« Die Art der Predigt Hermann von Bezzel
Der Dienst des Pfarrers
Das liturgische Handeln »
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Kapitel VI.
Die Kasualrede.
 Vorbemerkung. Die Wochenpredigt. Im Gegensatz zur Amtspredigt, wie unsre Alten die sonntägliche nannten, steht und insoferne ist mehr für die einzelnen Notfälle zu verwerten die Wochenpredigt schon um deswillen, weil in ihr die Texte freigegeben sind. Hier mag man sich von bestimmten Anlässen, von Ereignissen,| welche die Gemeinde bewegen, den Text geben lassen, während dem Sonntag die alte Perikope gewahrt bleibt, so viel an ihr gemäkelt und bemängelt wird. Die Großartigkeit des Zusammenhangs mit der Kirche fernster Zeiten, die Gewöhnung der Gemeinde, die nicht häufige, aber, wo sie mühelos sich ergibt, um so wirksamere Übereinstimmung von Evangelium und Epistel, die Zusammenhänge der Evangelien und der Episteln, wie sie die Epiphanias- und die österliche Zeit offensichtlich aufweist, dies alles sichert der altkirchlichen Perikope ihr Vorrecht, in dessen Wahrung für den Prediger Bewahrung ist. Man gibt alte Freunde nicht ohne Nötigung auf, sie sind mit uns, wir mit ihnen verwachsen, sie geben uns immer wieder Neues: serva ordinem et ordo te servabit. Aber die Wochenpredigt sei frei, greife in das Alte Testament zurück, dessen Persönlichkeiten allmählich im Schatten der Legende verdämmern, dessen Psalmen und Propheten so ferne bleiben, nehme (fortlaufend) aus der bei den Perikopen wohl selten (mit Ausnahme der sog. Thomasianischen) berücksichtigten Apostelgeschichte Erzählungen und verschmähe es nicht, den Katechismus zu traktieren, für den Petris aus Kreuz und Leid geborene Betrachtungen über den christlichen Glauben unübertroffene Handreichung bieten. Die Wochenpredigt mag sich auch im Aufbau freier geben, kürzer und mehr geschichtlich sein.
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 Die Bibelstunde. In ihr habe die lectio continua ihre Stätte, die fortlaufende Erklärung eines biblischen Buches, das bald unter Zusammenfassung größerer Partien bald im Verweilen bei einem Ton| und Sinn des Ganzen treffenden Worte mit reichlicher Erklärung des Wissenswerten betrachtet werden und so das religiöse Wissen fördern soll. Ist es möglich, Fragen zu wecken und zu erlangen, und der Prediger wohl gerüstet, auf sie zu antworten oder an ihnen vorüberzugehen, wozu noch mehr Wissen gehört, so kann die Bibelstunde, deren Ende immer kurze Nutzanwendung sein soll, dienstbarer wirken als die Predigt. Gerade und vornehmlich hier kann das Sammelheft gute Dienste tun, aber auch die Gabe, die Fragen, ob Wißbegierde oder Neugierde sie stellen, zu unterscheiden. Die gang und gäben Bitten um „Aufschluß über die Sünde wider den Heiligen Geist, über die Bedeutung der apokalyptischen Zahl 666, über die Vorzeichen der Herrenzukunft und des Weltendes“ gehen weit ab von der Grundfrage: Was muß ich tun, daß ich selig werde? und verkennen die eigentliche Bedeutung der Heiligen Schrift, die zur Unterweisung und Bereicherung gesunden Wissens (διδασκαλία), zur inneren Prüfung des eignen Ich und seiner Umgebung (ἔλεγχος), zur Aufrichtung des Willens dem Ziele entgegen (ἐπανόρθωσις), endlich zur ernsten Übung in der Lebensgerechtigkeit nütze ist, Kenntnis und Erkenntnis, aber nicht den Vorwitz fördert.
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 Die Kasualrede. a) Allgemeines. Es wird gut sein, wenn der Anfänger bei Zeiten anläßlich der täglichen Schriftlesung, die der lutherischen Übersetzung kursorisch, den Grundsprachen in langsamem Zuge folgen soll – wer die Zeit nicht hat, muß sie sich nehmen und des Rates gedenken, den der alte Rektor von Schulpforta, Ilgen, seinen Schülern gab, wozu| denn Gott auch noch die Nacht gegönnt habe – sich Texte sammelt, die er alsbald auf den Grundtext und Zusammenhang prüfen muß, damit er in Zeiten der Not nach seiner Sammlung greifen kann (die exakte Arbeit von Pfarrer Ott, die Fingerzeige der Dieffenbachischen Handagende, die Sammlung in Löhes Rauchopfer seien in Erinnerung gebracht). Ja, viel angelaufenen Geistlichen ist der Rat zu erteilen und nicht unnützlich gewesen, die am häufigsten begehrten Leichenreden im voraus mit den allen Fällen gemeinsamen Gedanken und Wahrheiten, mit dem Ernste des Todes und dem Troste des Lebenssieges auszuarbeiten. Gerade die Häufigkeit verlangt und erklärt dies; denn bei der Menge tritt das rein persönliche Moment in den Hintergrund. Daß der Grundtext immer zu Rat gezogen werden muß, um die Fülle des textlichen Gedankens sich näher und der Gemeinde zu übermitteln, leuchtet am ehesten ein, wenn man an die Fehler denkt, welche in der Psalmenübersetzung zuweilen vorkommen. Das Wort des 84. Psalms von den mit Segen geschmückten Lehrern würde nicht so oft angewendet werden. – Man halte sich dann an die gegebenen Verhältnisse und enthalte sich der Konjekturen, die mehr wissen wollen als Gott [k]undtut, und an Gräbern ausschmücken, was aus dem Knaben hätte werden können (Luk. 1, 66), wenn er eben – nicht gestorben wäre. Getröstet wird damit nicht und Gottes Ehre nicht gemehrt.
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 b) Die Taufrede. Voraussetzung zu ihr ist die strikte und gehorsame Benützung des Taufbefehls und der Stiftungsworte des Herrn, wie der Gebrauch| des alten Taufsymbols, in dessen Kürze all die Heilsrealitäten beschlossen sind, zu denen das Kind durch das Sakrament in lebensvolle Beziehung gesetzt werden soll. Die Abrenuntiation, immer wieder fälschlich Exorzismus genannt, ist nicht, wie etliche wähnen, der missionarischen Spendung entnommen, sondern in der Kirche aller Zeiten mit Recht als Zeichen und Zeugnis der Abkehr von der Welt der Finsternis, dem dann die glaubensvolle Zukehr zu dem König des Lichts Korrelat ist, aufgefaßt worden. – In die Taufhandlung gehört sie folgerichtig hinein, die bekannte Einrede zeigt nicht nur die Verkennung des Einzelstücks, sondern des Bekenntnisaktes überhaupt. Daß neben der fides reflexiva et discursiva auch eine fides directa besteht, ist nicht ein Fündlein der alten Dogmatik, sondern ein aus tiefster Psychologie der Kindesseele erflossener Satz. Die Bindeglieder nun zwischen den einzelnen Hauptstücken der Taufe mag die Taufrede geben, welche den Segen des himmlischen Bades aufzeigen und die Größe des Tages betonen soll, an dem ein König ohnegleichen sich zu einem der Seinen neigt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein. Dabei soll die Pflicht der christlichen Erziehung um so mehr betont werden, als sie die eigentliche Voraussetzung für die Darbietung des Sakramentes überhaupt ist (μαθητεύσατε βαπτίζοντες. – dem ganz parallel διδάσκοντες τηρεῖν Matth. 28, 20) und je mehr die Tauffeier zu einem sinnigen Familienfeste herabgewürdigt wird, bei dem die Nebenumstände die Hauptsache verdrängen. Freilich bedarf der Täufer bei solcher Rede die Kraft, aus allerlei abschätzigen und anzüglichen Bemerkungen| sich nicht beirren zu lassen, ja auf die Einladung zu verzichten, deren Befolgung den Diener der Kirche oft in peinlichere Lage bringt, als deren Vermeidung. Trinkspruch und Taufrede reimen sich selten zusammen. Ein Diener aber des Herrn frage, wie Chrysostomus sagt, nicht ob er den Menschen, sondern ob er Gott gefalle.
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 c) Die Konfirmationsrede. Die Kirche der Reformation ist mit der Lehre von der Konfirmation noch nicht fertig, und erst die Not der kommenden Zeit wird sie zwingen, sich klar über Wesen und Unwesen der Konfirmation zu werden. Der Überschätzung mit der solennen Formel: Nimm hin den Heiligen Geist, der Lehre von dem sakramentalen Wert der Handlung, deren virtus ac valor in sehr allgemeinen Ausdrücken angegeben ward, ist notwendigerweise die Unterschätzung gefolgt: kirchlicher Abschluß der Schulzeit, daneben noch Mündigerklärung der Kirchglieder und Zulassung zum Herrenmahl, beides als schmückende Sinnigkeiten. Der feierlichen Absage und Zusage des Taufgelübdes, der Verpflichtung zur Treue gegen die Bekenntniskirche tritt jetzt das Bestreben entgegen, keine Verpflichtung „drückender Art“ dem Kinde aufzulegen, als ob es andre Verpflichtungen gäbe als eben drückende für den nämlich, der sie nicht will, denn die Verpflichtung, welche die Kirche auflegt (I. Tim. 4, 14, I. Tim. 6, 11 ff.) ist nimmer eine Kette, die sich um den Fuß schlingt und den wahren Lebensmut niederschlägt, sondern ein fester sichrer Stab, an dem sich’s gut gehen läßt, ohne daß der Gang unstät und der Weg unsicher wird. Ob nicht Konfirmation| und Abendmahlsfeier getrennt werden soll, fragen mit Stöcker die einen, ob nicht die Konfirmation rein katechetisch gehalten werden muß als Ausweisung, welchen Ertrag der Katechumenat gehabt hat, die andern. Man nehme zunächst die bittersten Schäden wahr, teile die Konfirmandenmassen in übersehbare Gruppen, konfirmiere nicht zu frühe, im übrigen aber bleibe man bei der Erneuerung des Taufgelübdes: abusus non tollit usum. Daß Tausende nicht fähig sind, die einzelnen Stücke verstandesmäßig sich zu vergegenwärtigen, unter andren sich allzuwenig denken, berechtigt die Kirche, so lange sie nicht zur Gesinnungsgemeinschaft geworden ist, weil sie eben στῦλος καὶ ἑδραίωμα τῆς ἀληθείας ist, Stütze und Stützpunkt der Wahrheit (I. Tim. 3, 15), wahrlich nicht, von der Forderung des Bekenntnisses abzusehen, dessen Irrelevanz zugeben sich vom Herrn verlieren heißt. Dies vorausgeschickt wird die Konfirmationsrede den Kindern in kurzem zu zeigen haben, was die Kirche für sie und an ihnen getan hat, indem sie Jesum (Gal. 3, 1) vor Augen malte, den ganzen Jesus der Schrift und der Geschichte, was die Kirche um Jesu willen getan und gelitten hat und wie es Pflicht des einzelnen sei, auf diese Kirche stolz zu sein und groß von ihr zu denken, die eben in ihrer konfessionellen Besonderheit nicht im wirren Streit, aber in der wahren Behauptung ihrer Gnadengaben, der Gaben der ursprünglichen ecclesia vere catholica sich bewege und bewahre, ihr Dienst und Treue zu halten. Je weniger rührselig diese Ansprache ist, je mehr sie auf den Willen geht, daß er es für Schande achte, Jesum und die Kirche zu verleugnen und am Traualtar der Konfirmation| leichthin zu vergessen, desto mehr hat sie ihren Zweck erfüllt. Zu warnen ist davor, daß der Konfirmator auf dem Dorfe die Gefahren des Stadtlebens ausmale, als ob nicht auf dem platten Lande die Seelen auch gefährdet wären. Durch solche Mahnungen wird der Pharisäismus genährt, der schlimmer ist wie das Stadtleben.
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 d) Die Beichtrede. Es ist kaum zu tadeln, wenn auf dem Lande, wo der Geistliche in der Frühlings- und Herbstzeit je sechs Kommunionsonntage vor sich hat, er ein und dieselbe Beichtrede den Samstag über Samstag zur Beichte Erscheinenden darbietet. Sie wird ja bei den Eheleuten andere Formen annehmen müssen als bei der heranwachsenden Jugend, an Schüler sich anders wenden als an Greise. Aber die Hauptgedanken bleiben doch dieselben: der Mensch prüfe sich selbst (I. Kor. 11, 28), damit er nicht an dem Kreuzestode des Herrn von neuem Schuld trage (Hebr. 6, 6), und statt mit dem Arzte seiner Seele, dem Lebensfürsten, in Verbindung zu treten, mit dem schrecklichen Richter sich begegne. Denn daß jeder Nachtmahlsgast von der Persönlichkeit Jesu Reales empfängt, ist wiederum nicht dogmatische Ausklügelung sondern in der Natur der Sache belegene Wahrheit. Der das Sakrament in feierlichster Weise einsetzte – die neuesten Fündlein von Paulinischer Erfindung und Anlehen an syrische Mysterien können füglich übergangen werden – hat, wie immer seine Worte verstanden werden mögen, im Zeichen und Sinnbild Wirklichkeiten geben wollen, mit denen jeder in Zusammenhang kommt, der sie nimmt. – Welche| Wege zur Selbsterkenntnis führen, werde angezeigt, das Urteil der Welt in seiner Wandelbarkeit, der Umgebung in ihrer Wechselhaftigkeit, des Gegners mit dem scharfen, des Freundes mit dem ernsten, treuen Blick, wie das Gesetz das vernichtende, Jesu Vorbild das klarste und ernsteste, aber auch barmherzigste Urteil spricht. Denn nicht gelte es zu fragen: Was würde Jesus hier tun oder getan haben, sondern zu erkennen, was er getan hat und wie wir, an ihm gemessen, auf tausend nicht Eines antworten können. Die alte Haustafel, das sechste Hauptstück des kleinen Katechismus müssen beigezogen werden, nicht um zu „Standespredigten“ den Text zu geben, sondern um die allgemeine Sündhaftigkeit, deren Erkenntnis ebenso schwer als das Bekenntnis bequem ist, am einzelnen zu erweisen. Die alte Einteilung der Sünden mag fremdartig anmuten. Aber an ihrer Hand wird die Unterlassungssünde (Jakob. 4, 17; dieser Brief ist überhaupt als Beichtspiegel sonderlicher Art zu brauchen. Kögels Bibelstunden öffnen sein Verständnis) erklärt, die „Sündhaftigkeit kleiner Sünden“ (es sei an das tiefe Büchlein des Londoner Bischofs Jakson, das auch in deutscher Übersetzung von Pfr. Holtey vorliegt, erinnert) aufgezeigt, vor allem aber der Ernst des durchsündeten Zustands erläutert. Die Jugend mag der Übereilungs-, das spätere Alter der Beharrungssünde zu zeihen sein. Aber in allem Ernste der Bußpredigt – mea peccatilla coram te quanta peccata! – habe doch Jes. 40, 1 den Grundklang! Von dem schweren nächtigen Hintergrunde der Sünde hebt sich seit dem großen Dienst der Fußwaschung von Erdenstaub und| Tagessünde die erbarmende Gnade ab, die nicht nur vergeben, sondern vergessen will. Das macht es, daß nicht fleischlicher Eifer, etwa gar persönliche Gereiztheit und Verletztheit in der Beichtrede das Wort führt, sondern das herzliche Mitleid aus der Erkenntnis des eignen Wesens: noli erubescere, mi frater, profiteri tua peccata, nam nescis utrum non commiserim ego maiora quam tu peccata – und die große Freude an der Sonne, vor der alle Nebel zergehen.
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 e) Die Traurede. Sie scheint mir wenigstens noch schwerer als die Trauerrede. Hier ist doch mit einem abgeschlossenen Leben und über ihm zu handeln, an das weder Forderung noch Erwartung sich wendet, aber dort beginnt ein neuer Pflichtenkreis, der in sich die Möglichkeit trägt, weitere Lebensverhältnisse auszugestalten. Die aber den Bund schließen, wollen auf die ewigen Grundlagen jeder Lebensordnung und auf die Verpflichtung zur Selbsterziehung, zur gegenseitigen Förderung in der Erkenntnis des Einen und Notwendigen hingewiesen werden. Dazu bedarf es eingehenderer Kenntnis der Charaktere, als gemeinhin möglich ist, den Mut, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie verletzen kann, den Verzicht auf den Ruhm einer schönen Rede. Denn der Diener des Wahrhaftigen ist nicht zur Dekoration einer Feier bestellt und bestimmt, die nur durch seine Beiziehung ihre Zugehörigkeit zur Kirche bekundet, sondern zur Schärfung des Gewissens und zur Ermahnung, Treue zu halten. Die Arabesken, welche die Hochzeitsfeier umschlingen, zu winden bleibe andren überlassen. Löblich ist es, wie Kögel z. B. es gerne tat, die Konfirmationssprüche der Brautleute zum| Texte zu wählen, besser noch, wenn die Brautleute selbst ein Gotteswort angeben, in dem, was sie brauchen und geloben, gefunden werden soll. Jedenfalls soll keine Kasualrede so vorsichtig und weitsichtig, so schlicht und so ganz aus dem Worte Gottes heraus gehalten werden wie diese, der die Gefahr dichterischer Trivialität und sentimentaler Allgemeinheiten am meisten droht.

 f) Die Trauerrede (Leichenpredigt). Es ist viel gefragt worden, ob die persönlichen Verhältnisse eingehend oder nur kurz gestreift werden sollen, ob vom Toten viel gesprochen oder möglichst geschwiegen werden soll. Es scheint nur Mannesmut, wenn das Leben des Abgeschiedenen mit Ernst gerügt wird, und wenn er zu den höheren Schichten gehörte, mag es auch wirklich Mut sein, der bei den Frommen als Freimütigkeit empfunden und gepriesen, wohl gar zum Ruhm eines „sozial empfindenden“ Geistlichen verhelfen wird. Und doch ist es nur dann rechter Mut, wenn das Urteil über dem Toten – denn die Kirche hält nicht Totengerichte, sondern tut wie I. Petri 2, 23 geschrieben ist – vordem an den Lebendigen ob auch unter vier Augen, unter denen man sich die besten Freunde und die schlimmsten Feinde erwirbt, gelangt ist. Wenn die suchende, mahnende, strafende Seelsorge nicht geübt ward, dann ist es nicht recht Gericht zu üben, dann ziemt es sich zu schweigen und vorher das eigene Gewissen anzuklagen. War aber vorher Mahnung erfolgt, dann soll auch am Grabe das Zeugnis wider das Unrecht nicht verstummen, sondern klar und deutlich, aber ohne Schärfe sein: Röm. 12, 19.

|  Freilich häufiger und gefährlicher ist das eitle, törichte Menschenlob an den Gräbern, das dem Worte Gottes Gewalt antut, um Menschen selig zu preisen und Großtaten herauszuheben, die vor Gott anders gewertet sind. Es ziemt sich ja nicht, derer zu vergessen, in denen Christus Gestalt gewonnen hat: sie sind Führer, die das Wort Gottes gelebt haben, so verdienen sie Dank und Nachfolge. Aber die Hervorhebung der bürgerlichen Gerechtigkeit, als ob sie ein Anrecht auf den Himmel sichere, der Leistungen im öffentlichen Leben, als ob auf sie der Trost im Tode gegründet werden dürfte, ziemt sich nicht. Und es bleibt die Wirksamkeit des Geistlichen, dem die Unwahrhaftigkeit das Rückgrat gebrochen hat, für alle Zeiten gelähmt. So wird es ratsam und dienlich sein, von dem Verstorbenen möglichst wenig und knapp zu reden, damit der Vollton des Gotteswortes mit seinem Gerichte und Troste, die Gewalt des Todes, den Gottes Liebe in eine „gnädige zeitliche“ Strafe gewandelt hat, und der Sieg des Lebens gehört und gespürt werde. Am offenen Grabe trifft die Kirche die ihrer Entwöhnten und ihr Entwichenen: da soll sie suchen, im Ernst der Liebe werben, angesichts der Eitelkeit aller Dinge das Ewige ins volle Licht rücken, zur Buße mahnen und die Vergebung anbieten. Prunkreden mögen die Rhetoren halten, die jetzt jeder Verein stellt; die Kirche aber bleibe beim Worte! Es liegt auch manchem Geistlichen nahe, mit Dingen zu trösten, die entweder nicht feststehen oder, wenn sie feststehen, nicht allewege trösten, so mit dem Wiedersehen, als ob jenes Wiedersehen| Luk. 16, 23 tröstlich gewesen wäre und als ob wiederum jene Stelle Philem. 15 beweiskräftig genug wäre. Kräftig und kraftvoll ist nur das Pauluswort, das eigens für das Weh des Scheidens geprägt ist, Röm. 14, 8 und I. Thess. 4, 17: πάντοτε allerorts und aller Zeiten werden wir mit dem Herrn sein. Es ist unaussägliche Zartheit Gottes, daß er, dessen ewiges Abbild und eingeborner Sohn in den Lagen seines Fleisches Tränen dargebracht hat (Hebr. 5, 7) und vor dem Tode erschauerte (Joh. 11, 38), alle Tränen abwischen wird, nachdem dieser sein Sohn überwunden hat (Offbg. 5, 5; 21, 4). Das „Weine nicht“ aber, das der für alle den Tod geschmeckt hat zur tiefsten Trauer sprach, ein Wort des treuen Mitleids und des herzlichen Mitwissens mit aller θλῖψις καὶ στενοχωρία dieser Welt, soll an den Gräbern immer wieder bezeugt werden. Rührung zu wecken ist leicht, sie zu heiligen schwer; es gibt unwahre Tränen der Scheintraurigkeit, dann der weltlichen Traurigkeit, – die wahren Tränen aber wollen in der Arbeit trocknen und die sie haben, überwinden das Leid durch größere Treue. –
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 Leicht kann noch die Frage erhoben werden, ob denn immer geredet sein müsse, ob nicht durch Darbietung von Schriftworten und kurzem Gebete oft mehr gedient werde. Wenn nicht bei den Armenleichen mit dieser Weise begonnen wird, so mag es nur gut sein, mit ihr zu beginnen. Es wird ein geeigneter Schriftabschnitt, wie sie jedes Kirchenbuch aufweist, ein Gebet (wohl auch ein freies, wenn es nicht erst der Augenblick schafft) wohl empfunden werden. Daß über dem Grabe das Jahrhunderte| überdauernde Gotteswort ertönt, ist oft der beste Trost.

 g) Die übrigen Kasualreden (politische, kirchliche). Die politische, wie sie an den Festen des Landesherrn, in Kriegszeiten geboten ist, sei nicht ein geschichtlicher Aufsatz, nicht ein byzantinisierender Huldigungsakt, sondern schärfe die Pflicht gegen die Obrigkeit, danke für den von ihr gewährten Schutz, finde den Ton treuer Anhänglichkeit und lasse das Gebiet, das nicht in das Gotteshaus paßt. In den Kriegspredigten und -reden nur von den Feinden und deren Schändlichkeit zu reden würde der Kirche nicht anstehen, die in der Welt, nicht von der Welt ist und Leidenschaft nicht wecken, sondern rügen soll, wobei das Zeugnis der Wahrheit gegen Unbill und Unrecht und das Wort des Dankes für göttliche Bewahrung des Volksgewissens und die Reinigung seiner Eigenart nicht fehlen soll.

 Ansprachen vor Amtsbrüdern, etwa in Synoden, unterstehen der schärfsten Kritik, sagt man, und sind doch so einfach, wenn der Geistliche sich selbst die Predigt hält. Dann wird der Bußton und die Stimme der Ermahnung und des dankbaren Preises für die Nachsicht des Erzhirten das rechte Wort finden. Wer unter seinem Volke amtlich wandelt und nicht erst am Synodaltage ihm zu predigen anfängt, wird erfahren, was Luk. 22, 32 verheißen ist. Dem nach eigner Bekehrung Trachtenden wird das echte Wort gegeben (Matth. 10, 19) werden. – Es sollen ja nicht programmatische Erklärungen ausgesprochen, nicht weltbewegende Reformen eingeleitet und bevorwortet werden, sondern nur das Wort gelten, das nach alter Überlieferung| Petrus an Klemens von Rom sprach. Ne refuge suscipere ecclesiae gubernacula, peccati periculo deterritus, quin potius statue te plus peccare, si populum dei in mediis fluctibus periclitantem, cum possis iuvare, tua opera destituas. Si autem pro omnium salute invigilabis, pro omnium salute praemia accipies. Will man aber die Mahnung Bernhards (serm. XII in cant. Reden über das Hohelied, deutsch von Pfr. Fernbacher) dabei beachten: Fratres revereamur episcopos, sed vereamur labores eorum, si labores pensamus, non adfectemus honores, so wird das beiden Teilen frommen.

 Wenn endlich den Silvester- und Neujahrspredigten noch ein Wort gegeben werden soll, so rät man, falls beide zu halten sind, Texte zu nehmen, die sich nach Sinn und Bedeutung ergänzen, so aus dem 90., dem 103. Psalm, aus Jak. 4, 14 bzw. 15, aus II. Joh. den 2. Vers nach seinen beiden Teilen, aus Matth. 6, 33 u. 34. Rückblick und Ausblick finden sich in dem prüfenden Einblick zusammen: für den Jahresschluß wird illustrierendes Material genug vorhanden sein, Vergleiche des neu beginnenden Jahres mit Jahrhunderterinnerungen können wirksam angestellt werden. Dank und Gelübde behalten den Hauptton.

 h) Schlußbemerkungen zur gesamten Predigttätigkeit. Die Auswahl der Lieder sei sorgsam, so gewiß die Gemeinde sich oft mehr am Lied als am Wort erbaut. Zu diesem Behufe muß man sein Gesangbuch kennen und lieben, nicht an den engen Umkreis von etlichen zwanzig Liedern sich binden lassen, sondern bald dahin, bald dorthin greifen, auch Verse mitten herausholen,| damit herrliche Lieder, nur weil sie lang sind, nicht bloß nach den ersten und letzten Versen bekannt sind und bleiben. Es ist durchaus nicht notwendig, daß der Gesang knapp an die Perikope sich anschließe, aber notwendig ist, daß der Schlußgesang das dankende Amen der Gemeinde auf das Gehörte wenigstens ermögliche. In der Wahl des Liedes erkennt man die innerliche Sorgsamkeit und in der Wahl der Melodie das Verlangen, die Gemeinde froh zu stimmen. Man habe auch den Mut, viel singen zu lassen: lieber kürze man die Predigt ab als das Lied. Die Gemeinde singt gerne, und die ψαλμοὶ καὶ ᾠδαὶ (Kol. 3, 16) πνευματικαὶ haben ihr gutes Recht und wollen und sollen es haben.
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 Die Gefahren des Predigers sind das schmeichelnde Lob und der verbitternde Tadel, denn beide führen zur Lässigkeit und Lauheit. Dem Anfänger wird jene, dem älteren Prediger diese Gefahr mehr nahen. – Der jugendfrische, unmittelbare, frohgemute Anfänger, dem die eben vergangene Zeit noch den Wagemut gelassen und gestärkt hat, gewinnt durch Frische, wohl auch durch den feurigen Vortrag und durch manche gewagte Behauptung, die ihm willig nachgesehen wird. Der natürliche Mensch sieht es gerne, wenn um die Kanzel sich die Leute scharen, und hört das liebliche Getöne des Lobes mit Freuden. Das ist an sich erlaubt und gut. Aber die Gefahr der Selbstüberschätzung, die das Geschenk Gottes als eignes Vermögen ansieht und die Leistung je höher wertet, je mehr sie gefällt, wird von dem Feinde aller Selbstzucht heraufbeschworen, der ein armes Menschenleben von dem Quell der Wahrheit| scheidet und in ein Scheinleben führt, das unter dem Verdikt des Pauluswortes steht (Gal. 1, 10). So entstehen die Lieblingswendungen in den Predigten, die Lieblingsworte und die Lieblingsbilder, die im Zeitalter der Freiheit zum Formelhaften verkühlen und erstarren, („von heiliger Stätte grüße ich dich, Gemeinde des Herrn, mit heiligem Gruße“), es kommt eine neue Welt von Ausdrücken herauf, die der edlen geistlichen Beredsamkeit fremd sein sollte, der Fischer- und Zimmermannsstil Zinzendorfs feiert seine Auferstehung, der Feuilletonstil mit seinen geistreichelnden Aphorismen, mit den gesuchten Antithesen, kurz alles, was anzieht, ohne den Willen zu beanspruchen, wird erkoren. Und zu den äußerlichen Konzessionen an den Zeitgeschmack treten bald die inneren: man hält Gottes Wort für gebunden, sich aber nimmer an seine Autorität, hebt Apologien an, die das zu Beweisende beiseite lassen und das Bekannte und Zugestandene emphatisch verteidigen, will dem Verstande nahe bringen, was nur der Glaube fassen kann, wirbt in gesuchten Ausdrücken und Anreden an die lieben „Freunde“ oder an „die andächtige Gemeinde“ – beides soll sie erst werden – um die Gunst. Da man seine Zuhörer genau kennt und vor dem heiligen Gott, dem Feinde alles Scheinwesens und der Phrase, ja der frommen zumal (Jak. 3, 9 und Matth. 5, 37), sich nimmer scheut, wird man sicher und verfällt in das Gericht der Leerheit.
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  Wenn dann eine ernste Kritik das verwöhnte Wesen trifft, dann kehrt Bitterkeit der Überhebung und Anklage auf Mißgunst und Neid ein. Gott aber widersteht| den Hoffärtigen (I. Petri 5, 5). – Wohl dem Prediger, der dann einen Seelsorger unter seinen Amtsbrüdern hat, einen Konfessionarius, der nach harter Arbeit an sich das Recht hat zu sagen, ἀκαίρως εὐκαίρως, was dann Matth. 7, 4 Christenrecht und -pflicht ist. Ihm mag er seine Konzepte vorlesen, die bestgelungenen zumal und zumeist und sein Urteil willig auf sich nehmen, seiner Seele wird so vom Tode geholfen (Jak. 5, 20) werden. Wohl dem Prediger, der in seiner Gattin, da getraute Treue die beste Treue ist, sein Gewissen findet, daß sie den Mut der Wahrheit eben um der Liebe willen hat und sich nicht scheut, aus Christenverständnis heraus – daß sie dieses besitzt, sollte ja allewegen Voraussetzung sein dürfen – zu tadeln und zu warnen. Jener Besuch, den Tauler in der stillen Betstube empfing, eines „armen Laien“, der den Geist prüfen konnte, hat den frommen Prediger in die Stille der Buße, auf die Höhe des Siegs geführt. Wohl dem Geistlichen, dem aus der Gemeinde solcher Warner ersteht. Und wenn unverdienter Tadel den älteren Prediger trifft, der sein Bestes gibt und um seine Kanzel es einsam werden sieht, daß er glaubt, er arbeite vergeblich und bringe seine Zeit unnützlich zu, die Sonntagnachmittagsprediger, die oft wie Prediger in der Wüste stehen? Wohl auch ihnen, wenn sie gestützt, gestärkt und vermahnt werden, daß sie ihr Amt getrost ausrichten und Gott reden lassen, was er durch sie noch reden will. Wer an Sterbebetten Zeuge war, wie längst verstorbene Prediger in etlichen Herzen weiter lebten und gerade die schlichtesten Zeugnisse bis in den Abschied hineinwirkten, der dankt dem Herrn, der solche| Macht den Sündern gegeben hat, daß wer sie hört, ihn hören kann, und lernt nur immer wieder bitten. Qui tu sancto Isaiae inspirasti, inspira quaeso etiam mihi; nam nisi tu inspiraveris, non credemus, non intellegemus.





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