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pilgern sie in feierlicher Prozession bergaufwärts. Am Kreuzwege einigen und ordnen sie sich, und unter Anführung eines Priesters geht der Zug von da weiter fort zur höchsten Spitze, wo er vor dem Bilde des Gekreuzigten niedersinkt in Gebet. Nach verrichteter Andacht hören die Pilger Messe und Predigt im Kloster, und nachdem sie von den Vätern mit Speis und Trank erquickt worden, ziehen sie heimwärts. Jeder Wallfahrer entrichtet ein kleines Geschenk an das Kloster, und auch der ärmste schließt sich nicht von der freiwilligen, ungeforderten Gabe aus. – Herrlich ist die Aussicht von der Stelle des hohen Kreuzes auf dem Gipfel, und sie übertrifft selbst die berühmten Visten der höchsten Thüringer Kuppen, des Inselsbergs und des noch höhern Schneekopfs. Oestlich, über das wilde Chaos der Rhön hinaus, ruht das Auge auf der blauen Kette des Thüringerwaldes, der sich 20 Stunden lang in sanften Wellenlinien am Horizont hinschlängelt und dem bewaffneten Auge Dörfer und Flecken, Burgen und Schlösser in Menge erkennen läßt; weiter südlich breitet des Steigerwalds ernste, dunkele Masse sich aus; noch weiter im Süden und südwestwärts dämmern die Berge des Odenwaldes und die Bergstraße in 30stündiger Ferne; zu den Füßen des Schauenden aber lagern die Rebengelände des Mainthals, der ganze Garten des Würzburgischen Landes. Wer die entzückend schöne Aussicht recht genießen will, der nehme einen ganzen hellen Johannistag dazu und genieße sie zweimal; einmal am frühen Morgen, den Aufgang der Sonne erwartend, und dann am tiefen Abend, wenn sie unter den Horizont hinabsteigt. Die Heiligkeit des Orts, die feierliche Stille, die ihn umringt, wird den Anblick mit erhabenen Gefühlen würzen und ihm Augenblicke bereiten, die zu den seligsten gehören, welche der Sterbliche sich schaffen kann; – die nie aus der Erinnerung weichen. Jeder Mensch sollte solche Momente im Leben wenigstens doch einmal genießen, und jeder Familienvater zumal, gleichviel, welches Glaubens, sollte zuweilen nach einem solchen Bergtempel der Natur wallfahrten gehen, nicht mit der schreienden und murmelnden pilgernden Dummheit; sondern im Kreise der Seinen, damit er ihnen zeige die Pracht der Erde und die Herrlichkeit der auf- und untergehenden Sonne, und er ihnen lehre, was es heiße: „Gott, der Weltenschöpfer, ist herrlich und allmächtig und gütig, und wir sind seine Kinder, und dürfen zu ihm beten.“



Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/97&oldid=- (Version vom 27.10.2024)