ADB:Müller, Johann Gottwerth

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Artikel „Müller, Johann Gottwerth“ von Franz Muncker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 789–793, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCller,_Johann_Gottwerth&oldid=- (Version vom 12. Oktober 2024, 17:11 Uhr UTC)
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Band 22 (1885), S. 789–793 (Quelle).
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Müller *): Johann Gottwerth M. wurde am 17. Mai 1743 zu Hamburg geboren. Sein Vater Johann Nicolaus M. (geb. 1711 zu Erfurt) wirkte daselbst seit 1735 als praktischer Arzt; seine Mutter Caroline Ehrenmuth (geb. 1705) war eine Tochter des geistlichen Liederdichters Erdmann Neumeister (1671–1756). So ward dem Knaben schon im Elternhause, in welchem unter andern Friedrich v. Hagedorn, Carpser, Eckhof verkehrten, das Interesse an Wissenschaften und Poesie eingepflanzt. Aber „nach der gewöhnlichen undeutschen Art erzogen“, lernte er eher Französisch als Deutsch: auch die Vorliebe für die französische Litteratur, die er zeitlebens bekundete, stammte bereits aus jenen Kinderjahren. Prophezeite Hagedorn dem Sohne des Freundes die künftige Schriftstellerlaufbahn, so bestimmten diesen unzweifelhaft die Eindrücke, die er von dem Vater und von Carpser empfing, sich zunächst, nachdem er die gelehrten Schulen seiner Vaterstadt absolvirt hatte und am 12. Octbr. 1762 an der Universität Helmstädt immatriculirt worden war, der Medicin und Pharmacie zu widmen. Bald darnach verlor M. den Vater; obwohl er aber nunmehr auf sehr beschränkte Mittel angewiesen war, dehnte er seine Studienzeit länger aus, als es sonst gewöhnlich der Fall war; er scheint auch nach Helmstädt noch andere Hochschulen besucht zu haben, vermuthlich Halle. Reisen führten ihn überdies ziemlich durch alle Gegenden Norddeutschlands. Der Medicin wurde er dabei abtrünnig; der Drang zur Litteratur, der ihm schon frühzeitig in Hamburg poetische Versuche verschiedner Art entlockt hatte, bewog ihn jetzt, sich ganz und gar auf die Schriftstellerei zu verlegen. Nicht ohne Einfluß mag dabei seine Bekanntschaft mit dem Buchhändler D. C. Hechtel gewesen sein, dessen Tochter Johanna († 1808) er 1771 zu Magdeburg heirathete. Im Verlage Hechtel’s, an dessen buchhändlerischen Geschäften der ehemalige Mediciner nun thätigen Antheil nahm, erschienen die ersten Schriften, zu denen M. sich [790] nachmals als Autor bekannte, zwei kleine Sammlungen von „Gedichten der Freundschaft, der Liebe und dem Scherze gesungen“ (1770 und 1771). Nach dem Muster des von seinem Freund Patzke herausgegebenen „Greises“ (1763–69) verfaßte er, nahezu ohne Mitarbeiter – nur Patzke und Johann Andreas Cramer lieferten ein paar Beiträge –, die moralische Wochenschrift „Der Deutsche“ in acht Theilen (1771–1776), ausgezeichnet vor den früheren Arbeiten ähnlichen Schlages durch die patriotische Wärme und den nationalen Stolz, mit welchem M. darin nicht nur über die älteste deutsche Geschichte, Cultur und Mythologie berichtete, sondern namentlich auch gegen die moderne Nachäfferei des Auslandes eiferte. In den gelegentlich eingeflochtenen kleinen Novellen und Charakterbildern verrieth sich schon der spätere Romandichter. Während der Herausgabe des „Deutschen“ siedelte M. nach Hamburg und von da bald (1773) nach Itzehoe in Holstein über, um sich selbständig als Buchhändler niederzulassen. Hier erschien in seinem Verlage, wohl auch aus seiner Feder, 1775 die burleske Geschichte „Der Bürger von Condom“, vermuthlich nach einer französischen Vorlage ausgearbeitet. 1777 folgte die schwankartige Intriguennovelle „Der Ring“, nach dem Spanischen, über die sich unter andern Lichtenberg sehr beifällig äußerte, 1779 der komische Roman „Siegfried von Lindenberg“, Müller’s bestes Werk, welches ihm seinen Platz in der Geschichte unsrer Litteratur eroberte und trotz seiner spätern, schwächeren Leistungen sicherte. Zum ersten Male schöpfte er hier statt aus fremdländischen Quellen aus der unmittelbaren Natur. Personen und Zustände des alltäglichen Lebens, speciell Figuren und Erfahrungen aus Itzehoe dienten ihm zum Modell seiner Darstellung. Die humoristische Abschilderung des lächerlichen Treibens eines gutmüthigen, aber ungebildeten pommerschen Landjunkers, der auf seinem Schlosse unter seinen Bauern das Handeln und Gebahren eines großen Souveräns copirt, erweitert sich im „Siegfried“ zu einem carikirten Abbilde menschlicher Thorheiten überhaupt. Die verschiedensten Arten von Eitelkeit und Größenwahn, von täppischer Unbeholfenheit und hohlem, dreistem Geniewesen werden witzig verspottet, indem sie treu nach der Natur, doch mit leichter Uebertreibung ausführlich abgezeichnet werden. Auch lichte Stellen fehlen in dem Gemälde nicht; aber der realistische Autor bewahrt sich auch bei ihnen ängstlich vor idealisirender Verschönerung. Er verstärkt und vergröbert zwar zu satirischem Zwecke die aus der wirklichen Welt geborgten Züge; sonst aber läßt seine nüchtern-praktische Tendenz die frei schaffende Phantasie sich nirgends bethätigen. Moral ist seine erste und letzte Absicht; aber noch hütet er sich, sie plump und aufdringlich zu predigen, noch versteckt er sie überall glücklich unter Humor und Witz. Freilich ist der Humor oft derb, der Witz platt, die Darstellung überaus breit, ohne tief zu sein, die Charakteristik klar wegen ihrer Umständlichkeit, nicht wegen ihrer Schärfe. Eine bedeutende oder kunstreiche Handlung fehlt ebenso wie eine innere Entwicklung des unvollständig und rein äußerlich gelösten psychologischen Problems. M. war stolz genug, sich für den ersten zu halten, der seiner Nation „einen originalen deutschen komischen Roman“ vorlege; die formale Nachahmung fremder und einheimischer Vorbilder war jedoch keineswegs zu verkennen. Vieles erinnerte an Cervantes und Fielding, auch an Sterne und Wieland, sowie an die unmittelbar vorausgehenden Romane von Wezel und besonders von Musäus. Die günstige Aufnahme, welche „Siegfried von Lindenberg“ allgemein fand, bewog den Verfasser, ihn 1781 in der zweiten Auflage (der sich zahlreiche weitere Ausgaben und Nachdrucke, auch einige Uebersetzungen in fremde Sprachen anschlossen) um mehr als das Sechsfache zu erweitern, auch indem er das schon 1766 zu Helmstädt entworfene Fragment einer poetischen Erzählung in Wielands keckster Manier „Ranfrida oder das endlose Lied“ einschob. Gewonnen hat die [791] Geschichte übrigens durch die totale Umarbeitung und unverhältnißmäßige Vermehrung keineswegs, wie schon die Kritik der Zeitgenossen bemerkte. Gut, daß M. den Roman nicht seinem ursprünglichen Plane gemäß „wenigstens bis zum dreißigsten Bande“ fortsetzte und von an nun jährlich zwei Theile Siegfriediana als ein „Journal menschlicher Ungereimtheiten“ herausgab. Statt dessen schloß er 1782 die zweite Auflage mit dem vierten Theile und veröffentlichte, nachdem er 1783 die utopische Geschichte der Sevaramben aus dem Französischen des Beiras d’Allais übersetzt und mit unbedeutenden, meist unselbständig von Thomasius entlehnten „litterarischen Anmerkungen“ begleitet hatte, 1784–1791 acht Bände „Komische Romane aus den Papieren des braunen Mannes und des Verfassers des Siegfried von Lindenberg“. Es sind die lose mit einander zusammenhängenden Geschichten „Die Herren von Waldheim“, „Emmerich“ und „Herr Thomas“, die letzte unvollendet. Keine derselben ist dem Siegfried ebenbürtig: die Komik wird von Roman zu Roman dürftiger und schwächer; der Humor wird immer gekünstelter und beschränkt sich allmählich auf die derben Reden der Personen aus niedrigem Stande, die M. bald mehr, bald weniger Dialekt sprechen läßt. Die Charaktere und die Motive dieser Erzählungen sind großentheils denen im „Siegfried“ verwandt, die ästhetischen Grundsätze und sittlichen Tendenzen ebenso wie die litterarischen Vorbilder durchaus dieselben. Auch die Art der Composition und Darstellung ist mit allen ihren Schwächen unverändert geblieben. Nur schildert M. jetzt noch viel breiter das Leben seiner Helden von der Geburt bis zur Hochzeit, wenn nicht gar bis zum Tode; ja mitunter erspart er uns auch die ausführliche Vorgeschichte ihrer Eltern und Voreltern nicht. Immer mehr nehmen die moralisirenden Abschweifungen vom Thema überhand: sie verbreiten sich über allerlei wissenschaftliche, ethische und religiöse Fragen meist im Sinne der Berliner Aufklärungsphilosophie, predigen Toleranz, eifern aber zugleich intolerant gegen Heuchelei, Adelsstolz, Klatsch- und Modesucht, gegen litterarische Schrullen (z. B. Klopstock’s Orthographie), gegen die Nachdrucker (gegen welche M. 1792 ein besonderes, von Knigge nach der juristischen Seite hin bekämpftes Büchlein „Ueber den Verlagsraub“ schrieb), gegen feindselige Recensenten (namentlich gegen den Gießener Christian Heinrich Schmidt, zeitweise auch gegen Fritz Stolberg). Der Bau der Romane wird dabei stets kunstloser, die Behandlung psychologischer Probleme oberflächlicher, die Zeichnung der Charaktere schablonenhafter: die äußerliche, im ganzen noch recht zaghafte, ja bisweilen blos scheinbare Realistik der Darstellung, die nirgends mit der nöthigen Objectivität verbunden ist, verstößt oft gegen die innere logische Consequenz der Charakteristik. Das gleichzeitige Publicum indeß, darunter Männer wie Lichtenberg, Boie, August Gottlieb Meißner, nahm auch die späteren, für unsern Geschmack ungenießbaren und langweiligen Bände Müller’s mit außerordentlichem Beifall auf.

Die angestrengte, durch Erholung allzuwenig unterbrochene Geistesthätigkeit griff die Gesundheit des Arbeitenden bald heftig an. Langwierige, ernsthafte Krankheiten suchten ihn wiederholt heim. Kleine Reisen (nach Hamburg, im Sommer 1783 nach Göttingen) vermochten ihn nur vorübergehend zu erfrischen. Er gab daher schon Ende 1783 sein Buchhändlergeschäft auf und lebte, nachdem sich sein Wunsch, seiner zahlreichen Familie halber auswärts (etwa am Stuttgarter Hofe) eine Stelle zu erlangen, nicht erfüllte, als Privatgelehrter einzig und allein der Schriftstellerei. Seit 1796 erhielt er durch Vermittlung des Ministers Andreas Peter Grafen von Bernstorff von der dänischen Regierung eine jährliche Pension von 200 Thalern, die ihm nach Klopstock’s Tode 1803 verdoppelt wurde. In den letzten Jahren, bevor auf diese Weise seine pecuniäre Lage etwas erleichtert wurde, zwang ihn die Sorge um den Verdienst, fabrikmäßig [792] rasch zu schreiben. Als daher sein Freund Nicolai, zu dessen „Allgemeiner deutscher Bibliothek“ er schon seit 1767 Recensionen beisteuerte (wie hernach auch zur Jenaer „Allgemeinen Litteraturzeitung“ und noch im späten Alter zu einigen holsteinischen Zeitschriften), ihn aufforderte, die von Musäus unter dem Titel „Straußfedern“ begonnene Sammlung kleiner Erzählungen fortzusetzen, ging er gern auf diesen Vorschlag ein und stellte, meist nach französischen Originalen, sieben inhaltlich und formal unbedeutende Novellen oder auch nur Anekdoten für den zweiten und dritten Band des Unternehmens zusammen. Daran schlossen sich freie, bald gekürzte, bald durch eigene Zuthaten vermehrte Uebersetzungen dreier von den Damen E. Bekker und A. Deken gemeinschaftlich verfaßten holländischen Romane, die den Originalwerken Müller’s hinsichtlich ihrer Tendenzen, Vorzüge und Fehler verwandt waren, „Sara Reinert“ (1796), „Wilhelm Leevend“ (1798–1800) und „Klärchen Wildschütt oder die Folgen der Erziehung“ (1800); doch hat M. nur den ersten Roman vollständig übertragen. Als eine Art von Fortsetzung der „Straußfedern“, aber interessanter als die dort gedruckten Novellen, erschien 1799 der erste (einzige) Band der „Novantiken“, drei Geschichten, zum Theil nach französischen Mustern bearbeitet, zum Theil wohl von dem Erzähler selbst erfunden und bereits im sentimentalen Genre der letzten Originalromane Müller’s geschrieben. Dieser hatte nämlich unter dem Vorwande, nach einer französischen Uebersetzung der „guzurattischen Urschrift“ gearbeitet zu haben, 1792 die morgenländische Geschichte „Selim der Glückliche oder der Substitut des Orimuzd“ (3 Theile) im Verlage von Nicolai herausgegeben, der selbst ein Capitel des Werkes verfaßt hatte, und ebenda schon 1793–1795 gleichsam als Gegenstück einen weiteren Roman in vier Bänden folgen lassen, „Friedrich Brack oder Geschichte eines Unglücklichen“. Der komische Humor, der den früheren Romanen Müller’s noch am ersten einigen Reiz verliehen hatte, ist nunmehr ganz verschwunden; dafür stellen sich manche Motive des rührseligen Familienromans ein, den zur selben Zeit Kotzebue und Lafontaine fleißig anbauten. Aber M. vermag uns nicht, wie Lafontaine, wenigstens in einzelnen Situationen durch sentimentales Pathos zu erschüttern oder durch wirklich poetische Züge zu erfreuen; meist verhindert ihn daran sein nüchternes Streben nach äußerer Realistik ohne innere Consequenz der Charakteristik, das sich mit allen sonstigen Eigenarten und Mängeln seines Talentes auch in diesen spätern Werken wieder unverhüllt zu erkennen giebt. In dieselbe Classe wie „Friedrich Brack“ gehören Müller’s letzte Originalromane, „Antoinette oder die uneigennützige Liebe“ (1802), „Ferdinand“ (1802) und „Die Familie Benning“ (1808, unvollendet). Nach ihrem ästhetischen Werthe stehen sie zum Theil jedoch noch unter der „Geschichte eines Unglücklichen“. In „Antoinette“ führt die vor allen gewaltsamen Katastrophen zurückschreckende schwächliche Moral des Autors, ebenso wie 56 Jahre vorher in der „schwedischen Gräfin“ des von M. (nebst den übrigen Dichtern der alten Schule) laut gepriesenen Gellert, zu einer nicht blos äußerlichen, sondern im Grunde unsittlichen Lösung des psychologischen Problems nach der Art Kotzebue’s. Im „Ferdinand“ aber ist die kunstlose Aeußerlichkeit der Composition und Darstellung ärgerlich weit getrieben. Von allen Fäden, die im Verlaufe der Erzählung angeknüpft werden, ist keiner zu Ende gesponnen; ein maßlos trauriger, aber keineswegs tragischer Schluß reißt unvermittelt und ohne innere Nothwendigkeit plötzlich die Entwicklung der Geschichte ab.

In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens entsagte M. der Schriftstellerei so gut wie ganz und lebte, von Krankheit viel heimgesucht, doch in heiterer Ruhe seiner Familie und seinen Büchern – er hatte sich nach und nach eine Bibliothek von mehr als 12 000 Bänden angesammelt. Während der französischen [793] Kriegsjahre machte er sich durch seine Kenntniß der französischen Sprache seinen Mitbürgern vielfach nützlich. Doch war er wegen seines strengen Urtheils im ganzen von ihnen mehr gefürchtet als geliebt. Er wußte sich darüber mit der Freundschaft der besseren unter ihnen zu trösten. Auch unter Deutschlands Schriftstellern, namentlich unter den Vertretern der Aufklärung, zählte er mehrere zu seinen warmen Freunden. Briefe und Besuche von ihnen, hin und wieder auch enthusiastische Schreiben von jungen Verehrern erheiterten seinen Lebensabend; beim großen Publicum aber fiel er, sobald er nicht mehr litterarisch thätig war, rasch der verdienten Vergessenheit anheim. 85 Jahre alt, starb er am 23. Juni 1828 zu Itzehoe. –

Jördens, Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten, Leipzig 1808. Band III, S. 721–730. – Johann Gottwerth Müller nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt von Dr. H. Schröder, Itzehoe 1843. – Waldemar Kawerau, Die kritischen und moralischen Wochenschriften Magdeburgs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, (1884), S. 39–41.

[789] *) Zu S. 610