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Artikel „Guarinonius, Hippolitus“ von Jakob Franck in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 10 (1879), S. 83–85, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Guarinonius,_Hippolytus&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 13:02 Uhr UTC)
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Guarinonius: Hippolitus G.[1], Arzt und medicinischer Schriftsteller zu Anfang des 17. Jahrhunderts. Sein äußeres Leben ist bis auf das, was er selbst auf dem Titel seines größeren hier zu besprechenden Werkes und in einzelnen in diesem zerstreuten Angaben über sich mittheilt, unbekannt und auch die Litterarhistoriker älterer und neuerer Zeit (auch Goedeke und Weller erwähnen seiner [84] nicht) übergehen ihn unverdienterweise fast gänzlich. Zufolge dieser seiner Angaben war er (Grewel d. Verwüstung S. 118) zu Prag als der Sohn des kaiserlichen Leibarztes Bartholomäus G., der als 70jähriger Greis bei der Abfassung seines Werkes noch im J. 1610 lebte, geboren (wann? findet sich nicht angegeben) wurde (S. 215, 219, 246), in Prag von Jesuiten erzogen, auch in fremden Sprachen, namentlich der französischen, unterrichtet (auf S. 219–20 erzählt er eine hübsche Anekdote, wie er einen seiner Lehrer mit dem Lesen des Amadis von Gallien, den er „von außen wie seine Grammaticam hatte einbinden lassen“, längere Zeit täuschte und da er gerade von der schönen Oriana und dem Kampf eines Riesen mit dem Amadis gelesen, der Magister plötzlich „den Riesen vertratt vnd mit der Bürckenstang dem Amadi vber den sitzer kam“), studirte später (S. 213, 1140) zu Padua Medicin und erhielt dann eine Anstellung als „Act. et Med. Doctor deß Königlichen Stiffts Hall im Ynthal und daselbst F. F. Durchl. Durchl. Ertzhertzoginnen zu Oesterreich etc. Steyr Cärnthen etc. Leib vnd gemainer Statt beställter Ohyticus“. Wann er gestorben, ist unbekannt. Er ist Verfasser eines voluminösen (der Autor zwar nennt es in der Dedication an Kaiser Rudolf nur „ein Büchle“), aber interessanten Werkes, dem er den Titel gab „Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts. In sieben vnterschiedliche Bücher vnd vnvermeidliche Hauptstücken sampt einem lustigen Vortrab abgetheilt. … Ingolstatt im 1610. Jar.“ Fol. (In Dresden). Dieses sein „Büchle“, das er (S. 791) etwa zur Hälfte bereits am 7. Februar 1608 niedergeschrieben hatte, endigte er (Bl. 8a) zu Hall am Inn „den letzten Decembris 1609“. Es ist eine Arbeit mit vorwiegend populär-medicinischer Tendenz, etwa so wie sie, nur in geistreicherer Weise und in kleinerer Gestalt, zwei Jahrhunderte später der Arzt Hufeland in seiner Makrobiotik der Lesewelt geschenkt hat und empfiehlt und lobpreist gegen „die Verwüstung des menschlichen Geschlechts“ durch Krankheit und frühzeitigen Tod vor Allem natürliche, dann aber auch „christliche“ und „politische“ Heilmittel, wobei allerdings auch mancher traditioneller naturhistorischer und medicinischer Aberglaube mit unterläuft; dabei ist er jedoch auf seinen Zunftgenossen Paracelsus, der zum Theil dieselben Mittel anempfahl, sehr übel zu sprechen und nennt ihn (S. 114) wegwerfend „den abenthewrischen Paracelsus mit seinen Scarteken“. Für die Sitten- und Culturgeschichte aber jener Zeit und namentlich des tirolischen Landes ist das Buch außerordentlich reich an den mannigfachsten Bezügen. Er behandelt unter Anderem folgende Gegenstände: Doctor vnd Apodecker. Dück der Weiber. Dawung (Verdauung). Ebenen vnd Birg (Berge. Ebene bringt viel Narren vnd Schiferanten, S. 446). Fresser vnd Sauffer. Engelländische Comedianten (S. 214). Calendrische Narrheiten (S. 996–1022, 1069–86). Anekdoten vom Eulenspiegel (S. 600–8). Fuchsschwäntzer. Die Fechtschulen. Hundsrecht bei den Teutschen. Juden und Ketzer fressen gern Fleisch. Lob der alten Weiber. Lobgesang der Gerhaben (Vormünder S. 337). Marx- und Lucasbrüder. Mühl- und Müller-Betrug. Natur der Gänß vnd Weiber. Nudel und Blenten der Bawren Speiß. Predicanten Freßdreckanten. Luther nennt der Autor S. 460, 1202 „Bauch-Mörtl“ und „Märtl Luther“, wie sich denn seine durch Jesuiten geleitete Erziehung an nicht wenigen Stellen seines Buches durch Spott und Hohn gegen die Lutherischen documentirt. S. 1152–63 ein auf die Predicanten gedichtetes Venus-Liedle. Teutsche Lieder lauten all von der schönen Grüne vnd dem külen Wein. Warumb die Teutschen gern Wein trinken. Zehn Proben Wirtischer (der Wirthe) Buberey. Zwölf Ueberfluß der Männer, dreyzehn der Weiber. Zu den Nahrungsmitteln, denen eine besondere Heilkraft innewohnt, rechnet er das „Kraut, Zettel- oder Kabeskraut“, d. h. das Sauerkraut, über welches „edle Kraut“ der medicinische Verfasser mit Begeisterung in mehr [85] als fünfzig Lobeserhebungen (S. 564–71), untermischt mit gelahrten Citaten aus Galenus und Dioscorides, sich erschöpft. Nachdem er vorerst über die Natur des „Kabes“ und dessen Zubereitung sich verbreitet, sagt er unter Anderen, Julius Alexandrinus, der Leibarzt Maximilians II. und Rudolfs II. (um 1550) habe ein sehr hohes Alter erreicht, weil er unter allen Speisen nichts lieber als das Sauerkraut gegessen. Vom gemeinen, uneingemachten Kabes, der noch zäh, feucht und grob ist, werde ein melancholisches Geblüt erzeugt, davon die Dämpfe in den Kopf steigen. Schon Galenus, der Urahn aller Aerzte, habe das Sauerkraut für blöde Magen und den mit Gicht Behafteten empfohlen. Auch als inneres Mittel gegen den Biß toller Hunde könne es gebraucht werden, ja selbst gegen Milz- und Lungensucht sei es mit großem Erfolge angewendet worden. Und sogar die „Trunkenboldenhaftigkeit“ verhindere dieses Kraut und „zwaren“, indem man zerriebene und erwärmte Blätter um den Kopf bindet. Das Kabeskraut, faßt er alles Gesagte in die Worte zusammen, ist die edelste Speise, ist ein Tyriak, ist Zucker an Festtagen. In anderer Beziehung ist das Buch eine Fundgrube und Hilfsmittel für die deutsche Sprachkunde, insbesondere für ungewöhnliche provinzielle Ausdrücke und dialectische Formen und hat in dieser Hinsicht von den Herausgebern des „Deutschen Wörterbuches“ eine viel zu geringe Beachtung gefunden. Für die Sprichwörterkunde aber erscheint es als eine nicht zu verachtende Quelle proverbialer Bezüge jeder Art, reich sowol an ächt deutschen Sprichwörtern als an Redensarten, Anspielungen und Vergleichungen. Die Zahl alles dessen (et quod excurrit) beläuft sich auf 324. Nebenbei fehlen auch nicht deutsche und lateinische Sentenzen und Sprüche, sowie alte volksthümliche und Kalender-Reime. Zu besonderer Zierde endlich, jedoch in anderer Weise, gereicht dem Buche die erste Dedication (die zweite ist an Kaiser Rudolf gerichtet). Der Verfasser nämlich schreibt sein Werk in einer 4 Folioseiten starken Dedication der Jungfrau Maria, seiner nach Gott Allergnädigsten Kayserin und Frawen, zu. G. ist außerdem Verfasser dreier anderer (dem Unterzeichneten nicht zu Gesicht gekommenen) Bücher: „Discursus, documentum et opinio de thermis Fabariensibus“, in das Lateinische übersetzt in Aug. Stöcklin’s Nymphaeo Fabar., ferner einer „Hydroenogamia triumphans“, sowie einer „Chylosophia Academica“.

Zum ersten Male bearbeitet nach der Vorlage des Originals. Vgl. auch Theoph. Sinceri Neue Nachrichten von lauter alten Büchern I, S. 126–28. Adelung’s kurze Notiz im Gelehrten-Lexicon s. v. Guarinonius und Maßmann im Anzeiger f. D. A. II, S. 80.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 83. Z. 5. v. u.: Hippolitus Guarinonius, der sich gewöhnlich Quarinoni schrieb, ist keineswegs so unbekannt, wie J. Franck annahm. Vgl. jetzt über ihn: Berthold Riehl, Die Kunst an der Brennerstraße (1898), S. 43. In Hall i. T. hat man ihm an seinem Wohnhause eine Mosaikgedenktafel errichtet. Er ist nicht in Prag geboren und erzogen, sondern 1571 in Trient geboren und zu Mailand als Page des Cardinals Karl Borromäus aufgewachsen. Er war Leibarzt der 1607 ins Stift Hall aufgenommenen Erzherzoginnen Christine und Eleonore, Töchter Karl’s von Steiermark. Er starb als Stadtphysicus am 31. Mai 1654. – Sein Hauptlebenswerk ist die Stiftung und der Bau des Klosters Volders, 1 Stunde innabwärts von Hall, dessen Kirche am 2. April 1620 gegründet und am 25. Juli 1654 geweiht wurde. Er soll selbst daran mit gebaut haben. Die hübsche Barockkirche (in gelblichem Putz) ist sehenswerth und fällt von der Eisenbahn auf. Später (1764 f.) ist sie von Martin Knoller ausgemalt worden. [Bd. 55, S. 889]