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Artikel „Mannhardt, Wilhelm“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 20 (1884), S. 203–205, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mannhardt,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 15. Dezember 2024, 00:01 Uhr UTC)
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Mannhardt: Johann Wilhelm Emanuel M., deutscher Mytholog. So muß er ganz eigentlich bezeichnet werden, denn die deutsche Mythologie war ihm fast ausschließlicher und jedenfalls höchster Lebensberuf. Er wurde am 26. März 1831 zu Friedrichsstadt a. d. Eider im Herzogthum Schleswig geboren, wo sein Vater Jacob M. das Amt des Predigers an der Mennonitengemeinde bekleidete. Als M. fünf Jahre alt war, wurde der Vater nach Danzig berufen und dort erhielt M. durch Privatstunden den ersten Unterricht; 1842 bezog er das Gymnasium und verließ es zu Ostern 1851. Nur mit Unterbrechungen hatte er es besuchen können, denn von Geburt an auffallend klein und schwach und oft dem Tode nahe, ward er in seinem Wachsthum seit dem siebenten Jahr noch durch eine Rückgratsverkrümmung gehemmt, die immer mehr zunahm, viele Uebel in ihrem Gefolge hatte, ihn nach allen Seiten hemmte, zu monatelangen Leiden verurtheilte und schließlich seinen Tod herbeiführte. Sein Leben war ein steter [204] Kampf gegen einen schwachen Körper; aber zugleich ein sprechendes Zeugniß, wie geistige Kraft solche Schwächen überwindet, wie die Frische einer liebenswürdigen und regsamen Natur sich behauptet und wie das Glück nicht im Genuß, sondern in gesegneter Arbeit besteht. M. spielte sich nie als Märtyrer auf; er grollte nicht mit dem Schicksal; er erzählte schlicht von seinen Leiden, aber nicht um Mitleid, höchstens um Nachsicht zu erwecken. Er war eine dichterische Natur, warmherzig, behaglich, gesellig, menschenfreundlich, enthusiastisch, Optimist und einer heiteren Selbstironie fähig. Aber mit großer Energie verfolgte er den Lebenszweck, auf den er sich früh concentrirte. Die Erzählungen seiner Urgroßmutter und seiner Mutter flößten ihm schon in den ersten Kinderjahren ein Interesse für volksthümliche Geschichten ein. Becker’s Erzählungen aus der alten Welt führten ihm mythologischen Stoff zu. Jung-Stilling’s Selbstbiographie machte ihn mit Volksliedern und Sagen bekannt. Die schöne Melusine und der hörnerne Siegfried wurden ihm zugetragen und weckten in ihm eine tiefe Sehnsucht nach den Gestalten der Sage. Ossian und die Edda traten hinzu und schon 1846 versuchte er sich an mythologischen Gegenständen im deutschen Aufsatz. Bald darauf lernte er das Nibelungenlied kennen und 1848 Grimm’s „Mythologie“, welche die Richtung seiner Studien entschied. Im J. 1849 machte er die ersten Versuche, Sagen zu sammeln und heidnische Alterthümer auszugraben. Als er einst auf der Halbinsel Hela sich bei einem alten Mütterchen nach den „Unterirdischen“ erkundigte, hielt die Gefragte den kleinen Mann mit der rothen Mütze, die er trug, selbst für eines dieser geisterhaften Wesen. Er studirte seit Ostern 1851 in Berlin, wo Lachmann eben gestorben war, hauptsächlich unter Maßmann’s Leitung. Zu Ostern 1853 wandte er sich nach Tübingen, wo er am 1. Juni 1854 promovirte. Schon hatte er sich mit vielen Fachgenossen in Verbindung gesetzt, Jacob Grimm, Müllenhoff, Simrock, E. M. Arndt und Uhland besucht. In Johann Wilhelm Wolf zu Jugenheim an der Bergstraße gewann er einen gleichgestimmten Freund, der ausschließlich der deutschen Mythologie lebte und soeben eine eigene Zeitschrift dafür gegründet hatte. Als Wolf im Sommer 1855 starb, übernahm M. die Redaction dieser Zeitschrift, die es aber nur auf vier Bände brachte (1853–1859 erschienen). Er habilitirte sich in Berlin und las im Winter 1858 auf 1859 sein erstes Colleg über deutsche Mythologie. Aber feste Aussichten auf eine Anstellung boten sich nicht und so kehrte er zu Ostern 1862 in das Haus seiner Eltern zurück. Von 1863–1873 war er Bibliothekar an der Danziger Stadtbibliothek. Am 25. December 1880 ist er gestorben. Sein erstes größeres Werk, „Germanische Mythen“ (Berlin 1858), zeigte ihn unter dem Banne der Anschauungen von Adalbert Kuhn und Wilhelm Schwartz. Er führte eine Parallele zwischen dem indischen Indra und dem germanischen Donar durch. Er handelte von Holda und den Nornen und suchte die letzteren in deutschen Kinderliedern nachzuweisen (vgl. Zeitschrift für deutsche Mythologie IV, 433). Er beherrschte bereits ein gewaltiges Material der Volksüberlieferung; aber dessen methodische Verwerthung gab zu mancherlei Bedenken Anlaß und für eine sichere Behandlung der indischen Mythologie reichte seine Kenntniß des Veda nicht aus. Auch seine „Götterwelt der deutschen und nordischen Völker“ (Berlin 1860), getragen von einer schönen Begeisterung für den Gegenstand und in manchen Partien recht lehrreich, hielt sich im Ganzen noch auf dem Standpunkte, den Jacob Grimm begründet und seine nächsten Schüler mit Uebertreibungen behauptet hatten. Der beabsichtigte zweite Band dieses Werkes erschien nicht, weil der Verfasser mittlerweile, hauptsächlich unter der Einwirkung Müllenhoff’s, seinen Standpunkt verändert und sich einer strengeren Kritik zugeneigt hatte. Er suchte sich in den Besitz eines zuverlässigeren und vollständigeren Materials zu setzen, indem er eine umfassende Sammlung der [205] Volksüberlieferungen in Angriff nahm. Auf ein Urkundenbuch, einen Quellenschatz zunächst für einzelne Gebiete der mythischen Tradition, hatte er es abgesehen. Anfangs wollte er, im Anschluß an sein früheres Interesse für die Kinderlieder, mit den „mythischen und magischen Liedern“ beginnen. Dann wählte er die mythischen Gebräuche beim Ackerbau und sammelte und bearbeitete sie mit dem größten Glücke. Er beschränkte sich nicht auf Deutschland und nicht auf die germanischen Länder: er zog die romanischen und letto-slavischen Nachbarn in sein Bereich und wußte mit der verwandten ethnologischen Forschung Fühlung zu gewinnen. Er wußte mit seltener Energie die Wege zu finden, welche zu den Quellen führten, ließ massenhaft Frageblätter drucken, wandte sich an die Schullehrerseminare, an die Gymnasien, an die landwirthschaftlichen Vereine, ging in die Kasernen, um die Soldaten auszufragen und wußte auch die siegreichen deutschen Kriege von 1864, 1866 und 1870 für seine Zwecke nutzbar zu machen, indem er, unbekümmert um Cholera oder sonstige Unannehmlichkeiten, bei dänischen, österreichischen und französischen Kriegsgefangenen Erkundigungen einzog. Er blieb aber in der Anhäufung eines reichen Stoffes nicht stecken; er drang ungeduldig auf Verwerthung, auf Resultate. Er ließ die Schriften „Roggenwolf und Roggenhund“ (Danzig 1865, 2. Aufl. 1866), „Die Korndämonen“ (Berlin 1868), „Klytia“ (Virchow-Holtzendorff, Heft 239, Berlin 1875), „Die praktischen Folgen des Aberglaubens“ (Zeit- und Streitfragen, Heft 97, 98, Berlin 1878), die Abhandlung über lettische Sonnenmythen (Zeitschrift für Ethnologie 1875) und vor Allem sein Hauptwerk „Wald- und Feldkulte“ erscheinen, dessen erster Theil (Berlin 1875) den Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme behandelte, dessen zweiter Theil (Berlin 1877) antike Wald- und Feldkulte aus nordeuropäischer Ueberlieferung erläuterte und in der Vorrede eine Kritik der bisherigen Mythologie sowie einen Rechenschaftsbericht über die eigenen Bestrebungen enthielt. Eine Anzahl ähnlicher Untersuchungen, welche aus der sicher bekannten nordeuropäischen Volksüberlieferung ein helles Licht auf fragmentarisch bekannte antike Kulte fallen lassen, wird aus seinem Nachlasse in den „Quellen und Forschungen“ (Heft 51, Straßburg 1884) erscheinen. Seine Denkmäler der lettisch-preußischen Mythologie wird Dr. Berkholz in Riga herausgeben. Seinen handschriftlichen Nachlaß bewahrt die Universitätsbibliothek zu Berlin. Seine liebenswürdige, innerlich helle Persönlichkeit spiegelt sich in den „Gedichten“ (Danzig 1881), die nach seinem Tode gesammelt und mit einer Lebensskizze versehen wurden.

Außerdem vgl. G. Mannhardt, Am Sarge Wilhelm Mannhardt’s (30. December 1880); Danziger Zeitung vom 5. Januar 1881; Vossische Zeitung 1881, Sonntagsbeilage Nr. 6 (H. Pröhle); Altpreußische Monatsschrift, N. F. 18, 320; Bursian’s Jahresbericht 24, 1 (G. Mannhardt); über Mannhardt’s Methode und Entwickelung auch Anz. f. deutsches Alterth. 3, 183 und Vorrede zu Quellen und Forsch. 51.