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Artikel „Wieck, Karl Ferdinand“ von Gustav Emil Lothholz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 63–67, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wieck,_Karl_Ferdinand&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 09:24 Uhr UTC)
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Wieck: Karl Ferdinand W., Rector und Professor am Domgymnasium in Merseburg, wurde geboren am 18. Januar 1787 in Trossin bei Torgau und starb am 8. December 1864. Der Vater, ein Geistlicher, bereitete den talentvollen Sohn zur Aufnahme in die sächsische Fürstenschule St. Afra in Meißen vor. Dreizehn Jahre alt, wurde Ferdinand in die berühmte Anstalt aufgenommen, wo Lessing seine akademische Vorbildung gefunden hatte. Mit einer tüchtigen classischen Bildung versehen, wie sie die Fürstenschulen zu geben pflegten, setzte W. in Leipzig unter berühmten Lehrern, von denen ich nur den großen Philologen G. Hermann nenne, seine Studien fort. Vor allen Dingen vertiefte er sich in philologische, philosophische und theologische Lectüre. Nach Beendigung seiner gründlichen akademischen Bildung, und nachdem er in der theologischen Staatsprüfung in Dresden mit der Censur „vorzüglich“ bestanden hatte, übernahm er in Altenburg nur auf kurze Zeit eine Hauslehrerstelle und wurde sehr bald als Nachfolger für den nach Schleusingen als Conrector versetzten Karl Christian Schmidt an die Landesschule Pforta berufen und am 19. Juni 1810 von dem ehrwürdigen Rector David Ilgen in sein Amt als Collaborator eingeführt. Mit Eifer und Hingebung, bekannt mit den Sitten und Gebräuchen geschlossener Anstalten, verwaltete er geschickt und gewissenhaft sein Amt bis Johanni 1817. [64] In diesem Jahre siedelte er als Conrector an das Gymnasium nach Merseburg über. Hier, wie Hiecke, sein treu ergebener Schüler und später sein intimer Freund und Amtsgenosse, schreibt (s. A. D. B. XII, 385 ff.), erschloß er durch die Art seines Unterrichts begabten Schülern ein höheres geistiges Leben. Hiecke hebt insbesondere das für seine Individualität wichtige Moment hervor, daß er auf den Rath Wieck’s der ausgebreiteten Romanlectüre, welche sein leicht empfängliches Gemüth zu gefährden drohte, entsagte und fortan bestrebt gewesen sei, mit unermüdlichem Eifer in den antiken und modernen Classikern hinter der schöneren Form auch den tieferen Gehalt zu erfassen. Schon nach 3/4 Jahren wurde W. nach Pforta geschickt, um nach dem Abgange des Magisters Gernhard als Diakonus und 4. Professor eine neue Thätigkeit an der berühmten Anstalt zu eröffnen. Auch in dieser Stellung bewährte er seine ungewöhnliche Tüchtigkeit, seine Predigten zeichneten sich durch reichen Inhalt und rednerische Gewandtheit aus, sein Unterricht war äußerst fruchtbar. Hier lernte er auch seine spätere außerordentlich tüchtige, schlagfertige, gewandte Gattin, Marianne Kuffs, Tochter des damaligen Schulpächters, kennen, die mit dem geistvollen Manne bis an sein Lebensende Freud und Leid getheilt, ihn in seinem Alter treu und gewissenhaft gepflegt hat.

Doch schon nach wenigen Jahren (1822) wurde W. seinem segensreichen Wirkungskreise wieder entrissen und als Rector des Domgymnasiums nach Merseburg versetzt. Vor allen freute sich Hiecke, der ein besonderer Verehrer des vorzüglichen Mannes war, seiner Wiederkehr. Unter sehr schwierigen Verhältnissen trat W. sein Amt an. Das Gymnasium war unter dem Vorgänger Hennecke und unter dem Einflusse des zum Trunke neigenden Conrectors Weiße gänzlich heruntergekommen. Dieser erbärmliche Zustand der höheren Bildungsanstalt der alten Stiftsstadt wurde nicht bloß von Schülern, sondern auch von den Bürgern schmerzlich empfunden. Auf Grund der kurzen Wirksamkeit Wieck’s als Conrector (1817–1818) erwartete man von dem neu eintretenden Rector eine neue Epoche der höheren Bildungsanstalt. Die Primaner ritten ihm in studentischer Weise bis zu dem an der Landstraße zwischen Merseburg und Naumburg gelegenen Gasthof „Luftschiff“ feierlich entgegen, um ihn zu begrüßen. Man hatte sich in der Wahl des neuen Rectors nicht getäuscht. Durch seine pflichttreue Thätigkeit und durch die anregende Art seines Unterrichts überwand er die Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellten.

Der Wunsch, den verehrten Lehrer bei der Aufrichtung der heruntergekommenen Anstalt zu unterstützen, bewog den trefflichen Schüler Hiecke, obwohl derselbe inzwischen bereits durch selbständige Studien die Reife für die Universität erworben hatte, zu einem zweijährigen Aufenthalt in der Prima über das bereits vollendete Triennium hinaus. Nachdem Hiecke seine akademischen Studien unter der Leitung des geistvollen Karl Reisig in Halle begonnen und in Berlin zum Abschluß gebracht hatte, kehrte er nach Merseburg zurück, um unter dem Beirath seines heißgeliebten W. sein Probejahr abzuleisten. Nach einer kurzen Beschäftigung als Hauslehrer und an dem Stiftsgymnasium in Zeitz wurde Hiecke 1837 an dem Gymnasium in Merseburg zu seiner und Wieck’s Freude nach Haun’s Weggange nach Mühlhausen als Conrector angestellt. Eng befreundet war der Rector W. mit seinem Conrector Hiecke; gleiche wissenschaftliche Interessen schlangen um sie eine innige Freundschaft. Das ausgezeichnete Buch über den deutschen Unterricht auf Gymnasien (1842) widmete Hiecke seinem heißgeliebten Rector.

Die Programme, welche W. veröffentlichte: „Zwei Abhandlungen über die Elektra des Sophokles und die Choephoren des Aeschylos nebst Anmerkungen [65] zu beiden Stücken“, Merseburg 1825 (die Abhandlung über die Sophokleische Elektra nahm Hiecke in sein deutsches Lesebuch, das in den 30er Jahren erschien, auf), fanden Anerkennung. Die 1852 über die Vögel des Aristophanes erschienene Abhandlung fand zwar nicht den Beifall des feinsinnigen Koechly, zeigte aber deutlich, daß W. sich auch mit diesem unvergleichlichen griechischen Komiker beschäftigt hatte. Für die Goethefreunde haben die im J. 1837 erschienenen Abhandlungen über Lehr- und Wanderjahre Wilhelm Meisters besonderes Interesse, seine theologische Bildung trat in der geistvollen Rede hervor, die er am 1. Juli zur Eröffnung der 300jährigen Religionsfeier in Merseburg gehalten hat. W. besaß ein tief religiöses Gemüth. In schweren und trüben Tagen, die in keiner Familie fehlen, pflegte er die Bibel zur Hand zu nehmen und sich sinnend in sie zu vertiefen, vor allem liebte er die Psalmen, über welche er auch begeisterte und begeisternde Vorträge ab und zu in der Aula des Gymnasiums zu halten pflegte. Begeistert war er von dem Kleinen Katechismus Luther’s. Auch Wieck’s großer Schüler L. v. Ranke sagt in der „Geschichte der Reformation“: „Der Katechismus, den Luther im Jahre 1529 herausgab und von dem er sagt, er bete ihn selbst, so ein alter Doctor er sei, ist eben so kindlich wie tiefsinnig, so faßlich wie unergründlich, einfach und erhaben. Glückselig, wer seine Seele damit nährte, wer daran festhält. Er besitzt einen unvergänglichen Trost in jedem Moment: hinter einer leichten Hülle den Kern der Wahrheit, der den Weisesten der Weisen genugthut.“ So übernahm W. auch eine Zeit lang den Religionsunterricht in Quarta – der Generalsuperintendent Möller rühmte bei einer Revision die Leistungen der Quartaner auf diesem Gebiete –, wußte auch jüngere Seelen für diesen Unterricht zu gewinnen. An der ersten im J. 1846 abgehaltenen“ Generalsynode nahm er als vom König ernanntes Mitglied Theil. Während seines Berliner Aufenthaltes fand er gastliche Aufnahme im Hause des Bischofs Neander, mit dem er befreundet war, da Neander vor seiner Berufung nach Berlin Hof- und Domprediger in Merseburg gewesen.

Vor allen Dingen habe ich aus dem schriftlichen Nachlasse Wieck’s, den mir sein Sohn, mein Schwager der Pastor W., überlassen hatte, ersehen, wie genau er, mit der Feder in der Hand, sich mit der Homerischen Dichtung, mit Pindar, den Platonischen Dialogen und den Sophokleischen Dramen beschäftigt hat. So versteht man das Bedauern, daß W. bei der Gründlichkeit und Vielseitigkeit seiner Studien nicht dazu zu bringen war, ein größeres, seiner Gelehrsamkeit entsprechendes Werk zu veröffentlichen. Er pflegte bei der fortwährenden Lectüre, die er trieb, seine Gedanken auf kleine Papierstreifen niederzuschreiben, die dann regelmäßig in den Papierkorb wanderten oder, da er ein starker Raucher war, zu Fidibussen benutzt wurden. Aber der Rector W. war nicht bloß ein vielseitiger, gründlicher Gelehrter, sondern auch ein Mann ohne Falsch, von einer seltenen Liebenswürdigkeit im Verkehr. Daher kam es, daß er von hallischen Professoren gern aufgesucht wurde. Der Theolog Karl Schwarz, später Generalsuperintendent in Gotha, die Historiker Max Duncker (später in Berlin), Röpell (später in Breslau), öfter auch der treffliche Tholuck u. A. erschienen namentlich Sonntags öfter, um mit dem geistreichen Merseburger Rector sich zu unterhalten. Ein strebsamer Pastor aus Globikau sprach regelmäßig in dem Rectorhause vor, um mit dem Bewohner des Hauses theologische und philosophische Fragen zu erörtern. Auch die jüngeren Lehrer, die sich auf Spaziergängen ihm anzuschließen pflegten, waren, wie mir der Curator der Bonner Universität Dr. Gandtner, welcher Lehrer der Mathematik in Merseburg gewesen war, erzählte, von der Art der [66] geistreichen Gespräche Wieck’s ganz hingenommen. Mit L. v. Ranke hat W. in Pforta privatim Sophokles gelesen, so daß der fromme Vater Ranke’s heidnische Einflüsse fürchtete, die W. auf seinen Sohn ausüben könnte.

In späteren Jahren versäumte L. v. Ranke nicht, wenn er auf seinen Reisen an Merseburg vorüberfahren mußte, in dem Wieck’schen Hause vorzusprechen. Charakteristisch für W. und Ranke zugleich ist, was in dem schönen von Alfred Dove herausgegebenen Buche „Zur eigenen Lebensgeschichte von Leopold v. Ranke“ S. 23 mitgetheilt wird: „Von allen persönlichen Begegnungen bei weitem die werthvollste und nützlichste war die Freundschaft, welche mir einer der Collaboratoren, Wieck, später Director in Merseburg, damals bewies. Ein Mann von Tiefe der Anschauung, etwas dunkel in seinem Ausdruck, namentlich, wenn das Feuer des Gesprächs ihn ergriff; aber zugleich den Einwirkungen des Zeitgeistes sehr offen, für das Neue empfänglich und immer bemüht, das eine mit dem andern zu combiniren. Von den dortigen Menschen war er der Einzige, der einen Begriff von Goethe hatte; er hat mir zuerst von Faust gesprochen. Lange (Professor, später Rector von Pforta) liebte Schiller; er gab uns zuweilen einige sehr glücklich ausgesprochene Sentenzen, an denen er Gefallen fand, selbst zu Uebersetzungsversuchen. Wir lasen die Schiller’schen Stücke und meinten, indem wir sie bewunderten, sie doch beurtheilen zu können. Sie sind dem Standpunkte der Jugend durchaus gemäß, denn sie bringen große objective Gestalten, die man vor sich sieht, vor die Augen; Farbe und Ton prägen sich dem Gedächtnisse ein. Das ist alles bei Goethe nicht der Fall, dem vielmehr die Welt gleichsam ein persönliches Ereigniß geworden ist, das er auf originelle Weise zusammenfaßt und wiedergibt. Da ist alles mehr subjectiv; ein gereifteres Alter gehört dazu, um daran Wohlgefallen zu finden. Auch war das alles nur vorübergehend; das ernstliche Studium gehörte ausschließend der alten Welt an. Und da kann ich es nun Wieck nicht genug danken, daß er mich in die Lyriker und besonders die Tragiker des griechischen Alterthums einführte. Ich sehe noch die Erfurdter (Erfurdt [s. A. D. B. VI, 195 fg.] 1801 Conrector in Merseburg, 1813 Professor in Königsberg, wo er am 5. Februar 1818 gestorben ist) Ausgabe der Sophokleischen Stücke vor mir, die er besaß und die er vor sich hatte, wenn wir sie miteinander lasen. Wir gingen zu Aeschylos fort, der mir freilich noch fremd blieb. Aber schon genug, wenn man außer dem, was man in der Hauptsache zu fassen meint, noch etwas wahrnimmt, was jenseits steht und für die Zukunft bleibt. Wieck hatte einen vollkommenen Begriff von dem Unterschiede der drei Tragiker. Ich fand an Euripides Gefallen, namentlich den Phönissen, doch geschah es wohl durch Wieck, daß ich mich von Anfang an mehr mit Sophokles beschäftigte. Es versteht sich, daß ich ihn durchlas. Allein für mich, ohne die Theilnahme des Freundes, machte ich auch den Versuch, daß eine oder das andere Stück zu übersetzen; Elektra übersetzte ich ganz und machte mit der Reinschrift dem Vater zu seinem Geburtstage ein Geschenk.“ So hat W. nach dem eigenen Bekenntniß des großen Geschichtschreibers in die Bildung desselben eingegriffen.

Bis zum Jahre 1855 waltete er unter manchen Widerwärtigkeiten seiner Gegner, unter denen sich auch wohl mißgünstige Collegen befanden, seines Amtes. Nach seiner Pensionirung siedelte er nach Leipzig über, wo eine seiner Töchter sich im Gesang ausbilden sollte. Auch hier hat er durch seine geistigen und sittlichen Eigenschaften angezogen, verehrungsvolle Freunde gefunden. In alter Weise lag er seinen geistigen Beschäftigungen ob, von alten Freunden und Verehrern öfter besucht. Im J. 1864 hauchte er, von allen, die ihn kannten, betrauert, seine reine Seele aus.

[67] Hauptquelle vorstehenden Berichtes ist das Ecce, das Prof. Buchbinder am 8. December 1865 in Schulpforta dem Rector Wieck gehalten hat, nachgelassene Abhandlungen u. Mittheilungen seines Sohnes u. seiner Töchter.