CCLXXXXVII. Die Ruine von Heckersdorf an der Donau Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band (1840) von Joseph Meyer
CCLXXXXVIII. Hofwyl bei Bern
CCLXXXXIX. Der heilige Kreuzberg der Rhön
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HOFWYL

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CCLXXXXVIII. Hofwyl bei Bern.




„Dieß ist Einer den Uns; dieß ist ein Fremder!“ So sprechen
     Niedere Seelen. Die Welt ist nur ein einziges Haus.
Wer die Sache des Menschengeschlechts als Seine betrachtet,
     Nimmt an der Götter Geschäft, nimmt am Verhängnisse teil.


Die dünne Rinde der Gluthkugel, die wir Erde nennen, ist göttlich angehaucht, und auf ihr wimmelt ein Leben, Atom vom großen Leben bes Universums. Aber auch in der Seele jedes einzelnen großen[1] Menschen ist Gott lebendig und ein Weltbildungsstreben trachtet unablässig nach Entwickelung. Weise Ordnung! Ohne die großen Gluthseelen, an welchen sich die kleinen erwärmen können, wurden diese gar erstarren; das Menschenmeer wäre ein Eismeer, die Sonne der Zeit beschiene es umsonst. –

Hofwyl! Auch dich hat ein Mensch aufgerichtet, welcher hoch auf den Bergen steht; Einer, der die Gewitter des Lebens nur um, nie über sich hat. Reines Herzens hat er die Saat dort ausgeworfen, welche seine Seele als die beste erkannte; Wunder der Arbeit hat er gethan, um sein Feld zu roden, und über der Arbeit wenig Dank geärndtet; jedoch herrlich steht die Flur. Der schlimmsten Vergangenheit ist er los, und manche Blüthe hat ihn hoch erfreut. – Ich beneide Fellenberg.

Hofwyl’s Bildungsanstalten sind nicht mit gewöhnlichen Instituten, die im Privatinteresse und für bloße Privaterziehung errichtet werden, zu verwechseln. Vom Anbeginn an gab ihnen ihr Begründer die Bestimmung, den öffentlichen Interessen des Staats und der Menschheit zu dienen, und selbst die zahlreichen Gegner seiner Bestrebungen haben Hofwyl’s große Bedeutung für die Civilisation nicht zu leugnen gewagt. Mächtig ist der Strom geworden, der aus der lautersten Quelle fließt; denn er ist aus der einen Idee entsprungen, daß dem allgemeinen Culturverderben unserer Zeit nur auf dem Wege einer alle Stände des Volks mit gleicher Sorgfalt berücksichtigenden, verbesserten Erziehung mit Erfolg entgegenzuwirken sey. Fellenberg’s eigenthümliche, sehr bewegte Verhältnisse begünstigten bei ihm die vielseitigste Beschauung des Lebens und schon im frühen Mannesalter hatte sich ihm die Ueberzeugung [50] aufgedrungen, daß die Fundamente des häuslichen und bürgerlichen Lebens, Sittlichkeit und Religiosität, an den beiden Enden der civilisirten Menschheit – der niedern Classe und der vornehmen – zerstört seyen, und die durch die Entsittlichung hauptsächlich beförderte Verarmung von unten herauf die Gesellschaft mit den größten Gefahren bedrohe. Die vollkommen-klare Einsicht in den Thatbestand und die Ursachen jenes Verderbens, verbunden mit dem auf wahrer Religiosität begründeten unerschütterlichen Glauben, daß Gott die Menschheit mit den nöthigen Anlagen und Kräften ausgerüstet habe, um, in ächter Cultur, ihre Bestimmung, die eingepflanzten Triebe nach Glückseligkeit, Vervollkommnung und Sittlichkeit in harmonischer Unterordnung (unter jeglichem Standesverhältniß) befriedigen zu können, wofern nur das intellektuelle, moralisch-religiöse und industrielle Leben aller Volksclassen durch tüchtige Erziehung zur gehörigen Entwicklung gebracht würde, waren Fellenberg’s Ausgangspunkte. Dabei gab er, ganz abweichend von Rousseau’s, Fichte’s und anderer Ideologen Ansichten über Erziehung, dem sogenannten Positiven im Staat und Kirche Würdigung, und indem er sein System den einmal bestehenden, oder gegebenen Verhältnissen anpaßte, wurde er der Schöpfer der neuern praktischen „Staatspädagogik“ und führte aus, was die größten Menschen des classischen Alterthums (Pythagoras, Lykurg, Platon etc.) mit mehr oder minder großem Erfolge zu ihrer Seit versucht hatten.

Die wichtigste und werthvollste Eigenthümlichkeit der Hofwyler Bildungsanstalten ist unbezweifelt die, daß in ihnen die physische und ökonomische Basis des Volks- und Staatslebens mit den höchsten Interessen der Humanität in gleiche Linie gebracht ist; denn wie sittlicher und ökonomischer Verfall bei Individuen und Völkern immer Hand in Hand gehen, so sollen auch die Gegensätze vereinigt dem Ziele zuschreiten. Welche Bedeutung der rechtliche Erwerb und die Arbeit für die höheren Interessen des Menschenlebens wirklich habe, ist in den Hofwyler Anstalten auf die überzeugendste und klarste Weise zur Darstellung gebracht. Wer Hofwyl besucht, wird unwillkührlich von Verwunderung ergriffen bei dem Anblicke dieser zahlreichen, auf einer weiten Aera zerstreuten, großartigen Anstalten: alle das Werk eines einzigen Privatmannes und die Frucht 30jähriger Ausdauer in der Verfolgung einer Idee für Menschenwohl. – „Heiterkeit, Ordnung, Eintracht und Thätigkeit walten überall; der Geist des Gründers schwebt gleichsam über alle Theile seiner Schöpfung und durchdringt jedes derselben angehörige Individuum. Ein großer Gedanke durchläuft das labyrinthische Ganze als sichtbarer Faden; ein Gedanke, hervorgegangen aus der tiefsten Betrachtung über die Zustände der gesitteten Völker. Unwillkührlich drängt sich jedem Besucher Hofwyl’s die Ueberzeugung auf, daß er hier den großartigsten Versuch für eine gründliche Reform der europäischen Gesellschaft vor sich sehe, anbahnend die sittliche Regeneration der gesammten Menschheit.“

Fellenberg’s Anstalt umfaßt gegenwärtig folgende, zwar getrennte, aber mit einander in steter Wechselwirkung stehende Institute. Erstens: die Erziehungsanstalt für die Söhne der höhern Stände. Der Zweck, der in derselben verfolgt wird, ist: durch bie naturgemäßeste, vielseitigste und höchstmöglichste Ausbildung den begünstigten [51] Ständen, deren bisherige Erziehung darauf hinwies, Macht und Reichthum zur Unterdrückung der niedern Volksklassen zu misbrauchen, wieder zum Wirken für’s Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft zu verhelfen, im wohlverstandenen Interesse ihres eigenen Glücks. Auf Gefühl und Charakterbildung wird in der Fellenbergischen Anstalt mächtig gewirkt, und alles strebt dahin, die jungen Leute mit ächter Begeisterung für ihren hohen Beruf, wie mit Lust und Liebe für Arbeit und thätiges Leben zu erfüllen und sie bis zur Epoche der Erstarkung ihres Willens aus einer Umgebung fern zu halten, deren Versuchungen siegreich Widerstand zu leisten die vornehme Jugend so selten vermag. Mit besonderer Sorgfalt wird bei den Eleven darauf hingearbeitet, sie frühzeitig an einen großartigen Ueberblick der mannichfachen Beziehungen des Lebens zu gewöhnen und das Gemüth zu einer lebendigen Theilnahme an dem Loose ihrer unbegünstigten Mitmenschen anzuregen. Eine große Reihe jetzt lebender, wackerer, zum Theil hochgestellter Männer, sowohl in der Schweiz, als in Deutschland, Frankreich etc., deren Leben sich durch gemeinnützige Bestrebungen auszeichnet, hat bei Fellenberg seine Erziehung genossen und gibt Zeugniß von ihm. – Ein zweites Institut ist die landwirthschaftliche Anstalt. Sie hat sich Weltruf erworben; die meisten europäischen Fürsten haben sie selbst besucht und fast alle Regierungen Lehrer hingesendet, sich mit dem Systeme bekannt zu machen, um nachher ähnliche Anstalten in ihren Staaten einzurichten. In eine Detailbeschreibung dieser vielverzweigten und großartigen Anstalt einzugehen wäre hier am unrechten Orte. Es genüge die Andeutung, daß Fellenberg durch seine vielfältigen und lehrreichen Versuche und bessere Methoden für die Entwässerung und Bodenverbesserung der Felder, die Entsumpfung und Bewässerung der Wiesen, die Düngerproduktion, die Einführung der Vierfelderwirthschaft mit doppelten Ernten und durch eine unzählige Menge von Erfindungen neuer, so wie der Verbesserung alter landwirthschaftlicher Geräthe und Maschinen, kurz durch das Beispiel eines in jeder Beziehung rationellen Betriebs des Landbaus um Europa große, nie hoch genug zu schätzende Verdienste sich erwarb. Was seine Verbesserungen leisten können, stellt sich im Gute Hofwyl glänzend heraus. Fellenberg brachte den Ertrag des letztern binnen 20 Jahren auf das Dreifache. Eine eigene Zeitschrift (die Hofwyler landwirthschaftlichen Blätter) verbreitet Fellenbergs Ideen und Erfahrungen auch im weitern Kreise. – An diese Anstalt knüpft sich zunächst die Wehrlischule, ein ökonomisches Institut für die ärmsten, niedrigsten, verwahrlosesten und verlassensten Menschen. Fellenberg ging dabei von dem Grundsatze aus, daß keinem Menschen anders als durch sich selbst zuverlässig zu helfen sey, so wie von der ebenfalls ganz begründeten Voraussetzung, daß auch im geldarmsten Menschen ein hinlängliches eigenes Produktionsvermögen sich findet, um seine Lage zu verbessern, wofern nur der Geist des ausdauernden Fleißes, der Sparsamkeit und der Ordnung in ihm gehörig entwickelt und dabei für wirksam-religiöse Erhebung, als Grundlage aller Sittlichkeit, gesorgt wird.

Bei dieser Anstalt denke man nicht an eine gewöhnliche Arbeitsschule, wo die Kinder der Armuth mit Spinnen, Stricken, Sticken, Klöppeln, Federschleißen u. s. w. in dumpfigen Stuben eingepfropft, kümmerlichen Taglohn [52] verdienen, um das Leben zu fristen, dafür aber mit lebenslänglicher körperlicher Verkrüppelung und geistiger Verdummung büßen müssen. Der Grundsatz, daß sich die Anstalt durch die Arbeit ihrer Insassen erhalte und ihre Kosten selbst decke, wird allerdings streng durchgeführt; aber dabei wird für die geistige und sittliche Ausbildung der Zöglinge gewissenhafte Sorge getragen, und auf solche ein großer Theil der Zeit verwendet. Unter diesem Haufen junger Leute, aus der Hefe der Gesellschaft stammend, wird man nie einen Fluch noch Schwur hören; kein Spotten, kein Schmähen, kein Drohen, kein ungezogenes, kein überhartes Wort hat hier statt. Geräuschlos greifen die Menschen zum verschiedenartigsten Wirken in einander. Wehrli, ein Freund Fellenbergs, leitet diese Anstalt seit länger als zwanzig Jahren.

Nachdem Fellenberg auf erwähnte Weise für Erziehung beider Extreme der Gesellschaft gesorgt hatte, stiftete er 1830 sein sogenanntes Realinstitut für den Mittel- oder Bürgerstand, für die Gewerbe. Auch in dieser Anstalt sind Unterricht und Erziehung, Lehre und Leben so gestellt, daß sie sich gegenseitig auf das innigste durchdringen und ergänzen. Jene ächte Industriebildung, deren Bedürfniß man überall so sehr fühlt, wird hier vollkommen errungen. Viele Realschulen des Auslandes holten bei Fellenberg Ideen, Lehrer und Muster. – Zwölf Jahre lang bestand auch eine Mädchenerziehungsanstalt in Hofwyl, zur Bildung von Hausfrauen für die mittlern und untern Stände. Späterhin fand es Fellenberg jedoch zweckmäßiger, an die Stelle eines eigenen Instituts den Unterricht in den Ortschaften selbst treten zu lassen. – Von gesegnetem Einfluß ist ein sechstes Institut Fellenberg’s, – das der Normalkourse für Landschullehrer. Mit beispielloser Hingebung und Uneigennützigkeit widmet sich der edle Mann der Aufgabe, die Schullehrer der benachbarten Cantone jährlich 2 Monate lang nicht blos in der bessern Erziehungsmethode zu unterrichten, sondern sie während dieser Zeit auch in seinem Hause gastfrei zu unterhalten.

Fassen wir die Resultate der Fellenbergischen Schöpfungen zusammen, erwägen wir, welche Opfer denselben gebracht worden sind[2], so müssen wir uns in Verehrung vor dem Manne beugen, der alles das als einfacher Privatmann, blos auf die Reinheit und Kraft seines Willens gestützt, vermocht hat. In Hofwyl ist der Menschheit gezeigt, was geschehen kann und geschehen müsse, um dem einreißenden Civilisationsverderben einen haltbaren Damm entgegenzusetzen. Was dort praktisch ausgeführt worden ist, schlägt die Furcht Derer nieder, welche an einem Heilmittel gegen das sittliche Erkranken der Zeit verzweifeln, und es richtet den Muth des Menschenfreundes auf. Fellenbergs Ideen verlangen keinen künstlich bereiteten Boden. Sie sind überall ausführbar, wo sie hin verpflanzt werden, und, allgemein in’s Leben geführt, würde sie wahr machen, was Welker in Bezug auf sie sagt: „Es werde dem Geiste Grund gegeben auf der Erde und er bestimmt die Ordnung einer Welt.“




  1. Ich verstehe darunter nur solche, welche reines Herzens für der Menschheit höchste Interessen aufopfernd wirken; Pythagoras z. B.; Lykurg, Luther, Washington, Kosziusko. – Der Größte wurde gekreuzigt.
  2. Fellenberg verwendete sein ½ Million Franken betragendes großes Vermögen ausschließlich auf die Ausführung seiner philanthropischen Zwecke. Er hat überdies Verfügungen getroffen, das seine gesammten Anstalten und ihre Fonds als Geschenk an den Staat übergehen, dem er dagegen die Verpflichtung auflegt, sie in seinem Geiste fortzuführen.