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Verkündigung anerkannten, die sich von der ursprünglichen Predigt in wichtigen Stücken entfernte und einen Umsturz der Religion Israels bedeutete. Hier hat einmal die Geschichte selbst mit unverkennbarer Deutlichkeit und in kürzestem Prozesse gezeigt, was Kern und was Schale war. Schale war die ganze jüdische Bedingtheit der Predigt Jesu; Schale waren auch so bestimmte Worte wie das: „Ich bin nicht gesandt, denn nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“.[WS 1] In Kraft des Geistes Christi haben die Jünger diese Schranken durchbrochen. Die persönlichen Jünger Christi – nicht erst die zweite oder dritte Generation, als die unmittelbare Erinnerung an den Herrn schon verblaßt war – haben die große Probe bestanden. Das ist die denkwürdigste Thatsache des apostolischen Zeitalters.

Paulus hat das Evangelium, ohne seine wesentlichen, inneren Züge – das unbedingte Vertrauen auf Gott als den Vater Jesu Christi, die Zuversicht auf den Herrn, die Sündenvergebung, die Gewißheit eines ewigen Lebens, die Reinheit und Brüderlichkeit – zu verletzen, in die universale Religion verwandelt und den Grund zu der großen Kirche gelegt. Aber indem die ursprüngliche Beschränkung wegfiel, mußten sich neue Schranken einstellen, welche die Einfachheit und Kraft einer innerlichen Bewegung modifizierten. Auf diese Modifikationen haben wir bei der Betrachtung des apostolischen Zeitalters zum Schluß unsere Aufmerksamkeit zu lenken.

1. Der Bruch mit der Synagoge und die Gründung ganz selbständiger religiöser Gemeinden hatten einschneidende Folgen. Man hielt zwar daran fest, daß die Gemeinde Christi, die „Kirche“, etwas Übersinnliches, Himmlisches, weil etwas Innerliches sei, aber man war überzeugt, daß sie in jeder Einzelgemeinde zur Erscheinung komme, und da man mit der alten Gemeinschaft gebrochen hatte oder überhaupt nicht an sie anknüpfte, erhielt die Bildung ganz neuer Verbindungen folgerecht eine besondere Bedeutung und beschäftigte das Interesse aufs lebhafteste. Jesus konnte in seinen Sprüchen und Gleichnissen, unbekümmert um alles Äußerliche, lediglich die Hauptsache treiben – wie und in welchen Formen das Samenkorn wachsen würde, das beschäftigte ihn nicht; er sah das Volk Israel in seinen geschichtlichen Ordnungen vor sich und dachte nicht an äußere Änderungen. Der Zusammenhang mit diesem Volke war nun aber durchschnitten, und körperlos kann keine

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 15,24.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/117&oldid=- (Version vom 30.6.2018)