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Artikel „Senckenberg“ von Rudolf Jung in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 1–5, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Senckenberg&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 01:13 Uhr UTC)
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Senckenberg. Aus dieser Frankfurter Familie sind drei Brüder hier zu erwähnen, jeder hervorragend in seiner Art, deren Bedeutung, besonders die der beiden älteren, weit über die Mauern ihrer Vaterstadt hinausreicht. Es sind die nachfolgend einzeln aufgeführten Söhne des Arztes Dr. Johann Hartmann S., der, einer der angesehensten Friedberger Familien angehörig, 1688 in Frankfurt a. M. einwanderte, 1700 hier erster Physicus wurde und 1730 als solcher starb. Die unglücklichen häuslichen Verhältnisse dieses von seinen Mitbürgern hochgeschätzten Mannes, der in zweiter Ehe an eine Gattin gefesselt war, die man nicht anders als Furie oder gar Megäre bezeichnen kann, haben auf die so verschiedene Charakterentwickelung der drei Söhne stark eingewirkt, haben sie zu den Sonderlingen gebildet, von denen Goethe (Aus meinem Leben, 2. Buch) eine so drastische Schilderung gibt.

Heinrich Christian S., geboren am 19. October 1704, wurde schon von zartester Jugend an in Gießen bei Verwandten erzogen und so den widrigen Eindrücken des Frankfurter Elternhauses entrückt. Er studirte in Gießen die Rechte und verbrachte dann mehrere Jahre in Frankfurt, wo der ausgezeichnete Jurist Johann Orth (s. A. D. B. XXIV, 442), der gelehrte Commentator des vaterstädtischen Rechtes, der sogen. Frankfurter Reformation, und besonders der hochgebildete Bibliophile, Z. K. v. Uffenbach, sich seiner annahmen. Nach weiteren Studien in Halle bei Thomasius und in Leipzig bei Mascow und Mencken wurde er 1729 Advocat in seiner Vaterstadt, trat aber schon im folgenden Jahre als Rath in den Dienst des Wild- und Rheingrafen v. Dhaun. Schon in dieser Stellung verwendete er seine Nebenstunden auf rechtswissenschaftliche und historische Studien, deren erste Frucht die „Selecta juris“ waren. 1735 wurde er an die neugegründete Universität Göttingen berufen, an welcher er eine hervorragende Zierde der Juristenfacultät bildete, 1738 kam er nach Gießen, 1744 nach dem frühen Tode der ersten Frau kehrte er nach Frankfurt zurück und wurde hier bei der Krönung Franz’ I. zum Reichshofrath ernannt. Als solcher lebte und wirkte er als eines der bedeutendsten Mitglieder des Reichshofrathscollegiums bis zu seinem am 30. Mai 1768 erfolgten Tode in Wien, von seinem Kaiser 1751 durch Verleihung der Reichsfreiherrnwürde ausgezeichnet, hochangesehen ob seiner Unbestechlichkeit und seines riesigen Fleißes. Heinrich Christian S. war ein durchaus hochachtbarer, sittlicher Charakter, die [2] menschlich sympathischste Gestalt der drei Brüder, ein treuer Sohn der Vaterstadt, der er seine Dienste nicht entzog, als er wider das Verfahren des Rathes gegen seinen jüngsten Bruder energischen Einspruch erhob. Seine Schriften, welche den Gebieten des deutschen Rechtes und der deutschen Geschichte angehören, sind äußerst zahlreich; ein vollständiges Verzeichniß derselben findet sich am Schlusse der Biographie, welche ihm sein Sohn Renatus gewidmet hat, und in Strieder’s Hessischer Gelehrten-Geschichte XIV, 203 ff. Seine 1724 erschienene Erstlingsschrift über „Die monarchisch-demokratische Form des Römischen Reiches“ bezeichnet schon die Hauptrichtung seines litterarischen Schaffens. 1730 besorgte er die dritte Ausgabe von M. Goldast’s Scriptores, 1734 die elfte von Struve’s Juris feud. syntagma. 1734–42 veröffentlichte er die seinem Freunde Uffenbach gewidmete Quellensammlung „Selecta juris et historiarum“ welche viele erste Drucke von Urkunden, Chroniken und sonstigen Quellen zur Geschichte des deutschen Mittelalters enthält und noch heute nicht völlig veraltet ist; der erste Band enthält nur auf Frankfurt bezügliche Stücke. In der „Sammlung von ungedruckten und raren Schriften zur Erläuterung des Staats“ etc. (4 Theile, 1745–51) machte er meist Actenstücke zu Reichs- u. a. Tagen des 15. und 16. Jahrhunderts bekannt. Es seien ferner erwähnt: das 1740 erschienene „Corpus juris feudalis Germanici“, eine Sammlung deutscher Lehnsgesetze, und die 1747 veröffentlichte Sammlung der Reichsabschiede seit Konrad II. Ueber rein juristische Themata schrieb er eine ganze Anzahl von kleinen Schriften und auch mehrere Lehrbücher, besonders während seiner akademischen Thätigkeit.

Johann Christian S., geboren am 28. Februar 1707, hatte am meisten von den Brüdern unter dem Zwiste der Eltern zu leiden, dem er selbst später seine mangelhafte moralische und wissenschaftliche Erziehung zuschrieb. Schon auf dem vaterstädtischen Gymnasium wandte er sich mit Vorliebe naturwissenschaftlichen Studien zu. Der mißlichen Vermögensumstände des Vaters halber, der im sogen. „Christenbrand“ von 1719 schwer geschädigt worden war, konnte er erst spät die Universität Halle beziehen, doch ließ er sich in der unfreiwilligen Muße zwischen Gymnasium und Hochschule seine praktische Ausbildung in der Heilkunde bei verschiedenen Aerzten angelegen sein. Nach nur kurzem Aufenthalt in Halle – der Tod des Vaters entzog ihm die Mittel zum Studium – wandte er sich wieder der praktischen Ausübung seiner Kenntnisse zu. In Berleburg lernte er den bekannten Separatisten Dippel (s. A. D. B. V, 249 ff.) kennen; sein Einfluß wurde entscheidend für Senckenberg’s moralische und religiöse Anschauung. 1732–39 lebte er als Arzt in seiner Vaterstadt und hatte hier mit seiner Mutter, bei der er wohnte, schwere Kämpfe zu bestehen. In Frankfurt verkehrte er viel mit den dort zahlreich vertretenen Separatisten, als Inspiraten, Pietisten, Herrnhutern und Harmonisten; doch trat er keiner Secte bei, sondern verhielt sich ihnen gegenüber ebenso ablehnend wie gegen die herrschende lutherische Orthodoxie. 1737 wurde er als erster medicinischer Doctor an der neuen Universität Göttingen promovirt. Vorübergehend hielt er sich dann als Leibarzt des Landgrafen von Hessen-Homburg in Tournay auf, mußte aber bald, da er durch freimüthige Aeußerungen den Hof und die Jesuiten verletzte, seine Stellung aufgeben. Von 1740 ab blieb er stetig in Frankfurt. Von den Chikanen der Mutter durch deren Tod erlöst, gründete er sich einen eigenen Hausstand; dreimal verheirathet verlor er seine Frauen alle durch einen frühen Tod, nachdem ihm nur mit der ersten ein ungetrübtes Glück beschieden worden war. Seine äußere Laufbahn brachte ihm 1751 das Amt des Land- und 1755 das des Stadtphysicus, 1757 wurde er als Hofrath der Leibarzt des Landgrafen Wilhelm von Hessen-Kassel. Die Erhebung in den Adelstand, die ihm der Bruder verschaffen wollte, wies er grundsätzlich zurück. [3] Seine Thätigkeit als Arzt brachte ihm die höchste Achtung der Mitbürger und ein ansehnliches Vermögen ein. Die Art und Weise, wie er dieses verwandte, hat seinen Namen unsterblich gemacht. Da ihm aus seinen drei Ehen keine Nachkommenschaft herangewachsen war, so beschloß er, sein Hab und Gut zum Besten der Vaterstadt zu vermachen. Nach langen Erwägungen und von dem älteren Bruder uneigennützig berathen, gründete er durch Urkunde vom 18. Aug. 1763 eine Stiftung, die aus einem wissenschaftlichen und einem mildthätigen Theile bestehen sollte. Den ersteren, der ihm stets die Hauptsache blieb, bildete das medicinische Institut und diesem wurden zwei Drittel der Einkünfte zugewiesen; es sollte der Verbesserung des vaterstädtischen Medicinalwesens dienen, indem es den Aerzten in einer Bibliothek, Naturaliensammlungen, einem botanischen Garten, einem chemischen Laboratorium und einem anatomischen Theater Bildungsmittel gab, die diesen bisher in Frankfurt nicht zur Verfügung standen, und indem es jungen Leuten durch Stipendien das Studium erleichterte, sowie bedürftige Aerzte und deren Familien vor Noth schützte. Der mildthätige Theil der Stiftung bestand hauptsächlich in einem großen Spital, welches nur für die Frankfurter Bürger bestimmt war, eine Beschränkung, die darin ihre Erklärung und Rechtfertigung findet, daß das bisher einzige Spital der Stadt „Zum heiligen Geist“ nur fremde Kranke aufnahm. Das Spital, zu dessen Gründung die ausgeworfene Summe unzulänglich war, wurde der Hoffnung des Stifters gemäß durch reiche Spenden seiner Mitbürger so ausgestattet, daß es, im Bau von ihm selbst noch begonnen, schon 1779 ins Leben treten konnte. Senckenberg’s Stiftung ist für seine Vaterstadt eine Quelle reichen Segens geworden: unmittelbar floß derselbe in seinem Krankenhaus und mittelbar machte er sich fühlbar durch die von ihm ermöglichte Besserung der medicinischen Verhältnisse in Frankfurt. An sein Institut schlossen sich im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Vereinen und Sammlungen an, deren Zweck die Pflege der Heilkunde und der Naturwissenschaften bildete. Die Anerkennung und der Dank der Zeitgenossen wurde dem Stifter noch bei Lebzeiten in reichem Maße zu theil; freilich mehr außerhalb seiner Vaterstadt, als bei den Mitbürgern und leider auch bei den damaligen Frankfurter Rathsherren. Die letzten Lebensjahre war S. eifrig auf den Ausbau seines Werkes bedacht, bis ihm am 15. November 1772, als er sich gerade des fortschreitenden Baues seines Spitales freute, ein unglücklicher Sturz vom Gerüst einen jähen Tod brachte. S. war eine durchaus religiöse, menschenfreundliche Natur, die im Leben von seinen Mitbürgern vielfach verkannt und verlästert wurde. Seine täglichen Aufzeichnungen, welche für Geschichte und besonders Culturgeschichte des damaligen Frankfurt eine wichtige, aber mit kritischer Vorsicht zu benutzende Quelle bilden, zeigen ihn als einen höchst achtungswürdigen Charakter, lassen aber auch erkennen, daß und warum er sich nicht der allgemeinen Beliebtheit erfreute. Mit scharfer Kritik betrachtet er das Treiben der Zeitgenossen, mit giftigem Spotte verzeichnet er die oft recht unschuldigen Schwächen und Lächerlichkeiten der Mitmenschen, aber auch durch den Hohn, mit dem er sie überschüttet, durch den Haß, mit dem er einzelne, so z. B. Goethe’s Großvater Textor, oft durchaus ungerecht verfolgte, klingt allenthalben seine aufrichtige Liebe zur Vaterstadt hindurch. Diese aber hat allen Grund, sein Andenken zu segnen.

Johann Erasmus S., geboren am 30. April 1717, war geistig den Brüdern ebenbürtig, aber in sittlicher Beziehung ein Schandfleck für die Familie. Der Liebling seiner Mutter, wurde er von dieser verzogen, seine moralische Ausbildung vollständig vernachlässigt; schon als Knabe machte er der Familie durch seinen Eigensinn und seine Bösartigkeit viel zu schaffen. Aber schon frühe entwickelte sich auch sein scharfer Verstand; schon mit 15 Jahren konnte er die [4] Universität Altdorf beziehen und dann in Göttingen unter Leitung des ältesten Bruders, der große Hoffnungen auf ihn als künftigen Juristen setzte, seine Rechtsstudien vollenden. Er kehrte dann nach Frankfurt zurück und widmete sich hier der advocatorischen Praxis, ohne förmlich in die Zahl der Advocaten aufgenommen zu sein. Seines juristischen Beirathes bedienten sich mehrere kleine Reichsstände und vor allen die beim städtischen Regimente ein Hauptwort mitsprechenden Patricier, die sich seine Fähigkeiten zur Mehrung ihrer Macht zu Nutze machen wollten. Auf deren und seines Bruders Heinrich Christian Betreiben wurde er 1746, noch nicht 30 Jahre alt, in den Rath gewählt. Sein Wirken als Senator war ein unheilvolles für die bisherigen Gönner, für die Stadt und für ihn selbst. Eine durchaus unsittliche Natur, ohne Grundsätze in allen Verhältnissen, auch das gemeinste Mittel nicht verschmähend, wenn es nur zur eigenen Bereicherung, zur Befriedigung seiner unersättlichen Rachgier dienen konnte, zerfiel er bald mit den früheren Freunden und nach und nach auch mit seinen anderen Collegen im Senat. In seinem Privatleben erregte er durch Unzucht und Völlerei schweres Aergerniß, in seiner Amtsführung ließ er sich die gröbsten Verbrechen, Betrug und Fälschung, zu Schulden kommen; trotz mehrfacher über ihn verhängter Geldstrafen wagte man lange nicht, ihn aus dem Senate zu entfernen, theils weil man auf den angesehenen Bruder in Wien und auf Senckenberg’s Beliebtheit am kaiserlichen Hofe – er war 1751 mit dem ältesten Bruder geadelt worden – Rücksicht nehmen mußte, theils weil man die scharfe Zunge und die noch schärfere Feder des mit allen Schlichen und Praktiken der regierenden Herren vertrauten Feindes fürchtete. Seine heftigen Streitigkeiten mit den Collegen im Senate, die sich lediglich um innere Verhältnisse der Stadt Frankfurt drehen und daher nur von localem Interesse sind, führten endlich dazu, daß er 1761 seines senatorischen Amtes enthoben und 1769 auf die Hauptwache gefangen gesetzt wurde; erst der Tod erlöste ihn am 21. Juni 1795 aus der Haft. Die echt brüderliche Unterstützung, die ihm der Reichshofrath in dem Kampfe gegen den Senat und der Arzt während seiner Gefangenschaft zu theil werden ließen, hat er mit schnödestem Undanke gelohnt. Die Streitigkeiten Senckenberg’s mit seinen Feinden im Rathe und das Verfahren des letzteren gegen ihn sind überaus charakteristisch für reichsstädtische Zustände im 18. Jahrhundert, und darum darf auch dieser jüngste Bruder auf eine mehr als localgeschichtliche Bedeutung Anspruch erheben. Senckenberg’s zahlreiche, anonym erschienene Druckschriften befassen sich fast ausschließlich mit stadtfrankfurtischen Angelegenheiten; es seien hier nur als von allgemeinerem Interesse erwähnt: „Anhang zu v. Moser’s Abhandlung von der Reichsstädtischen Regiment-Verfassung“ (1773); „Gutachten eines Rechtsgelehrten von Buchhorn[WS 1] über 14 das geistliche Staatsrecht derer Reichsstädte betreffende Fragen“ (1767); „Begriff von der Reichsstadt Frankfurt neuesten Regierungsverhältnissen“ (1769).

Ueber alle drei Brüder handelt sehr ausführlich G. L. Kriegk’s Buch: Die Brüder Senckenberg. Eine biographische Darstellung. Nebst einem Anhang über Goethe’s Jugendzeit in Frankfurt a. M. (Frankfurt a. M. 1869), ein Werk, welches auf gründlichem Studium des weitschichtigen archivalischen und sonstigen handschriftlichen Materiales beruht und weit mehr bietet als bloße Biographien der Senckenberge: es schildert außer diesen die Culturzustände und die bedeutendsten Persönlichkeiten Frankfurts um die Mitte des 18. Jahrhunderts; stellenweise Trockenheit und eine sehr unübersichtliche Eintheilung sind die Hauptfehler des fleißigen Buches. – Ueber den Reichshofrath: R. C. v. Senckenberg, Vita Henrici Christiani liberi baronis de Senkenberg (Frankfurt 1782). – Strieder, Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte XIV, 192–225. – Ueber den Arzt [5] und seine Stiftung: S. A. Scheidel, Geschichte der Dr. Senckenberg’schen Stiftshäuser (= Neujahrsblatt des Vereins für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt a. M. 1867); auf S. 30 ff. nähere Litteraturangaben, wozu jetzt noch hinzuzufügen ist: Frankfurt a. M. in seinen hygienischen Verhältnissen und Einrichtungen (1881, Neubearbeitung 1888) und kleinere Aufsätze nach Grotefend’s Verzeichniß von Abhandlungen zur Geschichte Frankfurts (1885). Die Tagebücher und Aufzeichnungen des Arztes befinden sich im Besitze der Stiftung, einiges wenige im Stadtarchiv. – Ueber den Senator besitzt letzteres die sehr umfangreichen Proceßacten und sonstigen Papiere, welche Kriegk als Grundlage seiner Arbeit benutzt hat.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Buchhorn, 1805 umbenannt in Friedrichshafen.