Das Wesen des Christentums/Zehnte Vorlesung

« Neunte Vorlesung Adolf von Harnack
Das Wesen des Christentums
Elfte Vorlesung »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).


[107]
Zehnte Vorlesung.




Die Urgemeinde glaubte an Jesus als ihren Herrn und brachte in diesem Bekenntnis ihre unbedingte Hingabe und die Zuversicht zu ihm als dem Fürsten des Lebens zum Ausdruck; jeder einzelne Christ stand in einer unmittelbaren Verbindung mit Gott durch den Geist – Priester und Vermittelungen waren nicht mehr nötig; endlich, diese „Heiligen“ waren zusammengeschlossen zu Verbänden, die sich zu einem sittenstrengen Leben in Reinheit und Brüderlichkeit verpflichteten. Zu diesem letzten Punkt noch ein kurzes Wort.

Es ist ein Beweis für die Innerlichkeit und die sittliche Kraft dieser neuen Predigt, daß trotz dem Enthusiasmus, der aus dem Erlebnis der Religion hervorbrach, extravagante Erscheinungen und stürmische Bewegungen verhältnismäßig selten zu bekämpfen waren. Es mag sein, daß sie häufiger gewesen sind, als die direkten Angaben unserer Quellen vermuten lassen, aber die Regel bildeten sie nicht; auch ist der Apostel Paulus gewiß nicht der einzige gewesen, der besorgt war, sie, wenn sie auftauchten, zu beruhigen. Zwar den „Geist“ wollte er nicht dämpfen; aber wenn der Enthusiasmus zur Arbeitsscheu zu führen drohte wie in Thessalonich, oder wenn das Reden in der Ekstase sich hervordrängte wie in Korinth, da hat er nüchtern ermahnt: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“[WS 1] und „Fünf verständliche, zur Erbauung dienende Worte sind mehr wert als zehntausend unverständlich hervorgesprudelte“[WS 2]. Aber noch deutlicher tritt die gesammelte Ruhe und die Kraft der Leitenden in den sittlichen Ermahnungen hervor, wie wir sie nicht nur in den paulinischen Briefen, sondern z. B. auch im 1. Petrusbrief und im Jakobusbrief lesen. In den einfachen[108] großen Grundverhältnissen des menschlichen Lebens soll sich der christliche Charakter bewähren; sie sollen gestärkt werden und sollen getragen und durchleuchtet sein von dem Geist. In den Beziehungen der Männer zu ihren Frauen, der Frauen zu den Männern, der Eltern zu den Kindern, der Herren zu den Knechten, ferner in dem Verhältnis zur Obrigkeit, zur umgebenden heidnischen Welt und wiederum zu den Witwen und Waisen soll sich der „Gottesdienst“ bewähren. Wo haben wir sonst ein Beispiel in der Geschichte, daß eine Religion einsetzt mit solcher Kräftigkeit des überweltlichen Bewußtseins und zugleich die sittlichen Grundlagen des irdischen Gemeinschaftslebens so befestigt hat wie diese Verkündigung? Wen die Glaubenspredigt der neutestamentlichen Schriftsteller nicht innerlich ergreift, der muß doch im Tiefsten bewegt werden von der Lauterkeit, dem Reichtum, der Kraft und der Zartheit der sittlichen Erkenntnis, welche ihren Ermahnungen einen unvergleichlichen Wert verleihen.

Auf ein weiteres Moment ist hier noch zu achten. Die ältesten Christen lebten in der Erwartung der nahen Wiederkunft Christi. Diese Hoffnung war ein außerordentlich starkes Motiv, weltliche Dinge, Leid und Freud dieser Erde, gering zu achten. Sie haben sich in ihrer Erwartung getäuscht – das ist ohne Klausel einzuräumen –, aber sie ist doch ein höchst wirksamer Hebel gewesen, um sie über die Welt zu erheben, um sie zu lehren, das Kleine klein und das Große groß zu nehmen, Zeitliches und Ewiges zu unterscheiden. Es ist eine sich wiederholende Erscheinung in der Religionsgeschichte, das sich mit einem neuen, großen religiösen Motiv, welches an sich schon durchschlagend wirkt, ein Koeffizient verbindet, der diese Wirkung noch erhöht und befestigt. Welch ein Hebel ist immer wieder seit den Tagen Augustin’s, so oft sich das religiöse Erlebnis von Sünde und Gnade erneuerte, der Prädestinationsgedanke gewesen, der doch keineswegs auf dem Erlebnis selbst geschöpft ist! Wie hat das Erwählungsbewußtsein die Scharen Cromwell’s begeistert und die Puritaner diesseits und jenseits des Ozeans gekräftigt, und auch dieses Bewußtsein war nur ein Koeffizient! Wie hat die Armutslehre die neue Frömmigkeit unterstützt, welche sich aus dem religiösen Erlebnisse des heiligen Franziskus im Mittelalter entwickelt hat, und doch ist sie eine Kraft für sich gewesen! Diese Koeffizienten – man kann im apostolischen Zeitalter auch die Überzeugung, den Herrn nach seinem[109] Kreuzestode wirklich geschaut zu haben, unter diesen Gesichtspunkt stellen – lehren, daß auch das Innerlichste, die Religion, nicht frei und isoliert aufstrebt, daß sie sozusagen in Rinden wächst und ihrer bedarf. Für das apostolische Zeitalter aber ist die Einsicht von Wichtigkeit, daß nicht nur trotz dem Enthusiasmus, sondern auch trotz der gespannten eschatologischen Hoffnung die Aufgabe nicht vernachlässigt wurde, das irdische Leben zu heiligen.


Die drei Elemente, welche wir als die wichtigsten zur Charakteristik der ältesten Christen hervorgehoben haben, konnten zur Not auch im Rahmen des Judentums und in Verbindung mit der Synagoge durchgeführt werden. Man konnte auch dort Jesus als den Herrn anerkennen, das neue Erlebnis mit der väterlichen Religion verbinden und den Bruderbund als einen jüdischen Konventikel ausbilden. In der That haben die ersten Gemeinden in Palästina in diesen Formen gelebt. Aber jene neuen Elemente wiesen, kräftig entfaltet, doch über das Judentum hinaus: Jesus Christus der Herr – nicht nur Israel’s; er ist der Herr der Geschichte, das Haupt der Menschheit. Das neue Erlebnis der unmittelbaren Verbindung mit Gott – es macht den alten Kultus mit seinen Vermittelungen und Priestern unnötig. Der Bruderbund – er überragt alle anderen Verbindungen und entwertet sie. Die innere Entwicklung, die virtuell in dem neuen Ansatz beschlossen lag, begann sofort. Nicht erst Paulus hat sie begründet; schon vor und neben ihm haben uns unbekannte, namenlose Christen hin und her in der Diaspora Heiden in den neuen Verband aufgenommen und die partikularen und statutarischen Bestimmungen des Gesetzes durch die Erklärung beseitigt, man müsse sie rein geistig verstehen und als Symbole deuten. In einem Zweige des Judentums außerhalb Palästina’s war diese Erklärung längst – freilich aus anderen Gründen – geübt worden, und es war dort eine Entschränkung der jüdischen Religion durch das Mittel philosophischer Deutungen im Werke, die sie der Höhe einer geistigen Weltreligion zuführte. Diese Entwicklung konnte wie eine Vorstufe des Christentums erscheinen und war in mancher Hinsicht wirklich eine solche. Jene Christen gingen auf sie ein. Auf diesem Wege konnte allmählich eine Befreiung von dem historischen Judentum und seinen überlebten Religionsgesetzen erreicht werden. Aber sicher war dieses Endergebnis nicht. Solange es unausgesprochen blieb, die frü-[110] here Religion ist abgethan, mußte stets befürchtet werden, daß in der nächsten Generation die alten Bestimmungen in wörtlicher Bedeutung doch wieder hervorträten. Wie viele Dutzende von Ansätzen zeigt die Religionsgeschichte, daß eine überlieferte Form der Lehre und des Kultus, die innerlich überwunden ist, nun beseitigt werden soll, beseitigt aber durch das Mittel der Umdeutung. Es scheint auch zu gelingen; Stimmung und Erkenntnis sind dem Neuen günstig, aber siehe da! bald stellt sich das Alte doch wieder ein. Der Wortlaut des Rituals, der Agende und der offiziellen Lehre ist stärker als alles andere. Ein neuer religiöser Gedanke, der an dem entscheidenden Punkte – anderes mag bestehen bleiben – nicht radikal mit der Vergangenheit zu brechen und sich einen „Leib“ nicht zu schaffen vermag, kann sich nicht behaupten und geht wieder unter. Es giebt kein konservativeres und zäheres Gebilde als eine verfaßte Religion; soll sie einer höheren Stufe weichen, so muß sie abgethan werden. Dauerndes war also auch im apostolischen Zeitalter davon nicht zu erwarten, daß man das Gesetz drehte und umdeutete, um für den neuen Glauben neben ihm Platz zu machen oder die alte Religion ihm anzunähern. Es mußte Einer aufstehen und erklären, das Alte ist aufgehoben; er mußte es als Sünde bezeichnen, ihm noch ferner zu folgen; er mußte zeigen, daß alles neu geworden sei. Der Mann, der das gethan hat, ist der Apostel Paulus, und in diesem Schritt besteht seine weltgeschichtliche Größe.

Paulus ist die hellste Persönlichkeit in der Geschichte des Urchristentums; dennoch gehen die Urteile über seine Bedeutung weit auseinander. Noch vor einigen Jahren haben wir einen hervorragenden protestantischen Theologen sagen hören, Paulus sei durch seine rabbinische Theologie der Verderber der christlichen Religion geworden.[WS 3] Andere haben ihn umgekehrt als den eigentlichen Stifter dieser Religion bezeichnet. Doch die große Mehrzahl derer, die ihm nahe getreten sind, bezeugt, daß er in Wahrheit derjenige gewesen sei, der den Meister verstanden und sein Werk fortgesetzt hat. Dieses Urteil besteht zu Recht. Die ihn schalten als Verderber, haben von dem Geist dieses Mannes keinen Hauch verspürt und schauen ihm nur aufs Kleid und auf die Schulweisheit; die ihn als Religionsstifter preisen oder kritisieren, müssen ihn an dem wichtigsten Punkt Zeugnis wider sich selbst ablegen lassen und das Bewußtsein, welches ihn getragen und gestählt hat, für Illusion und Selbsttäuschung erklären. Weil wir nicht weiser sein wollen[111] als die Geschichte, die ihn nur als Missionar Christi kennt, und weil sein eigenes Wort klar bezeugt, was er sein wollte und war, fassen wir ihn als Jünger Jesu, als den Apostel, der nicht nur mehr gearbeitet, sondern auch Größeres gethan hat als die anderen alle.

Paulus[AU 1] ist es gewesen, der die christliche Religion aus dem Judentum herausgeführt hat. Wie das geschehen ist, werden wir erkennen, wenn wir folgendes erwägen:

1. Paulus ist es gewesen, der das Evangelium bestimmt so gefaßt hat, daß es die Botschaft ist von der geschehenen Erlösung und dem bereits gegenwärtigen Heil. Er verkündigte den gekreuzigten und auferstandenen Christus, der uns den Zugang zu Gott und damit Gerechtigkeit und Friede gebracht hat.

2. Er ist es gewesen, der das Evangelium sicher als etwas Neues beurteilt hat, das die Gesetzesreligion aufhebt.

3. Er hat erkannt, daß diese neue Stufe dem einzelnen und daher allen gehört, und hat in dieser Überzeugung das Evangelium mit vollem Bewußtsein in die Völkerwelt getragen und vom Judentum auf den griechisch-römischen Boden hinübergestellt. Nicht nur sollen sich Griechen und Juden auf dem Grunde des Evangeliums vereinigen, nein, die Zeit des Judentums ist jetzt vorbei. Paulus verdankt man es, daß das Evangelium aus dem Orient, wo es auch später niemals recht hat gedeihen können, in den Occident verpflanzt worden ist.

4. Er ist es gewesen, der das Evangelium in das große Schema Geist und Fleisch, inneres und äußeres Leben, Tod und Leben hineingestellt hat; er, der geborene Jude und erzogene Pharisäer, hat ihm die Sprache verliehen, so daß es nicht nur den Griechen, sondern den Menschen verständlich wurde und mit dem gesamten geistigen Kapitale, welches in der Geschichte erarbeitet war, nun in Verbindung trat.

In diesen Elementen, auf deren inneren Zusammenhang ich hier nicht näher einzugehen vermag, liegt die religionsgeschichtliche Größe des Apostels beschlossen. In Bezug auf das erste möchte ich an die Worte des bedeutendsten Religionshistorikers unseres Zeitalters erinnern. Wellhausen schreibt: „Durch Paulus besonders hat sich das Evangelium vom Reich in das Evangelium von Jesu Christo verwandelt, so daß es nicht mehr die Weissagung des Reichs, sondern die durch Jesus Christus geschehene Erfüllung[112] dieser Weissagung ist. Entsprechend ist ihm auch die Erlösung aus etwas Zukünftigem etwas bereits Geschehenes und Gegenwärtiges geworden. Er betont weit mehr den Glauben als die Hoffnung, er empfindet die zukünftige Seligkeit voraus in der gegenwärtigen Kindschaft; er überwindet den Tod und führt das neue Leben schon hienieden. Er preist die Kraft, die in den Schwachen mächtig ist; die Gnade Gottes genügt ihm, und er weiß, daß keine gegenwärtige noch zukünftige Gewalt ihn seinen Armen entreißen kann, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“[WS 4] Und welche Einsicht, Zuversicht und Kraft gehörte dazu, um die neue Religion ihrem mütterlichen Boden zu entreißen und auf einen ganz neuen zu verpflanzen! Der Islam, in Arabien entstanden, ist arabische Religion geblieben, wohin er auch immer gekommen ist. Der Buddhismus hat zu allen Zeiten seine Stärke in Indien gehabt. Diese Religion aber, in Palästina geboren und von ihrem Stifter auf dem jüdischen Boden festgehalten, ist bereits nach wenigen Jahren von ihm losgelöst worden. Paulus hat sie der israelitischen Religion entgegengesetzt: „Christus ist des Gesetzes Ende“[WS 5]. Sie hat die Entwurzelung und den Übergang nicht nur ertragen, sondern es zeigte sich, daß sie auf diesen Übergang angelegt war. Sie hat dann dem römischen Reiche und der gesamten abendländischen Kulturwelt Halt und Stütze geboten. Hätte, sagt Renan mit Recht, jemand im ersten Jahrhundert dem Kaiser mitgeteilt, der kleine Jude, der von Antiochien als Missionar ausgezogen, sei sein bester Mitarbeiter und er werde das Reich auf haltbare Grundlagen stellen, man hätte ihn für wahnsinnig gehalten, und doch hätte er die Wahrheit gesagt. Paulus hat dem römischen Reiche neue Kräfte zugeführt und die abendländisch-christliche Kultur begründet. Das Werk Alexander’s des Großen ist zerfallen, das Werk des Paulus ist geblieben. Preisen wir aber den Mann, der, ohne sich auf ein Wort seines Herrn berufen zu können, aus dem Geiste heraus wider den Buchstaben das kühnste Unternehmen wagte, so dürfen wir nicht minder jene persönlichen Jünger Jesu verehren, die nach schweren inneren Kämpfen sich zuletzt den Grundsätzen des Paulus angeschlossen haben. Von Petrus wissen wir das bestimmt; von anderen hören wir, daß sie sie wenigstens anerkannten. Es war wahrlich nichts Geringes, daß die, denen jedes Wort ihres Meisters noch im Ohre klang und in deren Erinnerung die konkreten Züge seines Bildes lebten – daß diese treuen Jünger eine[113] Verkündigung anerkannten, die sich von der ursprünglichen Predigt in wichtigen Stücken entfernte und einen Umsturz der Religion Israels bedeutete. Hier hat einmal die Geschichte selbst mit unverkennbarer Deutlichkeit und in kürzestem Prozesse gezeigt, was Kern und was Schale war. Schale war die ganze jüdische Bedingtheit der Predigt Jesu; Schale waren auch so bestimmte Worte wie das: „Ich bin nicht gesandt, denn nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“.[WS 6] In Kraft des Geistes Christi haben die Jünger diese Schranken durchbrochen. Die persönlichen Jünger Christi – nicht erst die zweite oder dritte Generation, als die unmittelbare Erinnerung an den Herrn schon verblaßt war – haben die große Probe bestanden. Das ist die denkwürdigste Thatsache des apostolischen Zeitalters.

Paulus hat das Evangelium, ohne seine wesentlichen, inneren Züge – das unbedingte Vertrauen auf Gott als den Vater Jesu Christi, die Zuversicht auf den Herrn, die Sündenvergebung, die Gewißheit eines ewigen Lebens, die Reinheit und Brüderlichkeit – zu verletzen, in die universale Religion verwandelt und den Grund zu der großen Kirche gelegt. Aber indem die ursprüngliche Beschränkung wegfiel, mußten sich neue Schranken einstellen, welche die Einfachheit und Kraft einer innerlichen Bewegung modifizierten. Auf diese Modifikationen haben wir bei der Betrachtung des apostolischen Zeitalters zum Schluß unsere Aufmerksamkeit zu lenken.

1. Der Bruch mit der Synagoge und die Gründung ganz selbständiger religiöser Gemeinden hatten einschneidende Folgen. Man hielt zwar daran fest, daß die Gemeinde Christi, die „Kirche“, etwas Übersinnliches, Himmlisches, weil etwas Innerliches sei, aber man war überzeugt, daß sie in jeder Einzelgemeinde zur Erscheinung komme, und da man mit der alten Gemeinschaft gebrochen hatte oder überhaupt nicht an sie anknüpfte, erhielt die Bildung ganz neuer Verbindungen folgerecht eine besondere Bedeutung und beschäftigte das Interesse aufs lebhafteste. Jesus konnte in seinen Sprüchen und Gleichnissen, unbekümmert um alles Äußerliche, lediglich die Hauptsache treiben – wie und in welchen Formen das Samenkorn wachsen würde, das beschäftigte ihn nicht; er sah das Volk Israel in seinen geschichtlichen Ordnungen vor sich und dachte nicht an äußere Änderungen. Der Zusammenhang mit diesem Volke war nun aber durchschnitten, und körperlos kann keine[114] religiöse Bewegung bleiben. Sie muß Formen ausbilden für das gemeinschaftliche Leben und den gemeinschaftlichen Gottesdienst. Solche Formen aber improvisiert man nicht; ein Teil bildet sich langsam aus den konkreten Bedürfnissen heraus, ein anderer wird der Umgebung und den bestehenden Verhältnissen entnommen. Die „heidenchristlichen“ Gemeinden haben sich in dieser Weise einen Organismus, einen Körper geschaffen; sie haben die Formen teils selbständig und allmählich gebildet, teils unter Anlehnung an das Gegebene gewonnen.

An den Formen haftet aber stets eine besondere Wertschätzung; da sie das Mittel für die Aufrechterhaltung der Verbindung sind, so geht der Wert der Sache, welcher sie dienen, unvermerkt auf sie selbst über, oder es ist wenigstens stets Gefahr vorhanden, daß dies geschieht. Diese Gefahr liegt auch deshalb so nahe, weil sich die Einhaltung der Formen kontrollieren bezw. erzwingen läßt, während sich das innere Leben einer sicheren Kontrolle entzieht.

Unzweifelhaft war es eine Notwendigkeit, der jüdischen Volksgemeinschaft, nachdem man mit ihr gebrochen hatte, eine neue Gemeinde entgegenzusetzen – das Selbstbewußtsein und die Kraft der christlichen Bewegung zeigte sich in der Schöpfung der „Kirche“, die sich als das wahre Israel weiß. Aber indem Kirchen und die Kirche auf Erden gegründet wurden, trat ein ganz neues Interesse ein; dem Innerlichen stellte sich ein Äußerliches zur Seite; Recht, Disciplin, Kultus- und Lehrordnungen bildeten sich und begannen sich nach eigener Logik geltend zu machen. Die Wertschätzung, die der Sache galt, blieb nicht mehr die einzige Wertschätzung, und diese selbst wurde unvermerkt mit hundert unsichtbaren Fäden in das Netz der Geschichte geknüpft.

2. Wir haben darauf hingewiesen, daß die Bedeutung des Paulus als Lehrer vor allem in seiner Christologie bestanden hat. Er hat sie so gefaßt – sowohl durch seine Beleuchtung des Kreuzestodes und der Auferstehung, als durch seine Gleichsetzung „der Herr ist der Geist“[WS 7] –, daß die Erlösung als vollbracht und das Heil als eine gegenwärtige Kraft erscheint. „Wir sind durch Christus versöhnt mit Gott“[WS 8], „Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur“, „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?“[WS 9] Der absolute Charakter der christlichen Religion ist damit ans Licht gestellt. Aber auch hier kann man sagen, jede Formulierung hat[115] ihre eigene Logik und ihre eigenen Gefahren. Gegen eine Gefahr hat der Apostel selbst kämpfen müssen; daß man die Erlösung geltend machte, ohne das neue Leben zu bewähren. Den Sprüchen Jesu gegenüber konnte diese Gefahr unmöglich auftauchen; aber die Formulierung des Paulus war nicht ebenso sicher gegen sie geschützt. Es mußte in der Folgezeit ein stehendes Thema für alle ernsten Prediger werden, sich nicht auf die „Erlösung“, auf Sündenvergebung und Gerechtsprechung, zu verlassen, wenn doch der Abscheu wider die Sünde und die Nachfolge Christi fehle. Wer kann verkennen, daß die Lehren von der „objektiven Erlösung“ zu schweren Versuchungen in der Kirchengeschichte geworden sind und ganzen Generationen den Ernst der Religion verdeckt haben? Der Begriff der „Erlösung“, der gar nicht so ohne weiteres in die Predigt Jesu eingestellt werden kann, ist zum Fallstrick geworden. Gewiß, das Christentum ist die Religion der Erlösung; aber der Begriff ist ein zarter und darf niemals der Sphäre persönlichen Erlebens und der inneren Umbildung entrückt werden.

Aber noch eine zweite engverbundene Gefahr tauchte auf: wenn die Erlösung auf die Person und das Werk Christi zurückzuführen ist, so scheint alles darauf anzukommen, diese Person samt ihrem Werke richtig zu erkennen. Die rechte Lehre von und über Christus droht in den Mittelpunkt zu rücken und die Majestät und die Schlichtheit des Evangeliums zu verkehren. Wiederum steht es so, daß diese Gefahr bei den Sprüchen Jesu nicht aufkommen kann – man lese selbst den Johannes. „Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote.“[WS 10] Aber bei der Fassung, die Paulus der Religionslehre gegeben hat, kann sie allerdings entstehen und ist entstanden. Wie lange hat es gedauert, da lehrte man in der Kirche, es sei das allerwichtigste zu wissen, wie Christus als Person beschaffen gewesen sei, welche Natur er gehabt habe u. s. w. Paulus selbst ist davon noch weit entfernt – wer Christum den Herrn heißt, redet aus dem heiligen Geist –, aber unverkennbar hat die Ordnung der religiösen Begriffe, wie sie seine Spekulation bestimmt hat, auch in verkehrter Richtung gewirkt. Daß es aber verkehrt ist, mag für den Verstand die Anordnung noch so verlockend sein, die Christologie zum grundlegenden Inhalt des Evangeliums zu machen, das lehrt die Predigt Jesu, die überall bei dem Entscheidenden einsetzt und jeden ohne Umschweife vor seinen Gott stellt. Das Recht des Paulus, alles in die Predigt von Christus dem[116] Gekreuzigten zusammenzufassen, wird dadurch nicht beschränkt, denn Gottes Kraft und Gottes Weisheit zeigte er hier und entzündete an der Liebe Christi das Gefühl für die Liebe Gottes. So pflanzt sich noch heute in Tausenden der christliche Glaube fort, nämlich durch Christus. Das ist aber etwas anderes, als die Zustimmung zu einer Reihe von Sätzen über die Person Christi fordern.

Aber noch etwas kommt hier in Betracht. Paulus, von der messianischen Dogmatik geleitet und durch den Eindruck Christi bestimmt, hat die Spekulation begründet, daß nicht nur Gott in Christus gewesen ist, sondern daß Christus selbst ein eigentümliches himmlisches Wesen besessen hat. Bei den Juden brauchte diese Vorstellung den Rahmen der messianischen Idee nicht zu sprengen, aber bei den Griechen mußte sie ganz neue Gedanken entfesseln. Die Erscheinung Christi an sich, der Eintritt eines göttlichen Wesens in diese Welt, mußte als die Hauptsache, als die Erlösungsthatsache an sich gelten. Paulus selbst hat sie doch nicht so betrachtet: Kreuzestod und Auferweckung sind ihm das Entscheidende, und den Eintritt in die Welt faßt er unter sittlichem Gesichtspunkt und als Vorbild für unser Thun („Er ward arm um unsretwillen“[WS 11]; er demütigte sich, entäußerte sich[WS 12]). Dabei konnte es nicht bleiben. Die Thatsache konnte auf die Dauer nicht an zweiter Stelle stehen, dazu war sie zu groß. Aber an die erste Stelle gerückt, bedrohte sie das Evangelium selbst, weil sie Sinn und Interesse von ihm ablenkte. Wer kann angesichts der Dogmengeschichte leugnen, daß dies geschehen ist? Wir werden in den folgenden Vorlesungen sehen, in welchem Umfange.

3. Die neue Kirche hat ein heiliges Buch, das Alte Testament. Paulus, obgleich er lehrte, das Gesetz sei ungültig geworden, fand doch einen Weg, das ganze Alte Testament zu konservieren. Welch einen Segen hat dieses Buch der Kirche gebracht! Als Erbauungsbuch, als Buch des Trostes, der Weisheit und des Rates, als Buch der Geschichte hat es eine unvergleichliche Bedeutung für das Leben und die Apologetik gehabt! Welche der Religionen, mit denen das Christentum auf griechisch-römischem Boden zusammentraf, konnte sich eines ähnlichen Besitzes rühmen? Und dennoch ist dieser Besitz der Kirche nicht in jedem Sinne heilsam geworden; denn, erstlich, auf vielen Blättern dieses Buchs stand eine andere Religion und eine andere Sittlichkeit als die christliche. Mochte man sie auch noch so entschlossen durch Deutungen vergeistigen[117] und verinnerlichen – der ursprüngliche Sinn ließ sich dadurch nicht vollkommen beseitigen. Es war Gefahr vorhanden, und sie trat wirklich ein, daß durch das Alte Testament ein inferiores, überwundenes Element in das Christentum eindrang. Es gilt das nicht nur von Einzelheiten – das ganze Ziel war ein anderes, und die Religion stand dort außerdem in engster Verbindung mit einer politischen Größe, dem Volkstum. Wie nun, wenn man sich verleiten ließ, wiederum eine solche Verbindung zu suchen, zwar nicht mehr mit dem Judentum, aber mit einem neuen Volk, und nicht mit dem alten Volksgesetze, aber mit einem analogen? Und wenn selbst ein Paulus alttestamentliche Gesetze, wenn auch in allegorischer Umgestaltung, dann und wann noch für maßgebend erklärt hat, wer wird seinen Nachfolgern die Grenze ziehen, wenn sie auch noch andere Gesetze, in zeitgemäßer Umformung, als gültige Gottesgebote proklamieren werden? Das führt uns auf das Zweite: mochte selbst das, was man dem Alten Testament an maßgebenden Bestimmungen entnahm, inhaltlich unanstößig sein – es bedrohte die christliche Freiheit, sowohl die innerliche als auch die Freiheit der kirchlichen Gemeindebildung und der kultischen und disciplinären Ordnungen.


Ich habe anzudeuten versucht, daß, nachdem die Verbindung mit dem Judentum zerschnitten war, die Beschränkungen des Evangeliums doch nicht aufhörten, daß vielmehr neue Schranken sich einstellten. Sie entstanden aber an eben den Punkten, an welchen der notwendige Fortschritt der Dinge, bezw. wie bei dem Alten Testament, ein unveräußerlicher Besitz haftete. Auch hier werden wir also daran erinnert, daß es in den geschichtlichen Verhältnissen, sobald die Sphäre der reinen Innerlichkeit verlassen wird, keinen Fortschritt, keinen Erfolg und überhaupt kein Gut giebt, das nicht seinen Schatten hat und Nachteile bringt. Der Apostel Paulus hat klagend ausgerufen: „Unser Wissen ist Stückwerk.“[WS 13] Das gilt in noch viel höherem Grade von unserem Handeln und von allem, was da geschieht. Immer muß man „auf Kosten“ handeln, nicht nur schlimme Folgen auf sich nehmen, sondern auch „wissend, schauend, unverwandt“, das eine vernachlässigen, um das andere zu erreichen. Auch das Reinste und Heiligste, wenn es aus der Innerlichkeit heraustritt und sich in die Welt der Gestaltungen und des Geschehens begiebt, ist von[118] der Regel nicht ausgenommen, daß eben die Gestaltung, die seine That ist, auch seine Schranke wird.


Als der große Apostel unter dem Richtbeil Nero’s im Jahre 64 sein Leben beschloß, durfte er von sich sagen, was er kurz zuvor einem treuen Genossen geschrieben hatte: „Ich habe meinen Lauf vollendet; ich habe Glauben gehalten.“[WS 14] Welcher Missionar, Prediger und Seelsorger kann sich ihm vergleichen, sowohl was die Größe der vollendeten Aufgabe als was die heilige Energie in ihrer Ausführung betrifft! Mit dem lebendigsten Wort hat er gewirkt und ein Feuer angezündet; wie ein Vater hat er gesorgt und mit allen Kräften seiner Seele um die Seelen gerungen; die Pflichten des Lehrers, des Pädagogen, des Organisators hat er zugleich erfüllt: Als er sein Werk durch den Tod besiegelte, war das römische Reich von Antiochien bis Rom, ja bis Spanien von christlichen Gemeinden besetzt. Nicht viele „Gewaltige nach dem Fleisch“[WS 15] und Vornehme waren unter ihnen zu finden, und doch waren sie „wie Lichter in der Welt“[WS 16], und der Fortschritt der Weltgeschichte beruhte auf ihnen. Sie waren wenig „aufgeklärt“, aber sie hatten den Glauben an den lebendigen Gott und an ein ewiges Leben gewonnen; sie wußten, daß die menschliche Seele einen unendlichen Wert hat, und daß sich dieser Wert nach dem Verhältnis zu dem Unsichtbaren bestimmt; sie führten ein Leben in Reinheit und Brüderlichkeit oder strebten doch nach einem solchen. In Jesus Christus, ihrem Haupte, zu einem neuen Volke zusammengeschlossen, waren sie von dem hohen Bewußtsein erfüllt, daß Juden und Griechen, Griechen und Barbaren durch sie die Einheit empfangen und daß die letzte und höchste Stufe in der Geschichte der Menschheit nun erreicht sei.




Anmerkung des Autors (1908)

  1. Bei den Ausführungen über die epochemachende Bedeutung des Paulus für die Geschichte des Urchristentums hätten auch die Schranken genannt werden müssen in bezug auf die Loslösung vom Judentum, die er noch bestehen gelassen hat: (1.) er hat es für selbstverständlich gehalten oder doch geduldet, daß der christliche Jude das Gesetz forthält, (2.) er hat gemeint, daß sich die dem Volke Israel gegebenen Verheißungen doch noch an ihm besonders erfüllen würden, (3.) er hat die sichere Hoffnung ausgesprochen, daß einst ganz Israel gerettet werden würde. Die volle Loslösung des Christentums vom Judentum haben nach Paulus unbekannte Männer vollzogen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. 2. Thess 3,10.
  2. 1. Kor 14,19.
  3. Gemeint ist w:Paul de Lagarde (1827–1891).
  4. Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 1904, S. 386.
  5. Röm 10,4.
  6. Mt 15,24.
  7. 2. Kor 3,17.
  8. Vgl. Röm 5,10.
  9. Vgl. Röm 8,39.
  10. Joh 14,15.
  11. Vgl. 2. Kor 8,9.
  12. Vgl. Phil 2,7.
  13. 1. Kor 13,9.
  14. Vgl. 2. Tim 4,7.
  15. Vgl. 1. Kor 1,26.
  16. Phil 2,15.


« Neunte Vorlesung Adolf von Harnack
Das Wesen des Christentums
Elfte Vorlesung »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).