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Artikel „Reichenbach, Georg von“ von Karl Maximilian von Bauernfeind in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 656–667, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reichenbach,_Georg_von&oldid=- (Version vom 16. Oktober 2024, 07:44 Uhr UTC)
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Reichenbach, Ludwig
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Reichenbach: Georg v. R., Ingenieur und Mechaniker. Die unsterblichen Verdienste dieses größten bairischen Technikers sind von berufener Seite bis heute noch nicht eingehend gewürdigt worden. Denn der unbekannte Verfasser eines auf Befehl Königs Ludwig I. im Regierungsblatte des Jahres 1829 erschienenen ersten Nekrologs war sicherlich ein Jurist, so genau sind in demselben die Hauptmomente des thatenreichen Lebens von R. verzeichnet, während eine zweite von der k. Akademie der Wissenschaften zu München im Jahre 1852 veranlaßte biographische Ehrung einem berühmten Philologen ihren Ursprung verdankte, der in seine Rede „über die wissenschaftliche Seite der praktischen Thätigkeit“ Notizen über Reichenbach’s Leben verflocht und so weit ausführte, als es seinem Hauptzwecke angemessen erschien. Neben diesen beiden an sich sehr verdienstlichen Lebensbeschreibungen wird daher die nachfolgende auf genauer Kenntnis seiner Werke beruhende und eigens für dieses Werk geschriebene Darstellung der Entwicklung und Wirksamkeit Georg v. Reichenbach’s noch immer Beachtung verdienen, obgleich sie der Verfasser bei der Schlußfeier [657] der Technischen Hochschule in München Ende Juli 1883 schon zu einem öffentlichen Vortrage benützt hat.

Georg v. R. wurde am 24. August 1772 zu Durlach in Baden gerade zu der Zeit geboren, wo sein Vater, ein sehr geschickter praktischer Mechaniker, als Stuckbohrmeister, in pfalz-bairische Dienste trat und nach Mannheim übersiedelte. Bald darauf mit der Leitung der mechanischen Werkstätten des dortigen Militärzeughauses betraut, führte der ältere R. später als Artilleriehauptmann und Major das Commando der Ouvriercompagnie in München und starb dort 1822 als Oberstlieutenant der Artillerie, ein allgemein geachteter Mann. Der Vater sorgte für den Unterricht seines reichbegabten Sohnes in der Weise, daß er ihn bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahre Elementar- und Lateinschule besuchen ließ, dagegen in der Ausführung mechanischer Arbeiten selbst unterrichtete, ein Unterricht, der auch dann noch neben dem wissenschaftlichen fortlief, als Georg der Militärschule zu Mannheim vier Jahre lang angehörte. Diesem Umstande mag es wesentlich zu danken sein, daß alle Werke Reichenbach’s ausnahmelos den Stempel größter Einfachheit und Zweckmäßigkeit an sich tragen: seine gleichmäßige theoretische und praktische Ausbildung ließ in einem so erfindungsreichen Kopfe Idee und Ausführung immer nur Hand in Hand gehen und erdachte Maschinen auch technisch fertig entspringen.

Auf der Militärschule in Mannheim zu reger geistiger Thätigkeit erwacht, fühlte R. bald, daß zur Lösung höherer Aufgaben des Artillerie- und Ingenieurwesens, wie sie ihm vorschwebten, tiefere Studien in reiner Mathematik und theoretischer Mechanik erfordert werden, als sie der an der Anstalt bestehende vierjährige Cursus gewähren konnte. Er griff daher zum Selbststudium, und bei seiner gleichen Fertigkeit von Geist und Hand glückte es ihm bald, mechanische Vorrichtungen, darunter einen Spiegelsextanten auszuführen, welche nicht bloß die Aufmerksamkeit des Hofastronomen Abbé Barry in Mannheim, sondern auch des bekannten Grafen Rumford in München erregten. Auf Empfehlung zweier so bedeutender Männer versah sein Landesherr, Kurfürst Karl Theodor von Baiern, den neunzehnjährigen Absolventen seiner Militärschule mit ausreichenden Mitteln zu einer zweijährigen Studienreise nach England, und stellte ihn während seines dortigen Aufenthalts unter die Aufsicht des nur neun Jahre älteren, aber mit den englischen Verhältnissen bereits länger vertrauten Doctors der Medicin und späteren Oberbergraths Joseph Baader aus München (s. A. D. B. I, 725). Mit diesem noch jungen Manne, der erst in Edinburgh zum Studium des Bergbaus übergegangen und schon auf den Eisenwerken eines englischen Lords angestellt war, trat R. im J. 1791 von Mannheim aus die Reise nach England an. Dort erhielt er zunächst in der Maschinenfabrik von James Watt und Boulton zu Soho, und später auf den Eisenhütten zu Wilson Town bei Edinburgh dauernde Beschäftigung bei der Leitung jener Werke.

R. befand sich auf diese Weise inmitten einer auf Erfindungsgeist und gewaltige Geldmittel gegründeten und mächtig aufstrebenden Industrie, welche ihn durch ihre täglich sich mehrenden wunderbaren Leistungen aufs äußerste anregte. Dennoch galten seine Studien nicht ihr allein, sondern fast ebenso eifrig jenen Stätten, wo die Mechanik des Himmels gepflegt wird und die Kenntniß der Meßinstrumente und die Art ihrer Verwendung zur Beobachtung der Gestirne zu holen war. Seiner Aufmerksamkeit entging somit kein irgend wichtiger Theil, sowohl der groben oder industrialen wie der feinen oder instrumentalen Mechanik, und so kam es, daß sich seine Reise nach England, welche lediglich den ausgesprochenen Zweck hatte, ihn in den für das Artilleriewesen nöthigen und in Baiern damals noch zu wenig gepflegten Hilfsfächern der [658] praktischen Mechanik und Meßkunst weiter ausbilden zu lassen, in Wirklichkeit zu einer förmlichen Entdeckungsreise für Deutschland gestaltete. Denn sie vermittelte unseren Fabrikanten die Fortschritte der Engländer in der Eisenerzeugung und im Maschinenbau, namentlich der Dampfmaschine, welche gerade damals von James Watt eine so tiefgreifende Umgestaltung erfahren hatte, daß ein halbes Jahrhundert später der Geschichtschreiber H. Th. Buckle von ihr sagen konnte: sie habe für die Vereinigung der Menschen mehr gethan als alle Philosophen, Dichter und Propheten von Anbeginn der Welt. In Bezug auf Feinmechanik aber hatte Reichenbach’s Aufenthalt in England deshalb die Wirkung einer Entdeckungsreise, weil er in den Werkstätten zur Verfertigung mathematischer Instrumente und auf den Sternwarten, die er besuchte, die Anregung empfing, selbst eine solche Werkstätte zu errichten und dabei alle jene Mängel zu vermeiden, welche sein scharf beobachtender Geist an diesen Instituten durch die Vorzüge hindurch erkannt hatte.

Gegen Ende des Jahres 1793, als er vom Kurfürsten zum Artillerielieutenant der bairischen Armee ernannt und zur Ausübung seines militärischen Berufs zurückgerufen worden war, kehrte er mit dem Gefühle heim, daß er Vieles gesehen und gelernt, aber das was er der Verbesserung fähig oder bedürftig gefunden habe, nur mit Hülfe praktischer Versuche und wissenschaftlicher Forschung ausführen könne. Das Unzureichende seiner Schulbildung lebhaft empfindend, hatte er sich schon in Edinburgh Unterricht in der höheren Mathematik ertheilen lassen, um in der Heimath tiefer in Mechanik und Astronomie eindringen zu können, und er fand, nach München versetzt, bei demselben gelehrten Benedictiner, Professor Ulrich Schiegg, der sich auch um Fraunhofer’s wissenschaftliche Ausbildung große Verdienste erworben hat, die uneigennützigste und reichlichste Förderung, wie er sein ganzes Leben hindurch dankbar anerkannt hat. Die Versetzung Reichenbach’s nach München im J. 1796, das damals ebenso wie kurz zuvor Mannheim von feindlichen Truppen umringt war, gab ihm sofort Gelegenheit, im kurfürstlichen Zeughause Proben seiner Kenntnisse und seines Diensteifers abzulegen, und infolge dessen erhielt er, nachdem er auch noch als Oberlieutenant Dienste gemacht hatte, bereits am 11. November 1800 und somit in einem Alter von 28 Jahren das Patent eines Hauptmanns der Ouvriercompagnie des Fußartillerieregiments, bei der auch sein Vater in gleicher Ranges- und Diensteseigenschaft stand, so daß in allen Erlassen zwischen Hauptmann R. „dem älteren“ und „dem jüngeren“ unterschieden werden mußte. Trotz starker dienstlicher Beschäftigung unterließ es der junge Hauptmann nicht, alle Mußestunden auf die Entwicklung und Fortbildung derjenigen Ideen zu verwenden, welche sein Vorhaben zu fördern im Stande waren: in der Residenz, wo bis dahin jede Anstalt dieser Art fehlte, ein mechanisches Institut zur Verfertigung mathematischer Instrumente zu errichten. Zu der Einsicht gekommen, daß die damaligen geodätischen und astronomischen Meßwerkzeuge an überflüssiger Größe und Schwerfälligkeit und den davon ausgehenden Fehlern der Biegung und anderer Unregelmäßigkeiten litten, war er aufs lebhafteste überzeugt, daß diese Uebelstände nur durch eine vollkommen gleichmäßige Theilung der zur Winkelmessung dienenden Kreise sich beseitigen ließen. Es lag also für ihn die Aufgabe vor, eine Kreistheilmaschine herzustellen, welche selbst die von Bird und Ramsden in London mit großem Scharfsinne entworfenen und noch größerem Fleiße ausgeführten besten Theilmaschinen der Welt zu übertreffen habe. Von der Wichtigkeit genauer Kreistheilungen für praktische Zwecke. wie z. B. die Schifffahrt, mag es einen Begriff geben, daß ein Fehler von nur zwei Minuten in der Bestimmung des Winkels zwischen Sonne und Mond den Standort des Schiffes, von dem aus er mit einem Spiegelsextanten [659] gemessen wird, schon um zwanzig Seemeilen falsch angibt, und daß einen solchen Fehler ein sonst vollkommener Sextant von sechzehn Centimeter Halbmesser schon dann erzeugt, wenn seine Theilung zwischen den zwei für die Bestimmung des Winkels maßgebenden Theilstrichen des Kreisbogens nur ein Zwanzigstel Millimeter falsch ist. Aber noch ungleich wichtiger sind genau getheilte Kreise für die exacten Wissenschaften, vornehmlich für Astronomie und Geodäsie. Denn wenn wir mit Recht darüber staunen, daß die Astronomen das Eintreten von Sonnen- und Mondfinsternissen mit der Genauigkeit von Zeitsecunden anzugeben im Stande sind, so ist zu bedenken, daß diese bewunderungswürdige Schärfe der Berechnung nicht bloß auf der genauen Kenntniß der Kepler’schen Gesetze oder des Newton’schen Gravitationsgesetzes, sondern eben so sehr darauf beruht, daß die auf Sternwarten gebrauchten feingetheilten Kreise Winkel bis auf eine Raumsekunde sicher zu messen gestatten. Eine solche Secunde ist aber eine so winzige Größe, daß ein gewöhnliches Menschenhaar, in der deutlichen Sehweite angeschaut, deren schon sechzig verdeckt. Will man also mit einem Kreise, der die deutliche Sehweite zum Halbmesser hat, noch eine Secunde messen, so dürfen die den Winkel bestimmenden äußersten Theilstriche auf demselben von der ihm zukommenden mathematischen Bogenlänge nicht um den sechzigsten Theil einer Haardicke abweichen, und soll die Genauigkeit sogar eine Drittelsecunde betragen, so muß der oben bezeichnete Fehler auf den zweihundertsten Theil einer Haardicke herabgebracht werden.

Auf Grund solcher oder ähnlicher Betrachtungen suchte und rang R. nach einem besseren Theilungsprincip, als das von Bird und Ramsden angewendete war. Hunderte von Entwürfen zur Verbesserung der Kreistheilmethode hatte er gemacht und wiederaufgegeben, als ihn der zu Anfang unseres Jahrhunderts neu begonnene Krieg abermals ins Feld rief. Aber mitten im Getöse der Waffen blieben seine Gedanken der einmal ergriffenen Aufgabe zugewendet, bis ihm endlich am 10. Juli 1801 in seinem Quartiere zu Cham in der Oberpfalz das gesuchte Princip und seine Ausführung plötzlich klar vor die Seele traten. Noch in späteren Jahren war er freudig erregt, wenn er Freunden von den Empfindungen jener glücklichen Stunde erzählte; schriftlich aber hat er sich über die Methode der Originaltheilung seiner Maschine nur einmal ausgesprochen, in einer Erwiderung nämlich auf einen seine Erfindung in Frage stellen wollenden Artikel, die mit diesem in Gilbert’s Annalen der Physik vom Jahre 1821 abgedruckt ist. Dort ist zu lesen, daß eine vollkommene Kreistheilung nur dann zu erreichen sei, wenn man sie zunächst ohne jede Markirung der nach dem Kreismittelpunkte gerichteten Theilstriche gleichsam in der Luft ausführt und erst, wenn hierdurch die Möglichkeit voller Gleichmäßigkeit der Theilung des ganzen Limbus gesichert ist, die Theilungslinie mit mikroskopischer Feinheit zieht u. s. w.

Gleich nach der Rückkehr aus dem Feldzuge legte R. Hand an die Ausführung seiner Idee und hatte, was Ramsden erst nach zehnjährigen mühsamer Arbeit beschieden war, schon nach zwei Jahren (1804) die Freude zu sehen, daß seine Theilmaschine allen Erwartungen aufs vollkommenste entsprach, indem zwei von ihm persönlich damit getheilte Kreise von sechzehn und achtzehn Zoll Durchmesser dem Ideale so nahe als möglich kamen. R. führte diese Arbeiten in der „mathematischen Werkstätte“ aus, die er schon bald nach seiner vorhin erwähnten Versetzung nach München mit dem geschickten Uhrmacher und Mechaniker Joseph Liebherr gegründet hatte, zunächst um Meßinstrumente für Zwecke der Geodäsie, namentlich Theodolithe und Spiegelsextanten für die kurfürstliche Forstkammer herzustellen, wobei eine schon [660] früher von ihm nach alter Construction angefertigte Theilmaschine in Verwendung kam. Jetzt stand der Errichtung einer größeren Anstalt für Anfertigung von Präcisionsinstrumenten nur noch der Mangel an Geldmitteln im Wege, und hier griff der damals in unfreiwilliger Muße lebende Geheimreferendar Joseph Utzschneider entscheidend ein. R. und Liebherr hatten ihm den Wunsch ausgesprochen, ihn an ihrem Unternehmen betheiligt zu sehen, Utzschneider erkannte sofort dessen Wichtigkeit und entsprach dem Ansinnen um so lieber, als er hoffen konnte, aus einem solchen Institute seiner Zeit junge tüchtige Mechaniker zu ziehen, die damals in Baiern fehlten. Der Gesellschaftsvertrag kam am 20. August 1804 zu Stande und das nunmehrige „mechanische Institut“ von R., Utzschneider und Liebherr begann seine Geschäfte mit großer Rührigkeit. Die Seele dieses technischen Triumvirats war ohne Zweifel der damals 32 Jahre alte feurige und thatkräftige, theoretisch und praktisch wohlgeschulte Artilleriehauptmann R., und das kostbarste Werkzeug des neuen Instituts die besprochene Kreistheilmaschine, welche, ungeschwächt in ihrer Wirkung, heute noch, mehr als achtzig Jahre nach ihrer Vollendung in der nämlichen auf Ertel und Sohn übergegangenen Anstalt fortarbeitet und hoffentlich noch lange fortarbeiten wird.

Das mechanische Institut von R., Utzschneider und Liebherr wurde in der That die Pflanzschule für Feinmechanik, was Utzschneider bei Abschluß des Gesellschaftsvertrags vorgeschwebt hatte. Denn schon wenige Jahre nach seiner Gründung ließen sich im In- und Auslande jüngere Mechaniker nieder, um sogenannte Reichenbach’sche Werkstätten einzurichten, die sich seitdem über ganz Europa verbreitet haben, England nicht ausgenommen. Anfangs aber hatte das Institut mit bedeutenden Hindernissen zu kämpfen: es fehlte an brauchbarem Flint- und Kronglas und an einem fähigen Optiker, um die Glaslinsen für die Meßinstrumente mit derselben Genauigkeit zu schleifen, womit ihre Kreise getheilt waren. Wir wissen, wie Utzschneider (siehe daselbst) für die Glasfabrikation in Benediktbeuern sorgte, und wie ein Unglücksfall der Anstalt den gesuchten Optiker in dem ehemaligen Glaserlehrling Joseph Fraunhofer zuführte.

Wenn auch Utzschneider das große Verdienst hat, dem armen im Jahre 1801 durch eine Katastrophe mit schrecklichem Tode bedrohten Knaben zuerst Mittel und Gelegenheit geboten zu haben, die in ihm schlummernde geniale Kraft zu entwickeln, so gab doch R. für die Aufnahme Fraunhofer’s in das mechanische Institut den Ausschlag. Denn als sich 1807 Utzschneider seines Schützlings wieder erinnerte und ihn durch seinen Freund Prof. Schiegg prüfen und den Theilhabern des Instituts vorstellen ließ, that R., von seiner glücklichen Gabe, aus scheinbar geringen Anzeichen das Talent zu erkennen, Gebrauch machend, nach kurzem aber eingehenden Gespräch mit Fraunhofer den entscheidenden Ausspruch: „Das ist der Mann, den wir suchen; der wird leisten was uns noch fehlt.“ In der That entwickelte sich Fraunhofer unter der Leitung Schiegg’s und im Umgange mit R. ungemein schnell: nach kurzer Zeit schon berechnete und schliff er die Linsen für alle optischen Instrumente, deren die wissenschaftliche Beobachtung bedurfte, und als Utzschneider infolge zahlreicher Bestellungen im Februar 1809 sich veranlaßt sah, den optischen Theil des mechanischen Instituts nach Benediktbeuern zu verlegen und unter Fraunhofer’s Leitung zu stellen, lieferte dieser auch weit besseres Kron- und Flintglas, als sein Vorgänger Guinand jemals zu erzeugen im Stande war. Von da ab erhielt das Mutterinstitut einen ungeahnten Aufschwung und der Ruf von Reichenbach’s unübertrefflichen Leistungen verbreitete sich bald über ganz Europa: die vorzüglichsten Sternwarten wetteiferten, in den Besitz Reichenbach’scher Instrumente mit Fraunhofer’schen Gläsern zu gelangen, und es sind damit nacheinander die Observatorien [661] zu Prag, Warschau, Pest, Ofen, Wien, Paris, Upsala, Dorpat, Kopenhagen, Mailand, Neapel, Königsberg, Mannheim und München ausgestattet worden. R. besorgte an mehreren dieser Orte die Aufstellung der gelieferten Instrumente selbst, an einigen wurden sogar die Sternwarten nach seinen Plänen gebaut und eingerichtet, überall aber fand er jene Auszeichnung, die man dem bescheiden auftretenden Genie so gerne gewährt. Zeuge dessen sind: seine Ernennung zum correspondirenden Mitgliede des französischen Nationalinstituts und die bei seinem Aufenthalte in Paris 1811 an ihn ergangene Einladung der Mitglieder des Längenbureaues, eines Lagrange, Laplace, Delambre, Bouvard, Biot und Arago, ihren wöchentlichen Sitzungen beizuwohnen.

Es kann hier unsere Aufgabe nicht sein[WS 1], alle Erfindungen und Verbesserungen von Meßinstrumenten, welche man R. verdankt, zu besprechen; es genügt zu sagen, daß er der praktischen Astronomie die Vortheile einfacher, leichter, sicherer und genauer Beobachtung verschafft und ihren Hauptapparat auf nur wenige Instrumente zurückgeführt hat, die ausnahmslos von ihm eine neue und verbesserte Anordnung und Ausführung erfuhren, wie der Meridiankreis, das Passageninstrument, das Aequatoreale und der astronomische Theodolith. R. hat aber auch der praktischen Geodäsie eine gleiche Aufmerksamkeit gewidmet, wozu die zu Anfang des Jahrhunderts während und nach den Napoleonischen Kriegen in allen Ländern des Continents erfolgten topographischen Aufnahmen und bald darauf die zur Grundsteuerregelung nothwendigen Landesvermessungen Anlaß genug boten. Man kann in Wahrheit behaupten, daß er von dem gesammten geodätischen Meßapparat eine neue, zwar nicht vermehrte, aber sehr verbesserte Auflage veranstaltet hat; denn an die Basisapparate, die Theodolithen, die Spiegel- und Nivellirinstrumente wie an die Distanzmesser knüpft sich sein Name entweder als Erfinder oder als Umgestalter. Die von Utzschneider gegründeten, von R. und Fraunhofer geleiteten Institute sind wahre Werkstätten mathematisch-mechanischen Scharfsinns gewesen und haben durch die allgemeine Verbreitung ihrer Präcisionsinstrumente München zum vornehmsten Sitz mechanisch-optischer Technik gemacht.

Als Utzschneider am 8. Febr. 1807 durch König Max Joseph aufs neue in den Staatsdienst berufen worden war, und zwar in der doppelten Eigenschaft als Geheimreferendar im Finanzministerium und als Generaladministrator der Salinen, bot er sein ganzes Ansehen auf, den Gedanken einer Verpachtung der Salzwerke, welche den durch die fortwährenden Kriege bereiteten Geldverlegenheiten abhelfen sollte, nicht zur Ausführung gelangen zu lassen, und erörterte in der überzeugendsten Weise die Mittel, durch welche die Rente aus den Salinen wesentlich erhöht werden könnte. Zu diesen Mitteln gehörte auch die Ausführung des schon 1792 vom Bergrathe Flurl ausgesprochenen Gedankens, die Salzsoole von Reichenhall sowohl nach Traunstein als nach Rosenheim zu leiten und dort zu versieden. Der hiefür erforderliche Bau, dessen wichtigster Theil die Soolenleitung von Reichenhall über Siegsdorf und längs des Chiemsees bildete, wurde im J. 1809 vollendet und ist namentlich durch die Art der Soolenhebung merkwürdig geworden, welche R., auf Utzschneider’s Antrag unter dem Titel eines Salinenraths hierzu berufen, zur Ausführung brachte. Diese neue Aufgabe regte seinen Erfindungsgeist mächtig an und in kurzem war der Entschluß gereift, an die Stelle der bisher durch Wasserräder betriebenen Druckwerke zur Hebung der Soole auf die höchsten Stellen der Röhrenfahrt Wassersäulenmaschinen zu setzen.

Wenn auch vorausgesetzt werden darf, daß der gebildete Laie von der Bewegung einer Druckpumpe durch ein Wasserrad und von der Hebung des Wassers in einer Rohrleitung mittelst einer solchen Pumpe eine richtige Vorstellung hat, so ist dieses wol nicht der Fall in Bezug auf die Einrichtung einer Wassersäulenmaschine, deren Princip dem der Dampfmaschine nahe verwandt und von ihr [662] entlehnt ist, und es wird deshalb hierüber eine kurze Bemerkung gestattet sein. Sowie nämlich der luftdicht schließende Kolben im Cylinder einer Dampfmaschine dadurch hin und her bewegt wird, daß der Dampf abwechselnd auf die eine und die andere Seite des Kolbens drückt, ebenso kommt die gleiche Bewegung im Cylinder einer Wassersäulenmaschine durch den Druck einer Wassersäule zu Stande, welcher bald auf die eine bald auf die andere Kolbenfläche geleitet wird. Der diesen Druckwechsel bewirkende Maschinentheil, die Steuerung, erhielt durch R. eine völlig neue Einrichtung und dadurch erst die von Hell erfundene und auf dem Princip, eine Pumpe durch eine andere zu betreiben, beruhende Wassersäulenmaschine ihre Lebensfähigkeit. Ihre Anwendung ist im Gebirge besonders angezeigt, weil dort die bewegende Kraft des auf den Höhen gesammelten Quellwassers mit geringen Kosten beschafft werden kann. Auf der Strecke Reichenhall-Rosenheim wurden acht Wassersäulenmaschinen aufgestellt, und der günstige Erfolg, womit dieses geschah, führte später die Salinenadministration zu dem Beschlusse, das gleiche System auch auf die Soolenleitung Berchtesgaden-Reichenhall anzuwenden, wofür drei weitere Wassersäulenmaschinen nothwendig waren. Auf der zwölf Meilen langen Strecke Berchtesgaden-Rosenheim wirken also elf R.’sche Maschinen mit einer Gesammtdruckhöhe von nahezu eintausend Meter. Von dieser Höhe treffen auf die große Maschine bei Illsang in der Ramsau allein dreihundertsechsundfünfzig Meter, und sie hebt also die gesättigte Soole mittelst des vom Berg herabgeleiteten Quellwassers drei und ein halb mal so hoch als die Münchener Frauenthürme. Die seit sechsundsechzig Jahren ohne Störung arbeitende Maschine von Illsang, welche ein heftiger Gegner von R., der schon erwähnte Oberberg- und Salinenrath Joseph v. Baader, vor dem Baue für unmöglich, nach demselben für unhaltbar erklärt hatte, ist Reichenbach’s Meisterwerk und ein Triumph der industriellen Mechanik; denn selten wird man an einer Maschine bei gefälliger compendiöser Form solche Zweckmäßigkeit aller Theile, bei höchstem inneren Druck solchen gefahrlosen Bau, und bei Verrichtung gewaltigster Arbeit solche ruhige Bewegung aller Mechanismen wiederfinden. Mit Recht sagt daher der Verfasser des dem Andenken Reichenbach’s gewidmeten Aufsatzes im Eingangs erwähnten Regierungsblatt: „Sie ist das getreue Bild des bescheidenen deutschen Mannes, der Großes geräuschlos vollbringt“. Nach Vollendung der Salinenleitung zwischen Reichenhall und Rosenheim, und nachdem R. kurz vorher gänzlich aus dem Militärverbande getreten war, veranlaßte das Staatsministerium der Finanzen die Ausfertigung eines königlichen Decrets, welches den Erbauer der genannten Leitung, unter gleichzeitiger Verleihung des den persönlichen Adel gewährenden Civilverdienstordens der Bairischen Krone, „wegen seiner ausgezeichneten in der Mechanik erworbenen Verdienste und der durch Anwendung seines Talents dem königlichen Aerar verschafften Vortheile“ zum Oberberg- und Salinenrath ernannte. Sechs Jahre später, als die Soolenleitung von Berchtesgaden nach Reichenhall mit der Wassersäulenmaschine in Illsang vollendet und am 21. December 1807 in Gegenwart des königlichen Hofs und eines großen Gefolgs feierlich in Gang gesetzt war, übergab König Max Joseph ihrem Schöpfer R. persönlich eine Anweisung auf eine jährliche Leibrente von zwölfhundert Gulden. Hierzu kam im folgenden Jahre noch ein Geschenk von zehntausend Gulden, als der Beweis geliefert war, daß die Reichenbach’schen Werke die Salinenrente um mehr als fünfzigtausend Gulden jährlich vermehren.

Seit seiner Ernennung zum Salinenrathe hat R. nicht bloß für den Salzbergbau Maschinen und Bauwerke von höchster Bedeutung ausgeführt, er war auch vielfach für Staats-, Kreis- und Gemeindebehörden als Ingenieur und Mechaniker thätig. So führte er im J. 1811 im Auftrage des Ministers [663] v. Montgelas die Brunnwerke und Röhrenleitungen aus, durch welche sowol das Allgemeine Krankenhaus wie der botanische Garten in München mit dem erforderlichen Wasserbedarf versehen wurden und heute noch versehen werden. Ferner leitete er 1815 die Arbeiten zur Austrocknung der Sümpfe des damals zu Baiern gehörigen Pinzgaus nach seinem Plane, Arbeiten, welche sicherlich einen guten Erfolg gehabt hätten, wären sie nicht durch Veränderung der politischen Verhältnisse unterbrochen worden. In dem gleichen Jahre begann er den Auftrag des königl. Kriegsministers zu vollziehen, die Gewehrfabrik zu Amberg, in der er schon zu Anfang seiner Officiers-Laufbahn zweckmäßige Einrichtungen getroffen hatte, zu untersuchen und jene weiteren Verbesserungen vorzuschlagen, durch deren Ausführung genannte Fabrik sich vor vielen ihres Gleichen lange Zeit hindurch rühmlich ausgezeichnet hat. Hieran reihten sich zu Anfang der zwanziger Jahre höchst sinnreiche und zweckmäßige Entwürfe zweier Brunnwerke mit entsprechenden Röhrenleitungen am unteren Thurme und am oberen Thore in Augsburg welche an die Stelle der damals bestehenden sechs Werke zu treten hatten: R. übernahm auch die Ausführung jener Entwürfe, konnte jedoch nur das eine kleinere Werk vollenden, an der Herstellung des anderen größeren hinderten ihn widrige Umstände, wie sie im Gemeindeleben oft vorkommen, und ein frühzeitiger Tod, der vielleicht durch einen unglücklichen Fall mit herbeigeführt wurde, den er bei Untersuchung eben jenes zweiten Brunnwerks in Augsburg gethan.

Schon früher hatte R. an dem Wiener polytechnischen Institute eine Werkstätte für mathematische und astronomische Instrumente eingerichtet, welche bis in die neueste Zeit eines wohlverdienten Rufes genoß und mit dieser Anstalt verbunden blieb, bis sie zur technischen Hochschule erhoben wurde. Im J. 1821 erhielt er mit Erlaubniß oder richtiger durch Vermittlung seines Landesherrn, des Königs Max Joseph vom Kaiser von Oesterreich den ehrenvollen Auftrag, in Wien eine Kanonenbohrerei nach eignem Plane herzustellen, dem er sich auch mit allem Eifer unterzog. Er ließ die hierfür nothwendigen Maschinen und Apparate in seiner Münchener Werkstätte anfertigen, stellte sie später selbst in einem prachtvollen Neubau der Kaiserstadt auf, und erntete damit nicht bloß die Anerkennung des österreichischen Monarchen, sondern auch aller Sachverständigen, welche bestätigten, daß er diesen wichtigen Zweig des Artilleriewesens wesentlich gefördert und vervollkommnet habe. Ueberblickt man die bis jetzt genannten Schöpfungen Reichenbach’s, so ist unschwer zu erkennen, daß sie schon weit über den eigentlichen Beruf des Mechanikers hinausgingen und wesentlich in das Gebiet des Ingenieurs eingriffen. Erwägt man aber noch, daß er bereits im J. 1811, als er Salinenrath und außerordentliches Mitglied der königl. bairischen Akademie der Wissenschaften geworden war, ein vorzügliches Werk über Brückenbau geschrieben hatte, und daß der damalige Zustand des bairischen Ingenieur-Bauwesens nichts weniger als Lob verdiente, so kann es nicht auffallen, daß R. am 10. Mai 1820 (drei Jahre nach der Pensionierung des Oberbaudirectors v. Wiebeking) unter Beibehaltung seiner Stelle als Oberst-Berg- und Salinenrath zum Director des dem königlichen Finanzministerium organisch eingereihten Centralbureaus für Straßen- und Wasserbau ernannt wurde. Dieser wichtige Zweig des technischen Staatsdienstes bedurfte zu jener Zeit vor allen Dingen der Durchbildung einer auf Competenzerweiterung der Kreisregierungen abzielenden neuen Organisation, und dann einer umsichtigen und thatkräftigen Leitung. Für beides war R. nach Talent und Charakter, Bildung und Erfahrung der rechte Mann; der damalige Finanzminister Frhr. v. Lerchenfeld wollte aber auch, wie er in seinem Antrage auf Beförderung Reichenbach’s ausspricht, Se. Majestät dem König neue Gelegenheit zur Anerkennung der Verdienste eines so ungewöhnlichen Mannes geben, um welchen Baiern vom Auslande beneidet würde. [664] R. rechtfertigte die von ihm gehegten Erwartungen in vollem Maße; denn so kurz auch seine Thätigkeit als Oberbaudirector war, so bezeichnen sie doch mehrere dem Lande zum Nutzen und ihm zur Ehre gereichende Unternehmungen, namentlich auf dem Gebiete des Wasserbaus und der Flußschifffahrt. Wir wollen uns indessen mit einer Aufzählung derselben aus dem doppelten Grunde nicht befassen, weil erstens nicht genau auszuscheiden ist, welchen Antheil an diesen Unternehmungen der verdiente Referent Oberbaurath Frhr. v. Pechmann[WS 2] hat, und zweitens um Raum für die Beurtheilung des vorhin genannten Werkes über Brückenbau zu gewinnen, dessen vollständiger Titel ist: „Theorie der Brückenbögen und Vorschläge zu gußeisernen Brücken in jeder Größe“. (München bei Joseph Lindauer 1811).

Bedeutung und Werth gibt diesem Buche erstens die Erfindung der gußeisernen Röhrenbrücken selbst, welche ein halbes Jahrhundert lang in Frankreich und England mehr als in Deutschland eine große Rolle spielten, und zweitens die Anleitung zum Formen und Gießen der die Brückenträger bildenden Röhrenstücke, worin R. seine in England gemachten Erfahrungen und die hierauf beruhenden Ideen zur Verbesserung des Eisenhüttenwesens niederlegte, die, meist unter seiner eigenen Leitung praktisch verwerthet, die bairischen Hochöfen und Eisengießereien einem gegen früher vortrefflichen Zustande zuführten. Zur Erfindung der eisernen Röhrenbrücken leitete R. zunächst die Betrachtung, daß die Hauptmaterialien dauerhafter Brücken nur Stein oder Eisen sein können, nicht Holz, wie es sein Amtsvorgänger Wiebeking bei mehr als zwanzig Brücken mit so unglücklichem Erfolge angewendet hatte: Massive Brücken sollte man aber, sagt R., abgesehen von ihrer Kostspieligkeit, schon wegen der nachtheiligen hydraulischen Wirkungen vermeiden, die sie infolge der Beschränkung des Hochwassers durch zahlreiche Strompfeiler ausüben; eiserne Brücken dagegen, deren tragende Theile im Gegensatze zu steinernen fest mit einander verbunden sind und ihrer ganzen Länge nach als steife elastische Körper betrachtet werden können, hätten unter sonst gleichen Umständen diese Nachtheile nicht und seien den massiven vorzuziehen. Je mehr Steifigkeit, Stärke oder Zusammenhang bei solchen Bögen gewonnen werde, desto flacher und weiter könnten dieselben bei gleichem Tragvermögen erbaut werden. Bei der Construction eiserner Brücken müsse man Material zu sparen und Steifigkeit zu gewinnen suchen. Die Natur bediene sich in solchen Fällen, wie man an den Grashalmen sehen könne, der Röhren und zeige also hier wie so oft den Weg, den der Ingenieur bei Lösung solcher Probleme zu gehen habe. Der Erfinder selbst hatte keine Gelegenheit, eine größere Brücke nach seinem System auszuführen, und es dauerte ziemlich lange, bis an zwei kleinen in Norddeutschland gebauten Brücken das Röhrenbogensystem so weit erprobt war, daß man es unbedenklich auf eine so große Spannweite anzuwenden sich getraute, wie sie die Brücke über die Cserna in Mehadia besitzt. Am bekanntesten wurde das R.’sche Brückensystem durch den Ingenieur Polonceau, der es mit einigen Abänderungen in Frankreich und England zur Geltung brachte. Nachdem sich jedoch die gußeisernen Brücken im Allgemeinen wegen zu geringer absoluter und relativer Festigkeit des Materials für Eisenbahnen nicht oder nur in geringem Maße bewährt haben und deshalb den Brücken aus Schmiedeeisen weichen mußten, fiel ihre Anwendung auch beim Straßenbaue, und so hat schon seit drei Jahrzehnten das R.’sche Brückensystem nur mehr historische Bedeutung. Außer der Theorie der Brückenbögen und den Vorschlägen zu eisernen Brücken hat R. keine größere Abhandlung verfaßt; ein paar kleine Aufsätze aber in wissenschaftlichen Zeitschriften und seine hinterlassenen Papiere, darunter viele von ihm an untergebene Techniker geschriebene Briefe enthalten einen Schatz von praktischen Bemerkungen und beweisen, [665] daß er bei allen seinen Unternehmungen auch die geringfügigsten Einzelnheiten im Auge behielt. Nicht minder geben diese Papiere Ausschluß über seine Pläne zur weiteren Förderung der praktischen Mechanik, der Industrie, der Schifffahrt und des Ingenieurwesens; aber sie enthalten nur Aphorismen, die lediglich ihm als Anhaltspunkte für weitere Forschung dienen konnten, Anderen aber in Ermangelung des leitenden Fadens ein Verfolgen und Durchbilden vereinzelt hingeworfener Gedanken nicht gestatteten. Insbesondere lag ihm die Verbesserung und Vereinfachung der Dampfmaschine am Herzen, dieser mächtigsten Triebfeder der neueren Industrie und des gegenwärtigen Verkehrswesens, deren Principien er, wie wir wissen, schon in früher Jugend durch seinen Umgang mit James Watt völlig klar erfaßt hatte: Sein Streben ging also bereits vor sechzig und mehr Jahren dahin, das auszuführen, woran wir noch immer arbeiten, nämlich die Vortheile der Dampfmaschine nicht dem großen Fabrikbesitzer allein zu überlassen, sondern auch dem minder bemittelten Gewerbsmanne zugänglich zu machen, d. h. diese Maschine so einzurichten, daß sie bei beträchtlicher Kraft und Dauerhaftigkeit möglichst wenig Gewicht beansprucht und folglich überall leicht aufgestellt und in Gang gesetzt werden kann. Auch auf die Bewegung gewöhnlicher Straßenfuhrwerke wollte R. den Dampf anwenden, sowie er der Verbesserung der Flußschiffe eine vorzügliche Aufmerksamkeit zuwandte. Bekannt ist endlich, daß er sich auch im Gebiete des Geschützwesens als Erfinder bewährt hat. Seine Bemühungen um die Herstellung einer leichten Gebirgskanone führten ihn nämlich zu Versuchen mit gezogenen Rohren und pfeilförmigen Geschoßen. Bereits im J. 1809 vollendete R. ein schmiedeeisernes Geschütz mit Drallzügen, und nach längerer Unterbrechung seiner Versuche fügte er 1816 auch ein cylindrisches Geschoß mit kegelförmiger massiver Spitze hinzu, dessen Mantel dem Dralle der Züge entsprechende Längenrippen besaß, während die Grundfläche für die Expansion ausgehöhlt und mit einem Zapfen abgeschlossen war. Hieraus ist zu entnehmen und unseres Wissens von den militärischen Sachverständigen auch anerkannt, daß R. bei seinen Arbeiten zur Verbesserung des Geschützwesens von richtigen Principien ausging; denn nicht nur war er der Erste, welcher die Züge der Büchsenläufe auf Kanonenrohre übertrug, er erkannte auch zwanzig Jahre früher als die Engländer die vortheilhaften Wirkungen der verlängerten Geschosse, und acht Jahre vor dem Franzosen Minié zog R. die Geschoß-Expansion in den Bereich seiner Versuche. Diese blieben allerdings in gewissem Sinne unvollendet, theils weil sie, nach dem Zeugniß des Generallieutenants Albert Grafen v. Pappenheim[WS 3], die nöthige Unterstützung von oben nicht fanden, theils weil R. zu sehr mit anderen Berufsarbeiten beschäftigt war, theils aber auch, weil er das bereits bekannte Princip der Hinterladung nicht anwenden wollte, um die Schwierigkeit der Vorderladung infolge der schon von wenig Schüssen bewirkten Verschleimung der Bronzegeschütze zu beseitigen. Ohne den Versuch Louis Napoleon’s, die Reichenbach’schen Erfindungen im Gebiete des Geschützwesens wo möglich für sich in Anspruch zu nehmen, würden dieselben wahrscheinlich ganz der Vergessenheit anheim gefallen sein, wie sie in der That auch schon von den Eingangs genannten beiden Biographen aus den Jahren 1829 und 1852 mit Stillschweigen übergangen worden sind.

Viele auf praktische Ziele gerichtete Ideen waren dem rastlos schaffenden Geiste Reichenbach’s bereits entsprungen und mit manchen anderen mag er sich wol noch getragen haben, als im Frühjahre 1824, kurz nach einer Untersuchung der Augsburger Brunnwerke, ein schlagartiger Anfall der Wirksamkeit des stets einer guten Gesundheit sich erfreuenden stattlichen und lebensfrohen Mannes engere und immer engere Grenzen zog, bis endlich nach zweijährigem von Furcht und Hoffnung erfülltem Siechthume ein neuer noch heftigerer Bluterguß ins Gehirn [666] am 21. Mai 1826 seinem ruhmvollen Leben ein Ziel setzte zum Schmerz der Familie, der Freunde, des Vaterlandes und der ganzen wissenschaftlichen Technik.

Alle Arbeiten Reichenbach’s bekunden einen selbst auf das geringste sich erstreckenden Scharfblick, Einfachheit und Zweckmäßigkeit in der Anlage, Zuverlässigkeit der statischen oder dynamischen und ökonomischen Berechnungen, Solidität und Prunklosigkeit. Daß der von so vielfachen Berufsgeschäften in Anspruch genommene Techniker dem Schriftstellern nur sehr wenig Zeit widmete, hat er mit allen bedeutenden Männern der Praxis gemein, deren Natur es mehr zusagt zu erfinden und auszuführen, als zu beschreiben und darzustellen. Die von Freundesseite mehrfach an ihn ergangene Aufforderung, seine Ideen und Erfahrungen durch den Druck gemeinnütziger zu machen, wies R. stets mit der Aeußerung zurück, daß er es erst dann thun wolle, wenn er nichts mehr selbst hervorbringen und ins Werk setzen könne. Uebrigens liefern nicht bloß seine Theorie der Brückenbögen und die wenigen von ihm für Fachzeitschriften geschriebenen kleineren Aufsätze, sondern auch die in seinem Briefwechsel mit den bedeutendsten Astronomen und Geodäten enthaltenen und nicht selten abhandlungsähnlichen Erörterungen über Fragen der Meß- und Beobachtungskunst den vollgültigen Beweis, daß R. sich eben so gründliche Kenntnisse in den der unmittelbaren Anwendung fähigen Theilen der Mathematik als in den praktischen Fächern erworben hatte, welche seinen Ruhm für immer über die ganze civilisirte Welt verbreitet haben.

Nach dem amtlichen Berichte im königl. Regierungsblatte und nach den im Eingange dieses Nekrologs erwähnten persönlichen Mittheilungen von Zeitgenossen war dieser hervorragende deutsche Techniker eben so groß und achtungswürdig als Mensch. Er galt für ein Muster von Rechtschaffenheit, Offenheit und Biederkeit und bewies durch sein Beispiel aufs neue, was schon oft beobachtet wurde, daß höchste Genialität mit wahrer Herzensgüte und durchdringendster Verstand mit größter Aufrichtigkeit und Verlässigkeit des Handelns verbunden sein können. Zweimal glücklich verheirathet, war R. ein liebevoller Gatte und Vater, der in dem Familienkreise am liebsten Erholung von geschäftlicher Anstrengung suchte. Wenn der Tod seines einzigen hoffnungsvollen Sohnes, eines Knaben von acht Jahren, ihn tief beugte und vor der Zeit ergrauen ließ, so gewährten ihm dagegen die Geburt und das Gedeihen eines Enkels aus der glücklichen Ehe seiner Tochter,[WS 4] sowie die Anhänglichkeit und Liebe der Kinder seiner Geschwister fast hinreichenden Ersatz für die verlornen Freuden. Seinen Freunden treu ergeben, erwies er sich in allen Lagen des Lebens als ein besonnener, uneigennütziger, versöhnlicher und hülfreicher Mann. Den Angriffen seiner Gegner – Feinde hatte er nur Einen – wußte er mit dem Gewichte seines Ansehens und seiner Gründe in wirksamster Weise zu antworten, und, fern von allem Kastengeiste und kleinlicher Eitelkeit empfand er das größte Vergnügen, wenn Andere, seinen Rath und Beistand suchend, glückliche Anwendungen von seinen Lehren machten. Aeußere Anerkennung erfuhr R. von allen Seiten und in der ehrenvollsten Weise. Wir wissen bereits, wie ihn König Max Joseph durch Verleihung des Civilverdienstordens und die Akademien der Wissenschaften zu München und Paris durch die Wahl zum Mitgliede auBzeichneten. Fügen wir dem noch bei, daß König Ludwig I. den Ritter R. noch wenige Monate vor seinem Tode zum Comthur des Civilverdienstordens ernannte und seiner Zeit vortrefflich gearbeitete Büsten des Verstorbenen sowohl in der bairischen Ruhmeshalle als in dem Pantheon großer Deutschen, der Walhalla aufstellen ließ, so können wir die Ordensauszeichnungen übergehen, womit ihn der Kaiser von Oesterreich, der König von Dänemark und einige andere Monarchen für die ihren Staaten geleisteten Dienste belohnten. Baiern darf R. mit Stolz seinen [667] Sohn nennen; denn wenn er auch nicht innerhalb der Grenzpfähle geboren ist, so hat er doch sein ganzes Leben in Baiern zugebracht und von der ersten Kindheit an nicht bloß den Schutz, sondern auch besondere Wohlthaten und Auszeichnungen des bairischen Fürstenhauses genossen. Er ruht in den Arkaden des südlichen alten Kirchhofs neben dem Freunde und Genossen Fraunhofer und in der Nähe vom Gönner und Förderer beider, Joseph v. Utzschneider. Wo einer dieser drei Namen genannt wird, klingen die beiden anderen harmonisch mit und erinnern, daß von jedem Einzelnen in Wahrheit gesagt werden kann, was auf Reichenbach’s Grabdenkmale steht: „Sein Name genügt; sein Denkmal sind seine Werke“!

Vgl. Regierungsblatt des Königreichs Baiern für das Jahr 1849, S. 49 f. den amtlichen Nekrolog auf Georg v. R. – Ferner die Festrede von Friedr. v. Thiersch zur Stiftungsfeier der königl. Akademie der Wissenschaften in München am 27. März 1852 „über die wissenschaftliche Seite der praktischen Thätigkeit“. – Endlich den von dem Unterzeichneten bei der Schlußfeier der technischen Hochschule in München am 28. Juli 1883 gehaltenen Vortrag über „Georg v. R. und seine Leistungen auf den Gebieten der Mechanik und des Ingenieurwesens“.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ein
  2. Heinrich Joseph Alois Freiherr von Pechmann (1774–1861); deutscher Wasserbauingenieur
  3. Friedrich Albert Graf zu Pappenheim (1777–1860); bayerischer General der Kavallerie, Schriftsteller und Abgeordneter
  4. Anna von Reichenbach war die Mutter von Karl Mayer von Mayerfels (Beleg: Google-USA*)