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Artikel „Selneccer, Nicolaus“ von Hermann von und zu Egloffstein in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 687–692, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Selneccer,_Nikolaus&oldid=- (Version vom 6. Dezember 2024, 02:44 Uhr UTC)
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Selneccer: Dr. Nicolaus S., protestantischer Theolog des 16. Jahrhunderts. Geboren am 6. December 1530 zu Hersbruck bei Nürnberg als Sohn eines Notars, bekundete er frühzeitig eine bedeutende musikalische Begabung und ward deshalb schon als zwölfjähriger Knabe beauftragt, in der Burgcapelle zu Nürnberg die Orgel zu spielen. Als er dies einmal in Gegenwart des damaligen römischen Königs Ferdinand (des späteren Kaisers Ferdinand I.) that, fand dieser so großes Wohlgefallen an seinem Spiel, daß er beschloß, ihn heimlich nach Spanien oder Böhmen entführen zu lassen, ein Plan, der jedoch von dem Vater des Knaben noch rechtzeitig vereitelt wurde. Im Jahre 1549 bezog der junge S. die Universität Wittenberg, wo er sich mit Eifer dem Studium der Theologie hingab und bald auch im Stande war, selbst Vorlesungen in diesem Fache zu halten. Mit Philipp Melanchthon, dem Haupte der Wittenberger Theologen, trat er während jener Zeit in nahe persönliche Berührung.

Nach etwa neunjährigem Aufenthalte zu Wittenberg folgte er 1558 einem Rufe Kurfürst August’s I. von Sachsen nach Dresden als Hofprediger und „Reformator“ des kurfürstlichen Prinzen Alexander. Er verblieb in dieser Stellung bis 1562. Im März des genannten Jahres vertauschte er sie mit einer Professur an der kurz zuvor gegründeten Universität Jena. Was ihn zu diesem Schritte bewog, war zunächst die Ungnade des Kurfürsten, den S. durch Anspielungen auf seine Jagdleidenschaft in seinen Predigten verletzt hatte. Dazu kam noch, daß er sich die Anhänger von Melanchthon’s vermittelnder und den Reformirten freundlicher Richtung, die zu jener Zeit am Dresdener Hofe wie in Kursachsen überhaupt maßgebenden Einfluß besaßen, zu Feinden gemacht hatte. Wohl war auch er lange Zeit hindurch ein eifriger Anhänger des praeceptor Germaniae gewesen, wie er denn selbst später eingesteht, er habe „an dem Gifte der Sacramentsschwärmerei im Spital der Calvinisten eine gute Zeit krank gelegen“. Nach Melanchthon’s Tode näherte er sich jedoch mehr und mehr den strengen Lutheranern, ein Verhalten, das ihm von seinen ehemaligen Parteigenossen [688] nicht verziehen wurde und infolgedessen nicht wenig dazu beitrug, ihm seine Stellung in Dresden zu verleiden.

Auch in Jena wurde ihm jedoch das Bleiben nach einigen Jahren durch theologische Händel unmöglich gemacht. Diesmal fiel er allerdings nicht dem Hasse der Philippisten zum Opfer, wiewohl dieselben damals an der thüringischen Hochschule ebenso wie am Dresdner Hofe das Uebergewicht besaßen. Selneccer’s Scheiden von Jena war vielmehr erst ein Ergebniß ihrer eigenen Verdrängung durch die extremen Lutheraner, die Anhänger des Zeloten Matthias Flacius Illyricus. Nach der Katastrophe Herzog Johann Friedrich’s des Mittleren, des Beschützers der Philippisten, war die Regierung der sächsisch-ernestinischen Lande 1567 an dessen Bruder Johann Wilhelm übergegangen. Derselbe war im Gegensatz zu Johann Friedrich eifriger Lutheraner und eilte daher, seine Parteigänger, die jener im Jahre 1561 wegen ihrer Unverträglichkeit und Unbotmäßigkeit aus Jena verwiesen hatte, dorthin zurückzurufen. Die gemäßigte Partei sah sich infolgedessen den Angriffen ihrer Widersacher schutzlos preisgegeben. Alle Gesinnungsgenossen der Wittenberger mußten das Feld räumen. Auch S. theilte ihr Schicksal, ungeachtet er noch während seines Aufenthalts in Jena von den Reformirten aufs heftigste geschmäht und angefeindet worden war. Hatte er doch auch in Wittenberg, „jener Kloake des Satans“, seine Bildung empfangen; Grund genug, um in den Augen der blindwüthenden Flacianer als Calvinist und Irrlehrer zu erscheinen. Durch die Angriffe jener sah er sich gezwungen, sein Amt niederzulegen und 1568 Jena, wo er sich kaum noch vor thätlichen Mißhandlungen sicher fühlte, zu verlassen.

Seinen Bemühungen gelang es indessen bald, wieder eine Anstellung zu finden und zwar in Kurfürst August’s Landen. Sehr freundlich war ihm dieser allerdings, wie wir wissen, von früher her nicht gesinnt; da er jedoch zugleich einen tiefen Abscheu gegen seine Vettern, die Ernestiner, und gegen deren Schützlinge, die Flacianer, hegte, so war er leicht geneigt, in S. ein Opfer des Hasses jener Eiferer zu erblicken, und es mochte ihm um so unverfänglicher erscheinen, ihn wieder zu Gnaden aufzunehmen, als dieser in einem Gesuche an ihn erklärt hatte, „er befinde in des Churfürsten Kirchen und Schulen noch die beste Richtung“. Er übertrug demselben 1568 die gerade verfügbare Stelle als Generalsuperintendent und Pastor zu St. Thomä in Leipzig.

S. bekleidete sie jedoch nur bis 1570. Schon in diesem Jahre gab er sie wieder auf, folgte einem Rufe des Herzogs Julius v. Braunschweig-Wolfenbüttel als Hofprediger und entwickelte als solcher eine eifrige Thätigkeit bei der Durchführung der protestantischen Kirchenordnung in den welfischen Landen und in Oldenburg. Unter Anderm war er auch an der Gründung der Universität Helmstedt im Jahre 1571 betheiligt. Seine Wirksamkeit in Niedersachsen dauerte knapp vier Jahre. Wie in Jena, sah er sich auch hier von den strengen Lutheranern, welche in der Geistlichkeit die Oberhand hatten, um seiner Vergangenheit willen aufs heftigste angegriffen, und alle seine Bemühungen, sich bei ihnen ins Vertrauen zu setzen, waren vergeblich. Bereitwilligst nahm er daher zu Anfang des Jahres 1574 die Gelegenheit wahr, in seine Stellung zu Leipzig zurückzukehren. Es war die – vielleicht mit Hülfe seines Schwiegervaters, des strenglutherischen Superintendenten Daniel Greser in Dresden erlangte – Fürsprache von Kurfürst August’s Gemahlin Anna, der S. diese Vergünstigung verdankte. Ihren Bemühungen in seinem Interesse hatten die Philippisten, mit denen sie seit langer Zeit bitter verfeindet war, nach allen Kräften entgegengearbeitet, und wenn sie schließlich ihren Willen beim Gatten durchsetzte, so war dieser Sieg nicht ohne Bedeutung, sondern kündigte vielmehr eine Wendung in der Politik des Kurfürsten an, die zunächst die kirchlichen Verhältnisse [689] Kursachsens, dann aber auch, bei August’s hohem Ansehen im Reiche, den deutschen Protestantismus überhaupt in neue Bahnen der Entwicklung lenkte. Gleichzeitig mit Selneccer’s Wiedererscheinen in Leipzig entzog der Kurfürst den Philippisten seine Gunst, warf ihre Führer ins Gefängniß, wo er sie mit ausgesuchter Grausamkeit martern ließ, und gab sich ganz und gar den strengen Lutheranern hin.

Melanchthon’s Anhänger waren nicht ohne eigene Schuld in Ungnade gefallen, zum guten Theil verdankten sie jedoch ihr schweres Schicksal den unablässigen Hetzereien und Verdächtigungen ihrer Gegner. Unter diesen aber zeigte Niemand größeren Eifer als S. Jemehr ihn die niedersächsischen Theologen wegen seiner einstigen Gemeinschaft mit den Philippisten anfeindeten, um so lebhafter mochte er das Bedürfniß fühlen, sich vor aller Welt als Gegner derselben zu bekennen und um so dringender mochte er zugleich wünschen, die Macht der Partei gebrochen zu sehen, die ihn als Abtrünnigen haßte und deshalb seine Rückberufung nach Kursachsen zu vereiteln suchte. Erwünschten Anlaß zum Beginn des Kampfes mit den Wittenbergern bot ihm eine mündliche Verhandlung, die er in Herzog Julius’ Auftrage behufs Feststellung einer gemeinsamen protestantischen Lehrnorm im Juli 1570 mit ihnen abzuhalten hatte. Er veröffentlichte im Anschlusse daran unter dem Titel „Exegema collationis Nicolai Selnecceri cum theologis Wittebergensibus 28. Juli anno 1571 Wittebergae institutae“ eine Schrift, worin er die Wittenberger der Hinneigung zum Calvinismus beschuldigte. Darauf betheiligte er sich im Frühjahr 1571 an der Abfassung eines überaus gehässigen Bedenkens der braunschweigischen Geistlichkeit über den soeben in Wittenberg erschienenen Katechismus, das dann Herzog Julius an August übersandte, und gab außerdem noch für sich allein eine Streitschrift über eine bestimmte Stelle jenes Katechismus heraus. Beim Kurfürsten von Sachsen hatten Selneccer’s Angriffe zuerst durchaus nicht die gewünschte Wirkung; sie verdrossen ihn vielmehr, und er sah sich im Frühjähr 1571 sogar veranlaßt, den Friedensstörer zur Ruhe zu verweisen. Jemehr jedoch August’s Mißtrauen gegen die Philippisten zunahm, umsomehr milderte sich sein Groll gegen S., und so gelang es schließlich dem Einflusse der Gattin, die Rückberufung ihres Schützlings bei ihm durchzusetzen.

Daß diesem bei der 1574 beginnenden lutherischen Reaction in Kursachsen nicht die unbedeutendste Rolle zuertheilt wurde, war vorauszusehen. Kein wichtigerer Schritt derselben erfolgte ohne seine Mitwirkung. Zunächst war er, gleich nach seiner Rückkehr, Mitglied des von August I. zu Torgau eingesetzten Glaubensgerichts, das die sogenannten „Torgauer Artikel“, ein Bekenntniß über die Abendmahlslehre im Sinne des strengen Lutherthums, abfaßte, dessen Unterzeichnung für die Zukunft allen Theologen der kursächsischen Universitäten zur Bedingung ihres Verbleibens im Amte gemacht wurde. Nachdem dies Gericht dem Willen des Kurfürsten Anerkennung verschafft und an einigen widerstrebenden Theologen die angedrohte Strafe vollstreckt hatte, ordnete August eine Generalvisitation an zu dem Zwecke, den Philippismus in seinen Landen mit der Wurzel auszurotten. Auch hier wirkte S. mit, und nicht minder war er in den folgenden Jahren in August’s Interesse thätig. Im Herbst 1576 sehen wir ihn nebst mehreren anderen lutherischen Geistlichen, allerdings vergeblich, bemüht, den gefangenen Führer seiner Gegner, Dr. Caspar Peucer, Melanchthon’s Schwiegersohn, zum strengen Lutherthum zu bekehren. Gleichzeitig finden wir ihn als Mitarbeiter an der Feststellung der Lehrnorm, durch die der Kurfürst die Zwistigkeiten innerhalb der protestantischen Kirche beizulegen suchte. Im Mai und Juni 1576 betheiligte er sich an dem Theologenconvente zu Torgau [690] und der Herausgabe des sogenannten „Torgischen Buches“, eine Thätigkeit, die im Jahre darauf, gleichfalls unter seiner Beihülfe, zu Kloster Bergen bei Magdeburg fortgesetzt wurde und deren Ergebniß das sogenannte „Bergische Buch“, eine Umarbeitung des torgischen, bildete. Dasselbe war zur Richtschnur für die gesammte protestantische Kirche im Reiche bestimmt, und Kurfürst August ging den Glaubensgenossen in dem Bemühen, es zur öffentlichen Geltung zu bringen, mit dem besten Beispiele voran. An der Ausführung seiner Pläne nahm S. natürlich ebenfalls regen Antheil. Er gehörte nebst Chemnitz und Andreae zu der geistlichen Commission, die in der Zeit vom Juni bis in den Herbst 1577 im Auftrage des Kurfürsten die Kurlande und die augenblicklich unter August’s vormundschaftlicher Verwaltung stehenden sächsisch-ernestinischen Fürstenthümer durchreiste, um daselbst von den Lehrern und Predigern insgesammt die Unterzeichnung der neuen Lehrnorm zu erzwingen. Das Exempel, welches August drei Jahre zuvor an den Philippisten statuirt hatte, verfehlte seine Wirkung nicht: binnen wenigen Monaten erreichten seine Commissare im ganzen Lande das gewünschte Ziel. Minder glücklich waren sie allerdings in den folgenden Jahren in ihrem Bemühen, auch die übrigen protestantischen Stände zur Anerkennung der Concordienformel zu bringen; nicht wenige derselben lehnten dieselbe entschieden ab. Gleichwohl wurde sie am 25. Juni 1580, dem fünfzigjährigen Gedenktage der Ueberreichung des Augsburgischen Bekenntnisses, zu Dresden in aller Form veröffentlicht.

Die Vorherrschaft des strengen Lutherthums im protestantischen Deutschland war hiermit entschieden, und S. erlangte als einer der Hauptförderer des Concordienwerkes und eine der „Grundfesten“ des Christenthums in Kursachsen hohes Ansehen, besonders als es ihm zu Ende des Jahres 1580 gelungen war, die Entlassung seines Amtsbruders und Nebenbuhlers Jacob Andreae, des obersten Leiters der lutherischen Reaction in August’s Landen, durchzusetzen. Er vermochte sich indessen nicht immer auf dieser Höhe zu halten. Im Januar 1586 starb Kurfürst August, und sein Nachfolger Christian I. wandte seine Gunst, im Gegensatze zu jenem, wieder den unterdrückten Philippisten zu. Wie zu erwarten, zahlten diese jetzt den Lutheranern die in den letzten zwölf Jahren zugefügte Unbill mit Wucherzinsen heim, und auch S. fiel ihrer Rache zum Opfer. 1588 ließ Kurfürst Christian auf Anstiften der Melanchthonianer an die kursächsische Geistlichkeit das Gebot ergehen, sich auf der Kanzel des Schmähens zu enthalten und daselbst auch den Namen „Calvinist“ nicht zu nennen. S. war der erste, der diesem Befehle zuwiderhandelte. Er ward in Folge dessen 1589 seines Amtes zu Leipzig entsetzt und mußte, obwohl schon in höherem Alter stehend, gleichwie sein Sohn, sein Schwiegersohn und viele andere Gegner der Philippisten, in die Verbannung gehen. Er wandte sich zunächst nach Magdeburg, wo er eine Zeitlang von den milden Gaben seiner Parteigänger lebte, bis er 1590 wieder eine Anstellung als Superintendent in Hildesheim erlangte. Von hier aus folgte er im Jahre darauf einem Rufe nach Augsburg, um daselbst die protestantische Kirchenverwaltung zu ordnen, eine Aufgabe, deren Erfüllung ihn bis ins Jahr 1592 hinein festhielt.

Inzwischen war Kurfürst Christian I. am 5. October 1591 gestorben, und nach seinem Tode hatte das strenge Lutherthum wieder Macht und Einfluß in Kursachsen errungen. S. erfuhr von diesem Umschwung, als er nach Abschluß seiner Augsburger Thätigkeit wieder in Hildesheim anlangte. Sofort kehrte er auf diese Kunde hin nach Leipzig, der Stätte seiner langjährigen Wirksamkeit, zurück. Es war ihm jedoch nicht beschieden, dieselbe wieder aufzunehmen. Schon bei seinem Wiedereintreffen in Hildesheim hatte er sich krank gefühlt, und da er ohnehin von schmächtigem Körper und zarter Gesundheit war, so konnte die [691] Reise nach Leipzig seinen Zustand nur verschlimmern. Er starb daselbst bereits vier Tage nach seiner Ankunft, am 22. Mai 1592.

Unter den Theologen seiner Zeit war S. ohne Zweifel eine der bedeutendsten Erscheinungen. Ob er zugleich auch eine edle und lautere Persönlichkeit gewesen sei, müssen wir freilich von Anfang an in Zweifel ziehen bei der bloßen Erwägung, welch’ thätigen Antheil er an den unerquicklichen inneren Kämpfen der protestantischen Kirche zu seiner Zeit genommen hat. Je näher wir ihn aber betrachten, umsomehr werden wir in unserer ungünstigen Meinung von ihm bestärkt. Sind uns die damaligen Vertreter des geistlichen Standes im ganzen ohnehin widerwärtig genug in ihrer grassen Unduldsamkeit gegen Andersgläubige, so ist es S. ganz besonders, denn er erscheint nicht nur, wie die meisten seiner Amtsbrüder, als ein rechthaberischer, zänkischer Pfaffe, sondern zugleich, wie nachsichtig wir ihn auch mit Rücksicht auf die Anfeindungen von Seiten seiner Gegner beurtheilen mögen, als ein höchst zweifelhafter Charakter. Als solcher offenbart er sich vor allem in seinem Verhalten gegen die Philippisten in den Jahren vor ihrem Sturze. Trotz seiner früheren Zerwürfnisse mit denselben erklärte er sich, wie bekannt, noch 1568 ausdrücklich als Anhänger ihrer kirchlichen Richtung, und schon wenige Jahre danach steht er, ein „Proteus in religione“, wie ihn Caspar Peucer scharf, aber treffend bezeichnet, an der Spitze ihrer Widersacher. Der Gunst Kurfürst August’s, die er durch diesen Abfall verscherzt hatte, sucht er sich durch niedrige Schmeicheleien wieder zu versichern. „Er wollte“, schreibt er an denselben, „von Herzen gern auf allen Vieren von Wolfenbüttel nach Dresden kriechen, um nur den Verdacht abzulehnen, in welchen man ihn beim Kurfürsten gebracht habe“.

In ebenso ungünstigem Lichte zeigt sich S. einige Jahre später gegenüber seinem Collegen Jacob Andreae. Mochte ihn dieser auch durch herrisches und heftiges Wesen gekränkt haben, unedel bleibt Selneccer’s Benehmen darum doch. Nicht genug, daß er dem Kurfürsten eine überaus gehässige Schmähschrift überreichte, die diesen gegen Andreae einnahm und so das Ihrige zu dessen Sturze beitrug: er that dies obendrein heimlich, ohne Vorwissen seines Gegners, durch Vermittlung seiner Gönnerin, der Kurfürstin Anna.

So gelang es ihm wiederholt, den Kurfürsten durch sein Ränkespiel zu beeinflussen. Glück und Segen hat es ihm freilich nicht gebracht. In kleinlichem Zank und Hader brachte er sein Leben hin; seinen Feinden, den Philippisten und Flacianern, diente er unaufhörlich zur Zielscheibe der leidenschaftlichsten Angriffe, und selbst seinen eigenen Parteigängern vermochte er weder Achtung noch Vertrauen einzuflößen. Kein Wunder daher, wenn er schließlich aufs tiefste verbittert war und innerhalb der neuen Kirche fast nirgends mehr etwas Gutes erblicken wollte. „Man weiß schier nicht“, schreibt er gegen Ende seines Lebens in der Erwiderung auf die Lästerschrift eines philippistischen Theologen, „wie wir mit einander selbst sind, ob wir Christen, Heiden oder Mamelucken sind.“

Seinem hervorragenden Antheil an den kirchlichen Kämpfen der Zeit entsprechend, hat S. auch als theologisch-polemischer Schriftsteller eine rastlose Thätigkeit entfaltet. Die Zahl seiner Schriften beläuft sich auf 175. Ihr Werth beruht zunächst auf den darin enthaltenen Beiträgen zu seiner Lebensgeschichte und Charakteristik, dann aber auch auf den ausführlichen Schilderungen der Zeitverhältnisse sowie der Zustände des Volkes und der protestantischen Kirche. Aus der großen Menge derselben dürften folgende Erwähnung verdienen: „Die Auslegung des Psalters“ Nürnberg 1565, „Commentarius in Genesin“ Leipzig 1569, „Bericht auf das Bekenntniß von der Rechtfertigung, geschrieben von drei Theologen zu Jena“, Leipzig 1569, „Christliche und nothwendige Verantwortung auf der Flacianer Lesterung etc.“ Leipzig 1570, „Warnung, sich vor der Sacramentirer [692] Schwarm zu hüten“, Dresden 1576, „Erinnerung vom Concordienbuche“, Leipzig 1581, „Erklärung etlicher streitiger Artikel aus der Concordienformel“, Leipzig 1582, „Formula concordiae“, Leipzig 1582.

Abgesehen von diesen schriftstellerischen Leistungen hat sich S., wie auch sonst viele protestantische Theologen seiner Zeit, als Verfasser zahlreicher Kirchenlieder hervorgethan, von denen sich jedoch die wenigsten im Kirchengesang erhalten haben. Allgemein bekannt sind noch heutzutage: „Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“ und „Laß mich Dein sein und bleiben“. Sein Verständniß für Musik hat er als Hofprediger in Dresden durch Förderung des Kirchengesanges bethätigt. In der auch musikalisch sehr werthvollen Sammlung: „Christliche Psalmen, Lieder und Kirchengesenge. Durch D. Nic. Selneccerum“ Leipzig 1587 tragen 134 Gesänge seinen Namen. Seine lateinischen Psalmenlieder „D. Nic. Selnecceri Paraphrasis Psalterii, sive carminum Davidicorum libri V“, 1573 fand ebenfalls zu ihrer Zeit große Anerkennung, wie er denn überhaupt neben Ringwaldt und Helmbold zu den fruchtbarsten und am meisten geschätzten kirchlichen Dichtern der 2. Periode des evangelischen Kirchenliedes gehörte. Erwähnt sei noch sein lateinisches Schuldrama: „Theophania. Comoedia nova de primorum parentum conditione.“ Witeb. 1560.

Anton, Geschichte der Concordienformel der evangelisch-lutherischen Kirche. – Calinich, Kampf und Untergang des Melanchthonismus in Kursachsen. – Ders. Aus dem 16. Jahrhundert. – Döllinger, Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umkreise des lutherischen Bekenntnisses. II. – Henke, Die Universität Helmstädt im 16. Jahrhundert. – Derselbe, Caspar Peucer und Nicolaus Krell. – Heppe, Geschichte des deutschen Protestantismus in den Jahren 1555–1581. – Herzog, Encyclopädie der protestantischen Theologie. – Janssen, Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 4–5. – Kluckhohn, Sturz der Kryptocalvinisten in Kursachsen, 1574. – Historische Zeitschrift 18. – Planck, Geschichte der Entstehung, der Veränderungen und der Bildung unseres protestantischen Lehrbegriffs vom Anfange der Reformation bis zur Einführung der Concordienformel. – Preger, M. Flacius Illyricus. – Pressel, die fünf Jahre des Dr. Andreae in Kursachsen. – Ranke, Zur deutschen Geschichte. (Vgl. Litteraturverzeichniß bei Janssen, Bd. 4 u. 5.) – Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 4. – Koch, Gesch. des Kirchenliedes, 23, S. 206 f.