Der Mann mit dem verschluckten Auge

Textdaten
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Autor: Hermann Harry Schmitz
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Titel: Der Mann mit dem verschluckten Auge
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aus: Buch der Katastrophen. S. 212–230
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Kurt Wolff Verlag
Drucker: L. C. Wittich
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Originalherkunft:
Quelle: Princeton-USA* und Commons
Kurzbeschreibung:
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[212] Der Mann mit dem verschluckten Auge

„Zurück zur Natur, Natuur, Natuuur!“ hatte die Sehnsucht in mir geschrien.

Ledig all der Fesseln einer entsetzlichen Konvention, ledig all des welschen Tandes unserer heutigen eines Nachkommen Teuts unwürdigen Kleidung, nur mit einem Schurzfell angetan, wollte ich durch die Wälder, über die Fluren stürmen, den selbstgeschnittenen, knorrigen Eichast in der Rechten schwingend, die erschlafften Glieder stählen durch Sprung und Kletterkunst, das flinke Eichhorn verfolgen in die höchsten Gipfel, dem behenden Reh nachjagen und es im Laufe erhaschen, dem scheuen Wiesel nachstellen und es mit der Hand ergreifen. Wurzeln, Beeren und Bucheckern und ein Trunk aus der kühlen Quelle sollten tagsüber meine Atzung sein. Kein Schermesser durfte mehr mein Kopf- und Barthaar berühren; in Locken sollte das Haar über Nacken und Schultern fallen, als Zeichen und schönste Zier des freien Mannes, wallender Bart die Brust bedecken. Fort mit allem Schnick-Schnack einer weibischen Zeit, den wohlriechenden Seifen, Pasten, Pulvern, Wässern, der tändelnden Zahnbürste, dem Kamme und der Kopfbürste!

Keine Zeitungen, keine Bücher wollte ich mehr sehen. Keine Briefe bekommen oder schreiben. Ich wollte nichts mehr hören von der Welt da draußen.

Natuur, Natuuur, Natuuuur! Durch dich wollte ich wiedergeboren werden zum Menschen!

Gleich nach meiner Ankunft in Bullenbach war ich, nur mit einem Schurz aus Hasenfell umgürtet, in aller Frühe [213] in den Wald gegangen. Ich schnitt mir eine junge Eiche zum Stecken zurecht und drang mit „Hojotohoh“ in das Dickicht. Da stieß ich auf fünf Holz abfahrende Bauern, die sich sofort, als sie meiner ansichtig wurden, voller Wut auf mich stürzten und brutal festhielten. Auf meine Erklärungen über die historische Berechtigung und die hygienischen Vorzüge des Nacktgehens nannten sie mich eine gottverfluchte Sau und noch schlimmeres, und zum Schluß wurde ich mit meiner jungen Eiche elendiglich verhauen.

Dann machte ich schüchterne Versuche, mit einem bis zum Knie reichenden härenen Gewande umherzugehen. Man hetzte die Hunde auf mich, die Kinder bewarfen mich mit Kot, und die Wirtin erklärte mir, die Bullenbacher duldeten diese Maschkerad nicht, und sie hätte keine Lust, sich für die paar Mark, die ich zahlte, das ganze Dorf auf den Hals zu hetzen, und ich möchte sehen, wo ich ein anderes Unterkommen fände, bei ihr könnte ich nicht länger wohnen.

So schnell wollte ich die Flinte nun doch nicht ins Korn werfen. Lieber die kleinen Unfreundlichkeiten und Mißverständnisse ertragen, die doch im Grunde nur eine charakteristische Note dieser urwüchsigen Naturkinder darstellten: die naive Abneigung gegen alles Neue, Fortschrittliche, das Festklammern an der Väterüberlieferung, als zurückkehren in die Hölle der Zivilisation.

Ich beschwor die Frau, mich doch wohnen zu lassen, und es gelang mir schließlich, sie durch eine Verdreifachung des bisher bezahlten Pensionspreises zu rühren.

Ich tat alles Mögliche, mich mit den Bauern auf guten Fuß zu stellen, mich ihnen anzupassen. Abends im Wirtshaus [214] saß ich mitten unter ihnen, soff unzählige Maß Bier, rauchte unter furchtbaren Qualen wacker den landesüblichen Tabak, aß allabendlich, meine Abneigung überwindend, heroisch das Nationalgericht der Bullenbacher: rohes Schweinegehacktes mit Pfeffer und Zwiebeln verwürzt, suchte stets in allen Dingen der Meinung dieser herrlich unzivilisierten Dörfler zu sein und wieherte jedem kräftigen Scherzwort zu, ob es mich auch selbst traf.

Obgleich mir jedes Kartenspiel entsetzlich verhaßt war und ich diese Beschäftigung, mit Schopenhauer, für den Bankerott aller Gedanken hielt, begeisterte ich mich für den Skat und das Sechsundsechzig der Bullenbacher und saß jeden Abend bis spät in die Nacht und schlug die fettigen Karten mit der meinen Partnern abgelauschten Kraftgeste auf den Tisch. Ich mühte mich nach Möglichkeit, nicht zu gewinnen, um diese leicht erregbaren Primitiven nicht unnötig zu verstimmen. Als ich nun eines Abends dennoch und sogar fünfmal hintereinander gewann, wallten die Leidenschaften auf, der furor teutonicus erwachte jäh, und man hatte mir, ehe ich mich dessen versah, einen Maßkrug um den Kopf geschlagen, mich vor den Bauch getreten und mich endlich durch die Füllung der Tür hinausgeschmettert.

Hochachtung vor dieser aus einem ehrlichen, ursprünglichen Empfinden für Recht und Unrecht und einem ungezügelten Temperament erwachsenen animalischen Kraft!

Mit dick verbundenem Kopf habe ich vierzehn Tage auf meinem Zimmer gesessen. O, die Verwirklichung des Rousseauschen Ideals war nicht so einfach. Ich entschloß mich, schlicht barfuß zu gehen wie alle Welt in Bullenbach. [215] Nachdem ich mir aber einen rostigen Nagel in den Fuß getreten hatte, wurde mir klar, daß auch das nicht das Richtige war und das von mir so fanatisch gehaßte modische Schuhwerk doch seine Vorzüge hatte. Die Verletzung hatte natürlich eine Eiterung zur Folge, die mich wieder auf einige Zeit lahmlegte und mir Muße gab, über die erzielten Resultate meiner Therapie gegen den großen Kulturdegout nachzudenken.

Wenn ich so durch des Schicksals Tücke verdammt war, tagelang auf meiner schmucklosen Bude zu hocken, ohne die geringste Anregung und Zerstreuung, überkam mich immer häufiger eine grenzenlose Langeweile. Allein es gab jetzt kein Zurück mehr, es hieß durchhalten, wenn ich nicht mein Selbstvertrauen gänzlich einbüßen wollte. Ich mußte beweisen, daß ich eine Persönlichkeit war, eine Persönlichkeit mit genügendem inneren Gehalt, die all dieser äußeren Dinge entbehren konnte und in der Beschäftigung mit sich vollauf ihr Genüge fand. Ich hielt mir als erstrebenswertes Beispiel den indischen Yogi vor Augen, der die reale Welt überwunden hat und es durch Konzentration aller seiner Kräfte auf sich selbst vermag, in sich eine Welt, herrlicher, als die wir sehen, zu schaffen.

Lediglich ein fortgesetztes Stieren auf den Nabel bringt bei dem Yogi diesen Zustand der Weltentrücktheit hervor. Ich habe es auch versucht und stundenlang auf dem Boden gekauert und meinen Nabel betrachtet, mit dem einzigen Resultat, daß ich völlig dumm im Kopf wurde und meine Beine einschliefen, sodaß ich nachher weder gehen noch stehen konnte. Von einem Aufgehen im Nirwana nicht die Spur.

[216] Man muß sich üben, sagte ich mir und begann täglich mindestens eine Stunde lang meinen Nabel tiefsinnig zu fixieren. Das Nirwana blieb aus, nur glaubte ich eines Tages während der Meditation ein merkwürdiges Rumoren in meinem sonst so stillen Bauche zu verspüren. Ein eigenartiges Saugen, Kollern, wie ich es noch nie empfunden hatte. Dann hatte ich plötzlich das Gefühl, als ob ein dicker Knäuel im Leibe aufstiege bis zum Halse, dann ein seltsames, lustiges Prickeln in der Nase und noch sonst wo. Meine Gesichtsfarbe wurde fahl. Heißhunger wechselte ab mit Appetitlosigkeit.

Sollte das vielleicht der Übergang zur ersten Stufe hin zum Nirwana sein, die Umbildung des Organismus zu höheren okkulten Fähigkeiten?

Eine merkwürdige Unruhe packte mich, ich begann mich genauer zu beobachten. Die Zeichen wiederholten sich, auch wenn ich mich nicht in der Fakirstellung befand. Von Tag zu Tag wurden sie stärker.

Ich war stolz auf das erzielte Resultat meiner Meditation. Mein Aussehen wurde immer interessanter, dämonischer. Pergamentfarben war die Haut, tief lagen die blauumränderten Augen im Kopf.

Zufällig kam ich eines Tages mit dem Landarzt, der auf einer Fahrt über die Dörfer im Wirtshaus zu Bullenbach Halt machte, ins Gespräch. Ich brachte ganz unbefangen und harmlos die Rede so im allgemeinen auf die indischen Fakire und ihre geheimnisvollen okkulten Kräfte und dann schließlich auch auf meine Versuche. Ich erzählte ihm genau, was ich bisher auf diesem Gebiet erreicht hatte. Der Mann schaute mich aufmerksam an [217] und bat mich, die beobachteten Symptome nochmals genau zu wiederholen. Ich tat es mit dem Erfolge, daß der Doktor in ein wieherndes Gelächter ausbrach, das kein Ende nehmen wollte.

Da war doch aber auch wirklich nichts zu lachen. Ich wurde wütend und schrie auf ihn ein: „Wenn Sie von solchen Sachen nicht mehr verstehen als Ihre Bauern hier, dann sagen Sie das doch vorher!“ Damit stand ich auf und wollte weggehen.

„Warten Sie,“ prustete der Doktor hervor, die Tränen liefen ihm über die Backen, „warten Sie doch um Gottes willen. Die Symptome, die Sie an sich bemerken, haben keine okkulte, sondern eine nur zu unangenehm reale Ursache, sie kommen nämlich von einem Bandwurm. Ist Ihnen nicht der Abgang von nudelartigen oder kürbiskernartigen platten Stücken aufgefallen?“

„Diese Erscheinung habe ich in der Tat schon verschiedentlich an mir konstatiert,“ mußte ich kleinlaut zugeben.

„Haben Sie häufig rohes Fleisch gegessen?“ fragte der Arzt.

„Eigentlich jeden Abend, seitdem ich hier bin,“ stieß ich beklommen hervor.

Mein ganzes schönes Selbstbewußtsein ging in die Brüche. Ein Bandelwurm, der hatte mir zu allen meinen Enttäuschungen nur noch gefehlt, das war also die Krone meiner Flucht in die Natur.

„Na, besonders angenehm ist ja solch ein Logierbesuch nicht. Ich will Ihnen etwas aufschreiben, das nehmen Sie in drei Portionen ein. Dann werden Sie bald befreit sein. Das Mittel nüchtern trinken und dann im [218] Zimmer bleiben. Genau Obacht geben, ob auch der Kopf mitgekommen ist.“

Die Medizin war abends angekommen. Das erste Drittel hatte ich dann am nächsten Morgen, das zweite Drittel mittags eingenommen. Nun hockte ich, umgeben von vielen Gefäßen, voller Hangen und Bangen auf meiner Bude in Erwartung der Katastrophe.

Unter der Einwirkung einer furchtbaren Augusthitze hatte ich mich so nach und nach vollständig entkleidet und saß nackt auf dem Prachtmöbel meiner Klause, dem Wachstuchsofa und hatte einige Ablenkung darin gefunden, die erfrischende Wirkung einer solchen Sitzgelegenheit bei häufigem Wechseln des Platzes zu beobachten. Aber nur für kurze Zeit war diese Nuance in der Lage, mich zu zerstreuen.

Die flimmernde Schwüle des Augusttages, gesättigt mit den der Küche entsteigenden Spüldüften, kroch in das Zimmer und legte sich schwer auf mein Denken. Das Gefühl der Wirklichkeit schwand mehr und mehr. Das Leben um mich schien unter dem Einfluß der glühenden Sonnenstrahlen gänzlich ausgesetzt zu haben. Das ganze Haus war wie ausgestorben, nur ab und zu drang ein müdes Tellergeklapper aus der Küche herauf. Die Schweine, die sonst bestrebt waren, eine charakteristische Note durch ihr Gegrunze in die ländliche Symphonie zu bringen, schwiegen und lagen in todähnlichem Zustand auf dem Mist. Der bösartige Spitz, der sonst gewissenhaft um das Haus zu laufen und in Ermangelung einer feindlichen Erscheinung die harmlosen Hühner anzukleffen pflegte, lag irgendwo und rührte sich nicht. Die braven, fleißig [219] legenden Hühner ließen apathisch ohne Freudengegacker ihre Eier von sich gehen. Das monotone Gesumm der ein- und ausfliegenden Mücken und Fliegen und das müde Gekrieche dieser Insekten an den Wänden und Möbeln verstärkte noch das unheimliche Schweigen. Ein grenzenloses, lähmendes Nichts umgab mich. Wie ein Reif von warmen, feuchten, klebrigen Händen legte es sich mir um den Kopf.

Ich mußte mich unter allen Umständen beschäftigen, wenn dieser furchtbare Druck, den der glühende Augusttag gebar, nicht Macht über mich bekommen sollte, wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte! Das Gehirn mußte in Tätigkeit bleiben!

Eine Schaustellung indischer Fakire, die ich einmal irgendwo gesehen hatte, fiel mir ein. Unter anderen war da ein Mann gewesen, der seine Augen aus den Augenhöhlen herausnehmen und einige Zentimeter vom Kopf entfernen konnte. Ein befreundeter Arzt, der damals bei mir war, hatte dieses für mich seltsame und eigentlich schreckliche Phänomen für höchst einfach erklärt. Es gehöre nur eine gewisse Willenskraft dazu und Überwindung des unangenehmen Gefühls beim Berühren des Augapfels. Bei Augenoperationen, zur Beseitigung eines Abszesses zum Beispiel auf der Rückseite des Augapfels, nehme man das Auge stets ohne irgendwelchen Schaden für den Patienten in dieser Weise heraus.

Die fixe Idee setzte sich in meinem zusammengeklebten Hirne fest, das auch einmal bei mir zu versuchen. Wie unter einem zwingenden Bann hob ich meine rechte Hand, führte sie zum rechten Auge und begann mit dem [220] Zeigefinger in der Ecke der Nasenwurzel am Auge zu bohren. So war nichts zu machen, ich wagte nicht stark zu drücken aus Furcht, das Auge mit dem Fingernagel zu verletzen. Ich umwickelte den Zeigefinger mit einem weichen Tuchlappen und setzte ihn wieder an der Nasenecke ein, den ebenfalls umwickelten Daumen von der Schläfe aus, drückte energisch, und „kllltsch“ hatte ich das Auge zwischen den Fingern. Klopfenden Herzens entfernte ich das Auge vorsichtig ein wenig vom Kopf und konstatierte, daß der Sehnerv und die verschiedenen Muskeln wie Gummi nachgaben und die ganze Manipulation, wenn auch im Anfang etwas unbehaglich – ein Kältegefühl machte sich besonders bemerkbar –, so doch im allgemeinen völlig schmerzlos war.

Die Umwicklung der Finger störte und begann auch ein wenig zu scheuern. Ich feuchtete den Zeigefinger und Daumen der linken Hand reichlich mit Spucke an und nahm behutsam das Auge in diese Hand. Jetzt fühlte ich keinerlei Beschwerden mehr.

Ich wurde mutiger und führte das Auge um den Kopf herum, guckte mir ins Ohr, sah mir mal meinen Hinterkopf aus dichtester Nähe an, hielt das Auge dann über den Kopf und beschaute mich aus der Vogelperspektive. Das war ja fabelhaft. Ich wurde noch tollkühner und hielt schließlich das Auge mit ausgestrecktem Arm vom Körper ab. Die Dehnbarkeit des Nervs und der Muskeln schien unbeschränkt.

Nachdem ich mich von allen Seiten genügend betrachtet hatte, kam mir der geniale Einfall, auch mal die Mundhöhle ein wenig zu inspizieren. Ich steckte das [221] Auge in den weitgeöffneten Mund und mußte als erstes zu meinem größten Verdruß auf diese Weise erfahren, in welch schamloser Weise mich mein Zahnarzt betrogen hatte. Goldplomben hatte ich bezahlt, und mit Zement hatte er die Zähne angefüllt. Schau an, das war also das Zäpfchen. Gott, wie nett! Ich schob das Auge ein wenig unter das Zäpfchen, um mal zu sehen, wo der Kehlkopf war, von dem man so viel Wesens machte. Na, das war ja eine höchst einfache Sache.

Mich interessierte das alles so intensiv, daß ich ganz vergaß, das Auge genügend zwischen den Fingern einzuklemmen. Auf einmal, flitsch, war mir das Auge fortgeglitscht und im Schlund verschwunden.

Voller Spannung, am ganzen Körper bebend, erwartete ich, wie sich das entwickeln würde. Wenn es brenzlig wurde, konnte ich ja immer noch das Auge an den Muskeln, die aus der Augenhöhle wie ein Bündel gestraffter Darmsaiten in meinem Munde verschwanden, zurückziehen, sagte ich mir. Vorläufig fesselte mich das Schauspiel in meinem Innern viel zu sehr, um diesem Genuß vorzeitig ein Ende zu machen.

Ein trautes, rötliches Halbdunkel herrschte hier. Man befand sich in der Speiseröhre, deren leichte, wiegende Bewegung das Auge allmählich weiterschob.

Dort das stampfende Ding links mußte das Herz sein, die große rasselnde und pustende Sache, die fast den ganzen Brustkorb anfüllte, wohl die Lunge. Es war ein gewaltiges Toben und Arbeiten hier drinnen, wie in der Halle eines modernen Fabrikbetriebes.

[222] Immer weiter glitt das Auge abwärts, ich hatte so viel zu staunen, daß ich mir weiter keine Gedanken machte, wie das enden sollte, als ich plötzlich erschreckt auffuhr, da ich von einem Augenblick auf den anderen mit dem Auge nichts mehr sah. Gleichzeitig machte sich ein häßliches Sauggefühl und eine stechende Schärfe bemerkbar. O weh, da war das Auge in den Magen geraten! Siedendheiß überlief es mich. Jetzt würde ich wohl meine Neugierde mit einem verdauten Auge zu bezahlen haben. Ich versuchte krampfhaft, an den Muskeln das Auge aus dem Magen herauszuzerren. Vergebens! Die Muskeln längten sich wie Gummischnüre, weiter hatten meine Bemühungen keinen Erfolg. Das Auge blieb im Magen.

Plötzlich verspürte ich einen Stoß, und schon war die Dunkelheit einem Halbdunkel gewichen. Das Auge befand sich im Darm. Der Magen hatte es unverdaut von sich gegeben. Eine schauerliche Dämmerung herrschte im Darm. Unheimlich war es hier, lange nicht so schön wie im Brustkorb. Dazu ein unangenehmer, muffiger Geruch, die Wände glitschig und feucht. Tiefe Grabesstille, nur ab und zu unterbrochen durch ein fernes Glucksen. Der schwarze Gang schien schrecklichen Dingen zuzuführen. Eine Gänsehaut überlief das Auge. Mich packte das Grauen, und ich bereute dieses wahnwitzige Spiel.

In wellenförmigen Bewegungen, die ein der Seekrankheit ähnliches Gefühl hervorbrachten, glitt das Auge durch die unzähligen Windungen des Darmes weiter.

Halt! Was war das dort, das um die Windung glotzte? Das Auge stemmte sich angstvoll gegen die Darmwand und versuchte zu bremsen.

[223] Ein schrecklicher, spitzer, fahlgelber Kopf streckte sich ihm aus dem Dunkel entgegen, und eine schleppende, schleimige Stimme fragte leise: „Ist da jemand?“

Ich zitterte vor Angst in Erwartung eines furchtbaren Dramas in meinen Tiefen.

Das Auge war im ersten Augenblick vor Schrecken sprachlos, faßte sich jedoch bald, ging auf die seltsame Erscheinung zu, machte eine tadellose Verbeugung und stellte sich vor: „von Auge!“ Worauf es klebrig zurückklang: „Friedel Darmstädter, Bandwurm! Es ist mir eine große Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, eine große, überaus große Ehre. Ich lege mich Ihnen zu Füßen. Womit kann ich Ihnen dienen? Sie müssen nur ein wenig Nachsicht mit mir haben, mein Verehrtester, ich fühle mich heute nicht so recht wohl. Es muß wohl am Wetter liegen, nichts will mir so recht schmecken.“

„Gott, das ist ja eigentlich auch kein Wunder in dieser Atmosphäre. Da wird ja ein Gesunder krank,“ antwortete das Auge; „ich begreife Sie wirklich nicht, wie Sie es als ein Mann von Geschmack hier aushalten können.“

„Und Sie,“ forschte der Bandwurm, „wollen Sie sich dauernd hier niederlassen?“

„Daß mich der Himmel bewahre! Nur auf der Durchreise, zum Vergnügen bin ich hier,“ protestierte das Auge.

Dann fing das Auge an, von der Welt draußen zu erzählen. Von dem Jagen und Hasten der Menschen nach Gold und Ehren. Von dem hohen Lied der Uniformen und der besternten, goldgestickten Fräcke. Von der Zukunft, die allen denen offen stehe, die ein gütiges Geschick ohne Rückgrat auf die Welt kommen ließ. Wie [224] positives Können überhaupt keine Rolle mehr spiele. Wie Lavieren, Scharwenzeln, Kriechen, Schleim fressen, Schwanzwedeln die einzigen Fähigkeiten seien, die zum Fortkommen erforderlich.

Ich war entsetzt über diese gehässige Gesinnung meines Auges.

„Wissen Sie,“ wandte sich plötzlich das Auge an den aufmerksam zuhörenden Bandwurm, „ich verstehe Sie wirklich nicht. Sie passen draußen in die Welt hinein wie selten jemand. Was haben Sie hier, Sie kriechen und kriechen und bringen es zu nichts. Sie wedeln Schwanz und fressen Schleim und haben keinen Lohn davon. Sie gehören in die Welt, mein Lieber.“

„Sie haben gut reden,“ klagte der Bandwurm und lehnte elegisch den Kopf an die Darmwand, „ich fühle mich dem Kampf ums Dasein, dem offenen Kampfe nicht recht gewachsen. Ich bin nicht mutig. Das liegt einmal nicht in meiner Natur.“

„Offener Kampf, mein lieber Freund,“ das Auge war an den Bandwurm herangetreten und hatte die Hand auf seine Schulter gelegt, „offener Kampf. Mann gegen Mann, Einsetzen der Persönlichkeit, Ringen um sein gutes Recht – ja, da würden Sie recht weit mit kommen heutzutage. Hintertüren, Intrigen, Verleumdungen, Geschmeidigkeit, geistiger Meuchelmord, das sind so einige der Faktoren, die in Frage kommen. Aufgerafft! Ich schwöre es Ihnen, Sie sind der Richtige dazu, in der Welt sein Glück zu machen!“

„Ich fühle es ja selbst, daß ich zu Höherem geboren bin,“ antwortete der Bandwurm selbstbewußt. „Dieses Streben [225] nach oben liegt einmal in unserer Familie. Meine Eltern lebten noch in einem Schwein, während ich hier in diesem Menschen das Licht des Darmes erblickte. Aber Sie müssen zugeben, es ist immerhin ein Entschluß, eine sichere Existenz, die ich doch hier habe, aufzugeben. – Was ist das nur eigentlich,“ unterbrach er sich plötzlich, „diese unangenehme Flüssigkeit, die mich schon seit heute morgen belästigt und wohl auch schuld an meinem Unwohlsein ist? Merken Sie nichts, Herr von Auge?“

„Ich kann da schlecht urteilen, weil mir die sonstigen klimatischen und diätischen Verhältnisse hier nicht bekannt sind. Aber das wird wohl der Trank sein, den der Besitzer dieses Bauches sich holen ließ und seit heute früh trinkt. Als ich die Augenhöhle verließ, war noch ein kräftiger Schluck in der Flasche, den dieser Mensch, soweit ich ihn kenne, bestimmt nicht in der Flasche lassen wird. Das nennen Sie also eine sichere Existenz, wenn Ihr Wohlbefinden, ich möchte fast sagen Ihr Lebensglück, so direkt abhängig ist von dem, was dieser Mensch ißt und trinkt. (Tout comme chez nous, dachte ich mir.) Ich begreife wirklich Ihre Unentschlossenheit nicht. Gott, mir persönlich kann das ja gleichgültig sein, was aus Ihnen wird. Ich an Ihrer Stelle wüßte, was ich täte.“

„Und was Sie mir da soeben alles sagten, ist die lautere Wahrheit? Sie treiben keinen Scherz mit mir?“ Prüfend schaute Friedel Darmstädter das Auge an.

„Ich meine, die Angelegenheit ist wohl zu ernst zum Scherzen,“ erwiderte dieses kalt.

„Und Sie bürgen mir für die Richtigkeit dessen, was Sie mir sagten?“ Ein verachtungsvoller, niederschmetternder [226] Blick des Auges ließen den Bandwurm bereuen, diese vorlaute Frage gestellt zu haben.

„Mit meinem Ehrenwort,“ klang metallisch die Stimme des Auges durch den Darm.

Mit einer tadellosen Verbeugung gegen das Auge machte der Bandwurm kehrt und verschwand hinter der nächsten Biegung des Darmes.

Das Auge platzte los vor Lachen und hielt sich die Seiten. Den hatte es angeführt. Neugierig, wie nun einmal Augen sind, gab es den Stützpunkt, den es während der Unterhaltung mit dem Bandwurm an der Abzweigung zum Blinddarm gefunden hatte, auf und ließ sich durch die Muskelbewegungen des Darmes weiterbefördern, um doch zu schauen, wo der Bandwurm bleiben wurde.

Plötzlich machte sich ein frischer Luftzug bemerkbar, und mit einem Ruck befand sich das Auge im grellen Tageslicht.

Unter sich sah es eine Schale stehen, in welcher sich der Bandwurm hilflos wand. Ein böser Blick traf noch das Auge, dann legte er den Kopf auf die Seite und verschied. –

So, den Bandwurm wäre ich auf diese unterhaltsame Weise losgeworden. Jetzt war es aber auch an der Zeit, dem Spiel mit dem Auge ein Ende zu machen und es wieder an seinen alten Platz zu bringen. Leichter gesagt, als getan. All mein Zerren an dem Muskelstrang war erfolglos, das Auge rührte sich nicht vom Fleck. Ich versuchte es auf alle mögliche Weise zu lockern, es war unverrückbar festgeklemmt. Eine wahnsinnige Verzweiflung [227] packte mich. Mit aufgerissenem Munde, um den Nerv und die Muskeln nicht zu verletzen, rannte ich laut stöhnend durch das Zimmer. Dieses ungewohnte Schauen nach zwei Seiten verwirrte mich. Ich wußte nicht recht, ob ich vorwärts oder rückwärts gehen sollte. Eine furchtbare Angst vor mir selber packte mich. Ich mußte unter Leute. Ohne an das Seltsame der Situation zu denken, rannte ich blindlings wie von Hunden gehetzt nach unten zur Wirtin und streckte ihr stumm den Körperteil entgegen, den man sonst im allgemeinen Damen nicht darzubieten pflegt, und wies verzweifelt auf mein Auge, das flehend von dieser ungewohnten Stelle in die Welt schaute.

Laut kreischend floh die Wirtin und stürzte ins Dorf. Und nicht lange dauerte es, so kamen aus allen Richtungen mit Dreschflegeln, Sensen, Knüppeln die Bullenbacher Bauern herbeigeeilt, um die der Wirtin zugefügte Schmach auf der Stelle zu rächen.

Ich war wieder hinaufgestürzt in mein Zimmer, hatte die Tür fest verriegelt und mit Möbelstücken verbarrikadiert. Zitternd stand ich am Fenster hinter den Gardinen und beobachtete die Zusammenrottung meiner Feinde. Furchtbare Drohungen wurden ausgestoßen. Der Haß eines ganzen Dorfes war entfesselt.

Plötzlich zerschmetterte ein Ziegelstein mein Fenster und flog dicht an meinem Kopf vorbei ins Zimmer. Ich verkroch mich in den äußersten Winkel des Zimmers. Töten würden sie mich, wehrlos erschlagen. Doch halt! Ich hatte doch meine beiden Browning-Pistolen irgendwo in meinem Koffer. Bebend durchwühlte ich den Kofferinhalt. [228] Donnernde Schläge fielen gegen die Tür. So leichten Kaufs sollten mich diese wilden Tiere nicht erschlagen. Die Errungenschaften moderner Technik in Gestalt meiner zehnschüssigen Brownings hatte ich ihren primitiven Waffen entgegenzusetzen.

Krachend fiel die Tür ins Zimmer, und über die umgestürzte Möbelbarrikade stürzte die Schar herein. In jeder Hand eine Browning, nahm ich mir die beiden ersten aufs Korn. Ein baumlanger Mensch, der gleiche, der mir seinerzeit beim Kartenspiel den Bierkrug um den Kopf geschlagen hatte und jetzt mit einem wutverzerrten Gesicht und einer Sense auf mich eindrang, und ein untersetzter, stiernackiger Bursche, der damals mit dabei gewesen, als man mich im Walde so verhauen hatte, und nun bestrebt war, mir mit einem Dreschflegel die Hirnschale zu zertrümmern, fielen mitten ins Herz getroffen zu Boden. Schuß auf Schuß aus meinen guten Brownings. Mann auf Mann traf das tödliche Blei. Aber immer neue Kerle traten an ihre Stelle, unaufhaltsam wälzten sich die Feinde die Treppe herauf. Nur noch zwei Schuß waren mir geblieben, in jeder Waffe noch einer. Danach war ich verloren. Ich hatte mich wacker gehalten.

Plötzlich bemerkte ich mit dem deplazierten Auge, daß ein krummbeiniger, kleiner Kerl versuchte, mit einem langen Messer von hinten heimtückisch gegen mich vorzudringen. Gleichzeitig bedrängte mich von vorne ein Mensch, dessen Augen blutunterlaufen waren, mit einer Mistgabel. Die Linke mit der Browning nach hinten gerichtet, die andere Browning in der vorgestreckten [229] Rechten, die beiden Schurken aufs Korn genommen – und aufschreiend wälzten sie sich in ihrem Blute.

Entsetzt über meine Aktion in zwei Fronten wichen die Angreifer, wie vor einem schauerlichen Spuk, vor mir zurück und ergriffen die Flucht.

Ich war gerettet.

Ich kletterte über die Leichen weg und verließ, nur in einen Havelock gehüllt, voller Schaudern diese Stätte des Blutes.

In dem Landstädtchen, das ich nach qualvollem Umherirren erreichte, war es mein erstes, einen Arzt aufzusuchen, um das Auge wieder einrenken zu lassen. Alle seine Bemühungen waren indessen vergeblich. Ich wandte mich an die bedeutendsten Professoren, aber auch deren Kunst war nicht imstande, mir zu helfen. Das Auge blieb an der so ungeeigneten Stelle. Der einzige Ausweg wäre ja Abschneiden der Muskeln gewesen, aber dazu konnte ich mich nicht verstehen. Man verliert doch nicht gern ein Auge.

Ich ließ mir zwei Schneidezähne aus dem Unterkiefer ausbrechen und legte in die entstandene Lücke den Muskelstrang, der auf diese Weise nicht mehr Gefahr lief, beim Sprechen oder Essen verletzt zu werden.

Dann lernte ich zu meinem Glück eines Tages meinen jetzigen Chef, Herrn Barnum kennen, der mich sofort mit einem Monatsgehalt von 10 000 Dollar auf Lebenszeit für sein Unternehmen verpflichtete.

Erst wurde ich mit Rücksicht auf die delikate Art meiner Abnormität in einer Extraabteilung nur einem Herren-Publikum gezeigt. Als aber Herr Barnum auf die [230] glückliche Idee kam, mir diese rote Samthose machen zu lassen, in deren Hosenboden ein Loch geschnitten ist, gerade groß genug, das Auge, aber auch nur das Auge, sichtbar zu machen, wurde ich eine dezente Schaunummer, zum Besuch für Familien und Schulen geeignet. Leider bemerke ich seit einiger Zeit, daß ich auf dem deplazierten Auge ein wenig kurzsichtig werde, aus welchem Grunde ich mich beim Lesen eines Monokels bediene.

Das ist meine Lebensgeschichte. Die Vorstellung ist zu Ende. Ich bitte neuen Besuchern Platz zu machen und unser Unternehmen in Freundes- und Bekannten-Kreisen geneigtest zu empfehlen.