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Artikel „Simrock, Karl“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 382–385, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Simrock,_Karl&oldid=- (Version vom 4. Oktober 2024, 02:17 Uhr UTC)
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Simrock Karl Joseph S., Dichter und Germanist. Er wurde am 28. Aug. 1802 zu Bonn a. Rh. geboren als das 10. und jüngste Kind eines ehemals kurfürstlichen Hofmusikus, der sich nach der Vertreibung des Hofes ganz auf den Musikalienhandel gelegt und ein – noch heute fortblühendes – musikalisches Verlagsgeschäft begründet hatte. Im Elternhause bewunderte man Napoleon und liebte die französische Nation, das Lyceum, in daß Karl eintrat, war eine französische Anstalt – und doch fand der Knabe bereits den Weg zu den Meisterwerken der deutschen Dichtung, begeisterte sich an den großen Gestalten deutscher Sage und Geschichte und begrüßte mit Jubel die Niederwerfung des Franzosenkaisers. Im Spätjahr 1818 als Jurist immatriculirt, gehörte S. zu den ersten Studenten der jungen Bonner Universität, die Ostern 1819 eröffnet wurde. Das Interesse an deutscher Geschichte und Litteratur, daß ihn in die Hörsäle E. M. Arndt’s und A. W. Schlegel’s führte, brachte ihn auch mit Heinrich Hoffmann (v. Fallersleben), J. B. Rousseau, Ed. Böcking und Heinrich Heine in Berührung, und den Verkehr mit Heine setzte S. auch in Berlin fort, wohin er sich im Herbst 1822 zum Abschluß seiner juristischen Studien begab. Heine schätzte den tüchtigen und offenen Menschen und legte Werth auf sein Urtheil in litterarischen Dingen. Daß Altdeutsche, auf das ihn in Bonn ohne tiefere Anregung A. W. Schlegel geführt hatte, trieb S. zunächst mit Heine bei v. d. Hagen weiter, um dann mit dem bald befreundeten Wilhelm Wackernagel einer der ersten Schüler K. Lachmann’s zu werden, der im Spätjahr 1824 von Königsberg nach Berlin berufen wurde. Früh schon hatte sich bei S. die poetische Ader geregt, und ein lebendiger Verkehr mit Chamisso, Hitzig, Gubitz und andern Genossen der „Mittwochsgesellschaft“ belebte die eigene lyrische Production wie den Cultus Goethe’s, den der Jüngling schon zur Universität mitgebracht hatte. S. blieb auch, nachdem er die zweite Staatsprüfung bestanden hatte, als Referendar am Kammergericht in Berlin und vollendete hier im Winter 1826 in raschem Zuge die Uebersetzung des Nibelungenliedes, zu der ihn nach dem Erscheinen von Lachmann’s Ausgabe Niebuhr ermuntert hatte: sie erschien zu Ostern 1827 und wurde dem deutschen Volke von keinem geringeren als Goethe warm empfohlen. Gleichwohl brachte sie es erst im Jahre 1839 zu einer zweiten Auflage, hat aber freilich seitdem bereits das halbe Hundert überschritten.

Auf politischen Gebiete hatte der warmblütige Rheinländer die Fortschritte der Reaction wie die Regungen des Liberalismus in Deutschland und Frankreich mit Antheil verfolgt, und als zu Anfang August 1830 in Berlin die Nachricht vom Sturze der Bourbonenherrschaft eintraf, feierte er den Sieg der Freiheit in einem stark rhetorischen Gedichte „Drei Tage und drei Farben“. In einem freisinnigen Blatte gedruckt, brachte es dem poetischen Referendar die Entlassung aus dem preußischen Justizdienst und wurde so der Anlaß, daß sich S. ganz der Litteratur und der Wissenschaft widmete. Bald nach der Entlassung ist die Vorrede zu dem Sammelwerke „Die Quellen des Shakespeare in Novellen, Märchen und Sagen“ (1831, 3 Thle.) geschrieben; das Titelblatt nennt vor S. zwei hilfreiche Freunde, Th. Echtermeyer und L. Hentschel, deren Namen in einer zweiten, durch sagengeschichtliche Excurse vermehrten Ausgabe (Bonn 1872, 2 Bde.) mit Recht fortgelassen sind. Die Mußezeit verwandte S. zunächst in eindringendem Studium auf eine Uebersetzung der Gedichte Walther’s von der Vogelweide; sie erschien 1833 in 2 Bänden mit Anmerkungen Wilhelm Wackernagel’s, die später wegblieben, und hat es auf 7 Auflagen gebracht. Die tödtliche Erkrankung des Vaters hatte inzwischen S. an den Rhein zurückgeführt, und er blieb hier, in behaglichen Vermögensverhältnissen und seit 1834 in glücklicher Ehe, wohnen, indem er eine ungemein rege Thätigkeit als Sammler, Uebersetzer und nicht zum mindesten als selbständiger dichterischer Erneuerer alter Sage entfaltete. Zu den alten knüpfte [383] er als Poet und Germanist neue Beziehungen in Nah und Fern, und sein Haus in Bonn, sein Weingut in Menzenberg bei Honnef waren gastliche Heimstätten für den Kreis junger Dichter, der sich in den 30er und 40er Jahren am Rhein zusammenfand (Pfarrius, Smets, Kinkel, Freiligrath, Geibel, Al. Kaufmann, Wolfg. Müller). Damals erschienen u. a. die poetischen Sammlungen der „Rheinsagen“ (1836) und der „Kerlingischen Heldenbuches“ (1848), die Erneuerung der „Deutschen Volksbücher“ (von 1839 ab, Gesammtausgabe 1845 bis 1867; 13 Bde.), die Uebersetzungen des „Parzival und Titurel“ (1842, 2 Bde.) und der „Gudrun“ (1843), die Nachdichtung des „Guten Gerhard“ (1847), ferner der erste Theil seines groß angelegten „Amelungenliedes“ (1843) und als dessen Vorläufer „Wieland der Schmied“ (1835), sowie das „Kleine Heldenbuch“ (1844), mit diesem gleichzeitig die erste Sammlung der „Gedichte“ (1844). Den Ereignissen des Jahres 1848 stand S., der ganz in der vornehmsten Bethätigung des Patriotismus lebte, mit Schmerz und Sorge gegenüber. Er stellte (vgl. das Gedicht „Deutschland über Alles“) die Sache des Vaterlandes höher als die Sache der Freiheit und befürchtete von der Demokratie die Schädigung des Deutschthums und der Cultur. Es ist bezeichnend für ihn, daß er in jenen trüben Tagen deutsche Volksbücher und Räthsel sammelte und ein „Deutsches Kinderbuch“ (1850) vorbereitete.

Nach mehrfachen vergeblichen Anläufen erhielt S. 1850 eine ao. Professur der deutschen Sprache und Litteratur an der Bonner Universität; aber erst die Ablehnung eines Rufes nach München brachte ihm, dessen Vermögensverhältnisse inzwischen zurückgegangen waren, ein mäßiges Gehalt ein; 1858 folgte die Ernennung zum Ordinarius. Mit Ausnahme eines Jahres (1860/61), daß er in einer Heilanstalt für Nervenkranke zubringen mußte, hat er bis zu seinem Tode regelmäßig Vorlesungen gehalten, in denen er die Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur, deutsche Mythologie und von den altdeutschen Dichtern Walther von der Vogelweide bevorzugte, gelegentlich wohl auch Goethe’s Faust interpretierte. Er ward kein Lehrer mehr von glänzenden Erfolgen und Schule bildender Wirksamkeit, aber der warme innere Antheil und daß zwar nicht scharfe, aber klare Urtheil, mit dem er ein reiches Wissen vortrug, haben in seinen besten Jahren doch manchem den Sinn fürs deutsche Alterthum erschlossen. In dieses letzte Lebensdrittel fallen fast sämmtliche Arbeiten Simrock’s von wissenschaftlicher Haltung oder wissenschaftlichen Ansprüchen, so namentlich seine „Deutsche Mythologie“ (1855), sodann von den Uebersetzungen die der „Edda“ (1851), des „Tristan“ (1855), des „Heliand“ (1856), des „Beowulf“ (1859), des „Freidank“ (1866), einzelnes von Shakespeare, Es. Tegnér und den altitalienischen Novellisten; Erneuerungen des Seb. Brant, Joh. Pauli, Logau, Spee. Schließlich die Vollendung seines großen Epos, des „Amelungenliedes“ (1852), die „Legenden“ (1855), die neue Auswahl der „Gedichte“ (1863) und die „Dichtungen“ (1872), in denen er eignes und angeeignetes, episches, lyrisches, didaktisches und dazu eine Erneuerung des Volksschauspiels vom Doctor Faust aufnahm. In voller geistiger Frische und mit dem Enthusiasmus eines Jünglings durchlebte er die große Zeit der Einigung unseres Volkes und der Wiederaufrichtung des Kaiserthums und stellte sich mit seinen „Kriegsliedern“ (1870) und den „Liedern fürs deutsche Volk aus alter und neuer Zeit“ (1871) auch in den Dienst des neuerwachten Volksgeistes. Er warnte vor den Gefahren, welche das Unfehlbarkeitsdogma heraufbeschwor, und trat mit Eifer protestirend der Bonner altkatholischen Gemeinde bei. Kleine und große Schäden unter den lieben Landsleuten sah sein klares Auge und geißelte seine liebenswürdige Feder im „Neuen Narrenschiff“ („Dichtungen“ S. 322). Regsam in der alten Weise fortarbeitend und fortdruckend nahm ihn am 18. Juli 1876 der Tod hinweg.

[384] In Simrock’s schwer zu übersehender Gesammtproduction treten die Arbeiten streng philologischer Natur fast ganz zurück. Das beste was er für die Wissenschaft, der seine litterarische Thätigkeit manchen Jüngling früh geworben haben mag, direct geleistet hat, ist den „Gipfelpunkten der altdeutschen Dichtung“ zu gute gekommen, als die er Walther von der Vogelweide und die Nibelungen bezeichnete; in seiner Professorenzeit erschienen, sind die Schrift „Die Nibelungenstrophe und ihr Ursprung“ (1858) und die Ausgabe der Gedichte Walther’s (1870) doch in der Werkstatt des Uebersetzers vorbereitet. Wie S. den Unterschied zwischen Lied und Spruch bestimmt und die Spruchtöne bezeichnet hat, so halten es die Germanisten; andere seiner Anregungen (die Liedertöne, Chronologie der Sprüche) stehn jedenfalls noch heute zur Discussion. Und eben gegenwärtig wird auch seine fein ausgeführte Ansicht vom volksthümlichen Ursprung der Nibelungenstrophe durch neue Gründe gestützt, erfährt sein Hinweis, daß der Schlüssel zur deutschen Metrik im Volkslied und Sprichwort zu suchen sei, durch Rud. Hildebrand u. A. die schönste Ausführung. Problemen der höhern Kritik, wie sie auch der von S. neu herausgegebene „Wartburgkrieg“ (1858) darbietet, zeigte er sich dagegen nicht gewachsen; zur Förderung der großen „Nibelungenfrage“ hat er, der sich durch 50 Jahre immer wieder mit dem Epos beschäftigte, nichts beigesteuert. Und seine „Mythologie“ stellt in der Geschichte unserer Wissenschaft nicht einmal eine Etappe dar: dieser Versuch, die ganze Götterlehre der Edda als eigensten poetischen Besitz unserer Voreltern „auf den offenen Markt der Nation zu bringen“, bezeichnet vielmehr einen entschiedenen Rückschritt gegen Jac. Grimm, den S. durch Mehrung des mythologischen Wissensschatzes, voreilige Deutung und geistige Verwerthung überbieten wollte. Wie fremd und gleichgiltig S. jede Quellenkritik war, zeigt sich am deutlichsten da, wo sie sich ihm einfach aufdrängen mußte, bei den „Quellen des Shakespeare“. Dagegen soll es ihm unvergessen sein, wie er von früh auf bis in sein spätes Alter hinein neben den altdeutschen Studien immer wieder Goethe aufgesucht und noch ein Jahr vor seinem Tode eine Jugendliebe erneuert hat mit der Ausgabe des „Westöstlichen Divan, mit den Auszügen aus dem Buch des Kabus“ (1875).

Der Dichter und der Uebersetzer sind bei S. von dem Gelehrten durchaus nicht zu trennen, ja mit naiver Unbefangenheit löst gelegentlich einer den anderen ab: es macht S. gar nichts aus, in Bd. 10 seiner „Deutschen Volksbücher nach den ächtesten Ausgaben hergestellt“ die Geschichte von den 7 Schwaben aufzunehmen, wie er selbst sie aus der köstlichen Prosa Ludw. Aurbacher’s in die Strophen und den Stil der Jobsiade umgekleidet hat. In seinem großen „Heldenbuch“ läßt er auf „Nibelungenlied“ und „Gudrun“ seine eigene Ausgestaltung der Dietrichsage als dreibändiges „Amelungenlied“ folgen. Von einer Uebersetzung der „Edda“ zur Abfassung einer deutschen Mythologie dünkt ihn nur ein Schritt: und daß Ziel des Historikers alter Sage und Poesie gilt ihm völlig gleich mit dem ihres dichterischen Wiedererweckens. Dies Ziel ist „das Herz des Volkes“, wie er selbst sagt: er will in ihm daß erstorbene Vaterlandsgefühl wieder ins Leben rufen, und thatsächlich gehört er zu den besten und ist sicher der erfolgreichsten einer unter denen, welche zwischen 1830 und 1870 dafür gesorgt haben, daß die Wissenschaft Jac. Grimm’s in der Bildung und Gesinnung der Nation Früchte trug.

Freilich ist viel überhastetes und ohne Zweifel auch handwerksmäßiges in Simrock’s Betriebsamkeit: keine seiner Uebersetzungen kann als ein Meisterwerk gelten, wird auf die Dauer unserer Litteratur angehören, wie etwa das, was Wilh. Hertz als Uebersetzer geleistet hat; auch der Walther von der Vogelweide nicht, aus den er bei weitem den meisten Fleiß und die größte Liebe verwandt hat. Niemand wird heute mehr Goethe das Lob nachsprechen, daß Simrock’s Nibelungenlied [385] von dem alten „Gemälde nur den verdunkelnden Firniß“ weggenommen habe, denn dieser angebliche Firniß ist ein zarter, undefinirbarer Farbenstaub, der nur dem Sprachkundigen sichtbar ist, dem Laien durch nichts ersetzt werden kann. Kein Germanist wird heute noch Simrock’s Streben planmäßig fortsetzen und dem deutschen Volke eine möglichst große Masse altdeutscher Poesie in sprachlicher Umformung aufdrängen wollen, und jeder nüchterne Beurtheiler wird das Maß des wirklichen Verständnisses, das durch diese Uebersetzungen vermittelt wurde, recht gering anschlagen. Und doch haben sie unzweifelhaft eine historische Aufgabe erfüllt: sie haben Stimmung gemacht, die der Wissenschaft Wärme und Enthusiasmus erzeugt, die der nationalen Erhebung zu gute gekommen sind. Sie waren und sind zwar eine magere, aber doch unendlich bessere Kost als jene Ausgaben, welche durch schülerhafte Anmerkungen ein nothdürftiges Wortverständniß ermöglichen, daß wahrlich keinen bessern Begriff von den alten Dichtungen gibt. Und ausdrücklich muß ein ehrlicher Philolog S. Recht geben, wenn er auch noch die Schriftsteller des 16. und 17. Jahrhunderts sprachlicher Erneuerung für bedürftig hielt.

Der Dichter Simrock gehört zu den sympathischsten Erscheinungen aus dem Gefolge Uhland’s und Chamisso’s. Er hat ein paar kleine Stücke geschaffen, die uns, wie die „Warnung vor dem Rhein“ und daß „Ständchen“, ans Herz gewachsen sind und unvergänglich scheinen. Er hat auch sonst in der leichten Lyrik, im fröhlichen Gesellschaftsliede, in der historischen Ballade und im derben holzschnittmäßigen Schwank vortreffliches geleistet, in schelmischer Satire und im urwüchsigen Kernspruch oft den Nagel auf den Kopf getroffen. Auch seinen größeren Sagendichtungen fehlt es nicht an echter Poesie, die dem besten aus der alten Ueberlieferung abgelauscht scheint. Aber im ganzen sagen uns heutigen doch seine Knittelverse fast besser zu, als diese endlosen Nibelungenstrophen, und einer dauernden Wirkung scheint keines dieser Werke fähig. Aber sie alle gehören zu dem Gesammtbilde, zu dem Lebenswerke des Mannes, und dieses Lebenswerk als ganzes genommen, wird in der Bildungsgeschichte unseres Volkes unvertilgbar fortleben.

Nic. Hocker, Carl Simrock. Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1877. – Heinr. Düntzer, Erinnerungen an Carl Simrock, Pick’s Monatsschrift für Westdeutschland II (1876), 321–345. 501–531; III (1877), 1–18. 159–186.