BLKÖ:Paradis, Maria Theresia von

Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
korrigiert
Band: 21 (1870), ab Seite: 286. (Quelle)
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Paradis, auch, jedoch unrichtig Paradies, Maria Theresia von (blinde Tonkünstlerin, geb. zu Wien 15. Mai 1759, gest. ebenda 1., nach Anderen 4. Februar 1824). Sie ist die Tochter des niederösterreichischen Regierungsrathes Joseph Anton von Paradies (geb. 24. Juli 1733), der nach beendeten Rechtsstudien in den Staatsdienst getreten ist. Im Jahre 1755 kam er als Criminal-Assessor nach Temesvár, von wo er eben, da er das Klima nicht ertragen konnte, bald nach Wien zurückkehrte und daselbst den Entwurf eines verbesserten Strafgesetzbuches für das Banat ausarbeitete, welches veränderter Verhältnisse wegen nicht zur Ausführung kam, jedoch hin und wieder benützt wurde. Nun wurde P. Hofconcipist bei dem geheimen Directorium in publicis et cammeralibus; im Jahre 1760 der nach den innerösterreichischen Landen abgeordneten k. k. Hofcommission zugetheilt, lernte er Steiermark, Kärnthen, Krain, Görz, Gradisca, Istrien und das Küstenland und die Verhältnisse dieser Länder genau kennen, was ihm in seiner amtlichen Stellung gut zu Statten kam. Nach seiner Rückkehr erhielt er das mittlerweile erledigte Archivariat der Erbsteuer-Hofcommission, welches er als Chaos übernahm und nun in den Zustand musterhafter Ordnung und Einrichtung brachte. Im Jahre 1769 wurde er zum k. k. Hofsecretär bei der Commerz-Hofstelle [287] befördert, nach deren Auflösung in gleicher Eigenschaft zur böhmischen und österreichischen Hofkanzlei übersetzt und 1786 zum Regierungsrathe ernannt. P. hat Kornbeck’s „Memoire sur une decouverte intéressante pour la conservation des vaisseaux“, wovon 1771 eine zweite Auflage erschien, übersetzt. – Die Tochter des Vorgenannten ist die nachmals so berühmt gewordene Maria Theresia von Paradis, welche von der Kaiserin Maria Theresia aus der Taufe gehoben wurde. Im Alter von kaum drei Jahren wurde sie durch einen gichtischen Schlagfluß, nach Anderen in Folge eines plötzlichen Schreckes, gänzlich des Augenlichtes beraubt. Das Innenleben des Kindes wendete sich der Musik zu, für welche es, geweckt durch den Besuch der Kirchen, ganz besondere Neigung an den Tag legte, so daß die darüber aufmerksam gewordenen Eltern das blinde Kind im Gesange und im Clavier unterrichten ließen. Die Fortschritte Theresens waren überraschend; in wenigen Jahren schon – sie zählte 11 Jahre – spielte sie in der Augustinerkirche in Gegenwart ihrer Taufpathin, der Kaiserin, Pergolese’s „Stabat mater“ auf der Orgel und sang auch den ganzen Part mit ihrer lieblichen Sopranstimme. Die Kaiserin, entzückt über Spiel und Gesang, setzte ihrer armen blinden Pathe einen Jahrgehalt von 200 fl. aus. Nun wurde für die künstlerische Ausbildung Theresens von Seite der Eltern nichts, was dieselbe fördern und steigern konnte, unterlassen. Unter Kozeluch’s [Bd. XIII, S. 92] Leitung entfaltete sich Theresens schönes Talent immer mehr und mehr. Als sie eben 18 Jahre alt war, machte Mesmer mit seinen Curen durch animalischen Magnetismus in Wien großes Aufsehen. Die Eltern, auf Heilung ihrer Tochter hoffend, gaben Theresen in Mesmer’s Behandlung. [Siehe das Nähere Bd. XVII, S. 427 u. 428, im biographischen Artikel über Mesmer.] Diese Krankheitsgeschichte Theresens und der Mesmerischen Heilungsversuche bewegten damals ganz Wien, und als Therese trotz aller angewandten Mittel blind geblieben war wie vordem, fehlte es natürlich nicht an den heftigsten Angriffen auf Mesmer, welche von seinen Widersachern auch gehörig ausgebeutet wurden. Nachdem diese Episode in Theresens Leben glücklich vorüber war, setzte sie ihre musikalische Ausbildung fleißig fort, und im Jahre 1784 unternahm sie in Begleitung ihrer Mutter die erste Kunstreise zunächst nach Deutschland und der Schweiz, wo sie in den größeren Städten sich hören ließ und große Erfolge feierte. Im Sommer 1785 ging sie nach Paris, wo sie vor dem Könige spielte und nach fünfmonatlichem Aufenthalte in der Seinestadt nach London, wo sie bei Hof die liebevollste Aufnahme fand und der Prinz von Wales selbst ihre Vorträge mit dem Violoncell begleitete. Aber auch sonst war ihre Aufnahme daselbst eine enthusiastische. Da ihr das Klima nicht zusagte, verließ sie im Frühjahre 1786 England und begab sich zunächst nach Brüssel, wo ihr eine nicht minder ausgezeichnete Aufnahme zu Theil wurde. Von Brüssel kehrte sie nach Wien zurück, begründete daselbst eine musikalische Bildungsanstalt, an der sie selbst als Lehrerin nach ihrer eigenen trefflichen Methode unterrichtete und tüchtige Schülerinen bildete. Aber nicht bloß in der Musik war Therese ausgebildet, sie besaß auch gute Kenntnisse in der Geographie, verstand vortrefflich zu rechnen, spielte, obgleich blind, die meisten Kartenspiele, [288] tanzte in jüngeren Jahren mit voller Grazie kunstreiche Menuetts und lernte statt schreiben setzen. Der berühmte Mechaniker Kempelen [Bd. XI, S. 158] hatte für Therese eine eigene Presse sinnreich construirt und sie in den Stand gesetzt, ihre Briefe selbst zu setzen und zu drucken. Es sind mehrere solche typographische Briefe des Fräuleins von Paradis bekannt und mit Herrn Weissenburg in Mannheim hatte Therese einen längeren typographischen Briefwechsel geführt. In Wien lebte sie bis zu ihrem im Alter von 65 Jahren erfolgten Tode allgemein geachtet und ob ihrer Kunstfertigkeit als blinde Künstlerin bewundert. Seit ihrer Rückkehr von der letzten großen Kunstreise, 1786, übte sie ihre Kunst mehr im häuslichen Kreise als öffentlich. Nur selten trat sie in Concerten auf, wie z. B. in den Akademien der Tonkünstler-Societät, 1787 und 1790. Ueber ihr Spiel und ihren Gesang herrschte nur eine Stimme, ersteres bekundete eine Fertigkeit, die bei einem Sehenden angestaunt worden wäre, geschweige bei einem Blinden. Sie spielte die schwierigsten Stücke, so u. a. die verwickelten und für die gewandtesten Spieler schwer zu bewältigenden Fugen von Händel. Ihr Gesang war ungemein rührend, und der Ausdruck, den sie in jeden Ton zu legen wußte, erfaßte in wunderbarer Weise tief die Gemüther. Sie hatte auch Mehreres componirt und dictirte ihre Compositionen Note für Note in die Feder. Von ihren zum Theile im Stiche erschienenen Compositionen sind bekannt: „Pfeffel’s Gedicht: Therese von Paradis, ihr selbst gewidmet“, im 3. Jahrg. (1786), Nr. 8, von Bibra’s[WS 1] „Journal von und für Deutschland“; – „Vier Claviersonaten“ (Amsterdam 1778); – „Zwölf Lieder, auf ihrer Reise in Musik gesetzt“ (Leipzig 1786), auf diesem Tonstücke befindet sich ihre Silhouette, das einzige Bildniß, das von ihr vorhanden ist; – „An meine entfernten Lieben, für’s Clavier“ (Leipzig 1786); – „Bürgers Lenore, mit Begleitung des Claviers“ (Wien 1790); – „Ariadne und Bachus“, Drama in einem Act, als Fortsetzung der „Ariadne auf Naxos“, Text von Riedinger, zuerst auf einem Privattheater, dann aber auf dem National-Theater in Wien, 1791, mit großem Beifalle aufgeführt; – „Der Schulcandidat", Operette; ebenda aufgeführt, 1792; – „VI Sonates pour le Clav.“, Op. 1 (Paris 1791, bei Imbault); – „VI Sonates jour le Clav.“, Op. 2 (ebd. im näml. Jahre); – „Zwölf italienische Lieder“, 1790 für Bland in London, wo sie wohl auch gestochen worden, wenn diese nicht mit den vorerwähnten „Zwölf Liedern auf meiner Reise“ identisch sind; – „Trauer-Cantate auf Leopold den Gütigen, für’s Clavier“ (Wien 1792, bei Kozeluch); – „Deutsches Monument Ludwig’s des Unglücklichen am ersten Jahrestage des Todes Ludwig’s XVI.“; zum Besten der kais. Soldatenwitwen. Große Cantate, zu Wien auf dem National-Theater aufgeführt, 1794. Für’s Clavier gestochen (ebd.); – „Rinaldo und Alcina“, Oper, aufgeführt zu Prag 1797. Merkwürdig war ihr in fast unglaublicher Weise entwickelter Tastsinn, wovon Zeitgenossen das Folgende berichten: Sie verfertigte Spitzen, schob gern und nicht ohne Glück Kegel; sie liebte das Theater leidenschaftlich und trat selbst auf dem Liebhabertheater mit vielem Glück in manchen Rollen auf. Sie bemerkte die Annäherung fremder Personen und urtheilte richtig über deren Entfernung, Form und Größe. Besonders deutlich nahm sie es wahr, wenn sie sich einem größeren, im Wege stehenden Körper näherte. Sie ging im Hause wie eine Sehende umher. [289] Beim Eintritte in ein fremdes, worin sie vorher nie gewesen, wußte sie gleich, ob es groß oder klein wäre; war sie bis in die Mitte desselben gekommen, so konnte sie auch seine Form angeben. Auf der Straße merkte sie es gleich, auch bei der größten Luftstille, wo eine Seitenstraße kam, gab die Fensterzahl der Häuser an, im Freien unterschied sie Gebäude, Bäume, Gärten, und ob letztere mit Planken oder mit Staketen umgeben waren. Die Stoffe und Farben zu ihrer Kleidung wählte sie immer selbst, besuchte mit großer Vorliebe das Antikencabinet, bildete sich durch Befühlen der Statuen eine vollkommene richtige Vorstellung und urtheilte darüber mit Geschmack und Verstand. Und Alles bei völliger Blindheit, denn der schwarze Staar hatte ihre Sehkraft gänzlich vernichtet.

Journal von und für Deutschland, herausgegeben von v. Bibra, III. Jahrg. (1786), S. 1 u f.: „Biographische Nachrichten über Fräulein von Paradis“, von Göckingk. – Fuhrmann (W. D.), Edelsinn und Tugendhöhe der schönen Weiblichkeit (Halberstadt 1820, 8°.) S. 31 u. f. – Meusel (Johann Georg), Deutsches Künstler-Lexikon, Bd. II, S. 116. – Hanslick (Eduard), Geschichte des Concertwesens in Wien (Wien 1869, Braumüller, gr. 8°.) S. 125. – ’’Neuer Nekrolog’’ der Deutschen (Weimar, Bernh. Friedr. Voigt, 8°.) II. Jahrg. (1824), 2. Theil, S. 1062. – Pietznigg (Franz), Mittheilungen aus Wien (Wien, kl. 8°.) Jahrg. 1833, Heft 3, S. 25, im Artikel: „Die jungen Blinden in Frankreich“ [daselbst heißt es, daß sie 1684 in Paris sich auf der Orgel hören ließ; das ist ein Irrthum um ein volles Jahrhundert, da es 1784 geschah]. – Feierstunden. Redigirt von Ebersberg (Wien, 8°.) Jahrg. 1831, Nr. 102: „Merkwürdige Blinde“. – Gräffer (Franz), Neue Wiener Localfresken (Linz 1847), S. 40 u. f.: „Das blinde Fräulein Paradis als Buchdrucker“. – Derselbe, Wiener Dosenstücke (zweite Ausgabe, Wien 1852, 8°.) S. 231: „Fräulein Paradis“. – Realis, Curiositäten- und Memorabilien-Lexikon von Wien (8°.) Bd. II, S. 235. – Schindel (Carl Wilh. Otto Aug. v.), Die deutschen Schriftstellerinen des neunzehnten Jahrhunderts (Leipzig 1825, Brockhaus. 8°.) Bd. II, S. 75; Bd. III, S. 223. – Neues Universal-Lexikon der Tonkunst. Angefangen von Dr. Julius Schladebach, fortgesetzt von Eduard Bernsdorf (Dresden 1857, Rob. Schäfer, gr. 8°.) Bd. III, S. 132. – Gerber (Ernst Ludwig), Historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler (Leipzig 1790, J. C. I. Breitkopf, gr. 8°.) Bd. II, Sp. 76. – Derselbe. Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler (Leipzig 1813, A. Kühnel, gr. 8°.) Bd. III, Sp. 653. – Gaßner (F. S. Dr.), Universal-Lexikon der Tonkunst. Neue Handausgabe in einem Bande (Stuttgart 1849, Frz. Köhler, Lex. 8°.) S. 675. – (De Luca) Das gelehrte Oesterreich. Ein Versuch (Wien 1778, v. Trattnern, 8°.) 1. Bds. 2. Stück, S. 336. – Oesterreichische National-Encyklopädie von Gräffer und Czikann (Wien 1835, 8°.) Bd. IV, S. 153. – Sammler (Wiener Journal, 4°.) 1810, S. 59. – Meyer (J.), Das große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände (Hildburghausen, Bibliogr. Institut, gr. 8°.) Zweite Abtheilg. Bd. II, S. 536. – Nouvelle Biographie générale ... publiée par MM. Firmin Didot frères, sous la direction de M. le Dr. Hoefer (Paris 1850 et seq., 8°.) Tome XXXIX, p. 182. – Hermannstädter Zeitung 1863, Nr. 119: „Aus dem Stammbuche des Fräulein Paradis“ [enthält Stammbuchblätter von Hufeland, Pfeffel, G. A. Bürger, Gottlieb Meißner, Geßner, Zollikofer, Spalding u. A.]. – Porträt. Ihre Silhouette vor ihren zwölf Liedern, auf ihrer Reise in Musik gesetzt (Leipzig 1786).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bibras’.