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Artikel „Seume, Johann Gottfried“ von Rudolf Wolkan in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 64–67, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Seume,_Johann_Gottfried&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 21:18 Uhr UTC)
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Seuß, Johannes
Band 34 (1892), S. 64–67 (Quelle).
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Seume: Johann Gottfried S. wurde am 29. Januar 1763 als der Sohn eines ziemlich wohlhabenden Landmannes zu Posern, einem Dörfchen bei Rippach geboren. Sein Vater war streng, aber nicht hart und von einem hohen Gerechtigkeitsgefühle beseelt, das sich auf den Sohn vererbte. Seine Mutter Regina, eine geborene Liebich, soll in ihrer Jugend schön gewesen sein und liebte den Sohn mit großer Zärtlichkeit. Bei dem Schulmeister Held, dessen Tochter Seume’s Pathe war, lernte der Knabe frühzeitig lesen und schreiben. Infolge von Streitigkeiten, besonders mit dem Amtsrichter in Posern, verkaufte der Vater seine Grundstücke und übernahm die Pachtung eines Wirthshauses mit ziemlicher großer Oekonomie in Knautkleeberg bei Leipzig. Bei dem neuen Lehrer in dem benachbarten Knauthain machte S. durch die verkehrte Methode des ersteren lange Zeit keine Fortschritte, bis endlich der Pfarrer, Mag. Schmidt bei den öffentlichen Kirchenprüfungen durch die oft barocken Ideen des Knaben aufmerksam auf ihn wurde und ihn dem Lehrer aufs angelegentlichste empfahl. Jetzt überflügelte er in kurzer Zeit alle seine Mitschüler und war oft der Stellvertreter des Lehrers in der Schule, wenn dieser der Pflege seiner Bienen oder des Spargels oblag. Da starb 1775 Seume’s Vater in äußerst kümmerlichen Verhältnissen, da Mißwachs nahezu sein ganzes Vermögen verzehrt hatte; der Sohn gedachte Grobschmied, dann Schulmeister zu werden. Aber der Graf Hohenthal-Knauthain nahm sich warm des Verwaisten an und brachte ihn zum Rector Korbinsky nach Borna. Diesem Manne verdankte S. nahezu alle seine Kenntnisse und die Ausbildung seines Charakters. Mit Feuereifer warf er sich jetzt auf das Studium der classischen Sprachen und des Hebräischen und hatte auch hier in kaum zwei Jahren alle Mitstrebenden überholt. Der Rector selbst, dessen liebster Schüler S. war, ersuchte den Grafen, den Schüler aus der Anstalt zu nehmen; bald darauf finden wir ihn auch wirklich an der Nicolaischule zu Leipzig. Hier genoß er den Unterricht Forbiger’s, den er besonders wegen seiner trefflichen Methode rühmte; auch die Tüchtigkeit der übrigen Lehrer wußte er zu schätzen. Nun machte er auch Bekanntschaft mit der deutschen Litteratur; Siegwart war der erste Roman, den er zu lesen bekam, bald darauf lernte er Goethe’s Werther kennen; aber beide Werke wußten ihn doch nicht so anhaltend zu fesseln wie die Römer und Griechen, deren Studium er sich nun systematisch widmete. Ein kleines Schulstipendium von 10 Thalern erlaubte ihm auch das Theater zu besuchen, an dem er fortan mit leidenschaftlicher Liebe hing, und um dessentwillen er manchesmal hungerte. Ariadne auf Naxos von Benda war das erste Werk, das er auf der Bühne sah, und die Musik desselben riß ihn so hin, daß [65] es bis in sein Alter sein Lieblingswerk blieb. Nach beendigtem Besuche dieser Anstalt bezog S. die Universität in Leipzig. Wieder war es hier die Lectüre der römischen und griechischen Schriftsteller, die ihn vor allen anderen fesselte, und Morus’ Vorlesungen über Tacitus sind ihm noch lange in lieber Erinnerung geblieben. Aber Streitigkeiten mit dem Magister Schmidt, dem Vermittler zwischen ihm und dem Grafen, und besonders Vorwürfe Schmidt’s, der ihn für einen Ketzer hielt, weil er zu häufig badete und zu selten in die Kirche ging, und die Drohung, alle seine Klagen auch dem Grafen mitzutheilen, machten Seume’s Studien ein plötzliches Ende. Er wollte sich nicht mit dem Grafen über sein Wesen auseinandersetzen und verließ deshalb plötzlich Leipzig, um sich nach dem Westen Deutschlands zu wenden. Ein bestimmtes Ziel hatte er sich nicht gesetzt, er gedachte sich nur vorerst die Welt anzusehen, mit 9 Thalern in der Tasche glaubte er bis nach Paris kommen zu können. Aber in Vach wurde er von hessischen Werbern aufgegriffen und nach Ziegenhain gebracht, wo ein Fluchtversuch mißglückte. Von hier ging’s nun nach Kassel und Münden, und die Weser abwärts nach Bremen. Er und seine Mitgefangenen wurden eingeschifft, um nach Amerika transportirt zu werden. 23 Wochen dauerte die Fahrt, bis man endlich in Halifax landete. S. wurde wegen seiner Tüchtigkeit zum Unterofficier ernannt und mußte nun als solcher einen langen, qualvollen Lagerdienst durchmachen, eine Zeit, in der er die einzige Erholung in seinem Cäsar fand, den er bei sich führte. Endlich aber wurde Frieden geschlossen und S. mußte, ohne den Krieg mitgemacht zu haben, sich wieder nach Europa einschiffen. Zwar dauerte die Rückfahrt nur 23 Tage, aber neues Elend erwartete ihn, er sollte an die Preußen verschachert werden. Da aber ergriff er die erste sich ihm darbietende Gelegenheit zur Flucht und entkam glücklich nach Oldenburg, wo er die Aufmerksamkeit des Großherzogs erregte, der sich seiner warm annahm und mit ihm die Pläne über sein künftiges Leben besprach. Kaum aber hatte er Oldenburg verlassen, um seine Lieben in der Heimath aufzusuchen, so wurde er, da er vergessen hatte, seine militärische Kleidung abzulegen, von preußischen Werbern gefangen und nach Emden als Deserteur geschleppt, und zum gemeinen Soldaten degradirt. Bald machte er einen Fluchtversuch, aber im dicken Nebel verlor er die Richtung und lief seinen Peinigern in die Hände. Ein lateinischer Hexameter, den er im Kerker niedergeschrieben hatte, rettete ihn vor entehrender Strafe. Der General Courbière nahm ihn als Erzieher seiner Kinder auf. Aber S. suchte von neuem die Freiheit zu gewinnen, um von neuem nach Emden gebracht zu werden, wo er nur durch die Bitten der Bürger und die Gewogenheit des Generals der Todesstrafe entging. Durch eine List, die ihm ein Bürger angerathen hatte, entkam er endlich seinem Gefängnisse. Er nahm gegen eine Caution von 80 Thalern, die ihm sein Rathgeber vorstreckte, einen Urlaub zum Besuche der Seinen, um nicht wiederzukehren. S. ging nun, nachdem er seine Freiheit wieder gewonnen hatte, mit dem Gedanken um, seine Studien in Leipzig von neuem aufzunehmen. Nachdem er zuvor seinem Emdener Freunde die vorgestreckten 80 Thaler zurückgesendet hatte, die er sich durch Uebersetzung eines englischen Romans für den Buchhändler Göschen erwarb, wandte er sich nach Leipzig, und wurde hier schon 1792 Magister. Nun gedachte er sich für eine akademische Carrière vorzubereiten, nahm aber zuvor durch die Vermittlung seines Freundes, des Kreisteuereinnehmers Weiße, den Posten eines Erziehers im Hause des Grafen Igelström an, und wurde später Secretär eines Bruders des Grafen, des Generals Igelström, mit dem er nach Warschau ging, um hier alle wichtigeren diplomatischen Actenstücke für die Kaiserin Katharina II. auszuarbeiten. Nach der Niederdrückung des polnischen Aufstandes kehrte S. als Begleiter des Majors Muromzow nach Sachsen zurück und legte [66] nach dem Tode der Kaiserin Katharina auch seine Stellung als russischer Officier nieder, um in Leipzig durch Unterricht in der englischen und französischen Sprache seine Existenz zu finden. Im December 1801 unternahm er, um sich „auszulaufen“, eine Reise, die ihn über Oesterreich und Italien nach Syrakus führte, und kehrte nach 9 Monaten über die Schweiz und Paris wieder zu Fuß nach Sachsen zurück. Eine zweite, gleich bedeutende Reise unternahm er 1805, auf der er einen großen Theil von Rußland, Finnland und Schweden kennen lernte. Im J. 1808 begann er über ein Fußleiden zu klagen, das zwar schon früher, aber weniger fühlbar gewesen war, und bald gesellte sich dem noch ein Blasenleiden zu; doch stellte ihn das Jahr 1809 soweit her, daß er im Frühlinge 1810 eine Reise nach Weimar zu seinem Freunde Wieland unternehmen konnte. Nach seiner Rückkehr schloß er sich Tiedge, der gerade das Bad Teplitz besuchen wollte, an; hier griff seine Krankheit nur allzurasch um sich, am 13. Juni 1810 fand man ihn todt.

S. ist, wenn auch kein Dichter im vollen Sinne des Wortes, doch ein Schriftsteller von weitgehender Bedeutung, ein Mann von Geist und Charakter. Nicht aus innerem Antriebe griff er zur Feder, sondern durch äußere Umstände bewogen; er selbst war den Schriftstellern nicht sonderlich hold. Das erste, was er schrieb, die Uebersetzung des Romans Honorie Warren, geschah, um sich einer Schuld zu entledigen, und auch mit seinen anderen Schriften verfolgte er zumeist ganz andere Zwecke, als sich selbst den Ruhm eines Dichters und Schriftstellers zu verschaffen. Mit dem Jahre 1796 beginnt seine eigentliche schriftstellerische Thätigkeit, nachdem er bereits drei Jahre zuvor eine Abhandlung „Ueber Prüfung und Bestimmung junger Leute zum Militär“ in Warschau veröffentlicht hatte. Seine Schriften: „Einige Nachrichten über die Vorfälle in Polen im J. 1794“ (1796), zwei Briefe über die neuesten Veränderungen in Rußland seit der Thronbesteigung Pauls I. (1797), über das Leben und den Charakter der Kaiserin Katharina II. (1799) und „Anecdoten zur Charakterschilderung Suworows“ (1799) zeigen ihn als einen von Freiheitsdurst und Vaterlandsliebe beseelten Mann, als einen Tyrannenfeind und Aristokratenhasser, der seiner Zeit einen wahren Spiegel vor Augen hält. Er zeigt dem Volke, wie es in Sklaverei und Knechtschaft versunken sei, nachdem es die Achtung vor sich selbst verloren habe, und predigt gegen die Fürsten, die ihrer Würde und ihrer Pflichten vergessen und sich glücklicher fühlen über Sklaven zu herrschen als über freie, ihr Schicksal selbst bestimmende Völker. Die Gegenwart ist ihm zerfallen, zerrüttet und verderbt, Trost allein findet er in der Vergangenheit. Aus ihr taucht ihm das leuchtende Bild eines Miltiades, des Siegers von Marathon hervor, und krystallisirt sich in einem Drama (1808) voll flammender Vaterlandsliebe. Aus demselben Grunde verweilt er so gern bei Thukydides und Xenophon und übersetzt Theile ihrer Schriften, der Gegenwart ein Vorbild zu geben, und die Einleitung zur Erklärung schwierigerer Stellen bei Plutarch gestaltet sich ihm zu einer Verherrlichung der Vaterlandsliebe, so flammend und begeistert, daß kein Censor den Druck zugeben wollte, und sie erst lange nach seinem Tode veröffentlicht werden konnte. Derselbe Charakter durchweht auch seine Gedichte (1801). S. ist kein Dichter der Gefühle, aber doch voll Gemüth und inniger Liebe für alles Edle und Schöne und Gute. Ein verbitterter melancholischer Zug umschwebt seine Lippen, und was er singt, klingt herb und rauh, aber es ist wahr. Er haßt die Pfaffen und ihre heuchelnde Frömmigkeit und ist doch selbst voll Gottvertrauen; er warnt vor den Weibern, die der Erde größtes Uebel sind und hat doch selbst wahre und tiefe Liebe gefühlt; er eifert gegen den Egoismus und stellt ihn doch als das Grundprincip alles menschlichen Strebens und Handelns hin; denn der Widerspruch ist eben nur ein scheinbarer. Für Klopstock und Gleim ist er begeistert, Lessing schätzt er hoch und seine [67] Dramaturgie gilt ihm für unübertrefflich; in einem Aussatze über Schauspieler und ihre Kunst (1807) stellt er sich ganz auf seine Seite. – Die Schriften, die Seume’s Namen am bekanntesten gemacht haben, sind die Beschreibungen seiner beiden Reisen, der nach Sicilien, die unter dem Titel: „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ im darauf folgenden Jahre erschien, und der nach dem Norden: „Mein Sommer 1805“ (1806). Sie beide geben ein treffendes Bild der damaligen Verhältnisse in den betreffenden Gegenden, untermengt mit einer Fülle interessanter Bemerkungen, die von dem Geiste und der tiefen Bildung Seume’s sprechendes Zeugniß geben.