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weniger unerhebliche Varianten – vielleicht auch erst durch die späteren Berichterstatter herbeigeführt; maßgebend sei allein die dramatische Zukunftserwartung. Ich vermag mich dieser Betrachtung nicht anzuschließen. Es gilt doch auch in ähnlichen Fällen für verkehrt, hervorragende, wahrhaft epochemachende Persönlichkeiten in erster Linie danach zu beurteilen, was sie mit ihren Zeitgenossen geteilt haben, dagegen das in den Hintergrund zu rücken, was eigentümlich und groß an ihnen war. Die Neigung, möglichst zu nivellieren und das Besondere zu verwischen, mag bei einigen einem anerkennenswerten Wahrheitssinn entspringen, aber er ist mißleitet. Noch häufiger aber waltet hier, bewußt oder unbewußt, das Bestreben, das Große überhaupt nicht gelten zu lassen und das Erhabene zu stürzen. Darüber kann kein Zweifel sein, jene Vorstellung von den zwei Reichen, dem Gottesreich und dem Teufelsreich, von ihren Kämpfen und von dem zukünftigen letzten Kampf, in welchem der Teufel, nachdem er längst aus dem Himmel ausgewiesen, nun auch auf der Erde besiegt wird – diese Vorstellung teilte Jesus einfach mit seinen Zeitgenossen. Er hat sie nicht heraufgeführt, sondern er ist in ihr groß geworden und hat sie beibehalten. Die andere Anschauung aber, daß das Reich Gottes nicht „mit äußerlichen Gebärden“[WS 1] kommt, daß es schon da ist, sie war sein wirkliches Eigentum.

Für uns, meine Herren, sind das heute schwer zu vereinigende, ja fast unüberbrückbare Gegensätze, das Reich Gottes einerseits so dramatisch und zukünftig zu fassen und dann doch wieder zu verkündigen: „es ist mitten unter euch“[WS 2], es ist eine stille, mächtige Gotteskraft in den Herzen. Aber wir sollen darüber nachdenken und uns in die Geschichte versenken, um zu erkennen, warum unter anderen geschichtlichen Überlieferungen und in anderen Bildungsformen hier keine Gegensätze empfunden wurden, beides vielmehr nebeneinander bestehen konnte. Ich meine, nach einigen hundert Jahren wird man auch in den Gedankengebilden, die wir zurückgelassen haben, viel Widerspruchsvolles entdecken und wird sich wundern, daß wir uns dabei beruhigt haben. Man wird an dem, was wir für den Kern der Dinge hielten, noch manche harte und spröde Schale finden, man wird es nicht begreifen, daß wir so kurzsichtig sein konnten und das Wesentliche nicht rein zu erfassen und auszuscheiden vermochten. Auch dort, wo wir heute noch nicht den geringsten Antrieb zur Sonderung verspüren, wird man einst

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Lk 17,20.
  2. Lk 17,21.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 035. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/039&oldid=- (Version vom 30.6.2018)