Kalamoty auf eine Stunde anlegten, ging man vom Gesänge zum Tanze über, und begrüßte jubelnd den Mond, der über die Küste Kleinasiens aufging, und die Erleuchtung des improvisirten Ballsaales vervollkommnete. Böte brachten Früchte und Blumen, die bald die Tänzerinnen schmückten, die nach den Klängen einer Guitarre so ahnungslos auf dem schwankenden Schiffe wie auf dem Rasen ihrer Heimath hüpften. Ach, wie waren Louison und Henriette, die Sängerinnen, fröhlich, und wie innige Blicke hatten ihre Tänzer, der Römer und der Pole, für sie, denen die hinter’s Ohr gesteckte rothe Rose so gut zu den dunkeln Locken stand. Immer noch höre ich die Freudenklänge jenes Abends und sehe die heitern Gestalten, die so bald im nassen Abgrund verschwinden sollten.

Wir, Graf S., der mich nach dem Piräus begleitete, und ich, hatten uns ganz hinten in’s Schiff an die Flaggenstange zurückgezogen, wo wir niemand störten, und Himmel und Meer überblickend war uns längst ein schwaches Wetterleuchten aus einem schmalen Wolkenstreif aufgefallen, der im Norden auf der See zu ruhen schien, und da wir nicht Neulinge auf dem Wasser, waren wir ganz auf einen schnellen Wechsel der uns umgebenden [548] Scene vorbereitet und beklagten die lustigen Gefährten, die bald den Leiden der Seekrankheit anheim fallen würden.

Kaum eine Stunde von Kalamoty entfernt, wo die Küste nach Westen zurückweicht und dem Fahrwasser keinen Schutz mehr gewährt, fing der Suliot zu schwanken und seinerseits so lustig zu tanzen an, daß den Tänzern oben die Lust verging, und alle bald auf den Decken und Matratzen hingestreckt lagen. Der Wind war nach Nordwesten umgesprungen und jagte kleine griechische Fahrzeuge mit vollen Segeln, weißen, flatternden Möven gleichend, im hellen Mondscheine an uns vorüber. Aber auch die Wolkenwand kam höher heraus, und es schien als ob mit ihr auch der Wind wüchse und pfeifend und heulend die Wogen aufhetzte. Es war noch lange kein Sturm, und schon zitterte und krachte das kleine Dampfboot in allen Fugen und die schwache Maschine arbeitete sich träg und kraftlos durch die Wogen, die es hoben und stürzten und bald über das niedrige Vordertheil weggingen. Ein starkes gut gebautes Boot hätte das Unwetter, das im Anzüge war, spielend aufgenommen, aber der Suliot, der früher zwischen dem Piräus und Nauplia lief, war ein altes, eigentlich nur zur Küstenfahrt gebautes Schiff, das die Regierung, ohne viel zu prüfen, einer Handelsgesellschaft abgekauft und dem Kapitän Spiro Adamophilos zur Packetfahrt zwischen Syra und der Levante übergeben hatte; es machte die Reise zum sechsten Male und da die Sache fünfmal gut gegangen, war kein Grund vorhanden für die jetzige Fahrt zu fürchten, meinte der Kapitain, der wenigstens ein dreister und erprobter Seemann schien, und in der Funstanella mit dem nationalen Waffenschmuck, dem rothen Fez auf dem schwarzen Gelock, einer der schönsten Männer war, die man sehen konnte. Aber die schwarze Wolke stand jetzt wie ein Baum, der am Horizonte wurzelnd seine Wipfel bis in den Zenith hinaufstreckte, und von Norden her dem ächzenden Boote entgegen wälzte sich das Meer in immer wilderer Brandung. Das Verdeck von den Wellen überspült war längst von den Passagieren geräumt, die von den Schiffsleuten – fünf Matrosen und ein Schiffsjunge – mehr getragen als geführt in den Cabinen verschwanden. Nur wir beschlossen oben auszuharren und hatten am Kasten des Steuerruders uns hinter hohe Rollen von Tauwerk verschanzt und ein Stück getheertes Segel über unsere Köpfe gezogen, das wenigstens für den ersten Anprall den Wassers schützte; wir litten zwar nicht von der Seekrankheit, waren aber nicht ohne Sorge, da die Bewegung des Schafes, das machtlos, wie ein Ball umhergeschleudert ward, und die fast ganz gehemmte Bewegung der Räder nur zu deutlich die Gefahr für die Maschine verriethen.

Es war Mitternacht vorüber, als das Boot von einer schweren See in die Flanke gefaßt, plötzlich einen halben Kreis machte und sich dann so tief auf die Seite legte, daß das eine Rad in der Luft arbeitete und jeden Augenblick ein völliges Umschlagen des Schiffes bevorzustehen schien. – Aus den Cabinen stieg ein Angstschrei empor, der den Wogendonner übertönte, aber unsere Lage war mit einem Mal auch eine verzweifelte geworden. Die Maschine und das Steuer waren gleichzeitig zerbrochen und das Boot ein hülfloses Wrack geworden, das vor Wind und Wellen trieb. Der Kapitän, todtenblaß aber gefaßt und besonnen, ließ die Schaluppen an die hoch über die See gehobene Seite des Schiffes bringen, klammerte sich in die Taue, die sie hielten, und wehrte die unglücklichen Passagiere, die bald aus den unteren Räumen hervorgekrochen kamen, mit vorgehaltener Pistole von diesem letzten Rettungsmittel ab, das zu benutzen er noch für zu früh hielt, und mit Recht, denn man war noch zu weit von einer Küste entfernt, als daß die schwache Bemannung die Schaluppen hätte bergen können, und – es sollte noch schlimmer kommen. Der Mond war gesunken und zwei Stunden lag tiefe Dunkelheit auf dem Meere, die einzelne große Sterne, die durch zerrissenes Gewölke blitzten, nicht zu erhellen vermochten, – wie ein offner Sarg trieb unser Boot durch das weite nasse Grab, das jeden Augenblick die 57 Leben, die zwischen seinen krachenden Planken sich schaudernd vor dem Tode sträubten, zu verschlingen drohte …

Endlich dämmerte die Morgenröthe aus und zeigte uns die Inseln Sinos und Mycone; Strom und Wind – der nach Mitternacht wieder südlich geworden – trieben uns in die schmale – zwei engl. Meilen breite – Meerenge hinein, die beide Inseln trennt, und die als das gefährlichste Fahrwasser des Archipels bekannt ist, da in ihr über unterseeische Klippen die wildeste Brandung tobt … Das wußten die bleichen Gestalten nicht, die beim Anblick des nahen Landes, Gott dankend sich auf die Knie warfen, aber der Kapitain wußte es, der noch immer die Schaluppen bewachte und die Richtung, in der wir fortgerissen wurden, nicht aus den Augen ließ.

Wir kamen Mycone immer näher, die dunkelblaue See war kreideweiß von Schaum und Gischt, der hoch aufspritzte, – da plötzlich erscholl ein lauter Ausruf des Kapitains, ein furchtbarer Stoß hob das Schiff, es war als ob eine Rieseneiche im Walde niederkrachte, – wir saßen auf einem Felsenriff, das Schiff drohte zu bersten. In fünf Minuten waren die Schaluppen gefüllt, jede faßte 16 Menschen, die Frauen, Kinder und die jüngsten Männer hatten den Vorrang bei dem Rettungswerke. Wir sahen noch, wie der brave Pole die ohnmächtige Louisan in die Schaluppe trug und unbesorgt um das eigene Leben auf’s Wrack zurückkehrte, das nun noch 25 Personen barg, die den drohenden Untergang vergaßen, um mit starren Blicken die Schaluppen in ihrem Kampf mit der Brandung zu verfolgen. Sie hatten 1/6 Meile ungefähr bis zum Strande zurückzulegen, dessen Felsenriffe, die überall in’s Meer vorspringen, vermieden sein wollten, daß dazu bei der schweren See die Kraft der wenigen Ruderer in jeder Schaluppe ausreichen werde, war kaum glaublich, und unser Wrack, das halb voll Wasser doch durch die Klippe, auf der es fest saß, vor’m Sinken gehalten ward, schien, nach dem ersten Todesschreck wenigstens, eine eben so sichere Zuflucht als die Boote zu sein. Und horch, ein gellender Schrei klang zu uns hinüber, er kam aus der letzten Schaluppe, die dicht neben sich die erste hatte Wasser schöpfen und in die Tiefe wirbeln sehen … mochte der Schreck bei solchem Anblick die Ruderer in der ersten lahmen, wer kann es sagen – aber eine Minute später war es auch um diese geschehen, eine Woge hob sie hoch empor und schleuderte sie gegen die Felsen … Der Kiel nach oben gekehrt, sah man sie wieder zum Vorschein kommen. Von allen denen, die sich zu retten gehofft, tauchte Keiner aus dem schäumenden Abgrund auf, der erbarmungslos die jugendlichen Leben, die heiteren Herzen verschlang.

Jammer um die Verlorenen erfüllte unser Wrack; der alte Vater, der seine Töchter versinken sah, konnte nur mit Mühe von einem Sprung in’s Meer zurückgehalten werden; eine Griechin, die ihre Enkelkinder in den Schaluppen hatte, füllte die Lüfte mit ihrem Wehgeschrei. Starr, mit dumpfer Ergebung blickten die Anderen nach den Inseln hinüber und kaum merkte es jemand wie die Sonne dunkelroth über Sinos aufging und ihren erster Strahl wie Oel in die Wogen goß; – plötzlich wie das Unwetter gekommen, schwand es beim Erscheinen der Sonne und schon eine Stunde später konnten Boote von Sanedicolo auslaufen, um uns Gerettete vom Wrack des Sulioten abzuholen. Der Untergang der Gefährten, die alle wie wir hätten gerettet werden mögen, ließ die Freude keine laute werden. Angst vor dem Untergange hatte sie dem Tode in die Arme geworfen, und wieder war es bestätigt: daß ein auf Klippen sitzendes Wrack bei hoher See und naher Küste nicht mit den Rettungsbooten vertauscht werden soll.






Heine. Wo jetzt das Kaffee Seruzier in Paris steht und allabendlich die deutschen Landsleute bei einer Tasse Kaffee gemüthlich die Neuigkeiten aus dem Vaterlande verschlingen oder sich bei Schach und Domino abmühen, hatte vor noch nicht zwei Decennien ein weit weniger moralisches Etablissement seinen Sitz aufgeschlagen. Was vor Kurzem noch der Ball Montesqieu war, war damals der Ball des Boulevard Bonne - Nouvelle. – Eines Abends befand sich einer meiner Freunde in Gesellschaft H. Heine’s dort und bewunderte mit ihm – dem feinen Kenner menschlicher Reize – die mannigfachen Evolutionen der Sylphiden dritten, vierten und so weiter Ranges. „Sehen Sie nur,“ rief Heine plötzlich aus, „wie diese hier so verdrießlich liederlich tanzt!“ Nach einer Weile deutete er auf eine Andere hin, deren zugleich lebhafte und graziöse Bewegungen sogar den wachthabenden Sergeanten ein beifälliges Lächeln abnöthigte. „Dahin,“ sagte Heine, „wird es eine Deutsche doch nie bringen!“ – Die Kleine drehte sich um und sagte lächelnd: „Ganz recht, meine Herren, ich bin aus Eschenau bei Nürnberg.“




Literarisches. Mit den langen Abenden kommen zugleich die langen Reihen literarischer Neuigkeiten, die sich mit jeder Woche mehren, bis zum Weihnachtsfeste hinaus. Die Kalender als Tirailleurs sind bereits in alle Welt und in Aller Händen. Als die besten rühmt man die Volkskalender von W. Alexis und die Spinnstube von W. O. Horn, der letztere besonders als in Süddeutschland sehr stark verbreitet und gelesen. In der That verstehen wenige Autoren so populair zu schreiben und in einfacher gemüthlicher Weise auf das Volk zu wirken, wie Horn, dessen Rheinische Dorfgeschichten mit zu dem Reizendsten gehören, was man in diesem Genre lesen kann. – Auer, der Chef der Wiener Staatsdruckerei beschenkt uns dieses Jahr mit einem Faust-Kalender, ein starkes Buch in Groß-Folio mit vielen Stahlstichen und Holzschnitten. Wir müssen gestehen, daß es uns nicht ganz klar geworden, auf welches Publikum dieser Kalender gemünzt ist. Die mit unendlichem Fleiße zusammengetragenen statistischen und wissenschaftlichen Mittheilungen setzen ein gewähltes und wissenschaftlich - gebildetes Publikum voraus, während die übrigen Beiträge, namentlich die Heiligengeschichten, doch mehr auf die Massen berechnet sind. Die Stahlstiche sind meistens von Gebr. Stöber und gut gearbeitet und auch die Holzschnitte besser ausgeführt, als man von Wien gewohnt ist. – Die Reihe der Taschenbücher eröffnet dieses Mal Mügge mit seinem Vielliebchen, ein elegant ausgestattetes Toilettenbuch mit trefflichen Stahlstichen und drei Erzählungen des beliebten Novellisten. – Auch an neuen Romanen wird es der literarischen Wintersaison nicht fehlen. Von Louise Otto ist bereits eine dreibändige Erzählung: Zwei Generationen, erschienen, von Levin Schücking ist ein historischer Roman: Günther von Schwarzburg angekündigt, von Bernd v. Guseck ein zweibändiger: Heimath und Ferne, von Oettinger ein komischer: Mozart und Schickaneder, und von R. Prutz ein dreibändiger socialer: der Weg zum Ruhme. Otto Ludwig’s treffliche Erzählung: Zwischen Himmel und Erde, auf die wir später noch einmal zurückkommen, wird nächstens schon, kaum einige Monate nach ihrem Erscheinen, in zweiter Auflage die Presse verlassen.



Aus der Fremde Nr. 40 enthält:

John Fremont’s Leben, Reisen und Abenteuer. II. (Mit Abbildung.) – Aus Texas.Das Pongo-Land. – Aus allen Reichen: Gold und Silber in der Welt. – Eine amerikanische Kleiderordnung. – Religion unter den Chinesen. – Allerlei Neues.

  1. Vergleiche Gartenlaube Nr. 1 und 2 von 1854.
  2. Ein Ausspruch, angeblich zuerst in Jean Paul’s „Vorschule zur Aesthtik“ vorkommend und vielleicht von dieser grünen Wiese her nur zuerst in ein Gewand von Druckerschwärze gekleidet.
  3. Wer denkt hier an Bettina’s Schilderung schöner, brauner Augen, „sie blickten wie die Töne eines Violoncello?“
  4. Der Orchideen-Kultus neuerer Zeit hat also wohl seine Quelle in deren humoristischem, phantastischem Wesen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine paar