gelassen hat. Jene, ob sie schon in einem stillen Gegensatz zu den Priestern und Schriftgelehrten gestanden hat, ist doch nicht zu dem entscheidenden Zeichen, dem widersprochen wurde, geworden. „Fallen und Auferstehen“, eine neue Menschheit wider die alte, Gottesmenschen, schuf erst Jesus Christus. Er trat sofort den offiziellen Führern des Volkes, in ihnen aber dem gemeinen Menschenwesen überhaupt entgegen. Sie dachten sich Gott als den Despoten, der über dem Zeremoniell seiner Hausordnung wacht, er atmete in der Gegenwart Gottes. Sie sahen ihn nur in seinem Gesetze, das sie zu einem Labyrinth von Schluchten, Irrwegen und heimlichen Ausgängen gemacht hatten, er sah und fühlte ihn überall. Sie besaßen tausend Gebote von ihm und glaubten ihn deshalb zu kennen; er hatte nur ein Gebot von ihm und darum kannte er ihn. Sie hatten aus der Religion ein irdisches Gewerbe gemacht – es gab nichts Abscheulicheres[AU 1] –, er verkündete den lebendigen Gott und den Adel der Seele.
Überschauen wir aber die Predigt Jesu, so können wir drei Kreise aus ihr gestalten. Jeder Kreis ist so geartet, daß er die ganze Verkündigung enthält; in jedem kann sie daher vollständig zur Darstellung gebracht werden:
Erstlich, das Reich Gottes und sein Kommen,
Zweitens, Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele,
Drittens, die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe.
Die Größe und Kraft der Predigt Jesu ist darin beschlossen, daß sie so einfach und wiederum so reich ist – so einfach, daß sie sich in jedem Hauptgedanken, den er angeschlagen, erschöpft, und so reich, daß jeder dieser Gedanken unerschöpflich erscheint und wir die Sprüche und Gleichnisse niemals auslernen. Aber darüber hinaus – hinter jedem Spruch steht er selbst. Durch die Jahrhunderte hindurch reden sie zu uns mit der Frische der Gegenwart. Hier bewahrheitet sich das tiefe Wort wirklich: „Sprich, daß ich dich sehe.“[WS 1]
Wir werden in dem Folgenden so verfahren, daß wir jene drei Kreise kennen zu lernen suchen und die Gedanken, die zu ihnen gehören, zusammen ordnen. In ihnen sind die Grundzüge der Predigt Jesu enthalten. Dann werden wir versuchen, das Evan-
Anmerkung des Autors (1908)
- ↑ „Es gab nichts Abscheulicheres“ – ist lasse diese Urteil stehen, obgleich es stark angegriffen worden ist. Gegen da Mißverständnis, als sei damit alles, was die offiziellen Führer des jüdischen Volkes damals lehrten, so bezeichnet, habe ich mich schon S. 31 gedeckt (s. auch S. 45).
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Ein Zitat, das bei Johann Georg Hamann, Aesthetica in nuce, S. 198, Anklänge findet.
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 033. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/037&oldid=- (Version vom 30.6.2018)