Der heilige Kreuzberg der Rhön

CCLXXXXVIII. Hofwyl bei Bern Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band (1840) von Joseph Meyer
CCLXXXXIX. Der heilige Kreuzberg der Rhön
CCC. Der Kursaal in Kissingen
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HEILIGER KREUTZBERG & KLOSTER
in der Rhön

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CCLXXXXIX. Der heilige Kreuzberg der Rhön.




Die Ursachen, welche das verwirrende Chaos der Erdrinde gestaltet haben, blieben zu allen Zeiten des Erdalters die nämlichen. Vulkane und Erdbeben waren und sind noch gegenwärtig die Hauptmittel, deren sich unser feuerflüssiger Planet bedient, seine verschlackte Kruste, seine Continente und Meere zu verändern. Es laufen in verschiedenen Richtungen vulkanische Linien über die Erdkugel hin, welche beständig Ausbrüchen und Erschütterungen ausgesetzt sind. So läuft die Linie der Anden durch die neue Welt ihrer ganzen Erstreckung nach von Süd nach Nord, vom Feuerland bis zu den Aleuten, ja sie läßt sich aus ihren Wirkungen selbst unter dem Ocean hin bis zu ihrem Anschließungspunkte an jene Reihe vulkanischer Heerde verfolgen, welche von Kamtschatka nach Japan, den Philippinen, Molukken bis in die südlichsten Glieder der asiatischen Inselkette sich ausdehnt. Der stille Ocean ist demnach von einem Gürtel thätiger Vulkane umgeben, während sich aus den, vom Senkblei unergründlichen Tiefen jenes Meeres zahlreiche Coralleninseln erheben, die meistens durch ihre Kegelform darauf hindeuten, daß sie einen alten Krater bergen. Eine zweite, uns nähere Vulkanen-Zone geht von Ost nach West, und ihre Schreckensherrschaft erstreckt sich von den blühenden Thälern Persiens, über Kleinasiens und Griechenlands herrliche Gefilde hin durch die alten Sitze der europäischen Kultur bis zu dem Atlantischen Meere. Zwei sich einander durchschneidende Linien lassen sich um die Erde ziehen, welche den heftigsten Stößen ausgesetzt ist. Zu beiden Seiten derselben strahlen die Bebungen aus, anfangs mit zerstörender Macht begabt, bis sie in schwachen Oscillationen endigen, die unfähig sind, die Bodengestaltung zu verändern. Solche Schwingungen erstrecken sich oft mehre hundert Meilen weit; sie pflanzen sich in der Erdkruste fort, wie der Schall in der Luft.

Nur wenn der Riß so tief ist, daß er von der Kruste der Erde bis zur feuerflüssigen Masse derselben niederreicht, können sich Laven entleeren. An den Schichten dieser Laven mißt der Geologe, wie der Botaniker aus den Wachsringen des Stamms das Alter des Baums berechnet, das Alter der jüngsten Erdrinde. Ungeheuer weit liegt deren Geburtstag für den gewöhnlichen Begriff des Menschen zurück. 3000 Fuß über der Basis des Aetna, zwischen Schichten von Lava und Bimsteinen, findet man Muschelbänke, welche über 200 Arten von Fischen und Schaalthieren enthielten, die denjenigen, welche noch jetzt im Mittelmeere leben, völlig gleich sind. Diese Thiere gehören also der letzten, der jetzigen Erdrinde an; augenscheinlich hob sie ein ungeheuerer Ausbruch aus dem Grunde des [54] Meeres auf jene Höhe, und seitdem hat sie der Aetna mit seinen Lavaschichten allmählich 9000 Fuß hoch überdeckt. Da wir nun wissen, daß es neunzig Aetna-Ausbrüche durchschnittlich bedarf, um die Gesammtoberfläche jener ungeheuern (15 Meilen im Umkreis messenden) Feueresse um einen Fuß zu erhöhen, neunzig Aetna-Ausbrüche aber einen Zeitraum von etwa 1000 Jahren einnehmen, so ist leicht zu berechnen, welche weit über alle Geschichte und Sage hinausreichende, in die Millionen Jahre gehende Zeit erforderlich war, um die Pyramide des Aetna zu ihrer jetzigen Höhe aufzuthürmen. Und doch gehört die Erdrinde, auf welcher die Lava sich allmählich zum Aetna erhob, in geologischer Hinsicht der Gegenwart an! – Erschrick nicht, armer Sterblicher, der du deine Gegenwart mit einer solchen vergleichst, deine Spanne Zeit an solche Ewigkeiten missest. Auch diese Ewigkeiten sind nur Zeitspannen, denn zum Alter der Erde selbst verhalten sich die Alter ihrer Krustverwandlungen wie Eintagsfliegenleben zu Jahrtausenden. Noch mehr. Die Astronomie thut dar, daß unser Planet selbst nur ein Punkt ist in der Unendlichkeit des Raums; werden nun die Milliarden Jahre, die es zu den Formwandlungen der Erde, von ihrer Kindheit als Nebelfleck an bis zu ihrer Jugend als inkrustirte Feuerkugel, bedurft hat, mehr seyn, als ein Punkt in der Unendlichkeit der Zeit? – – –

Wie die lebenden Vulkane einen Altersmesser für die neueste Erdrinde abgeben, so sind auch die erloschenen, den frühern Formationen angehörigen Erdschlöte geeignet, die Geschichte unsers Planeten unserm forschenden Auge immer mehr zu erschließen. Sie, und die durch eine lange Reihe von Formationen stufenweise zu verfolgenden Überreste der organischen Schöpfung, von dem fossilen Elephanten der vorletzten Kruste an bis zum atomistischen Schaalthiere des Urkalks herab, sind die Urkunden, welche Zeugniß ablegen von den Zuständen unsers Planeten vor dem Auftreten des Menschen; sie schlagen das Buch der Erdgeschichte vor uns auf, und führen unabsehliche Reihen von Verwandlungen und von geschaffenen Wesen an uns vorüber, von denen wir außerdem weder wußten, daß sie gelebt haben, noch daß sie untergegangen sind.

Während sich heut zu Tage auf unserm ältern europäischen Continente die sichtbare Thätigkeit des unterirdischen Centralfeuers auf verhältnismäßig wenige und unbedeutende Heerde zusammengezogen hat, nahmen die Vulkane in frühern Epochen einen unendlich größern Raum unsers Welttheils ein. Die ihren dicht aneinander gestellten Essen entquollene Lava thürmte ganze Gebirge empor. In noch ältern Zeiten blies die Gewalt der feurigen Fluthen Strecken der Erbkruste, Ländergroß, hoch auf, sprengte dann der Blase Riesenleib, und aus den vielen Meilen langen Spalten quollen die Porphyr- und Granitlaven heraus, und thürmten sich, erkaltend, als jene Felsmauern gen Himmel, deren Trümmer die Hochgebirge der Erde bilden.

Unser Deutschland war ein Hauptschauplatz der vulkanischen Thätigkeit in jenen Epochen. Recht großartig ist die älteste entwickelt in den Alpen, in den Karpathen; die im Erzgebirge, Thüringerwald, Riesengebirge und im [55] Harz, um deren Porphyr- und Granitzinnen sich die gehobenen und geborstenen ältern Flötzkrusten mantelförmig lagern, sind schon jüngerer Bildung; zunächst an unsere Epoche aber reicht die Entstehung jener merkwürdigen Zone von erloschenen Vulkanen, welche wir mit geringen Unterbrechungen von der Rhone und dem Rhein durch den Spessart, über die Rhön hin durch Hessen (Meißner), Westphalen bis zum Kraterkranze der Eifel verfolgen. Die Rhön ist in dieser Zone der Punkt, wo sich die vulkanische Thätigkeit am schaubarsten und kräftigsten entwickelt hat. Dieses ganze Gebirge, welches sich in einer Länge von 6–7 Meilen und einer Breite von 2–3 Stunden westlich von dem Thüringerwald und der Werra hinzieht, besteht aus einer dichten Reihe von Vulkanen, deren Krater zwar größtentheils eingestürzt, jedoch zum Theil auch (wie der Euben bei Gersfeld) noch mehr oder weniger kenntlich sind. Die Lava ist hier von den Vulkanen auf junge Flötzschichten (Keuper und Sandstein), 2 bis 3000 Fuß hoch aufgeschüttet worden; einzelne höhere Kegel stürzten durch Erdbeben ein, und ihre Trümmer füllten theils die Zwischenräume der Feuerberge aus, theils wurden sie durch Fluthen weggeführt, und ebneten die Thäler der nächsten Landschaft. Auf diese Weise erhielt das Gebirge der Rhön seine Gestalt. Von fern betrachtet ist’s ein langer oder kahler Rücken, an dessem Saum sich hie und da eine Kuppe von abentheuerlicher Form und steilem Abfall erhebt. Jener Hauptrücken heißt die lange, oder auch (der Rauhheit des Klima’s wegen) die rauhe Rhön. Merkwürdigerweise nehmen einen großen Theil des Plateaus 2 Moore ein (das rothe und schwarze Moor), deren schwankende Rasen- und Binsendecke unerschöpfliche Torflager verbirgt, Quellen des Reichthums und des Erwerbs für die Geschlechter einer noch holzärmern Zukunft. Im Hochsommer sind diese Moore ohne Gefahr zu betreten, und die umliegenden Ortschaften benutzen das Gras auf denselben gemeinschaftlich, bei dessen Einbringung, im August, sich die unwirthliche Höhe belebt; aber im Herbst und im Frühjahr sind die Moore so wässerich und deren Decke ist so weich, daß Menschen und Thiere, welche darauf gerathen, leicht versinken. Geschehene Bohrversuche machen das Daseyn eines unterirdischen Sees von beträchtlichem Umfang wahrscheinlich, der vielleicht den Krater eines ehemaligen Vulkans ausfüllt. – Jene Zeit der Heuernte ausgenommen herrscht Einsamkeit und Todtenstille auf der langen Rhön. Nur krummholziges Fichtengestrüpp umschließt die traurigen Sümpfe, und weit und breit um sie her ist keine menschliche Wohnung zu finden.

Die höchste Kuppe der Rhön ist der heilige Kreuzberg am südwestlichen Ende des Gebirge, und Angesichts des Frankenlandes ragt er empor wie eine Pyramide, 3000 Fuß hoch. Buchenwaldung bedeckt den untern Berggürtel, weiter hinan wird die Vegetation ärmlich, und den Gipfel, fast kahl, umrankt blos niederes Gesträuch. Einzelne Bäume, die mit gebrochenen Aesten und Kronen umherstehen, zeugen von der Macht der hier selten rastenden Stürme.

[56] Schon in vorchristlicher Zeit opferten die umwohnenden germanischen Stämme auf diesem Berge der Gottheit. Der heil. Kilian, der Frankenbekehrer, stürzte die heidnischen Altäre um und an ihrer Stelle richtete er drei steinerne Kreuze auf, des Evangeliums Siegeszeichen, sichtbar vielen umwohnenden Völkern. Später kam eine Kapelle dazu, zu welcher die Bekehrten wallfahrteten, wie sie früher zu ihren Götzen-Altaren gethan hatten. Zeit und Sturm rissen allmählich das kleine Gotteshaus nieder; blos ein steinernes Kreuz blieb übrig auf der höchsten Kuppe, das Ziel der Pilger. Erst lange nachher ließ der fromme Bischof Julius in Würzburg die Kapelle wieder aufbauen und traf die Einrichtung, daß jährlich an den herkömmlichen Wallfahrtstagen einige Franziskaner vom Kloster Dettelbach herauf kamen, dem Volke zu predigen.

Im dreißigjährigen Kriege, vor dessem Wuth in Deutschland kein Thal zu versteckt und kein Berg zu unwirthlich und steil war, wurde die Kapelle zerstört und das uralte Kreuz freventlich zerschlagen. Die Dörfer und Städte der Gegend waren gleichzeitig verheert worden, die Bevölkerung derselben meistens aufgerieben, und die Wallfahrt erlosch. Erst nach dem Frieden richtete sie sich wieder ein. Bischof Johann Philipp von Würzburg erlaubte den Franziskanern, sich Zellen auf dem heiligen Berge zu errichten; der Klosterbau selbst endlich begann 1681. Bei dieser Gelegenheit fanden sich die Fragmente der drei steinernen Kreuze wieder und die Köpfe der Bildsäulen an denselben von Jesus und den 2 Schächern. Sie wurden außen an der Klosterkirche hinter dem Chor eingemauert; dort sieht man sie bis auf den heutigen Tag.

Das Kloster auf dem Kreuzberg ist den Hospizen auf den Schweizer Alpen ähnlich, ein einfaches, steinernes Gebäude, ohne Anspruch auf architektonische Schönheit. Es wird von einigen Franziskanern bewohnt. Mit Geduld und Beharrlichkeit haben die frommen Väter ein sonniges Plätzchen vor dem Kloster zu einem freundlichen Garten umgeschaffen, in welchem noch im Hochsommer die ganze Pracht der Frühlingsflora zu schauen ist. Hiazynthen und Tulpen blühen in dieser rauhen Höhe erst im Juli. Nicht minder überrascht die liebevolle Gastfreundschaft der frommen Väter, ihr wirthlicher Tisch und ihr vortreffliches selbstgebrautes Bier. Es ist das beste der ganzen Gegend. Der Gasthof vor dem Kloster gewährt kein anständiges Unterkommen, und jeder gebildete Fremde benutzt daher gern die bereitwillige Aufnahme im Kloster.

Zur schönen Jahreszeit ist der Kreuzberg das Ziel vieler Ausflüge aus dem Frankenlande, und von den nahen Kurorten Brückenau, Kissingen und Boklet machen größere oder kleinere Gesellschaften häufig Parthien hinan. Gewöhnlich läßt man die Wagen am Fuße des Berges zurück und erklimmt die Höhe. Ermüdend ist immer die über eine Stunde dauernde Bergwanderung. – Die Wallfahrtszeit beginnt im August. Einige Tage vor Bartholomäi strömen ungezählte Schaaren Wallender aus dem Fuldaischen, Würzburgischen, Bambergischen, ja selbst vom fernen Eichsfelde herbei. Diese nehmen Nachtherberge in den nächstgelegenen Ortschaften, und mit Tagesanbruch [57] pilgern sie in feierlicher Prozession bergaufwärts. Am Kreuzwege einigen und ordnen sie sich, und unter Anführung eines Priesters geht der Zug von da weiter fort zur höchsten Spitze, wo er vor dem Bilde des Gekreuzigten niedersinkt in Gebet. Nach verrichteter Andacht hören die Pilger Messe und Predigt im Kloster, und nachdem sie von den Vätern mit Speis und Trank erquickt worden, ziehen sie heimwärts. Jeder Wallfahrer entrichtet ein kleines Geschenk an das Kloster, und auch der ärmste schließt sich nicht von der freiwilligen, ungeforderten Gabe aus. – Herrlich ist die Aussicht von der Stelle des hohen Kreuzes auf dem Gipfel, und sie übertrifft selbst die berühmten Visten der höchsten Thüringer Kuppen, des Inselsbergs und des noch höhern Schneekopfs. Oestlich, über das wilde Chaos der Rhön hinaus, ruht das Auge auf der blauen Kette des Thüringerwaldes, der sich 20 Stunden lang in sanften Wellenlinien am Horizont hinschlängelt und dem bewaffneten Auge Dörfer und Flecken, Burgen und Schlösser in Menge erkennen läßt; weiter südlich breitet des Steigerwalds ernste, dunkele Masse sich aus; noch weiter im Süden und südwestwärts dämmern die Berge des Odenwaldes und die Bergstraße in 30stündiger Ferne; zu den Füßen des Schauenden aber lagern die Rebengelände des Mainthals, der ganze Garten des Würzburgischen Landes. Wer die entzückend schöne Aussicht recht genießen will, der nehme einen ganzen hellen Johannistag dazu und genieße sie zweimal; einmal am frühen Morgen, den Aufgang der Sonne erwartend, und dann am tiefen Abend, wenn sie unter den Horizont hinabsteigt. Die Heiligkeit des Orts, die feierliche Stille, die ihn umringt, wird den Anblick mit erhabenen Gefühlen würzen und ihm Augenblicke bereiten, die zu den seligsten gehören, welche der Sterbliche sich schaffen kann; – die nie aus der Erinnerung weichen. Jeder Mensch sollte solche Momente im Leben wenigstens doch einmal genießen, und jeder Familienvater zumal, gleichviel, welches Glaubens, sollte zuweilen nach einem solchen Bergtempel der Natur wallfahrten gehen, nicht mit der schreienden und murmelnden pilgernden Dummheit; sondern im Kreise der Seinen, damit er ihnen zeige die Pracht der Erde und die Herrlichkeit der auf- und untergehenden Sonne, und er ihnen lehre, was es heiße: „Gott, der Weltenschöpfer, ist herrlich und allmächtig und gütig, und wir sind seine Kinder, und dürfen zu ihm beten.“