Das Wesen des Christentums/Dritte Vorlesung

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[25]
Dritte Vorlesung.




Wir haben in der vorigen Vorlesung von unseren Evangelien gesprochen und von ihrem Schweigen über die Entwicklung Jesu. Wir haben daran eine kurze Charakteristik der Predigtweise Jesu angeschlossen. Wir sahen, er hat wie ein Prophet gesprochen, und doch nicht wie ein Prophet. Friede, Freudigkeit und Gewißheit atmen seine Worte. Er drängt auf Kampf und Entscheidung – „Wo dein Schatz ist, da ist dein Herz“[WS 1] –, und doch erscheint alles in dem ruhigen Gleichmaß der Gleichnisse: unter der Sonne Gottes und dem Tau des Himmels soll alles wachsen und werden bis zur Ernte. Er lebte in dem steten Bewußtsein der Gottesnähe. Seine Speise war, den Willen Gottes zu thun. Aber – und das schien uns das Größte und das Siegel seiner inneren Freiheit – er hat nicht wie ein heroischer Büßer gesprochen oder wie ein Asket, der die Welt von sich gestoßen hat. Sein Auge ruhte freundlich auf allem Erscheinenden, und er sah es, wie es sich giebt, in seinen bunten und wechselnden Farben. Er adelte es in seinen Parabeln; er schaute hindurch durch den Schleier des Irdischen und erkannte überall die Hand des lebendigen Gottes.


Als er auftrat, war ein anderer vor ihm bereits am Werke im jüdischen Volke: Johannes der Täufer. An den Ufern des Jordan war in wenigen Monaten eine große Bewegung entstanden. Sie war ganz verschieden von jenen messianischen Bewegungen, die bereits seit mehreren Generationen stoßweise das Volk in Atem gehalten hatten. Zwar auch dieser Täufer verkündigte: „Das Reich Gottes ist nahe“[WS 2], und das hieß nichts anderes als der Tag des[26] Herrn, das Gericht, das Ende kommt nun. Aber Johannes kündete diesen Tag nicht an als einen Gerichtstag, an welchem Gott endlich die Vergeltung über die Heidenwelt bringen und sein eigenes Volk erhöhen werde, sondern er prophezeite ihn als den Gerichtstag für eben dieses Volk. „Wer hat euch gewiesen, daß ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet? Denket nur nicht, daß ihr bei euch wollt sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt.“[WS 3] Nicht die Abrahamskindschaft sondern rechtschaffene Werke geben den Ausschlag im Gericht. Und er selbst, der Prediger, hat mit der Buße begonnen und ihr sein Leben geweiht: in einem Kleide von Kamelshaaren steht er vor ihnen und seine Nahrung sind Heuschrecken und wilder Honig. Aber Asketen zu werben, darinnen sieht er seine Aufgabe nicht oder mindestens nicht vornehmlich. An das ganze Volk, wie es sich in Beruf, Handel und Wandel bewegt, richtet er sich und fordert es zur Buße auf. Es scheinen sehr einfache Wahrheiten zu sein, die er ihm zu sagen hat: den Zöllnern sagt er: „Fordert nicht mehr, als gesetzt ist“[WS 4]; den Königsleuten: „Thut niemand Gewalt noch Unrecht und laßt euch begnügen an eurem Solde“[WS 5]; den Wohlhabenden: „Teilt von eurer Speise mit“; allen: „Vergesset die Armen nicht“[WS 6]. Das ist die Bethätigung der Buße, zu welcher er aufruft, und sie enthält die Sinnesänderung, welche er meint. Nicht um einen einmaligen Akt handelt es sich, die Bußtaufe, sondern um ein rechtschaffenes Leben im Hinblick auf Gottes vergeltende Gerechtigkeit. Von Zeremonien, Opfern und Gesetzeswerken hat Johannes nicht gesprochen; augenscheinlich legte er auf sie kein Gewicht. Die Gesinnung und das sittliche Thun sind allein entscheidend. Am Gerichtstage richtet der Gott Abrahams nach diesem Maßstabe.

Lassen Sie uns hier einen Augenblick stille halten. Es drängen sich an dieser Stelle Fragen auf, die schon oft beantwortet worden sind und doch immer wieder aufgeworfen werden. Deutlich ist, daß der Täufer die Souveränetät Gottes und seines heiligen Sittengesetzes verkündigt hat. Klar ist auch, daß er seinen Volksgenossen zugerufen hat: das Maßgebende, das allein Entscheidende ist das sittliche: ihr dürft keine größere Sorge haben als die Sorge um euere innere Verfassung und euer sittliches Thun. Klar ist endlich, daß nichts Raffiniertes oder Künstliches in seinem Begriff vom[27] Sittlichen enthalten ist: er meint die gemeine Moral. Aber hier erheben sich nun die Fragen.

Erstlich: Wenn es sich um etwas so Einfaches handelte, um das ewige Recht des Heiligen, warum dieser ganze Apparat von dem Kommen des Gerichtstages, von der Art an den Wurzeln der Bäume, von dem Feuer, das verzehren wird, und dgl.?

Zweitens: Ist diese Bußtaufe in der Wüste und diese Predigt vom Kommen des Gerichts nicht einfach Reflex oder Produkt der politischen und sozialen Zustände, in denen sich das Volk damals befand?

Drittens: Was enthält denn diese Verkündigung überhaupt Neues, was nicht im Judentum schon früher ausgesprochen worden wäre?

Diese drei Fragen hängen aufs innigste unter sich zusammen.

Zunächst also dieser ganze dramatisch-eschatologische Apparat: das Reich Gottes kommt, das Ende ist nahe, u. s. w. Nun, jede ernste, aus der Tiefe des Erlebten quillende Hinweisung auf Gott und das Heilige – sei es im Sinne der Erlösung, sei es in dem des Gerichts – hat, soweit wir die Geschichte kennen, stets die Form angenommen, daß das Ende nahe sei. Wie ist das zu erklären? Die Antwort ist nicht schwierig. Die Religion ist nicht nur ein Leben in und mit Gott, sondern auch, eben weil sie dies ist, die Enthüllung des Sinns und der Verantwortlichkeit des Lebens. Wem sie aufgegangen ist, der findet, daß ohne sie umsonst nach diesem Sinn gesucht wird, daß der einzelne sowohl wie die Gesamtheit ziellos wandelt und stürzt. „Sie gehen alle in der Irre; ein jeglicher sieht auf seinen Weg.“[WS 7] Der Prophet aber, der Gottes inne geworden ist, erkennt mit Schrecken und Angst dieses allgemeine Irren und die allgemeine Verwahrlosung. Es geht ihm wie einem Wanderer, der seine Genossen blind einem Abgrund zueilen sieht und sie um jeden Preis zurückrufen will. Es ist die höchste Zeit – noch kann er sie warnen; noch kann er sie beschwören: „Kehret um“[WS 8]; aber vielleicht schon in der nächsten Stunde ist alles verloren. Es ist die höchste Zeit, es ist die letzte Zeit – in diesen Ruf hat sich daher bei allen Völkern und in allen Epochen die energische Mahnung zur Umkehr gekleidet, wenn ihnen wieder einmal ein Prophet geschenkt war. Der Prophet durchschaut die Geschichte, er sieht das unwiderrufliche Ende, und er ist erfüllt von grenzenlosem Staunen darüber, daß bei der Gottlosigkeit und Blind-[28] heit, dem Leichtsinn und der Trägheit nicht schon alles längst zusammengestürzt und vernichtet ist. Daß überhaupt noch eine Spanne übrig ist, in der die Umkehr möglich, ist ihm das größte Wunder: nur der Langmut Gottes ist es zu verdanken. Aber gewiß ist, das Ende kann nicht lange mehr ausbleiben. So entsteht immer aufs neue im Zusammenhang mit einer großen Bußbewegung die Vorstellung vom nahen Ende. In welche Formen im einzelnen sie sich kleidet, das hängt von zeitgeschichtlichen Umständen ab und ist von untergeordneter Bedeutung. Nur die als Gedankengebilde konstruierte Religion entbehrt der entscheidenden Zuspitzung auf das Ende; die thatsächliche Religion ist ohne sie nicht zu denken, mag sie neu entfacht werden, oder mag sie als stilles Feuer in der Seele glühen.

Aber nun das Zweite – die politisch-sozialen Zustände als Ursachen der religiösen Bewegung. Orientieren wir uns kurz. Sie wissen, die stillen Zeiten der jüdischen Theokratie waren damals längst vorüber. Seit zwei Jahrhunderten war ein Schlag nach dem andern erfolgt; von den schrecklichen Tagen des Antiochus Epiphanes an war das Volk nicht mehr zur Ruhe gekommen. Das Königreich der Makkabäer war aufgerichtet worden; durch innere Zwistigkeiten und den äußeren Feind war es bald wieder dahingesunken. Die Römer waren ins Land gefallen und hatten ihre eiserne Faust auf alle Hoffnungen gelegt. Die Tyrannei des edomitischen Parvenus, des Königs Herodes, nahm dem Volke die Lebensluft und lähmte es an allen Gliedern. Es war nach menschlichem Ermessen nicht abzusehen, wie je wieder eine Besserung der Lage eintreten könne; die alten herrlichen Verheißungen schienen Lügen gestraft – es schien alles aus zu sein. Wie nahe lag es, in solch einer Epoche an allem Irdischen zu verzweifeln und in dieser Verzweiflung notgedrungen auf das zu verzichten, was einst als von der Theokratie unzertrennlich gegolten hatte. Wie nahe lag es, die irdische Krone, den politischen Besitz, Ansehen und Reichtum, thatkräftiges Handeln und Kämpfen nun für unwert zu erklären, dafür aber vom Himmel her ein ganz neues Reich zu erwarten, ein Reich für die Armen, die Zertretenen, die Kraftlosen und eine Krönung ihrer sanften und geduldigen Tugenden! Und wenn schon seit Jahrhunderten der Volksgott Israels in einer Umwandlung begriffen war, wenn er die Waffen der Starken zerbrochen und den prunkvollen Dienst seiner Priester verspottet, wenn er gerechtes[29] Gericht und Barmherzigkeit verlangt hatte – wie verlockend war es, ihn als den Gott zu proklamieren, der sein Volk im Elend sehen will, um dann den Elenden Erlösung zu bringen! In der That, man kann mit ein paar Strichen die Religion und ihre Hoffnungen konstruieren, die aus den Zeitverhältnissen mit Notwendigkeit zu folgen scheinen – ein Miserabilismus, der sich an die Erwartung eines wunderbaren Eingreifens Gottes klammert und sich vorher gleichsam in das Elend hineinwühlt.

Aber so gewiß die furchtbaren Zeitverhältnisse vieles in diesem Sinn entbunden und entwickelt haben, sie reichen doch längst nicht aus, um die Predigt des Täufers zu erklären, während man die wilden Unternehmungen der falschen Messiasse und die Politik fanatischer Pharisäer leicht aus ihnen abzuleiten vermag. Wohl erklären sie es, daß die Loslösung von weltlichen Dingen weitere Kreise erfaßte und daß man zu Gott aufschaute – Not lehrt beten; aber die Not an sich bringt keine sittliche Kraft; diese aber ist in der Predigt des Täufers das Hauptstück gewesen. Indem er an sie appellierte, indem er alles auf die Grundlage des Sittlichen und der Verantwortung setzen hieß, erhob er sich über die Schwächlichkeit der „Armen“ und schöpfte nicht aus der Zeit, sondern aus dem Ewigen.

Es sind noch nicht hundert Jahre her, da hat nach der schrecklichen Niederlage unseres Vaterlandes Fichte hier in Berlin seine berühmten Reden gehalten. Was that er in ihnen? Nun zunächst, er hielt der Nation einen Spiegel vor und zeigte ihr ihre Sünden und deren Folgen, den Leichtsinn, die Gottlosigkeit, die Selbstgefälligkeit, die Verblendung, die Schwäche. Was that er dann? Rief er sie einfach zu den Waffen? Aber eben die Waffen vermochten sie nicht mehr zu führen; sie waren ihnen aus den kraftlosen Händen geschlagen worden. Zur Buße und inneren Umkehr hat er sie gerufen, zu Gott und deshalb zur Anspannung aller sittlichen Kräfte, zur Wahrheit und zum Geiste, damit aus dem Geiste alles neu werde. Und durch seine kraftvolle Persönlichkeit hat er im Bunde mit gleichgestimmten Freunden den mächtigsten Eindruck hervorgerufen. Die verschütteten Quellen unserer Kraft vermochte er wieder aufzudecken, weil er die Mächte kannte, von denen Hülfe kommt, und weil er selbst von dem lebendigen Wasser getrunken hatte. Gewiß, die Not der Zeit hat ihn gelehrt und gestählt; aber es wäre sinnlos und lächerlich zu behaupten, Fichte’s Reden wären[30] das Produkt des allgemeinen Elends. Sie sind der Gegensatz zu ihm. Nicht anders ist über die Predigt Johannes’ des Täufers und – daß ich es gleich sage – über die Predigt Jesu selbst zu urteilen. Daß sie sich an die wandten, die von der Welt und der Politik nichts erwarteten – von dem Täufer ist das übrigens nicht direkt berichtet –, daß sie von jenen Volksleitern nichts wissen wollten, die das Volk ins Verderben geführt hatten, daß sie den Blick überhaupt von dem Irdischen ablenkten, das mag man auch aus den Zeitverhältnissen ableiten. Aber das Heilmittel, welches sie verkündigten, war kein Produkt derselben. Mußte es nicht vielmehr als ein Versuch mit untauglichen Mitteln erscheinen, lediglich zur gemeinen Moral die Leute zu rufen und von ihr alles zu erwarten? Und woher stammte die Kraft, die unbeugsame Kraft, welche andere bezwang? Dies führt uns auf die letzte der Fragen, die wir aufgeworfen haben.

Drittens, was ist denn Neues in dieser ganzen Bewegung gewesen? War es neu, die Souveränetät Gottes, die Souveränetät des Guten und Heiligen in der Religion gegenüber allem anderen, was sich eingedrängt hatte aufzurichten? Was hat also Johannes, was hat Christus selbst Neues gebracht, was nicht schon längst verkündigt worden war? Meine Herren! Die Frage nach dem Neuen in der Religion ist keine Frage, die von solchen gestellt wird, die in ihr leben. Was kann „neu“ gewesen sein, nachdem die Menschheit schon so lange vor Jesus Christus gelebt und so viel Geist und Erkenntnis erfahren hatte. Der Monotheismus war längst aufgerichtet, und die wenigen möglichen Typen monotheistischer Frömmigkeit waren längst hier und dort, in ganzen Schulen, ja in einem Volke, in die Erscheinung getreten. Kann der kraftvolle und tiefe religiöse Individualismus jenes Psalmisten noch überboten werden, der da bekannt hat: „Herr, wenn ich nur Dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde“[WS 9]? Kann das Wort Micha’s überboten werden: „Es ist Dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor Deinem Gott“[WS 10]? Jahrhunderte waren bereits verflossen, seitdem diese Worte gesprochen waren. Also, „Was wollt ihr mit eurem Christus?“ wenden uns namentlich jüdische Gelehrte ein; „er hat nichts Neues gebracht.“ Ich antworte hierauf mit Wellhausen: Gewiß, das, was Jesus verkündigt, was Johannes vor ihm in seiner Bußpredigt ausgesprochen[31] hat, das war auch bei den Propheten, das war sogar in der jüdischen Überlieferung seiner Zeit zu finden. Selbst die Pharisäer hatten es; aber sie hatten leider noch sehr viel anderes daneben. Es war bei ihnen beschwert, getrübt, verzerrt, unwirksam gemacht und um seinen Ernst gebracht durch tausend Dinge,[AU 1] die sie auch für Religion hielten und so wichtig nahmen wie die Barmherzigkeit und das Gericht. Alles stand bei ihnen auf einer Fläche, alles war in ein Gewebe gewoben, das Gute und Heilige nur ein Einschlag in einen breiten irdischen Zettel. Nun fragen Sie noch einmal: „Was war denn das Neue?“ In der monotheistischon Religion ist diese Frage nicht am Platze. Fragen Sie vielmehr: „War es rein und war es kraftvoll, was hier verkündet wurde?“ Ich antworte: Suchen Sie in der ganzen Religionsgeschichte des Volkes Israel, suchen Sie in der Geschichte überhaupt, wo eine Botschaft von Gott und vom Guten so rein und so ernst – denn Reinheit und Ernst gehören zusammen – gewesen ist, wie wir sie hier hören und lesen! Die reine Quelle des Heiligen war zwar längst erschlossen, aber Sand und Schutt war über sie gehäuft worden und ihr Wasser war verunreinigt. Daß nachträglich Rabbinen und Theologen dieser Wasser destillieren, ändert, selbst wenn es ihnen gelänge, nichts an der Sache. Nun aber brach der Quell frisch hervor und brach sich durch Schutt und Trümmer einen neuen Weg, durch jenen Schutt, den Priester und Theologen aufgehäuft hatten, um den Ernst der Religion zu ersticken; denn wie oft ist in der Geschichte die Theologie nur das Mittel, um die Religion zu beseitigen! Und das andere war die Kraft. Pharisäische Lehrer hatten verkündigt, im Gebot der Gottes- und Nächstenliebe sei alles befaßt; herrliche Worte hatten sie gesprochen; sie könnten aus dem Munde Jesu stammen! Aber was hatten sie damit ausgerichtet? Daß das Volk, daß vor allem ihre eigenen Schüler den verwarfen, der mit jenen Worten Ernst machte! Schwächlich war alles geblieben, und weil schwächlich, darum schädlich. Worte thun es nicht, sondern die Kraft der Persönlichkeit, die hinter ihnen sieht. Er aber predigte gewaltig, „nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer“[WS 11]: das war der Eindruck, den seine Jünger von ihm gewannen. Seine Worte wurden ihnen zu „Worten des Lebens“[WS 12], zu Samenkörnern, die aufgingen und Frucht trugen – das war das Neue.

Mit solch einer Predigt hatte Johannes der Täufer bereits[32] begonnen. Auch er hatte sich unzweifelhaft schon in einen Gegensatz zu den Führern des Volks gestellt; denn einer, der predigt „Kehret um“ und dabei ausschließlich auf den Weg der Buße und des sittlichen Thuns verweist, kommt stets in einen Gegensatz zu den offiziellen Hütern der Religion und Kirche. Aber über die Linie der Bußpredigt ist Johannes nicht hinausgegangen.

Da trat Jesus Christus auf. Er hat zunächst die Verkündigung des Täufers in vollem Umfange aufgenommen und bejaht, und er hat ihn selbst anerkannt, ja es hat niemanden gegeben, über den er in Worten solcher Anerkennung gesprochen hat wie über diesen Johannes. Hat er doch gesagt, daß unter allen, die von Weibern geboren sind, keiner aufgekommen ist, der größer sei denn er. Immer wieder hat er bekannt, daß seine Sache von dem Täufer begonnen worden und daß dieser sein Vorläufer gewesen sei. Ja er hat sich selbst von ihm taufen lassen und sich damit in die Bewegung hineingestellt, die jener entfesselt hatte.

Aber er ist nicht bei ihr stehen geblieben. Wohl verkündete auch er, als er auftrat: „Thuet Buße, das Reich Gottes ist herbeigekommen“[WS 13], aber indem er so predigte, wurde es eine frohe Botschaft. Nichts ist sicherer in der Überlieferung von ihm, als daß seine Verkündigung ein „Evangelium“ war und als eine selige und freudenbringende Botschaft empfunden wurde. Mit gutem Bedacht hat darum der Evangelist Lucas an die Spitze seiner Erzählung vom öffentlichen Auftreten Jesu das Wort des Propheten Jesaias gestellt: „Der Geist des Herrn ist bei mir, derhalben er mich gesandt hat, und gesandt zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu predigen das angenehme Jahr des Herrn.“[WS 14] Oder in Jesu eigener Sprache: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“[WS 15] Dieses Wort hat über der ganzen Verkündigung und dem Wirken Jesu gestanden; es enthält das Thema für alles, was er gepredigt und gehandelt hat. Dann aber ist sofort offenbar, daß diese seine Predigt die Botschaft des Johannes weit hinter sich zurück-[33] gelassen hat. Jene, ob sie schon in einem stillen Gegensatz zu den Priestern und Schriftgelehrten gestanden hat, ist doch nicht zu dem entscheidenden Zeichen, dem widersprochen wurde, geworden. „Fallen und Auferstehen“, eine neue Menschheit wider die alte, Gottesmenschen, schuf erst Jesus Christus. Er trat sofort den offiziellen Führern des Volkes, in ihnen aber dem gemeinen Menschenwesen überhaupt entgegen. Sie dachten sich Gott als den Despoten, der über dem Zeremoniell seiner Hausordnung wacht, er atmete in der Gegenwart Gottes. Sie sahen ihn nur in seinem Gesetze, das sie zu einem Labyrinth von Schluchten, Irrwegen und heimlichen Ausgängen gemacht hatten, er sah und fühlte ihn überall. Sie besaßen tausend Gebote von ihm und glaubten ihn deshalb zu kennen; er hatte nur ein Gebot von ihm und darum kannte er ihn. Sie hatten aus der Religion ein irdisches Gewerbe gemacht – es gab nichts Abscheulicheres[AU 2] –, er verkündete den lebendigen Gott und den Adel der Seele.

Überschauen wir aber die Predigt Jesu, so können wir drei Kreise aus ihr gestalten. Jeder Kreis ist so geartet, daß er die ganze Verkündigung enthält; in jedem kann sie daher vollständig zur Darstellung gebracht werden:

Erstlich, das Reich Gottes und sein Kommen,

Zweitens, Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele,

Drittens, die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe.

Die Größe und Kraft der Predigt Jesu ist darin beschlossen, daß sie so einfach und wiederum so reich ist – so einfach, daß sie sich in jedem Hauptgedanken, den er angeschlagen, erschöpft, und so reich, daß jeder dieser Gedanken unerschöpflich erscheint und wir die Sprüche und Gleichnisse niemals auslernen. Aber darüber hinaus – hinter jedem Spruch steht er selbst. Durch die Jahrhunderte hindurch reden sie zu uns mit der Frische der Gegenwart. Hier bewahrheitet sich das tiefe Wort wirklich: „Sprich, daß ich dich sehe.“[WS 16]


Wir werden in dem Folgenden so verfahren, daß wir jene drei Kreise kennen zu lernen suchen und die Gedanken, die zu ihnen gehören, zusammen ordnen. In ihnen sind die Grundzüge der Predigt Jesu enthalten. Dann werden wir versuchen, das Evan-[34] gelium in seinen Beziehungen zu einzelnen großen Fragen des Lebens zu verstehen.

1. Das Reich Gottes und sein Kommen.

Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes durchläuft alle Aussagen und Formen von der alttestamentlich gefärbten, prophetischen Ankündigung des Gerichtstages und der zukünftigen sichtbar eintretenden Gottesherrschaft bis zu dem Gedanken eines jetzt beginnenden, mit der Botschaft Jesu anhebenden innerlichen Kommens des Reiches. Seine Verkündigung umfaßt diese beiden Pole, zwischen denen manche Stufen und Nuancen liegen. An dem einen Pole erscheint das Kommen des Reichs als ein rein zukünftiges, und das Reich selbst als eine äußere Herrschaft Gottes; an dem anderen erscheint es als etwas Innerliches und es ist schon vorhanden, hält bereits in der Gegenwart seinen Einzug. Sie sehen also: weder der Begriff „Reich Gottes“ noch die Vorstellung von seinem Kommen ist eindeutig. Jesus hat sie der religiösen Überlieferung seines Volkes entnommen, in der sie bereits im Vordergrunde gestanden haben, und er hat verschiedene Stufen gelten lassen, in denen der Begriff lebendig war, und hat neue hinzugefügt. Abgeschnitten hat er nur die irdischen, politisch-eudämonistischen Hoffnungen.

Auch Jesus ist, wie alle in seinem Volke, die es ernst und tief meinten, durchdrungen gewesen von dem großen Gegensatz des Gottesreiches und des Weltreiches, in welchem er das Böse und den Bösen regieren sah. Das war keine blasse Vorstellung, kein bloßer Gedanke, sondern lebendigste Anschauung und Empfindung. Darum war ihm auch gewiß, daß dieses Reich vernichtet werden und untergehen müsse. Dies aber kann nicht anders geschehen als durch einen Kampf. Kampf und Sieg stehen in dramatischer Schärfe und in großen, sicheren Zügen vor seiner Seele, in jenen Zügen, in denen sie die Propheten geschaut hatten. Am Schlusse des Dramas sieht er sich selbst zu Rechten seines Vaters und seine zwölf Jünger auf Thronen sitzen und richten die zwölf Stämme Israels; so anschaulich, so ganz in den Vorstellungen seiner Zeit stand das alles vor ihm. Man kann nun so verfahren – und nicht wenige unter uns verfahren so – daß sie diese dramatischen Bilder mit ihren harten Farben und Kontrasten für die Hauptsache erklären und für die Grundform der Verkündigung Jesu, der alle übrigen Aussagen einfach unterzuordnen seien; diese seien mehr oder[35] weniger unerhebliche Varianten – vielleicht auch erst durch die späteren Berichterstatter herbeigeführt; maßgebend sei allein die dramatische Zukunftserwartung. Ich vermag mich dieser Betrachtung nicht anzuschließen. Es gilt doch auch in ähnlichen Fällen für verkehrt, hervorragende, wahrhaft epochemachende Persönlichkeiten in erster Linie danach zu beurteilen, was sie mit ihren Zeitgenossen geteilt haben, dagegen das in den Hintergrund zu rücken, was eigentümlich und groß an ihnen war. Die Neigung, möglichst zu nivellieren und das Besondere zu verwischen, mag bei einigen einem anerkennenswerten Wahrheitssinn entspringen, aber er ist mißleitet. Noch häufiger aber waltet hier, bewußt oder unbewußt, das Bestreben, das Große überhaupt nicht gelten zu lassen und das Erhabene zu stürzen. Darüber kann kein Zweifel sein, jene Vorstellung von den zwei Reichen, dem Gottesreich und dem Teufelsreich, von ihren Kämpfen und von dem zukünftigen letzten Kampf, in welchem der Teufel, nachdem er längst aus dem Himmel ausgewiesen, nun auch auf der Erde besiegt wird – diese Vorstellung teilte Jesus einfach mit seinen Zeitgenossen. Er hat sie nicht heraufgeführt, sondern er ist in ihr groß geworden und hat sie beibehalten. Die andere Anschauung aber, daß das Reich Gottes nicht „mit äußerlichen Gebärden“[WS 17] kommt, daß es schon da ist, sie war sein wirkliches Eigentum.

Für uns, meine Herren, sind das heute schwer zu vereinigende, ja fast unüberbrückbare Gegensätze, das Reich Gottes einerseits so dramatisch und zukünftig zu fassen und dann doch wieder zu verkündigen: „es ist mitten unter euch“[WS 18], es ist eine stille, mächtige Gotteskraft in den Herzen. Aber wir sollen darüber nachdenken und uns in die Geschichte versenken, um zu erkennen, warum unter anderen geschichtlichen Überlieferungen und in anderen Bildungsformen hier keine Gegensätze empfunden wurden, beides vielmehr nebeneinander bestehen konnte. Ich meine, nach einigen hundert Jahren wird man auch in den Gedankengebilden, die wir zurückgelassen haben, viel Widerspruchsvolles entdecken und wird sich wundern, daß wir uns dabei beruhigt haben. Man wird an dem, was wir für den Kern der Dinge hielten, noch manche harte und spröde Schale finden, man wird es nicht begreifen, daß wir so kurzsichtig sein konnten und das Wesentliche nicht rein zu erfassen und auszuscheiden vermochten. Auch dort, wo wir heute noch nicht den geringsten Antrieb zur Sonderung verspüren, wird man einst[36] das Messer ansetzen und scheiden. Hoffen wir, dann billige Richter zu finden, die unsere Gedanken nicht nach dem beurteilen, was wir unwissentlich aus der Überlieferung übernommen und zu kontrollieren nicht die Kraft oder den Beruf besessen haben, sondern nach dem, was unserem Eigensten entstammt ist, wo wir das Überlieferte und gemeinhin Herrschende umgebildet oder verbessert haben.

Gewiß, die Aufgabe des Historikers ist schwer und verantwortungsvoll, zwischen Überliefertem und Eigenem, Kern und Schale in der Predigt Jesu vom Reiche Gottes zu scheiden. Wie weit dürfen wir gehen? Wir wollen dieser Predigt doch nicht ihre eingeborene Art und Farbe nehmen, wir wollen sie doch nicht in ein blasses moralisches Schema verwandeln! Aber anderseits – wir wollen ihre Eigenart und Kraft auch nicht verlieren, indem wir denen beitreten, die sie in die allgemeinen Zeitvorstellungen auflösen! Schon die Art, wie Jesus unter ihnen unterschieden hat – er hat keine beiseite gelassen, in der nicht ein Funke sittlicher Kraft lag, und er hat keine aufgenommen, welche die eigensüchtigen Erwartungen seines Volkes verstärkte, – schon diese Unterscheidung lehrt, daß er aus einer tieferen Erkenntnis heraus gesprochen und gepredigt hat. Aber wir besitzen viel schlagendere Zeugnisse. Wer wissen will, was das Reich Gottes und das Kommen dieses Reiches in der Verkündigung Jesu bedeuten, der muß seine Gleichnisse lesen und überdenken. Da wird ihm aufgehen, um was es sich handelt. Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält, und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß – aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft. Alles dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung. Nehmen Sie welches Gleichnis Sie wollen, vom Säemann, von der köstlichen Perle, vom Schatz im Acker – das Wort Gottes, Er selbst ist das Reich, und nicht um Engel und Teufel, nicht um Throne und Fürstentümer handelt es sich, sondern um Gott und die Seele, um die Seele und ihren Gott.




Anmerkungen des Autors (1908)

  1. Daß der eine oder andere jüdische Lehrer das Zeremoniell-Gesetzliche hinter dem Sittlichen zurücktreten ließ, kann hier nicht entscheiden, da er aus der Gesamterscheinung des jüdischen Lehrertums der damaligen Zeit doch nicht heraustrat.
  2. „Es gab nichts Abscheulicheres“ – ist lasse diese Urteil stehen, obgleich es stark angegriffen worden ist. Gegen da Mißverständnis, als sei damit alles, was die offiziellen Führer des jüdischen Volkes damals lehrten, so bezeichnet, habe ich mich schon S. 31 gedeckt (s. auch S. 45).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 6,21.
  2. Mt 3,2.
  3. Mt 3,7b-10a.
  4. Lk 3,13.
  5. Lk 3,14.
  6. Vgl. Lk 3,11.
  7. Jes 53,6.
  8. 2. Kön 17,13; Jes 31,6; Mt 3,2 u.ö.
  9. Ps 73,25.
  10. Mi 6,8.
  11. Mt 7,29.
  12. Vgl. Joh 6,68.
  13. Mt 3,2.
  14. Jes 61,1-2.
  15. Mt 11,28-29.
  16. Ein Zitat, das bei Johann Georg Hamann, Aesthetica in nuce, S. 198, Anklänge findet.
  17. Lk 17,20.
  18. Lk 17,21.


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