ADB:Zollikofer, Georg Joachim
Garve, enthielten noch viele entlehnte, nicht selbst durchdachte Begriffe, aber Inhalt und Vortrag hoben sich von Jahr zu Jahr. Bald wurde Z. ein gefeierter Prediger: der Beifall der gebildeten Mitglieder seiner Gemeinde spornte ihn an, sich dem Ideal eines Predigers zu nähern, das für ihn darin bestand, durch seine von Spitzfindigkeiten und Streitsucht freien Vorträge auf den Verstand und durch ihn auf das Herz seiner Zuhörer zu wirken. Er war zwei Mal verheirathet; 1779 starb seine erste Frau, eine geborene Leroy, mit der er noch 1777 einen Besuch bei Lavater in Zürich gemacht hatte. Schon 1780 ging er eine zweite Ehe ein: „Jemehr ich die Gefährtin meines Lebens kennen lerne“ (sie war eine geborene Sechehay aus Leipzig) „desto glücklicher fühle ich mich“, schreibt er Garve am 18. November 1780. Seine Gesundheit war schwankend; er litt an schwachen Nerven und schwacher Brust. 1787 in die Schweiz dauernd überzusiedeln Willens, wurde er durch die Bitten seiner Gemeinde in Leipzig zu bleiben veranlaßt (Brief Garve’s Frühling 1787). Schon im folgenden Jahre 1788 starb er am 22. Januar nach schmerzhaften, standhaft ertragenen Leiden. Z. wurde aufrichtig betrauert, denn allgemeine Achtung und Liebe wurden ihm zu Theil. Es will nicht viel sagen, daß er im „Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781“ gerühmt wird: „Ein erleuchteter Exeget und dabey Geschmack, Kunstkennerschaft, Beredsamkeit und ein edler, fester Charakter“; denn der Verfasser war K. F. Bahrdt. Aber auch ein Mann wie Johann Jakob Reiske hörte seine Predigten gern und wünschte, „daß alle Lehrer der Christen so menschenfreundlich gesinnt sein möchten wie Zollikofer“. In seinem Buche „über die Einsamkeit“ zeigte Zimmermann, wie er über seinen Landsmann dachte und citirte aus Zollikofer’s Predigten. Bedeutende Männer, die durch Leipzig kamen, suchten ihn auf. Es ist nicht beachtet worden – auch nicht von Rosenkranz in Diderot’s Leben – daß Diderot auf seiner Reise nach Petersburg durch Leipzig kam und Z. besuchte. Den Inhalt des denkwürdigen Gespräches mit dem lebhaften, gemüth- und geistvollen Franzosen, der aus seinen freigeistigen Ueberzeugungen kein Hehl machte, hat Z. in einem Briefe an Garve vom 18. September 1773 der Nachwelt erhalten. Die verschiedensten Naturen waren Z. aufrichtig zugethan. Johann August Ernesti, der Freund der kritischen Theologie, der einem Lessing Anregung zu geben wußte, stand ihm treu zur Seite. Der Dichter Chr. Felix Weiße war gleich nach Zollikofer’s Ankunft in Leipzig ihm nahegetreten: Weiße nennt den „edlen“ Z. einen Mann ohne Furcht und ohne Tadel, dem wenige Menschen an Wahrheit, [416] Güte und Festigkeit des Charakters gleichkommen. Das Verhältniß zwischen beiden wurde durch ihren gemeinschaftlichen Freund Garve noch fester geknüpft. Als dieser, durch seine Krankheit Leipzig zu verlassen genöthigt, in Breslau lebte, fand zwischen Z. und ihm ein Briefwechsel statt, dem wir wichtige Nachrichten über Zeitgenossen und litterarische Fragen verdanken. Nach Zollikofer’s Hinscheiden hat Garve des Freundes Wesen geschildert: seine Charakteristik benutze ich und suche sie zu ergänzen. Von der gedrückten, schwächlichen Art der meisten Leipziger Magister und Schriftsteller hatte der selbstbewußte Schweizer nichts. Ihm war, wie Rabener, ein Geist der Unabhängigkeit und Freiheit eigen, lebendig in ihm die Abneigung, den Großen zu schmeicheln oder ihren Umgang aus Ehrgeiz zu suchen. Er wußte als Schweizer gut Haus zu halten, seine ökonomische Lage erleichterte ihm daher die Liebe zur Unabhängigkeit. Ein solider, fester Charakter, war er zarten Empfindungen zugänglich und der Freundschaft geradezu bedürftig. Mit den Jahren wurde er immer gefälliger, angenehmer, geselliger und munterer. Ein feiner Beobachter menschlicher Handlungen und Leidenschaften, war er nie hart, sondern wohlwollend und wohlthätig im Verborgenen. Frei von aller Eitelkeit, leeren Zerstreuungen abgeneigt, liebte er das Landleben, und in Gohlis bei Leipzig fühlte er sich glücklich. Den Muth der Ueberzeugung hatte er auch in religiösen Dingen. In seiner frühen Jugend schwärmerisch fromm – er erbte gleichsam, wie er Lavater erzählte, den Gebetseifer von seinem Vater – von der Art pietistischer Andacht ergriffen, die, nach Garve’s Bemerkung, für zarte Gemüther beinahe ansteckend ist, befreite er sich in männlichen Jahren von einengenden Fesseln und drang langsam zu freieren Ueberzeugungen durch. Was er nach gewissenhafter Prüfung fand, davon konnte ihn keine Autorität abbringen, keine Furcht vor den Urtheilen der Menschen konnte ihn abhalten es zu bekennen. Manchem Jüngling wurde verdacht, wenn er Z. hörte. So machte dem jungen Seume, wie er selbst erzählt, sein orthodoxer Gönner Schmidt Vorwürfe, weil er zu Z. in die Kirche gegangen. Obwol aber Z. in seinen freien Ansichten soweit ging, daß er, wie Garve erwähnt, in seinen letzten Predigten ganz deutlich sagt, daß Gott unmöglich im eigentlichen Sinne versöhnt zu werden brauche, daß der Glaube, als bloßes für wahr halten gewisser Sätze oder als Zueignung eines fremden Verdienstes verstanden, nicht der Grund der Seligkeit sein könne, blieben doch ganz anders Gesinnte seine Freunde. Bezeichnend ist das Verhältniß, in dem der gläubige, aber auch leichtgläubige Lavater zu seinem ruhigen, seiner selbst sicheren Landsmanne stand. Hier nur soviel, daß Lavater sein geheimes Tagebuch vom Januar 1769 Z. zur Herausgabe anvertraute. Es erschien mit dem Titel „Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner Selbst“ Leipzig 1771. Weder Verfasser noch Herausgeber nannten sich. Als Lavater später auch die Fortsetzung des Tagebuches Z. übergab, schrieb dieser an Garve am 17. Juli 1773, er werde viel wegstreichen und manches ändern. „Ich schätze Lavater sehr hoch, … aber in Religionsmeinungen gehen wir zu weit von einander ab …“ „Des Tagebuches zweyter Theil“, auch mit dem Titel „Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst“ erschien 1773. In dem Briefe „an den Herausgeber“ nannte sich Lavater als Verfasser, in der Antwort spricht Z., der sich nicht nennt, seine Freude aus, daß Lavater jeder Mißdeutung durch die Erklärung vorbeuge, er gebe nicht Vorschriften, sondern Beobachtung. Seine Anmerkungen solle Lavater als Beiträge betrachten, die größere Brauchbarkeit seines Buches zu befördern. Daß Z. seine durchaus verschiedene Empfindung und Denkart an vielen Stellen freimüthig und nachdrücklich ausgesprochen hat, kann hier nicht näher gezeigt werden. Trotzdem blieb das Verhältniß zwischen Beiden ungetrübt; 1777 revidirte Z. den 3. Band von Lavater’s Physiognomik [417] (an Garve 6. Mai 1777). Dort findet sich eine Würdigung Zollikofer’s durch Lavater, die mit den Worten schließt: „Wer will, wer darf dieß Gesicht – Pharisäer, wer irreligios nennen?“
Zollikofer: Georg Joachim Z., Theolog und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, wurde am 5. August 1730 zu St. Gallen geboren; seine Familie gehörte zu den angesehensten der Stadt. Nachdem er das Gymnasium seiner Vaterstadt, dann das in Bremen besucht hatte, studirte er in Utrecht Theologie, ohne sich sonderlich gefördert zu sehen. Nach einer Reise in den Niederlanden kehrte er 23jährig in die Schweiz zurück, wurde 1754 Prediger zu Murten, bekleidete bald darauf noch zwei Stellen in der Heimath, bis er 1758 nach Leipzig als Prediger der reformirten Gemeinde berufen wurde. Der größere Wirkungskreis wie der Umgang mit Gelehrten und Schriftstellern erhöhten seine Arbeitsfreudigkeit und nöthigten zur Zusammenfassung seiner Kräfte. Zur allgemeinen Anerkennung gelangte er nicht gleich. Die ersten Predigten, sagtDurch Lavater wurde Zollikofer’s Interesse für Goethe rege gehalten. Die arg verketzerten theologischen Recensionen der „Frankfurter gelehrten Anzeigen“ – Goethe schrieb damals an Kestner: Unsere Spektakels mit den Pfaffen werden täglich größer – hatten durchaus den Beifall Zollikofer’s (an Garve 10. Novbr. 1772). Ueber den von Goetze verlästerten Basedow, mit dem Z. in bestem Einvernehmen war, berichtet er Garve am 26. Juli 1774, Basedow werde mit Lavater in Goethe’s Hause „Conferenzen“ haben. Als Garve ihm den Werther rühmt, freut er sich zum Voraus auf die Lectüre. Und als Garve, 1781 in Weimar weilend, ihm nichts von Goethe, Herder und Wieland geschrieben, macht er dem Freunde Vorwürfe. „Und wie lange hatte ich mich darauf gefreut!“ Zwanzig Jahre nach Zollikofer’s Tod rühmt ihn Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ neben Jerusalem, Spalding u. A., die durch einen guten und reinen Stil der Religion und der ihr so nah verwandten Sittenlehre auch bei Personen von einem gewissen Sinn und Geschmack Beifall und Anhänglichkeit zu erwerben suchten. Damit hat Goethe die Richtung Zollikofer’s und seiner Geistesverwandten treffend bezeichnet. Und was Garve einmal an ihn schreibt: „Die Moral unserer Prediger ist noch nicht vom Himmel herabgestiegen und unter die Menschen gekommen. Sie und einige andere brave Männer haben es versucht, sie darunter zu versetzen“, hat Z. in seinen reifen Jahren als seine Lebensaufgabe angesehen. Er ist gewiß ein begeisterter Freund des Christenthums und ein Verehrer des sittlichen Charakters Jesu, wie eine seiner Predigten betitelt ist, aber seine Vorträge, so sagt Seume, paßten auch für Juden, Türken und Heiden. Die christliche Lehre ist ihm wesentlich ein Mittel zur Belehrung und Besserung und damit zu innerer Beruhigung und Glückseligkeit. Die „vornehmsten Quellen des Aberglaubens“ (s. diese Predigt) findet er in der Unwissenheit der Lehren des Christenthums, die so vernünftig, tröstlich, so geschickt sind, die Glückseligkeit der Menschen zu befördern, „daß es einem unparteiischen Freunde der Wahrheit unmöglich ist, dieser Religion den Beifall zu versagen“. In den Vorträgen über die Reformation betont er, daß auf dem rechten Gebrauch der Vernunft und der h. Schrift ihre Rechtmäßigkeit beruht. Ohne die Verbesserung des Lebens ist die Glaubensverbesserung von keinem Werthe. Er warnt auch vor einer abergläubischen Hochachtung der Männer, „denen wir nächst Gott die Gewissensfreiheit zu danken haben“, denn „die Wahrheit ist ein allgemeines Gut, zu dessen Besitze ein jeder gelangen kann“. Z. eignet nicht der poetische Schwung, die dichterische Anschauung, nicht die tiefsinnige, dunkle, von geistvollen Blitzen durchleuchtete Sprache Herder’s, er besitzt nicht die lebhafte Phantasie, den Bilderreichthum und die oft übertriebene Empfindung Lavater’s: seine Stärke liegt in der Klarheit, Deutlichkeit und Bestimmtheit seiner Gedanken. Er beobachtet scharf und weiß bestimmte Verhältnisse des Lebens, einzelne Tugenden und Laster anregend zu behandeln. R. Rothe in der Geschichte der Predigt urtheilt über ihn, daß seine durch besonnene und ruhige Reflexion überzeugende Entwicklung ihm in einem Maße gelingt, wie vielleicht keinem anderen. „Er kennt“, sagt er, „keine andere Rührung, als die aus lebendiger Ueberzeugung des Verstandes hervorgehende. Auf diesem Wege allein wirkt er auch auf das Gewissen, dieses aber mit einer, so still sie auch ist, unwiderstehlich eindringenden Gewalt“. Daß seine moralischen Betrachtungen oft zu breit und redselig sind, kann uns nicht verwundern. Er ist darin ein Kind seiner Zeit, in der die Sucht zu moralisiren auch berühmtere Schriftsteller zu ermüdender Weitschweifigkeit verführte. Seine ersten Predigten erschienen 1769, [418] 3. Auflage Leipzig 1772 und 1774, II. In Jördens’ Lexikon findet man die zahlreichen Ausgaben seiner Schriften; ich führe nur folgende, selbst gesehene an: „Anreden und Gebete zum Gebrauche bey dem gemeinsamen und auch dem häuslichen Gottesdienste“ (1777); „Einige Betrachtungen über das Uebel in der Welt …“ (1777, 3. Aufl. 1789); „Ueber die Würde des Menschen“ (neue Auflage 1784); „Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauch für nachdenkende und gutgesinnte Christen“ (1785, II und 1793 IV). Unter nachdenkenden Christen versteht er solche, die die Lehren der Kirchengesellschaft, zu der sie gehören, nicht blindlings und ohne Prüfung annehmen. „Betrachtungen auf die festliche (so!) Zeiten der Christen, allermeist nach Anleitung der evangelischen Geschichte“ (1787–88, II); „Warnung vor einigen herrschenden Fehlern unseres Zeitalters“ (1788). Herausgeber war, nach der Vorrede, sein Freund Blankenburg. Die Vorträge „über die Erziehung der Kinder“ sind noch besonders herausgegeben worden von Gerlach 1783. Seine sämmtlichen Predigten gab Blankenburg in 7 Bänden heraus 1788–1789. Im I. Band Bildniß von Graff, 1773 pinxit, Geyser sc. In 13 Bänden erschienen sie 1798 und noch öfter. Viel von sich reden machte das 1766 von ihm herausgegebene „Neue Gesangbuch oder Sammlung der besten geistlichen Lieder und Gesänge zum Gebrauch bei dem öffentlichen Gottesdienste“. In der Vorrede zu der ersten Ausgabe – die achte erschien 1786 – hält Z. die Gesangbücher der protestantischen Kirchen der Verbesserung und Veränderung bedürftig. „Manches Lied, das vor fünfzig oder hundert Jahren gut und erbaulich war, ist es in unseren Tagen nicht mehr“. In der That hat er ganze Strophen der alten Lieder weggelassen, oder neue an ihre Stelle gesetzt, oder auch dem ganzen Liede eine andere Gestalt gegeben. Bei der Herausgabe half ihm Weiße; außer den Liedern von Gellert, Cramer, Schlegel, Klopstock, Uz, von denen manche bisher ungedruckt waren, finden sich wenige von Z. selbst. An den Liedern aus der kurz vorher veröffentlichten Sammlung von Spalding und Dietrich nahm er ebenfalls Veränderungen vor. Ueber Angriffe gegen Z. berichtet Weiße. Aus ganz anderen Gründen als die Orthodoxen erklärte sich Kästner in einem Briefe an Weiße gegen die Veränderungen alter Lieder, besonders der Luther’s, zumal da die Veränderungen keine poetische Verbesserungen seien.
Auch als Uebersetzer war Z. thätig; die wichtigsten seiner Arbeiten sind folgende. Die französisch geschriebenen Abhandlungen seines Freundes Sulzer übersetzte er ins Deutsche: „Vermischte philosophische Schriften“ (Berlin 1762, Leipzig 1773, 3. Aufl. 1800); „Brydone’s Reise durch Sicilien und Malta in Briefen an William Beckford“ übersetzte er aus dem Englischen, ohne sich zu nennen (Leipzig 1774, die 3. Aufl. 1783). Da Reinhold Forster’s Uebersetzung von Riedesel’s Buch ins Englische 1773 herauskam, waren diese Briefe bereits unter der Presse. Beide Werke, meinte der englische Verfasser, thun einander wenig Eintrag. Aber Z. räth dem deutschen Leser doch, das Werk seines Landsmannes zu vergleichen. „Der Deutsche ist kürzer und weniger unterhaltend, scheint aber genauer zu sein als der Engländer.“ Ein vielbesprochenes Buch „Les conversations d’Emilie“ (von Mad. d’Epinay) übersetzte Z., ohne sich zu nennen, 1774 und nahm sich dabei „die Freiheit, einige kleine Aenderungen zu machen und den Schöpfer an die Stelle der Natur zu setzen“, wie er an Garve am 23. Novbr. 1774 schreibt. Die neue, veränderte Auflage des französischen Werkes (Paris 1781) wurde ein Jahr darauf von L. F. Huber ins Deutsche übertragen.
- Jördens V, 663 f. – Weissens Selbstbiogr. 1806, S. 118 f. Vgl. Minor, Weiße, 1880, S. 45 u. 51. – Garve, Ueber den Charakter Zollikofer’s, 1788. – G. Geßner, Lavater’s Lebensbeschr. 1802. II, 174 und 182. – Briefwechsel zw. Garve u. Zollikofer, 1804. – Lavater’s Physiogn. [419] Fragm. III, 249–251. – Seume, Mein Leben. – Frankf. gel. Anz. Neudruck, Einl. v. W. Scherer S. XVI f. – Meine Aufsätze „Diderot in Leipzig“ u. „Lavater u. Z.“ werden im Euphorion erscheinen.