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Artikel „Reutter, Georg, der Aeltere“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 330–334, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reutter,_Georg&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 05:58 Uhr UTC)
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Reutter: Georg R., auch Reitter der Aeltere. Unsere Musiklexika verwechseln fast durchgängig den Aelteren mit dem Jüngeren, da sie beide gleiche Vornamen und theilweise gleiche Aemter bekleideten, erst durch die trefflichen biographischen Werke von v. Köchel über Fux und Pohl über Haydn sind wir im Stande, ihren Lebenslauf und ihre Werke kennen und würdigen zu können. Der Aeltere wurde zu Wien im J. 1656 geboren, 1686 erhielt er den Organistenposten an St. Stephan daselbst und 1700 den Hof- und Kammerorganistendienst an der katholischen Hofcapelle. Außerdem gehörte er schon 1697 der Hofcapelle als Theorbist (Theorbe ist ein Lauteninstrument) an. Im J. 1712 erhielt er an [331] Stelle des J. J. Fux, der nach Zächer’s Tode Essentialcapellmeister bei St. Stephan wurde, die Capellmeisterstelle beim Gnadenbild daselbst und gleichzeitig 3 der Sängerknaben in Kost. Im St. Stephan, auch der Dom genannt, bestanden damals zwei verschiedene Capellen, erstens die eigentliche Domcapelle und zweitens die zum ungarischen Gnadenbilde. Gemeinsam hatten sie auch die Musik in der Salvatorkirche zu besorgen, wurden aber außerdem noch bei solennen Aemtern in den verschiedensten Kirchen Wiens verwendet, wofür die Mitglieder ein besonderes Honorar bezogen, so in der Hofburgcapelle, bei den Jesuiten, Schotten, Dominicanern, Augustinern, Kapuzinern, Karmelitern, Paulanern, Ursulinerinnen, Schwarzspaniern von Montserrat, bei St. Joseph, in der Xaveri- und Favoritcapelle; anderwärts aber auch in Schönbrunn, Laxenburg und Klosterneuburg. Im J. 1715 rückte er an Stelle des zum Hofcapellmeister ernannten Fux zum ersten Domcapellmeister vor, behielt aber die Stelle beim Gnadenbilde bei. Außerdem erhielt er 6 Sängerknaben in Kost und Unterricht, wofür er 1200 fl. und 550 fl. Gehalt empfing. 1728 wurde er jubiliert, wie es in den Acten heißt, das ist pensioniert, behielt aber die 6 Sängerknaben. Im J. 1695 am 8. Januar wurde ihm vom Grafen Franz Sforza, des heiligen römischen Reiches Fürst, in Rom die Ritterwürde ertheilt, die ihn in den Adelstand erhob, doch hat er wie Mozart von dem Wörtchen „von“ nie Gebrauch gemacht. Er starb im 82. Lebensjahre am 29. August 1738. Fux rühmt in einem Gutachten auf das Gesuch der Wittwe Reutter’s um ein Gnadengehalt, Reutter’s zu jeder Zeit geleisteten virtuosen Dienste und sein Accompagnement bei der Oper. R. war sowohl als Kirchen- wie Operncomponist seiner Zeit sehr geschätzt, ohne gerade hervorragendes zu leisten. Die Wiener Hofbibliothek bewahrt von 1728 bis zu seinem Tode geschriebene Kirchen-, Kammer- und Opernmusik auf. 1728 trat er sogar mit dem berühmten Caldara in die Schranken und componirte den ersten Act zu der Oper „La forza dell’ amicizia in Oreste e Pilade“, Text von Pasquini, während Caldara die Composition des 2. und 3. Actes übergeben wurde. 1731 wurde das Oratorium „Il martirio di S. Giovanni Nepomuceno“ in Wien aufgeführt, doch ist die Musik verloren gegangen. Dagegen finden sich in der Hofbibliothek noch 6 „Festa di Camera“, (weltliche Cantaten) und 4 „Serenata“, ebenfalls in der Form der weltlichen Cantate gehalten, vor.

Einen größeren Ruf als Componist erlangte sein Sohn

Georg Karl Reutter, gewöhnlich nur Georg R., genannt. Er war zu Wien am 6. April 1708 geboren. Bereits 1724 wünscht der Vater ihn als Hofscholar in die k. k. Hofcapelle aufgenommen zu sehen, doch verweigert der Obercapellmeister Fux das Gesuch, da alle Stellen überfüllt sind. 1726 wiederholt der Vater sein Gesuch, ihm den Sohn als Hilfe im Organistendienst zu geben, doch Fux muß abermals ablehnend antworten, da bereits sechs Organisten im Amte sind, trotzdem er dem jungen Manne das beste Zeugniß gibt und ihn einen „feinen Orgelspieler“ nennt. Jetzt hilft sich der alte Mann selbst und läßt den Sohn statt seiner das Organistenamt verwalten, so daß, als der Vater 1728 pensionirt wird, der Sohn nun als Stellvertreter das Amt für sich verlangt. Abermals abgewiesen sucht ihn aber Fux dadurch zu entschädigen, daß er ihm die Composition von Kirchen- und Opernsachen überträgt, da, wie er sagt „er gute Hoffnungen erwecke“. Dennoch muß er den Organistendienst weiter versehen haben, denn er wird 1731 als Organist supernumerarius von Fux erwähnt und ihm am 1. März desselben Jahres die Stelle eines Hofcompositeurs übertragen. Außerdem bekleidete er aber seit 1726 noch den Organistenposten im hochfürstlichen Stifte der Klosterfrauen zur Himmelpforte. Als Hofcompositor erhält er einen Gehalt von 400 fl., der sich bis zum 3. April 1733 [332] bis auf 1200 fl. gesteigert hat. Diese schnelle und ungewöhnliche Steigerung im Gehalte hatte ihren guten Grund in dem Unvermögen der beiden alternden Capellmeister Fux und Caldara und R. war nicht der Mann, sich eine solche Gelegenheit entgehen zu lassen. Der Bedarf an Musik war am kaiserlichen Hofe ein ganz ungeheurer, und da man zu jeder Feier, jeder Festlichkeit nur ein neues, besonders dazu gedichtetes und componirtes Werk aufführte, so war der junge und gewandte Mann eine gesuchte Persönlichkeit. Bei jedem neuen Auftrage lag auch schon das Gesuch um Erhöhung seines Gehaltes bereit, und da ihn keiner zu ersetzen im Stande war, so lautete das Gutachten Fux’s stets günstig für ihn, trotzdem er, der bescheidene Künstler, sich mit einem derartigen Treiben nicht einverstanden erklären konnte. So schreibt Fux am 3. April 1733, nachdem Reutter’s Gehalt erst vor kurzem auf 1000 fl. erhöht war und er abermals um eine Erhöhung um 500 fl. einkam, daß ihm 1200 fl. bewilligt werden möchten, die „300 fl. betreffend, weilen es mir ein unzeitiges Begehren scheinet, kan ich in selbige nit einrathen“. 1737, nach dem Tode seines Vaters, wird ihm die Domcapellmeisterstelle übertragen, die er auch noch beibehält, als er zum zweiten Hofcapellmeister ernannt wird. Er hatte als solcher die Kirchen-, Kammer- und Tafelmusik bei Hofe zu dirigiren, außerdem hatte er nach wie vor die Composition für Aufführungen und Feste zu besorgen, obgleich ihm jetzt eine Reihe angesehener Componisten zur Seite standen, wie Georg Wagenseil, Guiseffo Bonno und der schon ältere Matteo Pallotta. Trotzdem Predieri erster Capellmeister war, hatte R. es verstanden, sich bei Hofe durch ein feines und einschmeichelndes Wesen so beliebt zu machen, daß er thatsächlich als der gebietende Capellmeister erschien, obgleich ihm diese Stelle erst nach Predieri’s Tode im Jahre 1769 zufiel. – Am 27. November 1731 verheirathete sich R. mit Ursula Anna Theresia Holzhauser, einer vortrefflichen Sängerin (geb. am 22. October 1708 zu Wien, Tochter des Heinrich Holzhauser, Componisten und Musikdirectors der Capelle der verwittweten Kaiserin Amalia). Drei Jahre lang hatte sie unentgeltlich an der Oper und bei Hoffesten gewirkt und endlich im J. 1728 erreichte es der Vater durch endloses Petitioniren, daß sie mit 750 fl. angestellt wurde, die sich aber bald bis auf 3500 fl. steigerten, als sie bemerkte, daß sie unentbehrlich geworden sei. Man verstand sich sogar dazu, ihre Schulden von 4000 fl. zu decken (v. Köchel, Fux, Actenstücke). Fux betrieb mit Eifer ihre Anstellung und lobt in den Gutachten wiederholt ihre makellose treffliche, drei Octaven umfassende Sopranstimme, ihren Triller und namentlich ihre Fertigkeit in der Musik, so daß sie alles prima vista singe, „welches ihr wenig Sängerinnen nachthun können – sie scheine zur Musik geboren“, schreibt Fux am 24. Februar 1728. Erst im Jahre 1766 zog sie sich ins Privatleben zurück und bewohnte nach dem Tode ihres Mannes ein eignes Haus in der Vorstadt Landstraße von Wien, wo sie als wohlhabende Frau am 7. April 1782 im 74. Lebensjahre starb. Neben verschiedenen Legaten zu wohlthätigen Zwecken bestimmte sie auch testamentarisch 500 fl. zur Ablesung von „tausend Messen für ihr Seelenheil“. Am 21. April 1740 wurde R. von Kaiser Karl VI., der auch seinen ältesten Sohn über die Taufe gehalten hatte, in den österreichischen Adelstand erhoben und zwar, wie es in dem Diplome heißt „in Berücksichtigung der treuen und langjährigen Dienste seines Vaters und seiner eigenen vortrefflichen Eigenschaften, stattlichen Erfahrenheit und bisher geleisteten guten Dienste und dadurch erworbenen Meriten“. Gegen Ende der fünfziger Jahre scheint R. durch Gluck, Hasse, Jos. Scarlatti und Traetta aus seiner bevorzugten Stellung verdrängt worden zu sein. Als letztes Werk, das von R. bei Hofe aufgeführt wurde, wird ein einactiges „componimento dramatico“, betitelt „il Sogno“, Text von Metastasio, genannt, welches im Jahre 1756 in den kaiserlichen Gemächern von [333] der Erzherzogin Marianne und zwei Hofdamen aufgeführt und im nächsten Jahre wiederholt wurde. Bei den im Jahre 1760 stattgefundenen Vermählungsfeierlichkeiten des Erzherzogs (nachmaligen Kaisers) Joseph wurde die Leitung der Hofmusikfeste mit Beseitigung Reutter’s geradezu Gluck übergeben. Georg Edler von Reutter starb am 12. März *) 1772 im 63. Lebensjahre, bis zum letzten Athemzug seinem Amte vorstehend. Im Gegensatze zu seinem Vater, dessen Begräbniß nach testamentarischem Wunsche ohne jegliches Gepränge und mit möglichst geringsten Unkosten stattfand, wurde der Leichnam des Sohnes mit allem erdenklichen Pomp unter Begleitung von 35 Priestern verschiedenen Ranges in einer Gruft bei St. Stephan beigesetzt. Reutter’s Porträt existirt als Kupferstich (ohne Namenangabe des Künstlers), als Oelgemälde (im Museum der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) und als Pastellzeichnung (Musikzimmer der Sängerknaben des Stiftes Heiligenkreuz bei Baden nächst Wien). Es zeigt einen schön geformten Kopf mit intelligenten etwas strengen Gesichtszügen. – Reutter’s Charakter war nicht makellos; er wird als ein rücksichtsloser, habgieriger und aufgeblasener Charakter von Pohl in seiner Haydn-Biographie geschildert. Zur Zeit Reutter’s höchster Stellung an der kaiserlichen Hofmusik wurde der Bestand der Capelle aufs äußerste beschränkt, im Februar 1751 ging man mit dem Sparsystem sogar soweit, die gesammte Hofmusik R. in Pacht zu geben, wofür er die Summe von 20 000 fl. erhielt. Er nutzte diese Machtvollkommenheit nach seinen persönlichen Vortheilen in einer Weise aus, daß der Nachfolger Gaßmann die Capelle im kläglichsten Zustande fand. Die vorhandenen städtischen Amtsberichte klagen R. mannigfach der Habgier und der Vernachlässigung seines Kirchenamtes an. So tief ergeben er sich den Hofmitgliedern gegenüber zeigte, so hochfahrend und nachlässig war er den ihm Gleichgestellten oder Untergebenen gegenüber. Trotz der vielfachen Aemter die er bekleidete, speculirte er z. B. dennoch auf den frei gewordenen Capellmeisterposten am ungarischen Gnadenbilde an St. Stephan, und als der Magistrat den Chorregenten Ferdinand Schmidt bestimmte, suchte er die Wahl in gehässiger Weise rückgängig zu machen, worauf die Stadtbehörde ein geharnischtes Promemoria an die niederösterreichische Regierung richtete, in der Reutter’s Anklage Punkt für Punkt widerlegt wird. R., heißt es unter anderen, fände ohnedies in seinem doppelten Amte Beschäftigung genug; nachdem er aber beim gewöhnlichen Kirchendienst am allerwenigsten anzutreffen sei und öfter die ganze Woche hindurch kaum ein- bis zweimal den Chor frequentire, stehe es zu vermuten, daß er auch beim Gnadenbilde eine gleiche Fahrlässigkeit bezeigen werde u. s. f. (siehe Pohl, Haydnbiogr. I, 40). – R. ist als Componist ungemein fruchtbar gewesen und war seiner Zeit außerordentlich beliebt, da er so schrieb, wie es seine Zeit gern hörte. Das Stift Klosterneuburg besitzt z. B. 29 Messen, ein Requiem und eine große Anzahl kleinerer Kirchencompositionen. Im Stifte Heiligenkreuz, auf der kaiserlichen Hofbibliothek und im Archiv der Musikfreunde in Wien liegen Oratorien und Opern in großer Menge. Die früheste Erwähnung einer Oper von R. geschieht im Jahre 1727 zum Namenstage der Kaiserin Elisabeth. Von da ab schrieb er jährlich mehrere Opern und Oratorien zu Festlichkeiten am Hofe und hohen Feiertage der Kirche. Reutter’s Kirchencompositionen zeichnen sich fast durchgehends durch äußeren Glanz und eine feurig bewegte Instrumentation aus und wurden daher an Festtagen mit Vorliebe gewählt. „Rauschende Violinen à la Reutter“ sind sprichwörtlich geworden. Seine sogenannte Schimmelmesse wurde noch vor etwa 30 Jahren stets beim Frohnleichnamsfeste in St. Stephan aufgeführt. Schimmelmesse [334] wurde sie genannt, da ihm dieselbe die Gunst des Gebrauches einer Hofequipage einbrachte, nach der er sich lange gesehnt hatte und die ihm die Kaiserin nach Anhörung der Messe gewährte (Pohl a. a. O. S. 39). Der Historiker und Musikgelehrte Burney urtheilte freilich über eine Messe von R., die er bei seinem Besuche der Kaiserstadt hörte, sehr abfällig und nennt sie mattes, trockenes Zeug; man könne von dieser Musik, fügt er hinzu, höchstens sagen: sie mache viel Geräusch und sage dabei sehr wenig. Seine deutschen Landsleute urtheilten dagegen anders. Das Wiener Diarium vom Jahre 1766 Nr. 84 schreibt, z. B. unter anderem: „R. ist unstreitig unser stärkster Componist, das Lob Gottes zu singen, das Muster aller hiesigen in dieser Sphäre arbeitenden Männer. Denn wer weiß besser als er das Prächtige, das Freudige, das Frohlockende, wenn es der Gesang erfordert, auszudrücken? Wer ist pathetischer, harmoniereicher als eben er, wenn der Gesang eine Traurigkeit, eine Bitte, einen Schmerz verlangt? Seine Messen ziehen jederzeit eine Menge musikalischer Zuhörer nach sich, und jeder geht erbaut, gewonnen und belehrter hinweg.“ Der beste Beweis für seine Popularität sind wohl die wiederholten Aufführungen einzelner Werke bis weit in unser Jahrhundert hinein. R. hat aber noch ein weiteres Interesse für uns, denn Joseph Haydn war von 1740–1750 Sängerknabe unter seiner Leitung und genoß sowohl dessen musikalische als leibliche Erziehung. Wenn letztere auch in mancher Hinsicht streng und oft knapp gehalten war, wie Pohl klagt, so war bei dem Wildfange Haydn die Strenge gewiß angebracht, denn bei allen tollen Streichen, die von den Alumnen ausgeführt worden, war gewiß Haydn der Anführer und der Muthwilligste, so daß selbst die Kaiserin mehrfach Gelegenheit nahm, ihren Capellmeister anzuhalten, den blonden Dickkopf in strengere Zucht zu nehmen. Dennoch hat Haydn seinem Lehrer stets ein treues und dankbares Andenken bewahrt.


[333] *) v. Köchel, Register der königl. Hofmusikkapelle in Wien 1869, S. 85, nennt unter Nr. 1118 den 11. März als Todestag nach dem Wiener Diarium.