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Artikel „Maßmann, Hans Ferdinand“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 20 (1884), S. 569–571, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ma%C3%9Fmann,_Hans_Ferdinand&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 13:21 Uhr UTC)
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Maßmann: Hans Ferdinand M., deutscher Philolog und Turner, „J. F. Maßmann, der die unsauberen Bücher verbrannt hat auf der Wartburg“, wie die Unterschrift unter seinem „Turnwanderlied“ (Anfang: „Turner ziehn froh dahin, wenn die Bäume schwellen grün“; Refrain: „Darum frei Turnerei stets gepriesen sei!“) in Follen’s „Freien Stimmen“ (Jena 1819) lautet. Er ward am 15. August 1797 in Berlin als der Sohn eines Uhrmachers geboren, der seinerseits aus einem thüringischen Bauernhause stammte und den eigenen Bildungstrieb in seinen Söhnen zu entwickeln bemüht war. M. besuchte das Werder’sche Gymnasium seiner Vaterstadt und bezog im Herbst 1814 die Universität Berlin, um Theologie zu studiren. Er ging 1815 als freiwilliger Jäger in den Krieg, setzte dann aber seine Studien abwechselnd in Berlin und Jena fort, bis er sie an dem letzteren Orte 1818 beendete. Er gehörte zu den ältesten und besten Schülern des Turnvaters Jahn und kam als dessen Sendbote nach Jena (Euler, Jahn S. 523). Der Gedanke des Wartburgfestes ist, wo nicht von ihm ausgegangen, so doch unter seiner thätigsten und auffälligsten Mitwirkung durchgeführt worden. Die verhängnißvolle Farce der Bücherverbrennung vom 18. October 1817, bei der er die Hauptrolle spielte, beruhte wohl auf einer litterarhistorischen Erinnerung an das Autodafé des Göttinger Dichterbundes und traf nicht einmal Exemplare der incriminirten Bücher selbst, sondern nur beliebige Maculatur; die Liste war in Berlin festgestellt worden; die Acteurs selbst hatten die wenigsten davon gelesen, und M. saß nachher den Winter über still in Jena und „las und excerpirte nachträglich die von ihm mit so hohen und zum Theil wüthigen Worten verbrannten Bücher, da ihm doch einfiel, wie lächerlich es sich ausnehmen müsse, wenn er, zur Rede gestellt, eingestehen müsse, den größten Theil derselben noch nicht von weitem erblickt zu haben“ (Leo, Aus meiner Jugendzeit S. 165). Zu Ostern 1818 ging er nach Breslau, bestand dort seine Candidaten-Prüfung, wurde Hilfslehrer am evangelischen Gymnasium und Leiter der öffentlichen Turnanstalt; daneben hörte er noch Vorlesungen und wandte sich eine Zeit lang der Mineralogie zu. Im Herbst 1819 ward er ans Gymnasium nach Magdeburg versetzt, kehrte aber 1820 nach Berlin zurück, um ein Handwerk, zunächst das Drechseln, zu lernen und daneben naturwissenschaftliche Studien fortzusetzen. Mit dem Jahre 1821 trat er in die von Dittmar zu Nürnberg gegründete Knabenerziehungsanstalt ein, reiste jedoch bald nach der Schweiz, wo er Pestalozzi noch sah und sprach, und nahm endlich in Berlin seine früh und stets mit Liebe gehegten Studien der Muttersprache bestimmter auf. Im August 1824 trat er eine Reise nach den wichtigsten deutschen Bibliotheken an; in demselben Jahre begann er seine Laufbahn als altdeutscher Philolog mit den „Erläuterungen zum Wessobrunner Gebet“; [570] und 1826 setzte er sich in München fest, wo er Turnlehrer am Cadettencorps wurde, 1827 sich habilitirte, 1828 an die Spitze einer allgemeinen öffentlichen Turnanstalt trat, 1829 zum außerordentlichen und 1835 zum ordentlichen Professor der deutschen Sprache und Litteratur ernannt wurde. Heinrich Heine verspottete ihn in den Reisebildern als den Demagogen des neuen „Bier-Athens“, behauptete, er könne kein Latein, und bedachte ihn als Marcus Tullius Maßmanus mit seinen ausgesuchtesten Bosheiten (Sämmtl. W. 2, 19; 17, 163; 259; 18, 7). Im J. 1842 zog man ihn nach Berlin und übertrug ihm die allgemeine Organisation des Turnunterrichtes; 1846 erhielt er zu Lachmann’s Kummer (M. Hertz, Lachmann S. 93 ff.) und Alexander von Humboldt’s Freude (Humb. an Varnhagen S. 195 ff.) eine außerordentliche Professur; und als zu Anfang der fünfziger Jahre an den preußischen Turnanstalten eine Aenderung in der Unterrichtsmethode eintrat, widmete er sich ganz seinem Lehramt an der Universität. Ein Schlaganfall, der ihn 1860 traf, warf ihn noch nicht gleich darnieder; aber seine Kräfte nahmen von da an ab, und er starb am 3. August 1874 zu Muskau in der Lausitz. – Humboldt empfing von ihm, wie er an den König Friedrich Wilhelm IV. schrieb, „einen herrlichen Eindruck von Gediegenheit, Klarheit der Ideen, begeisterter Kraft in Wirkung auf die Jugend“. Indessen so warme Verehrer und Freunde er in Süddeutschland besaß, unter den norddeutschen Fachgenossen konnte er es zu einer befestigten und anerkannten wissenschaftlichen Stellung nicht bringen. Ein hingebungsvoller Schüler, der sich ihm 1851 in Berlin näherte, nannte ihn wol einen Prachtmenschen und bewunderte sein kostbares Gemüth, meinte aber doch, er sei in manchen Dingen etwas flüchtig. Derselbe Schüler (W. Mannhardt, Gedichte S. XIV) schildert ihn, wie er in seiner weißen Turnjacke, über die, berührt von den silbernen Locken, der breite Kragen fällt, am Tische sitzt, dessen eine Klappe für die Mahlzeiten der Familie gedeckt wird, während die andere Seite mit Papieren, Quartanten und Folianten hoch bedeckt ist; unter und neben dem Tische spielten die jüngeren Kinder: „Ich habe mich gewöhnt,“ sagte M., „dabei ungestört zu arbeiten und habe so das unschätzbare Glück, das wenigen Vätern zu Theil wird, dem Gemüth und Herzen der Kinder stets nahe zu bleiben, jeden ihrer Athemzüge, Gutes wie Böses zu belauschen, und pflegen oder beschneiden zu können, was nöthig ist.“ – In Jahn’s Kreise erneuerten sich die Sonderbarkeiten Klopstock’s und seiner Jünger. Auch M. wollte so zu sagen ein Mensch auf eigene Hand sein, brachte es aber nur zu einer wunderlichen Originalität. Wie er sich allerlei mechanischer Geschicklichkeiten rühmte, seines Drechselns, Zeichnens, Lithographirens, Holzschneidens, Kupferstechens, seiner Papparbeiten und Kristallmodelle, seiner Mitarbeit an Globen und Reliefkarten, und wie er diese Fertigkeiten auch für wissenschaftliche Zwecke verwerthete: so scheute er als Gelehrter nirgends die äußere Mühe; es schreckte ihn keine Schwierigkeit, kein Umfang, keine Entfernung; er betrat willig die entlegensten Pfade; er setzte seine Zwecke durch wie auf einer anstrengenden Turnfahrt. Aber die Intelligenz des Urtheils hielt nicht gleichen Schritt mit dem Willen zur Arbeit. Selbst die äußere Genauigkeit ließ er vielfach vermissen, weil er sich allzusehr auf die, wie er glaubte, sicher erworbene Geschicklichkeit verließ. Man konnte ihn in hohem Alter auf der Berliner Bibliothek Handschriften abschreiben sehen mit unverwandt auf die Vorlage gerichteten Augen und ohne nur Einmal auf seine eigene Schrift hinzusehen; er sagte: „Ich hab’s im Ductus.“ Um die deutsche Philologie hat er sich hauptsächlich als Herausgeber verdient gemacht; keine seiner Editionen entsprach dem Ideal von Glätte und Eleganz, welches Lachmann aufstellte; Seltsamkeiten des Ausdrucks und Confusionen des Stils fielen leicht in die Augen; aber seine ausgedehnten Stoffsammlungen waren unentbehrlich, höchst dankenswerth [571] und nützlich; und nur die auffallend rasche Entwickelung der jungen altdeutschen Philologie bewirkte, daß M. so schnell unzulänglich befunden ward. Nicht umsonst hat Jacob Grimm neben Haupt, Hoffmann, Schmeller und Wackernagel auch ihm den vierten Band seiner Grammatik gewidmet. – Für die Germania des Tacitus schleppte M. ein ungeheures Handschriftenmaterial zusammen, ohne es zu sichten und ohne seinen Collationen die nöthige Zuverlässigkeit zu geben (Quedlinburg 1847). In das Gebiet des Gothischen fallen die Ausgaben der sogen. Skeireins (München 1834), der Urkunden von Neapel und Arezzo (Wien 1838), die Gothica minora (Haupt’s Zeitschr. I, 294), des „Ulfilas“ (Stuttg. 1856–57) und dessen Turiner Fragmente (Germania 13, 271). Althochdeutsche Texte bearbeitete er unter andern in den „Deutschen Abschwörungs-, Beicht-, Buß- und Betformeln des 8.–13. Jahrh.“ (Quedlinb. 1839) und in der zweiten Ausgabe der Fragmenta theotisca (Wien 1841); er ließ außerdem Glossen drucken, gab den sechsten Band von Graff’s Sprachschatz heraus und lieferte den Index zu diesem Werke. Unsere Kenntniß von der deutschen Litteratur des zwölften Jahrhunderts bereicherte er durch seine „Denkmäler“ (München 1828), seine „Deutschen Gedichte“ (Quedlinb. 1837) und seine an weitschichtiger Gelehrsamkeit reiche Ausgabe der „Kaiserchronik“ (Quedlinburg 1849–53). Aus dem Bereiche der classischen mittelhochdeutschen Poesie hat er Gottfried’s Tristan mit der Fortsetzung Ulrich’s herausgegeben (Leipzig 1843). Seine Edition von Otte’s „Eraclius“ (Quedlinb. 1843) und sein „S. Alexius in acht gereimten mittelhochdeutschen Bearbeitungen“ (Quedlinb. 1843) erfuhren Haupt’s berechtigte Kritik. Den Anfängen der deutschen historischen Prosa gilt „Das Zeitbuch des Eike von Repgow“ (Stuttg. 1857), eine jetzt gänzlich überholte Arbeit. Mit der Geschichte des mittelalterlichen Dramas berühren sich „Die Litteratur der Todtentänze“ (Leipzig 1841) und „Die Baseler Todtentänze“ (Stuttg. 1847). Ein genaues Schriftenverzeichniß enthält die Selbstbiographie bei A. v. Schaden, Gelehrtes München im J. 1834 (München 1834) S. 68–76.

Vgl. Almanach der k. bayr. Akademie der Wissenschaften 1843 S. 156 ff. Prantl, Sitzungsberichte derselben Akademie 1875 I, 272. Bartsch, Germania 19, 377. F. Voigt, Deutsche Turn-Zeitung 1874, Nr. 33; 1875, Nr. 9 ff. E. Dürre, Kloß’ neue Jahrb. für die Turnkunst 20, 197.