Der Aufstand der Muhamedaner im westlichen China

Textdaten
Autor: Friedrich Marthe
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Titel: Der Aufstand der Muhamedaner im westlichen China.
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aus: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. Zweiter Band. S. 142–156
Herausgeber: Wilhelm David Koner
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Dietrich Reimer
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Erscheinungsort: Berlin
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[142]
VI.

Der Aufstand der Muhamedaner im westlichen China.

Von Dr. F. Marthe.


Oberst A. K. Heinz, Mitglied einer Commission, welche im Auftrage der russischen Regierung die Kirgisensteppen bereiste, um Studien zur besseren Ordnung der Administration derselben zu machen, veröffentlicht im 3. Heft 1866 der „Nachrichten (Iswestija) der Kais. Russ. geogr. Gesellschaft“ einen Aufsatz über den Aufstand der muhamedanischen Bevölkerung oder der Dungenen im westlichen China, der verdient, in weiteren Kreisen bekannt zu werden. Die Quellen, aus denen der Verfasser geschöpft hat, sind zwar hauptsächlich mündliche Nachrichten, aber er hat es verstanden, durch Vergleichung und Combination derselben zu Resultaten zu gelangen, die das Gepräge der Glaubwürdigkeit an sich tragen. Wir werden im Folgenden die Hauptpunkte seiner Mittheilungen wiederzugeben versuchen.

Die Ableitung des Namens der Dungenen, oder, wie sie sich [143] selbst nennen, Turgenen, ist unsicher. Nach der Ansicht gelehrter Asiaten, welcher Oberst Heinz folgt, kommt das Wort vom türkischen turmak (turgan?) und bedeutet „Zurückgebliebene“, nämlich Zurückgebliebene vom Heere des Timur, nachdem dieser seinen Feldzug gegen China beendet hatte. Timur solle am Ili und seinem Quellflusse Tekes einen Theil seiner Krieger zurückgelassen haben, um sich die Straße nach China stets offen zu erhalten. Diese Tradition scheint so wenig haltbaren Boden zu haben, wie die Etymologie, welche ihr zur Grundlage dient, oder vielmehr der letzteren zuliebe entstanden zu sein. Sicher scheint nur zu sein, daß die Dungenen – Nachkommen der alten Uiguren sind, welche in Sprache, Sitte, Kleidung völlig Chinesen geworden, einen Theil der Bevölkerung in den Nordprovinzen des eigentlichen China, Kan-Su und Schän-Si bilden, von dem Chinesen sich aber dadurch scharf unterscheiden, daß sie den Islam bekennen. Von den eben genannten Wohnsitzen aus mögen sie sich in die Gegenden des Ili und des oberen Irtysch verbreitet haben, nicht umgekehrt. Die chinesische Benennung der Dungenen ist Choi-Choi oder nach Anderen Chui-Chui, womit andererseits generell Muhamedaner überhaupt bezeichnet werden[1]. Ueber die Bevölkerungsziffer der Dungenen, wie wir fortan die uigurischen Choi-Choi nennen wollen, schwanken die Angaben, Heinz schätzt sie auf mehr als 30,000,000, was Andere für übertrieben halten. Nach Heinz sind sie sehr strenge und gottesfürchtige Muselmänner, nach Radloff[2] erscheinen sie in religiöser Beziehung vielmehr lax und äußerlich. Heinz hat vernommen, daß die jetzt in China herrschende Mandschu-Dynastie sie durch schwere Steuern drückte, am Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts einen Befehl erließ, wonach die Männer den Zopf tragen, ihre Töchter die Füße nach chinesischer Weise verunstalten sollten, ja, daß sie selbst Versuche gemacht hat, die Töchter der Dungenen zu Heirathen mit nicht muhamedanischen Chinesen zu zwingen. Alles dies soll nach und nach die Dungenen in eine Erbitterung gegen die Mandschu versetzt haben, die endlich in dem jetzigen Aufstande sich Luft macht. Es muß dahingestellt bleiben, ob diese Angaben vollständig begründet sind. Was den Steuerdruck betrifft, so ergiebt sich aus der unten angeführten Darstellung, daß wenigstens die im Ili-Thal ansäßigen Dungenen nicht darunter zu leiden [144] haben. Die Motive und die Veranlassung des gegenwärtigen Aufstandes liegen überhaupt im Dunkeln. Heinz berichtet, daß er darüber die verschiedensten Erzählungen gehört habe.

Als die wahrscheinlichste Version – da sie von zwei Seiten übereinstimmend kam – giebt unser Gewährsmann folgende. In der Stadt Singan-Fu, Hauptstadt der Provinz Schän-Si, unfern des Weiho, lebten zwei reiche, vornehme Herren, der eine ein Mandschu, der andere ein Dungene. Der letztere kaufte dem ersteren einen großen Transport Vieh ab und weigerte sich aus irgend einem Grunde seine Schuld zu bezahlen. Darüber that der Mandschu dem Anderen öffentlich einen Schimpf an, der Dungene gerieth in Wuth (wie denn die Dungenen als hitzige, rasch zum Messer greifende Menschen geschildert werden), zog den Säbel und rannte ihn seinem Gegner durch den Leib. Nun rotteten sich die zahlreichen Klienten des Erschlagenen zusammen, lauerten dem Mörder auf, erschlugen ihn und verwüsteten sein Haus und alle seine Habe. Aus diesem Anlaß entspann sich ein allgemeiner Straßenkampf zwischen den Mandschus und den Dungenen von Singan-Fu. Beide Parteien standen sich an Zahl ungefähr gleich, aber die Mandschus, durch den unmäßigen Genuß des Opiums namentlich in letzter Zeit entnervt, erlagen ihren Gegnern, die so sich zu Herren der Stadt machten. Auf die Nachricht von diesen Vorgängen eilte aus Ssalar, der größten Dungenen-Gemeinde Chinas in der Provinz Kan-Su, Ssochunschan herbei, ein junger Mann von 21 Jahren, der Sohn eines gewissen Ssawun, welcher letztere bis dahin als das Haupt der Dungenen gegolten hatte, und übernahm die Führung des Aufstandes.

Am Hofe zu Peking wurde anfangs den Unruhen in Singan-Fu keine Bedeutung beigemessen, man hielt ein Corps von 1000 Mann für ausreichend, die Ordnung wieder herzustellen. Die Folge war, daß dieses Corps unter den Mauern der Stadt vollständig aufgerieben wurde. Das gleiche Schicksal hatte ein darauf entsendetes Corps von 10,000 Mann. Nun rückte eine Armee von 40,000 Mann gegen Singan-Fu vor, die Aufrührer zogen ihr mit gesammter Macht entgegen und lieferten ihr eine Schlacht, die mit einer vollständigen Niederlage der Kaiserlichen endete. Diese Dinge ereigneten sich im Jahre 1862.

Der Aufstand hatte sich unterdeß allmälich nach Nordwesten hin verbreitet, die große Gemeinde von Ssalar sich ihm angeschlossen. Von hier aus gingen geistliche Sendboten überall hin, wo Dungenen in größerer Zahl beisammen wohnten und riefen zum heiligen Kriege gegen die Mandschus auf. Es ist dabei zu beachten, daß die geistlichen Oberhäupter der Dungenen, die Imams und Achuns, zugleich in weltlicher Beziehung die reichsten und angesehensten Personen jeder [145] Gemeinde zu sein pflegen. Nach dem Beispiel von Ssalar müssen alle dungenische Männer, ohne Rücksicht auf Alter und körperliche Gebrechen, in den Krieg ziehen und ihr Vermögen in den Moscheen der gemeinschaftlichen Sache zum Opfer bringen. Wer aus Eigennutz etwas verheimlichen würde, würde sofort als Feind Gottes mit dem Tode bestraft werden. So groß ist indeß der Fanatismus, daß nach der Aussage eines der Gewährsmänner des Obersten Heinz dieser Fall noch gar nicht vorgekommen ist.

In allen Städten, wo die muhamedanische Bevölkerung einigermaßen zahlreich war, riefen die Aufwiegelungen der geistlichen Sendlinge blutige Zusammenstöße zwischen Dungenen und Mandschus hervor. Anfangs waren jene noch sehr schlecht bewaffnet, sie schlugen sich mit Keulen, Beilen, Schleudern, Lassos, Sensen; bald erstand indeß ein Künstler unter ihnen, der ihnen hölzerne Kanonen anfertigte, die bis zu 7 Schüssen aushielten. Mit diesen nahmen sie den Mandschus ihre Metallkanonen und die übrigen kriegsgerechten Waffen ab. Wie in Singan-Fu, so wurde auch in vielen anderen Städten der mandschurische Theil der Bevölkerung theils vernichtet, theils vertrieben, in manchen behaupteten sich dagegen die Mandschus und verjagten die Dungenen. In solchen Fällen soll es vorgekommen sein, daß die Letzteren ihre eigenen Kinder und Frauen tödteten, um sie nicht in die Hände ihrer ungläubigen Gegner fallen zu lassen.

Das Finanzwesen der Aufständischen scheint wohl geordnet zu sein. Jede Moschee führt eine aus den Vermögensopfern der Gemeindeglieder gebildete Kasse, aus welcher der Unterhalt der Krieger und ihrer Familien, sowie die Auslagen zur Fortsetzung des Kampfes bestritten werden. Außerdem sind einige Centralkassen gegründet, die durch bestimmte Beiträge der localen Moschee-Kassen und durch den Ertrag der gesammten Kriegsbeute gefüllt werden. In der Ili-Provinz bestehen drei solcher Hauptkassen: in Kuldscha, Tugus-Taran (am Ili) und Bajandai; andere Central-Finanzdepots sind in Urumtschi, Manassy, Karassu, Kutscha, Karaschar, Chomul, Dschajewan, Kunu-Turfan errichtet. Die Moscheen liefern den Kriegern vollständige Bekleidung und Bewaffnung; wenn etwas daran verdorben ist, so haben sie es dem Kriegsmanne wieder herzustellen; es sind daher stets eine Menge Arbeiter, theils Dungenen, theils Kriegsgefangene, bei den Moscheen beschäftigt. Die Mahlzeiten der Dungenen geschehen, wie die der Spartaner, gemeinschaftlich. Während eines Gefechts ist für eine bestimmte Anzahl von Kämpfern ein Mann aufgestellt, der, zur activen Theilnahme am Kriegsspiel untüchtig, stets zwei Gerichte bereit halten muß, ein kaltes und ein warmes, um je nach Bedürfniß die Kräfte der Kämpfenden zu erfrischen. Für die Verwundeten sind Lazarethe [146] bei den Moscheen errichtet, in welchen die Mullas, Imams und Achuns als Aerzte fungiren. Plünderung ist streng verboten. Wenn ein Dungene auf dem Schlachtfelde sich fremdes Gold, Silber, Waffen oder sonst ein Werthstück aneignet, so wird er sofort mit dem Tode bestraft, ebenso derjenige, der seinem Vorgesetzten den Gehorsam verweigert. Nach der Schlacht wird alle Beute gesammelt und an die Centralkassen abgeführt. Eine sehr strenge Strafe erleidet auch derjenige, der beim Tabak- oder Opiumrauchen und beim Weintrinken ertappt wird. Die Offiziere genießen keinerlei materiellen Vorzug und erhalten aus den Kassen nicht mehr Sold als jeder Gemeine.

Als Haupt der Dungenen gilt der oben genannte Ssochunschan, der, sehr tapfer und intelligent, die Mandschus bis jetzt überall geschlagen hat und daher trotz seiner Jugend im größten Ansehen steht. In militärischen Angelegenheiten verfügt er allein und unbeschränkt. Die Administration verwaltet ein aus den erfahrensten und berühmtesten Muftis und Achuns zusammengesetztes Collegium, welches Ssochunschan stets begleitet. Nächst Ssochunschan genießt das höchste Ansehn der alte Aji-Achun, der 15 Jahre zu Mekka im Gebet zugebracht hat und jetzt der wichtigen Ili-Provinz vorsteht.

Anfangs ließen die Aufständischen in den Gegenden, die sich ihnen unterwarfen, den mandschurischen Verwaltungsapparat mit den früheren Beamten fortbestehen, sofern die letzteren sich der neuen Autorität fügten. Bald aber stellte sich heraus, daß diese im Geheimen ihre Verbindung mit den kaiserlichen Behörden fortsetzten und ihnen die Pläne der Insurgenten verriethen. Seitdem wird mit allen Beamten nach dem kurzen Prozeß des Kopfabschneidens verfahren. Wohin die Dungenen jetzt dringen, reorganisiren und reformiren sie das Land nach ihrer Weise: alle Muhamedaner legen sogleich das chinesische Costüm ab und kleiden sich nach ssartischer (bucharischer) Art; die chinesischen und kalmükischen Tempel werden niedergerissen; alle Kinder ohne Unterschied werden in die Moscheen gebracht, um zum Islam erzogen zu werden. Chinesen, die sich dem Islam anschließen, genießen gleiches Recht wie die Dungenen; wer Buddhist bleibt, wird zum Arbeiter oder Hirten herabgesetzt. Den Frauen wird ein Glaubenswechsel nicht abgefordert.

Der Gang des Aufstandes in den inneren Provinzen Chinas ist nicht bekannt, doch scheint es, daß er im Ganzen dort weniger Erfolg gehabt hat. Dagegen befinden sich jetzt fast die ganze alte Dsungarei und das chinesische Türkestan, die Länder nördlich und südlich vom Thian-Schan, in den Händen der Insurgenten. Der Weg, den die Empörung dabei nehmen mußte, war ihr von Natur und Geschichte vorgezeichnet. Sich fortwälzend von Stadt zu Stadt, folgte sie einerseits der großen, am Nordfuße des Thian-Schan sich hinziehenden [147] Handels- und Völkerstraße, bis sie die äußersten Grenz-Handelsplätze, links abbiegend Kuldscha am Ili, rechts das nördlichere Tschugutschak erreicht hatte. Andererseits waren es in Türkestan die große, den Fuß seiner Umwallungsgebirge, des Thian-Schan, des Bolor, des Kün-lün begleitende Ringstraße, sowie die von Aksu nach Jarkand Nord-Süd gerichtete Querstraße, denen die Empörer nachgingen. Den Anfang ihrer Unternehmungen aber bezeichnete im Norden des Thian-Schan der Fall von Urumtschi. Seitdem muhamedanische Emissare und Flüchtlinge in das Gebiet dieser Stadt gekommen waren, begann es zu gähren. Die revolutionäre Propaganda fand hier selbst in der kaiserlichen Armee einen fruchtbaren Boden, da viele der dort stationirten Offiziere und Soldaten Dungener waren. Im Sommer 1864 erhoben sich die Dungenischen Soldaten unter Anführung ihrer Offiziere gegen die mandschurische Obrigkeit, nahmen Urumtschi mit Sturm und brannten einen Theil dieser ungeheuren Stadt, deren Bevölkerung (wahrscheinlich mit Zurechnung der nächsten Umgend) damals auf 2,000,000 geschätzt wurde, nieder. Großartige Theevorräthe gingen dabei zu Grunde, denn Urumtschi war der erste Handelsplatz des westlichen Chinas, welcher ganz Mittelasien und die russischen Steppenmärkte mit Thee versorgte[3]. Alle dort wohnhaften Mandschuren wurden erschlagen, nach offiziellen chinesischen Angaben belief sich die Zahl der Getödteten auf 130,000. Die in Urumtschi wohnenden Ssarten, d.h. alle nicht-dungenische und nicht aus Chinesisch-Türkestan stammende Muhamedaner sahen dem Kampfe der Mandschuren und Dungenen gleichgültig zu, aber die letzteren zwangen sie, sich ihnen anzuschließen, indem sie ihnen entgegengesetzten Falls mit gleicher Vernichtung drohten.

Von Urumtschi rückten die Insurgenten[WS 1] auf der großen Straße nach Westen gegen Manassy vor, bemächtigten sich hier einiger Geschütze und setzten dann ihren Marsch in der Richtung auf Kurkaraussu fort. Der Dsan-Dsun (Generalgouverneur) der Ili-Provinz warf den Empörern Truppen aus Kuldscha entgegen, welche geschlagen wurden und sich auf Bajandai zurückzogen. Die Aufregung begann nun auch unter[WS 2] den Dungenen und Ssarten im Ili-Thal.

Gleichzeitig mit der Bewegung gegen Manassy drang ein Insurgentencorps südlich von Urumtschi vor, überstieg den Thian-Schan und rückte in das Gebiet von Chinesisch-Türkestan ein. Hier traf der Aufstand auf ganz neue Verhältnisse, zu deren Aufklärung ein kurzer historischer Rückblick nöthig ist.

[148] Bis zum 9. Jahrhundert herrschte in dem ganzen Gebiet von Türkestan der Buddhismus, der von Tibet hierher sich verbreitet hatte. Seitdem kamen die Apostel des Islam von jenseit des Bolor und des Thian-Schan; ihren Anstrengungen gelang es, beinahe ganz Türkestan, vollständig wenigstens den westlichen Theil desselben, zum Islam zu bekehren. Unter den Glaubenspredigern von Türkestan befinden sich manche in der muhamedanischen Welt hochberühmte Namen. Einer von ihnen war der Chodscha (Nachkomme des Muhamed) Machtuma-Asam, der in der türkestanischen Stadt Kaschgar, so lange er lebte, die größte Verehrung genoß. Nach asiatischer Sitte wurde diese Verehrung auf seine beiden Söhne Ischan-Kalan und Isaak-Wali übertragen; aber die beiden Brüder wurden uneins, und die Verehrer des Machtuma-Asam spalteten sich in zwei Parteien. Die, welche es mit Ischan-Kalan hielten, nannten sich die Weißberger oder Weißmützen, die Anhänger von Isaak-Wali hießen die Schwarzberger oder Schwarzmützen. Bald schied sich die ganze muhamedanische Bevölkerung von Alty-Schähär, der türkestanischen Hexapolis, in diese beiden Parteien: die nördlichen Städte Kaschgar, Usch-Turi fan und Aksu traten für die Weißmützen ein, Jarkand, Chotan und Janyssar für die Schwarzmützen.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde der Einfluß der Chodschi im Alty-Schähär so mächtig, daß sich die Linie der Weißmützen der weltlichen Herrschaft in Kaschgar und Jarkand bemächtigen konnte. Dieses Ereigniß gab den Anstoß zu einer Reihe blutiger Kämpfe zwischen den Weiß- und den Schwarzmützen, bis endlich, wie so häufig in Bürgerkriegen, eine fremde Macht sich einmischte, die Kalmüken, und schließlich ganz Alty-Schähär unter die Herrschaft derselben gerieth. Das Kalmükenland aber, die alte Dsungarei, verfiel seinerseits im Jahre 1757 nach furchtbaren Schlächtereien der Herrschaft der Chinesen und eben derselben drei Jahre später auch Alty-Schähär.

Damals waren von der einst zahlreichen Familie der Chodsch nur noch zwei Vertreter übrig, Ssarym-Ssak von den Weißmützen und Nasyr-Chodscha von den Schwarzmützen. Beide fanden nach langen Irrfahrten eine Zuflucht in dem Chanat von Chokand, ohne indeß im Mindesten von dem alten gegenseitigen Familienhaß selbst im Exil abzulassen. Von hier aus zettelten sie und ihre Nachkommen mit chokandscher, keineswegs uneigennütziger Unterstützung mehrmals Aufstände in Alty-Schähär gegen die Chinesen an. Durch solche sind bezeichnet die Jahre 1827, 1829, 1847 und 1857; alle endigten, nicht ohne Schuld der verrätherischen Politik Chokands[4], für die Prätendenten [149] unglücklich, die chinesische Herrschaft wurde unter Strömen von Blut stets wieder hergestellt, während Chokand, was es wünschte, immer bedeutendere Handelsvortheile in Kaschgar zugestanden erhielt.

Sehr verschieden von dem Verhalten der sechs westlichen Städte Türkestans war das der östlichen: Kutscha, Karaschar, Kuni-Turfan und Chamil. Diese haben zwar größtentheils auch eine muhamedanische Bevölkerung, nahmen aber an den Streitigkeiten der Chodschi und ihren Aufständen gegen China niemals Theil, weil sie, näher dem eigentlichen China gelegen, weit mehr unter dem Einflusse der chinesischen Civilisation standen. Muhamedanische Soldaten aus diesen Städten und Dungenen dienten in den kaiserlichen Armeen, welche die Aufstände der sechs westlichen Städte niederschlugen. Andererseits mordete die fanatische Bevölkerung der letzteren ohne Unterschied Dungenen, Mandschuren und Chinesen.

So zerfallen die muhamedanischen Bewohner des chinesischen Türkestan in drei scharf geschiedene Theile: die Weißmützen, die Schwarzmützen und die Osttürkestaner. Das divide et impera bot sich der chinesischen Politik von selbst dar, erhielt sie bis jetzt aufrecht und – mag sie vielleicht noch fernerhin aufrecht erhalten.

Im Sommer 1864 nahmen die Dungenen nach Ueberschreitung des Thian-Schan die Richtung gegen Kutscha. Nachdem sie die in der dortigen Gegend stationirten muhamedanischen und dungenischen Soldaten zu sich herübergezogen hatten, bemächtigten sie sich der Stadt und hieben wiederum alle Mandschuren nieder. Die muhamedanische Bevölkerung mußte sich nothgedrungen ihnen anschließen. Zum Befehlshaber der Stadt und ihres Gebiets wurde ein Chodscha aus der Dynastie der Schwarzmützen eingesetzt, Chan-Chodscha.

Bedeutend verstärkt, wandten sich die Dungenen nun gegen Aksu, schlugen hier eine kaiserliche Truppenabtheilung und setzten sich in den Besitz der Stadt und ihrer Citadelle. Aksu ist ein wichtiger strategischer Punkt, weil sich die Straßen von Kuldscha, Kaschgar, Jarkand, Chotan und Kutscha hier kreuzen. Auch diese Stadt wurde dem Chan-Chodscha untergeordnet und darauf der Marsch nach Jarkand, welches stets zu den Schwarzmützen hielt, angetreten. Es wurde genommen.

Wahrscheinlich würden nach Heinz auch Kaschgar und Chotan[5] [150] in die Hände der Dungenen gefallen sein, wenn nicht plötzlich die Nachricht vom Anrücken bedeutender mandschurischer Streitkräfte aus dem inneren China sie veranlaßt hätte, Jarkand mit Hinterlassung einer Garnison unter dem Commando des Chan-Chodscha zu räumen, um nach Norden zurückzugehen und sich in Urumtschi, dem zunächst bedrohten Punkte, zu concentriren.

Um diese Zeit etwa muß der Aufstand auch in Chamil ausgebrochen sein, wenigstens war um die Mitte des Jahres 1865 die mandschurische Autorität dort vernichtet.

Bald trat eine Wendung der Dinge auch in Kaschgar ein. Bsruk-Chan, der Vertreter der Weißmützen-Dynastie, benutzte die in Folge der Verwickelungen mit Rußland in Chokand eingetretene Unordnung, um aus Andidschan, wo er internirt war, zu entfliehen. Er kam ohne Mannschaften, ihn begleitete nur ein ehemaliger chokandscher Offizier, Jussuf-Bek, früher Commandant von Ak-Metschet (jetzt das russische Fort Perofski), aber der Name Bsruk-Chans wog in Kaschgar eine Armee auf. Der letzte Aufstand von 1857 war hier von dem Bruder Bsruk-Chans unter dem Ruf: Es lebe Bsruk-Chan! angestiftet worden, und als er unglücklich endigte, trösteten sich die Fanatiker von Kaschgar mit dem Worte: „Wenn Bsruk-Chan zu Pferde steigt, wird Alty-Schähär frei!“ Beim Erscheinen des so lange Ersehnten erhob sich die ganze Stadt und schloß die mandschurische Besatzung in die Citadelle, den „Rosengarten“, ein. Im September [151] 1865 mußte sie die Waffen strecken und erhielt das Leben unter der Bedingung der Annahme des Islam.

Nun brach aber der alte Zwiespalt zwischen den Schwarzmützen und den Weißmützen wieder hervor. Chan-Chodscha, das Haupt der Schwarzmützen und dungenischer Statthalter in den übrigen Städten von Türkestan, forderte, daß Bsruk-Chan sich den Dungenen unterordne. Als er eine abschlägige Antwort erhielt, rückte er mit seinen Truppen aus Jarkand gegen Kaschgar vor. Bsruk-Chan suchte zu unterhandeln, er stellte seinem Gegner vor, daß jetzt nicht die Zeit sei, den alten Familienstreit wieder aufleben zu lassen und versprach eine bedeutende Summe Geld, wenn Chan-Chodscha ihn im ruhigen Besitz von Kaschgar lassen wolle. Dieser verlangte die Uebergabe der Stadt. Es kam zur Schlacht, Chan-Chodscha wurde geschlagen und floh nach Jarkand zurück. Die dungenische Besatzung versprach, diese Stadt gegen Bsruk-Chan bis auf den letzten Mann zu vertheidigen, während Chan-Chodscha nach Kutscha eilte, um Verstärkungen herbeizuziehen. Bald zog nun eine starke Macht aus Kaschgar gegen Jarkand. Einige Hundert fanatischer Dungenen warfen sich ihr entgegen, schlugen sie und nahmen Bsruk-Chan selbst gefangen. Dies geschah im October 1865 und damit endigen die Nachrichten, welche Oberst Heinz über den Stand der Dinge in Chinesisch-Türkestan erfahren konnte.

In Kuldscha entbrannte der Aufstand im August 1864. Zwölf Tage lang dauerte der Straßenkampf und endigte damit, daß die schlecht bewaffneten Dungenen die Flucht ergreifen mußten. Sie retteten sich nach Alt- oder Tatarisch-Kuldscha und auf die Dörfer der Tarantschi, der tatarischen Ackerbauer, die von den Chinesen nach Vernichtung der Kalmüken im Ili-Thal aus Alty-Schähär hierher übersiedelt wurden und allerdings durch Abgaben und Frohndienste allerlei Art schwer gedrückt sind. Der erste Mißerfolg der Dungenen hatte zur Folge, daß die eigentlichen Chinesen sich energisch der Sache der Mandschu anschlossen. Dadurch verstärkt konnte der Dsan-Dsun mit bedeutender Heeresmacht gegen Alt-Kuldscha ausziehen, wo die Dungenen sich stark verschanzt hatten. Aber hier wandte sich das Blatt, der Mandschu-General wurde geschlagen, verlor seine ganze Artillerie und rettete sich mit Noth in die Citadelle von Kuldscha. Die Dungenen nahmen nun die Stadt in Besitz und schlossen die Citadelle eng ein; die Tarantschi traten überdies jetzt offen auf ihre Seite.

Die gleichzeitigen Fortschritte der Dungenen auf der Nord- und der Südseite des Thian-Schan entschieden das Schicksal der Ili-Provinz. Kuldscha, die Hauptstadt derselben, war durch die Besetzung [152] von Kurkaraussu in der Dsungarei und Aksu in Türkestan vollständig von Peking abgeschnitten; die Verbindung mit der Reichshauptstadt war jetzt nur noch durch Couriere auf großen Umwegen über russisches Gebiet herzustellen. An militärische Verstärkung der entfernten Grenzprovinz war nicht mehr zu denken. So nahmen denn auch die Dungenen ohne Mühe die kleineren Städte des Ili-Gebietes und die Festungen desselben: Turgen, Tschan-Pandsy und Bajandai; in der letzteren fielen beträchtliche Proviantvorräthe in ihre Hände.

Im Laufe des Jahres 1865 fielen verschiedene Zusammenstöße zwischen den Mandschus und den Dungenen im Ili-Lande vor, wobei die ersteren stets den Kürzeren zogen. Die Tschämpän, chinesische Verbrecher, die hierher verbannt sind und in Nothzeiten die Verpflichtung zum Kriegsdienste haben, ein wildes, verwegenes Volk, das sich im Kriege stets gut bewährte, z. B. in den Kämpfen mit Alty-Schähär, liefen den Dungenen gegenüber auseinander. Die Schibä und Solon, daurische Militär-Colonisten, eine Art chinesischer Kosaken, die im vorigen Jahrhundert nach der Eroberung des Landes hierher verpflanzt wurden, vertrugen sich mit den Dungenen und retteten Leben und Besitz durch Annahme – des Islam. Im Herbst 1865 war die Citadelle von Kuldscha noch in den Händen der Mandschu, aber in schwerer Bedrängniß, es fehlte an Salz und Feuerungsmittel; ein Anerbieten der Uebergabe gegen freien Abzug wurde von den Dungenen zurückgewiesen. Nach den letzten Nachrichten des Obersten Heinz ist die tapfere Besatzung ihrem Schicksal erlegen, bei einem Sturm fast ganz zusammengehauen und ein großer Theil der Stadt Kuldscha dabei in Flammen aufgegangen. Was aus dem Dsan-Dsun geworden, ist unbekannt.

Nächst Kuldscha ist die bedeutendste chinesische Grenzstadt in diesen Gegenden das weiter nördlich liegende Tschugutschak, mit dem in neuerer Zeit ein stets wachsender Handelsverkehr aus Westsibirien sich entsponnen hat. Das dungenische Element war hier schwächer vertreten, und die Ruhe wurde während des ganzen Jahres 1864 nicht gestört, obwohl sich Dungenen und Mandschuren mit unverhohlenem Mißtrauen seit dem Beginn des Aufstandes einander beobachteten. Am Anfange des neuen Jahres 1865 machten die Dungenen der Stadt den Mandschu-Beamten den Vorschlag, in die Moschee zu kommen, um hier sich gegenseitig einen Eid zu leisten, daß weder die Mandschu etwas Feindseliges gegen die Dungenen, noch diese gegen jene unternehmen würden. Der Commandant der Festung und ein anderer General (Amban), der aus Kuldscha eingetroffen war, um jenen im Commando abzulösen, gingen auf den Vorschlag ein. Mit den beiden Ambans begaben sich acht Kalmüken-Oberhäupter, die [153] nach hergebrachter Sitte erschienen waren, um den chinesischen Oberbeamten den Neujahrswunsch darzubringen, nebst vielen anderen vornehmen Bewohnern von Tschugutschak zur festgesetzten Stunde in die Moschee. Plötzlich wurde diese von bewaffneten Dungenen umzingelt, gleichzeitig warf sich ein anderer Haufen derselben auf die Citadelle, bemächtigte sich der Geschütze und des Pulvers und hieb alle Mandschuren nieder, die sich ihm in den Weg stellten. Dasselbe Loos traf in der Moschee den greisen Commandanten, als er sich seiner Verhaftung widersetzen wollte, mit ihm fiel unter den Streichen der Dungenen der größte Theil der dort versammelten Beamten; die acht Kalmüken fanden nur darum Gnade, weil sie sich dem Islam zu unterwerfen versprachen. Zwei Tage lang wurde in den Straßen der Stadt gestritten, aber der Energie des jungen Amban, der aus der Moschee entkommen war, gelang es, die Citadelle ihren Angreifern wieder zu entreißen und sie zu halten. Die Dungenen mußten nun zu einer regelmäßigen Belagerung derselben schreiten, wobei die Moschee ihr Hauptquartier und Waffendepot wurde.

Für die Entscheidung des Kampfes in dieser Gegend hing alles davon ab, wie sich die um Tschugutschak wohnenden Nomadenstämme der Kirgisen und Kalmüken zu demselben verhalten würden. Die Dungenen gewannen den Beistand der Kirgisen, ihrer Glaubensbrüder, dadurch, daß sie ihnen die Stadt zur Plünderung überließen. Sofort aber nahmen die Erbfeinde der Letzteren, die Kalmüken, auf der entgegengesetzten Seite Standpunkt. Der chinesische Insurrectionskampf wälzte sich in die Auls der Nomaden hinüber. Das ganze Jahr 1865 verging unter unaufhörlichen Razzias zwischen Kirgisen und Kalmüken, bis endlich sich ein entschiedenes Uebergewicht der Letzteren herausstellte. Nun änderte sich die Lage der Eingeschlossenen von Tschugutschak. Die Citadelle, die schon der Hungersnoth nahe war, füllte sich mit Heerden von Schafen, welche von starken Abtheilungen Kalmüken, Torgouten und Durboten herangetrieben wurden. Die Besatzung erhielt täglich Verstärkungsmannschaften, machte häufige Ausfälle und trieb ihrerseits die Dungenen in eine Defensivstellung. Diese verschanzten sich in der Moschee, welche sie mit Vorräthen vollauf versehen hatten.

Um diese Zeit ereignete sich ein Vorfall, der möglicherweise die chinesische Regierung in unangenehme Verwickelungen mit Rußland bringen konnte. Der Commandant von Tschugutschak ertheilte, wie Oberst Heinz erzählt, einem Kalmükenführer den Befehl, einen Kirgisenstamm, der sich durch seine feindselige Haltung besonders hervorgethan und an der Plünderung von Tschugutschak theilgenommen hatte, in seinem Herbstlager aufzusuchen, das sich auf russischem Boden [154] befand. In der Nacht vom 23. zum 24. October a. St. 1865 wurde der Ueberfall ausgeführt. Die Kirgisen wurden vollständig überrascht, ihre Auls waren unbewacht und fielen sämmtlich in die Gewalt der Feinde, die sich einer kannibalischen Schlächterei überließen. Nach offiziellen russischen Angaben fielen 300 Menschen dem heimtückischen Anfall zum Opfer. Entsetzt flohen die Kirgisen nach allen Seiten auseinander, ohne an die Rettung ihres Viehstandes und ihrer sonstigen Habe denken zu können. Was sich wegschaffen ließ, schleppten die Kalmüken davon, das Uebrige verbrannten sie. Ihre Beute an Vieh bestand aus 100,000 Schafen, 6000 Stück Hornvieh, 1300 Pferden und 600 Kameelen. Anderthalbtausend Hunde irrten seit jener verhängnißvollen Nacht herrenlos in der Gegend umher, viele vor Hunger toll geworden. Die Schaaren derselben waren noch im Dezember so groß und frech, daß kein einzelner Reiter es wagen durfte, in ihren Bereich zu kommen, aus Furcht zerrissen und zerfleischt zu werden.

Wie die russische Regierung diese außergewöhnliche Grenzverletzung eines unter der Aegide der Pekinger Regierung handelnden Haufens aufgenommen hat, ist aus dem Bericht unseres Obersten nicht ersichtlich und uns auch anderweitig nicht bekannt geworden. Die Erzählung des Genannten ist überhaupt hier zu Ende. Nach den letzten ihm zugegangenen Nachrichten waren die Dungenen von Tschugutschak noch immer belagert in ihrer Moschee, und es war die Absicht ihrer Gegner, sie auszuhungern. Von der ganzen Ili-Provinz waren nur noch drei Punkte in der Gewalt der Mandschu. So war die Lage des Dungenen-Aufstandes am Anfange des für uns so bedeutungsvollen Jahres 1866.

Naturgemäß erhebt sich nun die Frage: Was ist das eigentliche Ziel oder was wird der Erfolg dieser großartigen Bewegung sein? Bevor wir auf diese Frage Antwort zu geben versuchen, richten wir unsere Blicke nach einem anderen Theile des Reiches der Mitte, der nicht minder seit Jahren von einer heftigen inneren Gährung erschüttert wird. Die Dungenen oder Choi-Choi sind allerdings, wie oben gesagt wurde, am engsten geschaart in den Nordwestprovinzen Kansu und Schänsi, aber sie bewohnen, in freilich weniger geschlossener Reihe, auch die südlich angrenzenden Provinzen Sütschuan und Junnan, ja sie scheinen sporadisch sogar über das ganze Reich vertheilt zu sein, wenigstens treffen wir eine Gemeinde derselben z. B. in Canton. Nun ist aber nach englischen Berichten auch in der Südwestprovinz Chinas, in Junnan, seit wenigstens 10 Jahren ein muhamedanischer Aufstand im Gange, und wiewohl es nirgends direct bezeugt wird, darf man wohl zwischen diesem und der bis jetzt geschilderten [155] großen nordwestlichen Bewegung einen Zusammenhang annehmen. Der Name der südwestlichen Aufrührer ist zwar ein anderer, als der der nordwestlichen, jene werden in dem uns vorliegenden englischen Bericht[6] Pansi genannt, es wird ferner darin versichert, daß die zwischen Junnan und Schänsi in der Mitte liegende Provinz Sütschuan vom Aufstande unberührt geblieben sei, aber es wäre doch sonderbar, wenn zwei so homogene, in demselben Reichskörper nicht weit von einander hervortretende Phänomene, wie die muselmännischen Aufstände im nordwestlichen und südwestlichen China ohne bestimmte, nachweisbare Verbindung sein sollten. Diesen Nachweis zu führen, sind wir, fern vom Schauplatz der Ereignisse, allerdings nicht im Stande, um so weniger, da der um 1856 ausgebrochene Aufstand in Junnan der Zeit nach dem (seit 1862 gährenden) nordwestlichen vorangeht, der wirkliche Heerd der Empörung also im Süden zu suchen wäre. Oder sollten beide Ereignisse, so nahe sie nach Zeit und Ort einander stehen, doch wirklich und thatsächlich von einander unabhängig sein? Dann würden beide nur auf folgende Art zu erklären sein. Entweder die chinesische Regierung hat wirklich, wie die Berichterstatter des Obersten Heinz aussagten, in den inneren Theilen des Reiches gleichmäßig einen Druck auf ihre islamitischen Unterthanen ausgeübt, der überall ihre religiöse Empfindlichkeit gereizt hat, oder die Bewegung ist spontan aus dem Innern dieser Bevölkerung hervorgebrochen und muß als das Resultat eines vielleicht schon lange in ihr wirkenden religiösen Gährungsprozesses angesehen werden, oder endlich es trafen beide Momente zusammen, Druck von oben und religiöse Spannung von unten. Wahrscheinlich wird das Letztere die richtige Deutung sein; wenigstens steht fest, daß die muhamedanische Bevölkerung in den Westprovinzen des eigentlichen Chinas auch früher schon Aufstandsversuche gemacht hat, die nur stets, wie die türkestanischen, niedergeschlagen wurden.

Ob nun die jetzige Erhebung erfolgreicher sein und zur Stiftung eines oder mehrerer muhamedanischer Reiche mitten im Continent Asiens führen wird? Der Anfang dazu ist gemacht. Die Pansis haben in Junnan eine regelmäßige Regierung eingerichtet, an deren Spitze ein König, Namens Tuwinseu, steht, der am Hofe zu Birma halboffizielle Vertreter unterhält[7]. Schwieriger wird die Constituirung eines unabhängigen Staates im Bereich des nordwestlichen Aufstandes [156] sein. Hier ist das von Ritter so treffend benannte Land der Passage, dem zu einem selbstständigen politischen Dasein die physischen Bedingungen fehlen dürften. Ferner sind hier auch die Gegensätze bei den am Aufstande betheiligten Völkern zu stark ausgeprägt, als daß man an die Zusammenfassung derselben zu einem einzigen Reiche glauben könnte. Sollte endlich die Central-Regierung Chinas durch die jetzigen und die vorangegangenen Kämpfe gegen ihre inneren und ihre auswärtigen Feinde schon so sehr entkräftet sein, daß sie das einstweilen verlorene Terrain nicht ganz oder theilweise würde zurückerobern können? Der Secession Junnans mußte sie unthätig zusehen, weil zwischen ihr und der rebellischen Provinz der furchtbare Aufstand der Taiping lag (der übrigens, obwohl uns die verknüpfenden Fäden wiederum entgehen, doch in irgend einem Zusammenhange mit den Empörungen der Muhamedaner stehen dürfte). Nun ist diesem, wie es scheint, die Spitze abgebrochen, wenn er auch in einzelnen Zuckungen noch fortlebt, wahrscheinlich wird also die Mandschu-Regierung die Kräfte, die sie noch besitzt, von jetzt an zu energischeren Stößen gegen ihre muhamedanischen Widersacher verwenden können. Doch wir wollen uns keine Vorhersagung über das wahrscheinliche Schicksal der islamitischen Gesammtrebellion erlauben, zumal da bei asiatischen Völkern unberechenbare persönliche Momente eine unvergleichlich höhere Rolle spielen als bei europäischen. Aber Eins müssen wir zum Schluß noch hervorheben. Die Chinesen waren in so völligen religiösen Indifferentismus versunken, daß Beobachter von ihnen sagen konnten, sie haben keine Religion. Nun sehen wir unter Menschen chinesischer Zunge Erscheinungen hervortreten, wie den Aufstand der Taiping und den der Muhamedaner, bei denen allen die Religion als wichtigste Triebfeder wirkt. Gleichzeitig sehen wir den Bann gebrochen, der die chinesische Welt bisher von der christlich-europäischen absperrte, sehen wir den Sauerteig europäischer Begriffe und Bedürfnisse immer mehr in diese alte Welt eindringen; in diesem Zusammenhange gewinnen jene Aufstände, selbst wenn sie ohne unmittelbaren politischen Erfolg verlaufen sollten, eine hohe Bedeutung, denn aus religiösen Keimen erwuchsen ebenso die Anfänge aller Cultur, wie stets von einer religiösen Wiedergeburt die Verjüngung des Gesammtlebens cultivirter Völker ausging. Von diesem Standpunkte aus verdienen die hier geschilderten Bewegungen im Völkerleben Asiens das lebhafteste Interesse des Geographen.


  1. Die Tugean, die Ritter Erdkunde, II, S. 409 nach Putimstev als Bewohner der Stadt Kuldscha am Ili anführt, mit dem Zusatze: „eine Benennung, die uns sonst unbekannt, wenn sie nicht identisch mit Tadschi ist“, sind unstreitig Dungenen, die nach Radloff in Petermann’s Mittheilungen, 1866, III, S. 97 in Kuldscha Dungan genannt werden.
  2. Petermann’s Mittheilungen, 1866, VII, S. 252.
  3. Es müßte denn nach neueren russischen Nachrichten eine etwa 100 Werst (14–15 Ml.) östlicher liegende Stadt G(H)utschen oder G(H)ui-chuo-tschen, mongolisch Zontschi ihr diesen Rang streitig machen. S. Iswestija 1865, No. 2, S. 28.
  4. S. diese Zeitschrift 1867, No. 1, 8.
  5. Ueber den Stand der Dinge in Chotan kommen unverhofft Nachrichten von englischer Seite, die wir, obwohl sie zunächst nur in dürftiger Gestalt vorliegen, hier anschließen. Mr. Johnson, Beamter bei der großen trigonometrischen Vermessung von Indien, machte in der Zeit vom Juli bis 1. December 1865 eine Reise von Leh, der Hauptstadt von Ladakh, nach Chotan hin und zurück, bei welcher er sich 16 Tage in der letzteren Stadt, die seit dem vorigen Jahrhundert kein Europäer [150] wieder besucht hat, aufhalten konnte. Ueber diese Reise hat Sir Henry Rawlinson in der Sitzung der Londoner geographischen Gesellschaft vom 12. November 1866 Mittheilungen gegeben, die sie als eine außerordentlich wichtige, namentlich in Hinsicht auf astronomische Ortsbestimmungen in jenen so wenig bekannten Gegenden erscheinen lassen. Wir entnehmen dem Slip of Meeting of the Roy. Geogr. Soc. of 12th Nov. 1866 folgende, unseren Gegenstand betreffende Angaben Johnson’s, in denen übrigens eine gewisse schiefe Auffassung der Dinge außerhalb Chotans leicht zu erkennen ist. Johnson berichtet, Jarkand, die Nachbarstadt Chotans, sei in einem Zustande der Anarchie, und erzählt von einem Anerbieten der vornehmsten Einwohner derselben, die Stadt unter englischem Schutz zu stellen. Vom Jaxartes und aus Chokand sei auf der Flucht vor den Russen eine große Menge Volks über das Gebirge gekommen, habe sich in den Besitz von Kaschgar und Jarkand gesetzt und kürzlich auch einen Versuch gemacht, sich Chotans zu bemächtigen. Hier herrscht ein Chan, den eine siegreiche Rebellion im Jahre 1863, welche mit gänzlicher Vertreibung resp. Vernichtung der Chinesen endigte, auf den Thron erhoben hat. Chotan habe zuerst sich des chinesischen Joches entledigt und seinem Beispiele seien Jarkand, Aksu u. a. Städte gefolgt. Zur Zeit der Anwesenheit Johnson’s war aber der Chan von Chotan in großer Besorgniß vor den chokandschen und russischen Truppen, welche letzteren jeden Tag näher an Jarkand und Chotan heranziehen sollten! Wichtig ist hier nur, daß man Chotan unter seinem Chan eigner Wahl eine unabhängige Stellung einnehmen sieht. Die astronomische Position der Stadt hat Johnson zu 37° 8′ nördl. Br. und 79° 25′ östl. Lg. v. Gr. bestimmt, bei einer Höhe von 4329 engl. Fuß über dem Meeresspiegel.
  6. Dr. C. Williams: Memorandum on the question of British Trade with Western China viâ Burmah (Journ. of the Asiatic Soc. of Bengal, 1864, p. 409 fg.)
  7. Die Mittheilungen des Dr. Williams über die Pansis sind v. E. Schlagintweit wiedergegeben im „Ausland“ 1866, No. 42.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Isurgenten
  2. Vorlage: unten