ADB:Tillich, Ernst Gotthelf Albrecht

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Artikel „Tillich, Ernst Gotthelf Albrecht“ von Wilhelm Hosäus in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 303–309, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tillich,_Ernst_Gotthelf_Albrecht&oldid=- (Version vom 4. November 2024, 22:20 Uhr UTC)
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Tillich: Ernst Gotthelf Albrecht T., Pädagog, wurde am 17. Febr. 1780 zu Groß-Bresen bei Guben geboren, wo sein Vater Landschullehrer war. Nach Beendigung seiner Universitätsstudien promovirte er, wurde Magister und gründete in Leipzig ein Privatinstitut für Erziehung und Unterricht von Knaben. Seine hohe Begabung, sein reiches Wissen, sein sittlicher Ernst, seine Liebe zur Jugend ließen ihn den Zeitgenossen als geborenen Pädagogen erscheinen und schnell wandte sich ihm das Vertrauen der gebildeten Classen zu. Seine ersten pädagogischen Publicationen, gewissermaßen das Programm seiner Erziehungs- und Unterrichtsweise, gab er gemeinsam mit dem Professor der Philosophie Christian Weiß in Fulda in den „Beiträgen zur Erziehungskunst, zur Vervollkommnung sowohl ihrer Grundsätze als ihrer Methode“ heraus (1. Band, Heft 1 u. 2, Leipzig 1803; ein 2. Band folgte später, 1805 u. 1806). Die Basedow’schen Erziehungs- und Unterrichtsgrundsätze hatten schnell abgewirthschaftet, das Philanthropin in Dessau war seit Jahren eingegangen, Basedow selbst im J. 1790 gestorben und seine frühern Mitarbeiter Wolke, Campe, Salzmann, Olivier, Feder u. a., die inzwischen neue Anstalten gegründet hatten, wollten nicht mehr als Anhänger „philanthropistischer“ Richtung angesehen sein. [304] Der neue Prophet auf dem Gebiete der Pädagogik war Pestalozzi, dessen Bestrebungen sich auch T. mit voller Entschiedenheit zuwandte.

Im J. 1804 erschien Dr. Ludwig Heinrich Ferdinand Olivier aus Dessau (geb. 1759 zu Lasarra im Waadtlande, 1780 Lehrer am Dessauer Philanthropin, darauf Inhaber eines eigenen Institutes, seit 1801 viel auf Reisen, seine neue Lehrmethode einzuführen) in Leipzig. T. näherte sich ihm und beide vereinigten sich, nach ihren verwandten Grundsätzen eine neue Erziehungs- und Unterrichtsanstalt in Dessau zu gründen. Dieser Plan wurde für T. Veranlassung, daß er, wiewol mit Arbeit überhäuft und finanziell beschränkt, im Sommer desselben Jahres mit zwei Freunden, den Geistlichen Witte und Glaubitz, eine Reise nach Buchsee in der Schweiz unternahm, wohin soeben die Pestalozzi’sche Anstalt von Burgdorf verlegt worden war. Charakteristisch sind seine Worte über den Eindruck, den er dort hatte. „Es ist kein äußerer Prunk, keine imponirende Gelehrsamkeit, selbst nicht einmal ein alles durchdringender Geist, der die Wunder wirkt, von denen so viele begeistert und herbeigezogen wurden; es ist vielmehr die höchste Einfachheit, die unverdorbene Naturkraft, verbunden mit einem reinen und liebevollen Herzen, das alles schafft und erhält. Wenn man Pestalozzi mit den Gelehrten des nördlichen Deutschlands messen wollte, so würde man freilich auch bei dem besten Maßstabe zu keinem Resultate kommen, weil hier verschiedenartige Größen vorhanden sind, für welche man bisher überhaupt keinen gemeinsamen Maßstab hat ausfindig machen können. Pestalozzi selbst wirkt mittelbar für seine Zöglinge weniger, auch ist sein Herz und Geist nicht für die engen Grenzen einer Erziehungsanstalt geschaffen. Aber er ist der Brennpunkt, von dem aus nach allen Seiten sich Wärme und Leben verbreitet … Bis zum Innersten des Menschen dringt nicht ein bloßer Scharfsinn, und ein großer Verstand hat noch nirgends die Herzen und Sinne der Menschen beherrscht. Auch ging vom Großen nie etwas Großes aus … Von dem Herzen und den frommen Gedanken eines Einzigen, der die Stimme seines Genius deutlicher vernahm, ging das große Heil eines jeden Volkes aus. Den Eingebungen eines höheren Geistes folgten sie alle, welche die Nachwelt als Erlöser des Geschlechts preiset“ (vgl. T. über Pestalozzi in der Zeitung f. d. elegante Welt, 1805, S. 298 f.). An Hochschätzung für Pestalozzi’s Persönlichkeit und Bedeutung fehlte es T., wie man sieht, nicht; hingegen muß es auffallen, daß er über die Anstalt und die Erfolge innerhalb derselben schweigt und die Vermuthung liegt nahe, daß er sich ebenso wie einige Jahre (1810) später Karl v. Raumer von derselben unbefriedigt gefühlt hat. Ihm stand jedenfalls die Anregung, die Pestalozzi seiner Zeit gab, höher als Pestalozzi’s praktische Leistung, und so wirkte er denn auch nach seiner Rückkehr zwar im Sinne Pestalozzi’s und nach Pestalozzischen Grundanschauungen, aber nach selbstständig entwickelter Methode. Ebenso war er unermüdlich bestrebt, Pestalozzi’s Auffassung psychologisch und philosophisch (freilich in den Schranken der Psychologie und Philosophie seiner Zeit) tiefer zu begründen. Ein Theil seiner so entstandenen Schriften fand noch längere Zeit nach seinem Tode neue Auflagen (1821 und 1825).

Im Frühjahr 1805 siedelte T. nach Dessau über. Die schnellen Fortschritte, die seine Zöglinge in Leipzig gemacht hatten, bewogen die Eltern, ihre Kinder mit ihm gehen zu lassen, und so war von Anfang an die Anstalt mit einer gewissen Anzahl von Schülern versorgt. Der Ruf, der ihm vorausging, und das Ansehen, das Olivier in Dessau genoß, verschafften dem Unternehmen auch von Seiten der höheren Stände Dessaus eine rege Theilnahme und Herzog Franz von Anhalt-Dessau, der dem Ganzen von Anfang an trotz unangenehmster Erfahrungen, die ihm auf dem Gebiete des Erziehungs- und Unterrichtswesens [305] namentlich durch das Philanthropin bereitet worden waren, ein wohlwollender Beschützer gewesen war, der den beiden Leitern, Olivier und T., für ihre Zwecke ein neues, ursprünglich für Herrn v. Ponikau hergerichtetes Gebäude zur Verfügung gestellt und dem M. T. sofort bei seinem Erscheinen in Dessau den Professortitel verliehen hatte, blieb der Anstalt auch ferner gewogen und unterstützte sie schon im folgenden Unglücksjahre (1806) wieder in großmüthigster Weise. Was man von dem neuen Institute erwartete, spricht Spazier in einer Anzeige in der Zeitung f. d. eleg. Welt aus (Jahrg. 1804, S. 1113): „Durch die Verbindung zweier so schätzbarer Pädagogen wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine Anstalt geschaffen werden, die besonders als Pépinière für junge Lehrer und Erzieher, welche in den Geist der Olivier’schen und Pestalozzi’schen Methode eindringen wollen, für Deutschland von Wichtigkeit sein und die zur Mode werdenden pädagogischen Reisen in die Schweiz überflüssig machen wird. Olivier’s Ruf ist längst begründet. Aber auch Herr Prof. Tillich verdient das volle Vertrauen des Publikums; er besitzt Talent und gründliche Einsicht und Erfahrung in seinem Fache …, dabei Wärme für seinen Beruf, seltene Kinderfreundlichkeit und eine unermüdliche Thätigkeit. Ueberdem hat er erst kürzlich noch auf einer Reise in die Schweiz, wo er sowohl Pestalozzi’s Anstalt als auch die Schul- und Erziehungsanstalten in Aarau, Zürich, Bern, Heidelberg und Schnepfenthal genauer kennen zu lernen suchte, Erfahrungen eingesammelt, die diesem neuen Institut ohne Zweifel zu gute kommen werden. Ich füge mit Freuden den Wunsch hinzu, daß gute Familien diese neue Anstalt, die sich unter so günstigen Aussichten für die Erziehung in Dessau eröffnet, wo zwar viel Aehnliches einst scheiterte, aber unter Umständen, die schwerlich wiederkehren werden, auch scheitern mußte, ernstlich für ihre Kinder benützen mögen“. Ostern 1805 wurde die neue Anstalt in Dessau eröffnet. Olivier und T. führten die Leitung anfangs gemeinsam. Im 2. Hefte des 2. Bandes der oben erwähnten „Beiträge zur Erziehungskunst“ (Lpz. 1806) gibt T. über die innere Einrichtung Bericht: Als Aufgabe des Instituts erscheint „die rein praktische Darstellung einer durchaus consequenten und durchgreifenden Unterrichtsmethode und die Begründung einer planmäßigen intellectuellen und moralisch-religiösen Erziehung“. T. bemerkt dazu: „Ich weiß übrigens die intellectuelle Erziehung oder die Unterweisung von der moralisch-religiösen durchaus nicht zu trennen. Handeln muß man lernen, um moralisch; zart fühlen, um religiös zu sein. Die intellektuelle Bildung ist ein solches Gewöhnen zum geistigen Handeln; durch Beispiel und Gewöhnung zur Legalität wird über das Betragen gemacht; durch das Interesse am Schönen, Großen und Erhabenen das Gefühl kultivirt. Dies alles in möglichster Umfassung durchgeführt, ist Erziehung“. Die Anstalt bestand anfangs aus 18 Zöglingen und 22 Schülern, die (vom besondern Sprach- und Musiklehrer abgesehen) unter der unmittelbaren Leitung von vier Lehrern standen. Dem Prof. Olivier, der sich die Leitung der Elementarbildung und des französischen Sprachunterrichts vorbehalten hatte, stand ein Herr Uhrbach, speciell für Kalligraphie, zur Seite, während mit Prof. T., der sich „die weitere Durchführung der Methode durch das Gebiet der Wissenschaften“ erwählt hatte, ein Herr Friedenreich arbeitete. „Die Lehrgegenstände, fährt T. fort, sind in zwei Hauptabtheilungen getheilt, in historische und kombinirende, in extensiv und intensiv bildende. Diese beiden verschiedenen Zweige werden immer gleichzeitig bearbeitet. In wissenschaftlicher Hinsicht theilen sich dann die Gegenstände des Unterrichts in den mathematischen Kursus und in den historischen. Unter jenem begreifen wir von einer jeden Wissenschaft denjenigen Theil, der nicht das Werk der Erfahrung, sondern des eigenen Denkens ist; unter diesen fassen wir alles [306] zusammen, was nur durch Beobachtung, durch ein sicheres Auffassen in das Bewußtsein, ins Gedächtniß aufgefaßt und durch eine möglichst große Bündigkeit und Ordnung behalten werden kann. Von diesen Gegenständen werden aber nur zwei zu gleicher Zeit kultivirt, nämlich einer aus dem historischen und einer aus dem mathematischen Gebiete … Gegenwärtig wird in der Elementarklasse nur Sprache und seit kurzem auch Elementar-Arithmetik gelehrt“. Dem mathematischen (arithmetischen u. s. w.) Unterricht schrieb T. im Anschluß an Pestalozzi eine sehr hohe Bedeutung zu und sein im J. 1806 erschienenes „Allgemeines Lehrbuch der Arithmetik“ war für die Pädagogik der damaligen Zeit etwas in der That Neues. Der von T. erfundene und an die Stelle der Pestalozzi’schen Einheitstabelle gesetzte Rechenkasten, in dem die Einer durch einzöllige Würfel, die Zweier durch doppelt so große, die Dreier durch dreimal so große Prismen u. s. w. veranschaulicht sind (ein Apparat, der hier und da noch in Gebrauch sein soll), hat, wie richtig bemerkt worden ist, den Fehler, daß er die Zahl durch die Größe darstellt, was offenbar der reinen Zahlanschauung Eintrag thut; denn wenn auch ein Körper z. B. sechsmal so groß ist wie der als Einheit angenommene Würfel, so ist dennoch jener Körper nur einer, also kein unmittelbares Bild der Sechs. (Vgl. F. Dittes, Schule der Pädagogik, 4. Aufl., 1891, S. 664.) Im elementaren Sprachunterricht herrschte natürlich Olivier’s Methode, von der T. rühmend sagt, daß die jungen 4–6-jährigen Kinder in einer Zeit von vier Monaten so außerordentlich viel „an Cultur“ gewonnen haben, daß man sie kaum wieder kennt. „Ueberhaupt ist die Ausübung der ganzen Olivier’schen Methode ein Genuß. Die Lebhaftigkeit, die Lust und Freude, mit der sie betrieben wird, sticht so entscheidend von den gewöhnlichen Elementarschulen ab, daß man gegen sich selbst und seine Zwecke sprechen würde, wenn man sich gegen die Methode erklären wollte“. Die Hauptmomente der Geschichte wurden tabellarisch, aber zusammenhängend vorgetragen, vom Lehrer vorgesprochen, von den Schülern laut wiederholt. Was der Zögling gehört und gelernt hatte, mußte er behalten. „Der bessere Theil der Zöglinge erweitert seine Geschichtskunde durch Privatlectüre, der schwächere hat während der Zeit besondere Repetitions- und Nachhülfestunden.“ Neben den Wissenschaften ging auch die Uebung mechanischer Kunstfertigkeiten her, die Erholungsstunden waren theils gymnastischen Uebungen, theils Singübungen gewidmet. „Der Unterricht in der Religion cessirt gegenwärtig. Indeß wird alle Morgen eine religiöse Versammlung gehalten und des Sonntags eine allgemeine Sittenmusterung damit verbunden.“ Auch für Tanzen, Fechten, Reiten, Schwimmen u. Aehnl. sorgte die Anstalt und bei sonntäglichen Ausflügen durften die geübteren Schüler die Schar der jüngeren auch wol zu Pferde begleiten. Der Reitunterricht wurde in der herzoglichen Reitbahn ertheilt.

Wir enthalten uns in unserem Referate jeder weitern Kritik und weisen nur darauf hin, daß in dem Berichte, den Tillich’s Nachfolger, K. S. A. Richter, im Februar 1810 von der „ganzen innern und äußern Verfassung der Tillich’schen Erziehungsanstalt zu Dessau“ erstattet, schon manches anders erscheint, obschon auch da noch das Auswendiglernen von Tabellen im Geschichtsunterricht u. a. fortwährte und der religiöse Theil der Erziehung und des Unterrichts die schwächste Seite des Institutes blieb. Daß aber T., ohne Zweifel durch das nationale Unglück des Jahres 1806 darauf geführt, die Pflege vaterländischer Gesinnung in der Erziehung der Jugend nachdrücklich forderte, soll ihm in unsern Augen ein besonderes Verdienst sichern.

Dessau war, wie Mahlmann in Tillich’s Nekrologe hervorhebt, der Schauplatz manches verfehlten pädagogischen Plans gewesen und Tillich’s ganzer Ehrgeiz war, hier nun wirklich etwas Gediegenes zu leisten. Es war ihm nicht [307] vor allem um die Methode zu thun, die Methode war ihm nicht das Wesentliche, sondern nur Mittel zu höhern Zwecken. In seinem persönlichen Auftreten vermied er im Gegensatze zur Direction des damals der Stadt noch in frischem Gedächtniß stehenden Philanthropins alles Prahlerische, allen leeren Schein und alles täuschende Vertuschen. Die Prüfungen der Anstalt waren öffentliche, feierliche Acte, denen auch stets der Hof mit hoher Befriedigung beiwohnte. Trübe Erfahrungen blieben trotzdem T. in seinem Berufe nicht erspart. Verschiedenheit des Charakters und mancher Ansichten trennte ihn bald von Olivier und nöthigte ihn, die Leitung der Anstalt allein zu übernehmen. Die Last seiner Arbeit wurde dadurch für seine schwache Gesundheit nur zu schwer. Er suchte und fand zwar Hülfe in Karl Samuel August Richter (geb. am 24. August 1786 zu Wollmitz[1] bei Guben), der am 12. October 1806 als Lehrer der Anstalt eintrat, aber Tillich’s Kraft war wol jetzt schon gebrochen. Der Unterricht und die Ueberwachung der Zöglinge den Tag über, die Nachtwachen darauf, die er zu schriftstellerischen Arbeiten verwandte, der Tod seines Vaters, die hülflose Lage der Familie, der Tod eines jungen Grafen v. Schlieffen, der am 4. October 1806 als Pensionär der Anstalt starb, die öffentlichen Verhältnisse nach der Schlacht bei Jena, die jeden Patrioten niederdrückten, alles dies erschöpfte ihn, den feurigen, thatkräftigen, unermüdlich strebenden jungen Mann nur zu schnell und schon im Anfang des Jahres 1807 waren seine Freunde lebhaft um sein Leben besorgt. Man redete ihm zu, den Geschäften für eine Zeit zu entsagen und die edle Herzogin Luise, Gemahlin des Herzogs Franz, ließ ihm auf ihrem Landsitze Luisium bei Dessau eine Wohnung einräumen. Gerührt von solcher Güte ging er auf alle Vorstellungen ein und es schien auch, als sollte ihm Stärkung und Heilung zu theil werden. Im Juli 1807 schrieb er von seinem Asyl aus an Matthisson (1795–1811 Vorleser und Bibliothekar der Herzogin): „Wenn es nicht Umstände machte, so wäre es mir wohl lieb, wenn ich Schkuhr’s botanisches Werk auf die Zeit meines Hierseins von unserer verehrten Herzogin erhalten könnte. Mir fängt doch an, dann und wann die Zeit lang zu werden. Arbeiten will ich nicht, soll ich nicht, aber meine Botanik wieder vorzusuchen, Pflanzen zu sammeln, das wird mir Freude machen. Auch will ich dabei anfangen, Gartenarbeit zu verrichten. Denn, Gott sei Dank, meine Kräfte fangen an, sich langsam wieder einzustellen. Ich hoffe sicher Genesung. Alles geschieht mir übrigens mit freundlichen Gesichtern, was ich nur immer wünsche. So, aber gewiß auch nur so konnte meine Krankheit vorübergehen. Denn ich fing an, mich selbst aufzugeben. Gott! wie wird das große Unglück einer langwierigen Krankheit durch das noch größere Glück, so viel und solche Theilnahme gefunden zu haben, in Schatten gestellt werden! Ihr dankbarer Freund E. T.“ Die Hoffnung auf Wiedergenesung war trügerisch. Als der Herbst kam, neigte sich auch Tillich’s Leben zu Ende, ein Leben voll schönster Erwartungen, weitgreifender Entwürfe. Der Dank gegen die hohe Wohlthäterin, die ihn bis in seine letzten leidensvollen Tage in erfinderischer Weise zu stärken suchte, wie die Sorge für seine arme Mutter und Geschwister, gab ihm noch einmal die Feder in die Hand. Zitternd schrieb er am 28. October der Herzogin: „Was Ew. Kön. Hoheit an mir gethan, dafür flehe ich bald unter Vielen den Lohn vor Gottes Thron. Ewig mit dankbarem Geiste Ew. Kön. Hoheit allerunterthänigster E. T. Meine unglückliche Familie, der ich nichts erwerben konnte – ach, gedenken Ew. Kön. Hoheit, wenn sie leidet (ich war ja ihr Vater), auch ihrer.“ Seine Bitte fand ein theilnehmendes Herz. Am folgenden Tage schickte ihm die Herzogin durch seinen Arzt, den Medicinalrath Dr. Olberg, nachstehendes Schreiben: „Wörlitz, den 29. Okt. Lieber Tillich. Thränen entquollen meinen Augen, als ich gestern Abend Ihre [308] Handzüge zu lesen bekam, und vor Gott ergoß sich in diesen Thränen heißes Flehen, damit Er mich tüchtig mache, Ihren Wünschen und Ihrem mir bewiesenen Zutrauen zu entsprechen. Er, der gesagt hat:

Kann die Mutter vergessen ihres Säuglings,
Daß sie sich nicht über den Sohn ihres Leibes erbarme?
Vergäße sie sein;
Ich will dein nicht vergessen!

der wird sich im Leben und im Tode auch über uns erbarmen; und so beruhige sich Ihre schöne Seele. Gott sei mit Ihnen und beten Sie für Luise.“ Schon war T. zu schwach, der Herzogin selbst noch schreiben zu können. Dr. Olberg übernahm seine Antwort und schrieb der Herzogin: „Dessau, den 29. Okt. 1807. Gnädigste Fürstin. Ich habe das trostbringende Schreiben dem armen, bereits sterbenden Tillich selbst eingehändigt, an seinem Bett geöffnet und ihm auf Verlangen vorgelesen. Er faltete die Hände und sammelte am Schluß der herrlichen Zeilen seine Kräfte, die Worte „nun Ruhe und Auflösung!“ herzustammeln. Die Mutter weinte laut und der arme Kranke war so gerührt, daß er bei seiner ohnehin so großen Schwäche nichts weiter hervorbringen konnte. Die Wünsche der armen Mutter sind gewiß äußerst klein und bescheiden. Gott segne und belohne Sie dafür! O.“ Am 30. Octbr. meldete Olberg nach Wörlitz: „Gnädigste Fürstin! heut morgen drei Viertel auf 8 Uhr sank der gute edle Tillich in den Todesschlummer. Ruhe und Frieden der Asche dieses deutschen hochherzigen Mannes! O.“ Und „Segen! dreifacher Segen der edlen Fürstin!“ setzt Mahlmann in seinem Nachrufe, dem wir diese letzten brieflichen Mittheilungen entnommen haben, „von tiefer Rührung ergriffen“ hinzu.

Tillich’s Ruhestätte befindet sich auf der Südseite des sogenannten alten Gottesackers (Friedhof I) bei Dessau. Erst vier Jahre später erhielt das Gewölbe, in dem er beigesetzt ist, eine Gedenktafel, die ihm von vier Verehrern, dem Oberhofmeister v. Berenhorst, dem Major v. Knebel, dem Oberst v. Chambord und dem Geh. Rath v. Rode gewidmet wurde. Sie trägt nachstehende, angeblich vom Geh. Rath v. Rode verfaßte Inschrift:

Hier die heilige Gruft des weisen Erziehers der Jugend,
     Tillichs, dem Jüngling und Greis Thränen der Dankbarkeit zollt.
Daß nicht zu hell sich der himmlische Funken im Menschen entwickle,
     Riß ihn ein strenges Geschick früh aus dem wirkenden Kreis.

In der Leitung des Instituts trat durch Tillich’s Tod keine Unterbrechung ein. Der oben erwähnte K. S. A. Richter hatte sich so schnell in die Lehr- und Erziehungsweise der Anstalt eingearbeitet, daß er schon jetzt die Direction übernehmen konnte und, da auch sonst mancher, dem Institut vortheilhafte Wechsel der Lehrkräfte mittlerweile eingetreten war, sie auch mit bestem Erfolge eine Reihe von Jahren führte. „Die Befolgung Tillich’scher Grundsätze und seiner Methode“, schreibt Richter in seinem Berichte (1810), „wird nie aus den Augen verloren“. Doch nehmen wir unter ihm eine viel nachdrücklichere Behandlung des Sprachunterrichts wahr. Hatte T. den Gesammtunterricht in einen mathematischen und einen historischen getheilt, so finden wir bei Richter den Sprachunterricht diesen beiden als dritten gleichberechtigten hinzugefügt. Richter dringt hiebei auf einen psychologisch berechneten Stufengang: Organbildung, Lesen (nach Olivier’s Methode), Bildung der Sprachfähigkeit, Bildung richtigen Gedankenausdrucks nach gegebenem Stoffe, Uebungen der Darstellung des Selbstgedachten und Selbstgefundenen, Einführung in das Gebiet der Wissenschaftlichkeit, das sind die Ueberschriften der von ihm angenommenen sechs Curse. In den fremden Sprachen begnügte man sich mit dem geringsten Maaße des Grammatischen und [309] schritt sofort zur Lectüre. Im Latein wurden die leichten Historiker, etwas von Cicero, Horaz und Virgil gelesen, dabei wurde der lateinische Aufsatz geübt und lateinisch disputirt; im Griechischen beschränkte man sich (wenigstens anfangs) auf Herodian und Homer; für englisch und französisch waren in Rubens und Prof. Dütoit besondere Lehrer angestellt, die den Unterricht in ähnlicher Weise behandelten. (Der Pensionspreis – Unterricht eingeschlossen – betrug jährlich 50 Louisd’or; Tanzen, Fechten, Reiten wurden besonders bezahlt.) Im J. 1818 wurde Richter zum Director der herzoglichen (höheren) Töchterschule in Dessau berufen, und damit fand die Tillich’sche Anstalt ihr Ende. Das Gebäude, das zum Teil schon seit einer Reihe von Jahren einer Casino-Gesellschaft zu geselligen Vereinigungen, Bällen u. dergl. überlassen worden war, wurde im J. 1821 zur Errichtung einer herzogl. öffentlichen Bibliothek bestimmt. Hier hatte Wilhelm Müller, der Dichter der Griechenlieder, als erster Bibliothekar seine Dienstwohnung, in der er im J. 1827 starb. Im J. 1893 wurde die Bibliothek in das Prinz-Wilhelms-Palais Unter den Linden verlegt und das bis dahin von ihr occupirte Haus der Intendanz des Herzogl. Hoftheaters zu Wohn- und Geschäftsräumen übergeben. Richter blieb nur kurze Zeit in seiner neuen Stellung, indem er schon Ostern 1819 die erste Lehrerstelle an der höheren Gewerbe- und Handelsschule in Magdeburg (später die Directorstelle an einer höheren Töchterschule daselst) übernahm. Zuletzt zog er als pensionirter Professor wieder nach Dessau zurück, wo er im J. 1867 hochbetagt starb.

Ueber T. und seine Schriften vgl. J. G. Meusel, Das gelehrte Deutschland im 19. Jahrh. IV (1812), XXI (1827). – Ernesti in Hirsching’s Handb. XIV, Abth. 1, S. 334–337. – Mahlmann, Zeitung f. die elegante Welt, Jahrg. 1804, 1805, 1806 u. 1807. – National-Zeitung der Deutschen 1807, Stück 48. – A. G. Schmidt, Anhalt. Schriftsteller-Lexikon, Bernburg 1830.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 307. Z. 12 v. o. l.: Wellmitz. [Bd. 45, S. 674]