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Artikel „Wetzell, Georg Wilhelm“ von Friedrich Oetker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 61–63, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wetzell,_Georg_Wilhelm&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 03:27 Uhr UTC)
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Wetzell: Georg Wilhelm W., geboren am 23. Januar 1815 zu Hofgeismar in Kurhessen, Sohn des Rectors der dortigen Stadtschule, in dieser und dann auf dem Kasseler Gymnasium vorgebildet, studirte von Michaelis 1833 an zu Marburg Rechtswissenschaft in Verbindung mit philosophischen, geschichtlichen, philologischen Dissciplinen – mächtig angezogen und gefördert durch Puchta –, bestand im Frühjahr 1838 das sog. Candidatenexamen und besuchte dann die Berliner Universität, wo er Savigny, Klenze, Rudorff, Ranke, Ritter etc. hörte.

Der Wissenschaft gewonnen durch Puchta’s und Savigny’s Lehre und entschlossen, die akademische Laufbahn einzuschlagen, ging er von Berlin nach München, um an Schelling’s Philosophie die Weltanschauung zu gewinnen, die er sein Leben hindurch festgehalten hat.

Auf Grund der Dissertation „Lex XII tabularum rerum furtivarum usucapionem prohibet“ promovirte er am 16. Mai 1840 in Marburg und erhielt zugleich die venia legendi. Seine dortige Lehrthätigkeit, die sich auf Civilproceß und römisches Recht erstreckte, währte bis Herbst 1851.

Als Mitarbeiter an Richter’s und Schneider’s Kritischen Jahrbüchern (Besprechungen von Sartorius’ Widerklage, 1843, S. 599 fg., von Planck’s [62] Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten im Proceßrecht, 1847, S. 120 fg. u. s. w.) trat er in dieser Zeitschrift 1848 (S. 769 fg.) dem von Briegleb (Joannis Faxioli et Bartoli de Saxoferrato de summaria cognitione commentarii; Summatim cognoscere quid et quale fuerit apud Romanos; beide Schriften von 1843) aufgestellten Begriff der summarischen Cognition (objective Beschränkung des Beweises auf die „summa causae“, die nächsten und unerläßlichsten Voraussetzungen des Anspruchs, nicht qualititative Unvollkommenheit der Beweisgründe) entgegen, indem er seinerseits die Bescheinigungstheorie (Feststellung eines Rechtsverhältnisses nach bloßen Wahrscheinlichkeitsgründen) verfocht: eine Controverse, die auf die Civilproceßdoctrin sehr anregend gewirkt hat und demnächst von Briegleb in seiner „Einleitung in die Theorie der summarischen Processe“ 1859, von W. im § 29 seines Civilproceßsystems fortgeführt wurde.

Aus der Marburger Zeit datiren ferner: „Der römische Vindicationsproceß“, 1845 (wesentlich eine Untersuchung über die cautio judicatum solvi, Puchta gewidmet); der Nekrolog Puchta’s (in Huber’s Janus 1846, S. 337 fg., abgedruckt in Rudorff’s Ausgabe der kleinen civilistischen Schriften Puchta’s); „Bedenken gegen die Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit“, 1848 (W. befürwortet Beibehaltung der akademischen Gerichtsbarkeit in Disciplinarsachen einschließlich der polizeilichen Straffälle und in Civilsachen der Studirenden); die „Disputatio de quaestione, adversus quem in integrum restitutio implovanda sit“, Rectoratsprogramm 1850.

In Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeiten und seiner Lehrerfolge wurde W. 1845 zum außerordentlichen, 1846 zum ordentlichen Professor ernannt und, nachdem er 1849 auf 50 das Prorectorat in Marburg bekleidet hatte, im Sommer 1851 als Nachfolger von Bruns für die Professur des römischen Rechts und des Civilprocesses nach Rostock berufen.

Die Rostocker Periode, Herbst 1851 bis Frühjahr 1868, ist der für die Wissenschaft und die Rechtslehre werthvollste Abschnitt seines Wirkens. Er war ein außerordentlich beliebter Docent und hat durch seine Vorlesungen auf die Entwicklung des mecklenburgischen Juristenstandes und damit auf den wissenschaftlichen Geist der mecklenburgischen Praxis nachhaltigen Einfluß geübt.

In Rostock schuf er auch das Hauptwerk seines Lebens, das „System des ordentlichen Civilprocesses“ (1. Aufl. 1854–1861, 2. 1863–1865, 3. 1871–1878), die weitaus beste Gesammtdarstellung, die der gemeinrechtliche Proceß erhalten hat, und eine der hervorragendsten Leistungen der historischen Rechtsschule. Auf dem Grunde vollster Beherrschung der Quellen und Litteratur wird die Bildung der Proceßinstitute von den Anfängen bis zu ihrer schließlichen Gestalt geschildert und so ein historisch-systematisches Gesammtbild gewonnen, das die Kenntniß des gemeinen Civilprocesses der modernen Juristenwelt aufs trefflichste vermittelt und auf lange hinaus der Wissenschaft unentbehrlich sein wird.

Im April 1863 folgte W., nachdem er früheren Berufungen (nach Greifswald, Jena) sich versagt hatte, einem Rufe nach Tübingen, wo er noch drei Jahre hindurch mit stets wachsendem Erfolge gelehrt hat. Schweres Geschick, Tod der Gattin, des einzigen Kindes, mag ihm den Entschluß, von Rostock zu scheiden, erleichtert haben.

Von seinen akademischen Reden ist neben der Tübinger Antrittsrede über „das Wesen und die Bedeutung der Nationalität“ (1863) erwähnenswerth die Gedächtnißrede auf Stahl, die er als Rostocker Rector am 28. Februar 1862 gehalten und in der Neuen Preußischen Zeitung vom 27. März 1862 publicirt hat. Sie ist, wie der Nekrolog Puchta’s , charakteristisch für die [63] wissenschaftliche, politische, kirchliche Stellung nicht nur des Gefeierten, sondern auch ihres Verfassers. Der starke Einfluß der Schelling’schen Philosophie auf die Gedankenwelt der geschichtlichen Rechtsschule tritt charakteristisch in dem Nachrufe an Puchta hervor.

Im Frühjahr 1866 vertauschte W. das akademische Lehramt mit dem staatsmännischen Berufe. Sein früherer Landesherr Großherzog Friedrich Franz II. von Mecklenburg hatte ihm die Leitung des Schweriner Ministeriums des Innern angetragen. Für die Rechtswissenschaft bedeutete dieser Wechsel einen schweren Verlust. Den W. Nahestehenden wird sein Entschluß nicht unerwartet gekommen sein, eine Neigung zu staatsmännischem Wirken war schon in seinen Schriften gelegentlich erkennbar geworden. Getreu seinen streng conservativen und positiv-kirchlichen Anschauungen hat W. sein hohes Amt bis 1. October 1886 im Sinne und zur vollen Anerkennung (1877 Titel Excellenz, 1882 Großkreuz des Hausordens der Wendischen Krone) des Großherzogs geführt. Ein zweiter Ehebund wurde ihm Quelle dauernden Glückes.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Rostock, der ihm liebgewordenen Stadt, in der er einst als Lehrer und Forscher sein Bestes geleistet hatte, die weitere Entwicklung des Rechtes und der Jurisprudenz mit vollem Interesse, wenn auch den eigenen wissenschaftlichen Traditionen entsprechend nicht immer mit Beifall begleitend. Körperliche Rüstigkeit und seltene geistige Frische blieben ihm bis ins höchste Alter bewahrt. Nachdem er noch an seinem 50jährigen Doctorjubiläum, 16. Mai 1890, sich zahlreicher Ehrungen (Festschriften der Marburger Juristenfacultät und Sohm’s, seines Schülers aus der Rostocker Periode, Erhebung in den mecklenburgischen Adelsstand etc.) hatte erfreuen können, ist er am 22. October des nämlichen Jahres ohne vorangegangene Krankheit einer Herzlähmung erlegen.

Nachruf in den „Hessischen Blättern“, Nr. 1690 vom 12. November 1890. – Oetker, Georg Wilhelm von Wetzell, Zeitschrift f. deutschen Civilproceß Bd. 15, S., V–XX. – Ueber Wetzell’s Wirken als Ministerial-Vorstand findet sich einiges Material bei v. Hirschfeld, Großherzog Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin (Leipzig 1891), Bd. II.