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here Religion ist abgethan, mußte stets befürchtet werden, daß in der nächsten Generation die alten Bestimmungen in wörtlicher Bedeutung doch wieder hervorträten. Wie viele Dutzende von Ansätzen zeigt die Religionsgeschichte, daß eine überlieferte Form der Lehre und des Kultus, die innerlich überwunden ist, nun beseitigt werden soll, beseitigt aber durch das Mittel der Umdeutung. Es scheint auch zu gelingen; Stimmung und Erkenntnis sind dem Neuen günstig, aber siehe da! bald stellt sich das Alte doch wieder ein. Der Wortlaut des Rituals, der Agende und der offiziellen Lehre ist stärker als alles andere. Ein neuer religiöser Gedanke, der an dem entscheidenden Punkte – anderes mag bestehen bleiben – nicht radikal mit der Vergangenheit zu brechen und sich einen „Leib“ nicht zu schaffen vermag, kann sich nicht behaupten und geht wieder unter. Es giebt kein konservativeres und zäheres Gebilde als eine verfaßte Religion; soll sie einer höheren Stufe weichen, so muß sie abgethan werden. Dauerndes war also auch im apostolischen Zeitalter davon nicht zu erwarten, daß man das Gesetz drehte und umdeutete, um für den neuen Glauben neben ihm Platz zu machen oder die alte Religion ihm anzunähern. Es mußte Einer aufstehen und erklären, das Alte ist aufgehoben; er mußte es als Sünde bezeichnen, ihm noch ferner zu folgen; er mußte zeigen, daß alles neu geworden sei. Der Mann, der das gethan hat, ist der Apostel Paulus, und in diesem Schritt besteht seine weltgeschichtliche Größe.

Paulus ist die hellste Persönlichkeit in der Geschichte des Urchristentums; dennoch gehen die Urteile über seine Bedeutung weit auseinander. Noch vor einigen Jahren haben wir einen hervorragenden protestantischen Theologen sagen hören, Paulus sei durch seine rabbinische Theologie der Verderber der christlichen Religion geworden.[WS 1] Andere haben ihn umgekehrt als den eigentlichen Stifter dieser Religion bezeichnet. Doch die große Mehrzahl derer, die ihm nahe getreten sind, bezeugt, daß er in Wahrheit derjenige gewesen sei, der den Meister verstanden und sein Werk fortgesetzt hat. Dieses Urteil besteht zu Recht. Die ihn schalten als Verderber, haben von dem Geist dieses Mannes keinen Hauch verspürt und schauen ihm nur aufs Kleid und auf die Schulweisheit; die ihn als Religionsstifter preisen oder kritisieren, müssen ihn an dem wichtigsten Punkt Zeugnis wider sich selbst ablegen lassen und das Bewußtsein, welches ihn getragen und gestählt hat, für Illusion und Selbsttäuschung erklären. Weil wir nicht weiser sein wollen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist w:Paul de Lagarde (1827–1891).
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/114&oldid=- (Version vom 30.6.2018)