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Artikel „Franz, Robert“ von Rudolph Freiherr von Procházka in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 48 (1904), S. 720–730, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Franz,_Robert&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 05:20 Uhr UTC)
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Franz: Robert F., Tondichter, geb. am 28. Juni 1815 zu Halle a. S., † daselbst am 24. October 1892. Einer der besten, edelsten Sänger des deutschen Liedes, entsprossen dem Stamme der Halloren, dem seine Familie namens Knauth angehörte. Auf die Führung dieses ursprünglichen, weitverzweigten Familiennamens hatte bereits der Vater Christoph Franz aus Geschäftsrücksichten – er war Güterfrächter – verzichtet. Der Sohn Robert Franz führte demnach diesen seinen später auch gesetzlich ausdrücklich anerkannten Namen von Kindheit an, so daß die oft gehörte Behauptung, man hätte es hier mit einem, absichtlich die Taufnamen Schubert’s und Schumann’s bedeutungsvoll verknüpfenden Pseudonym zu thun, ins Reich der Fabel gehört. Freilich hat das Schicksal, wie wir beobachten können, hier wie so oft mit dem Namen nicht blind gewaltet. Alte Volks- und Kirchenlieder, die der Vater daheim den Kindern vorsang, waren die ersten musikalischen Eindrücke, die Rob. Franz empfangen hatte, wie denn der protestantische Choral später zu einer hauptsächlichen Stütze seines Kunstausdruckes werden sollte. Die unwiderstehliche Neigung des Knaben zur Musik wurde vom Vater hartnäckig bekämpft – der Sohn sollte sich lieber dem humanistischen Studium widmen –, von der sinnigen Mutter gehegt und gefördert. Nach harten Kämpfen und nachdem Autodidaktik wie die Unterrichtslehre heimischer Musiker dem immer stärker hervorbrechenden Triebe nicht mehr genügen konnten, durfte der zwanzigjährige [721] Jüngling die berühmte Musikschule Friedrich Schneider’s in Dessau beziehen. Hier empfing F. die Basis für seinen künstlerischen Ausdruck, wenngleich die Trockenheit und die Pedanterie der Schneider’schen Lehrmethode den temperamentvollen Jüngling nach zwei Jahren schon aus Dessau vertrieben. Keine der vielen größeren Compositionen jener Zeit wurde veröffentlicht. Heimgekehrt überwand er standhaft und glücklich die neuen Anfeindungen und, trotzend dem allgemeinen Mißtrauen in seine Begabung, lernte er durch Sturm und Drang sich selbst erkennen. Bei seiner treuen Mutter fand er Theilnahme und Trost, in Dilettantenkreisen aber lernte er, daß es „auf die Erkenntniß des idealen Gehaltes eines Kunstwerkes ankomme, nicht auf dessen formalen Werth, der sich ja bei einem wirklichen Kunstwerk ganz von selbst verstehe“. Für diese Idee kämpfte damals ein Robert Schumann, sie war der Leitstern eines Richard Wagner, Berlioz, Liszt.

Geradezu auf Kosten seiner Gesundheit gab sich nun der junge F. dem Studium der altitalienischen Meister, dann jenem Bach’s und Händel’s, Schubert’s und Schumann’s (später auch Mendelssohn’s und Chopin’s) hin, versäumte aber auch nicht, an seiner allgemeinen Bildung zu arbeiten, indem er, zumal in philosophischer Hinsicht, an dem überaus regen Universitätsleben Halles an der Seite befreundeter akademischer Bürger lebhaft theilnahm. Auf die Entwicklung und Festigung seiner Künstlerindividualität übte in jenen Tagen sein Freund und später Schwager Friedrich Hinrichs großen Einfluß. 1843 entsprossen einer unglücklichen Neigung (zur anmuthreichen Louise Gutike, der Tochter eines Halleschen Arztes) die ersten Lieder. Schumann stand ihnen Pathe. Durch seine glänzende Kritik des Franz’schen Opus in der Neuen Zeitschrift für Musik lenkte er die allgemeine Aufmerksamkeit der Musikkreise auf den jungen Tonmeister. Gade, Mendelssohn, Richard Wagner, vor allem aber Franz Liszt folgten mit ihrer nicht minder wirksamen Anerkennung und Theilnahme seinem immer reicher sich entfaltenden, wenngleich mit weiser Selbstbeschränkung fast ausschließlich auf dem Felde der Liedcomposition sich bewegenden Schaffen.

Neben den fast 300 Liedern und Gesängen stehen ein Kyrie und ein zweichöriger Psalm a capella, dann eine Liturgie, ein kleines Albumblatt für Clavier und einige Männer- und gemischte Chöre vereinzelt da. Hingegen gewann Franzens Schaffensgebiet bedeutsame Ausdehnung nach einer andern, sehr wichtigen Seite hin: der intensiven Beschäftigung mit den Werken unserer Großmeister, Vor allem Bach’s und Händel’s, in die sich F. bereits Ende der vierziger Jahre zu versenken begonnen. Diese tiefernste Beschäftigung zeitigte nach und nach jene congenialen „Bearbeitungen“, richtiger Ergänzungen und Wiederherstellungen der – meist nur in skizzenhafter Form auf uns überkommenen – Meisterpartituren, die auf Seite der freien Künstlerschaft (Liszt, Mottl, Richter, Nikisch) höchste Bewunderung und Befriedigung, auf Seite der Zunftgelehrten (vor allem Chrysander’s und Spitta’s), unter denen nur Ambros eine rühmliche Ausnahme bildete, ärgsten Widerspruch und leidenschaftliche Verurtheilung erfuhren. In dem langjährigen heißen Kampfe um die „Bearbeitungsfrage“ fand F., der hier den schon von Mozart betretenen Pfad zu einer wahren Ruhmesstraße für jene beiden Großmeister gestaltete, in seinem Jugendfreunde, dem nachmaligen Universitätsmusikdirector Julius Schäffer,- einen ebenso begeisterten als schlagfertigen Anwalt. In einer stattlichen Reihe von mit treffenden Notenbeispielen durchsetzten Broschüren („Rob. Franz in seinen Bearbeitungen älterer Vokalwerke“, „Entgegnung auf Ph. Spitta’s Artikel: Ueber das Accompagnement in den Kompositionen Seb. Bachs“, „Friedr. Chrysander in seinen Klavierauszügen zur deutschen Händel-Ausgabe“, „J. S. Bach’s [722] Cantate ‚Sie werden aus Saba Alle kommen‘ in der Bearbeitung von Rob. Franz und in der Ausgabe des ‚Leipziger Bachvereins‘ kritisch beleuchtet“, und „Neue Bearbeitungen Händel’scher Vokalkompositionen von Rob. Franz“, 1875–80 bei Leuckart sämmtlich erschienen) unterzog Schäffer die als Trumpf gegenüber den Franz’schen Bearbeitungen ausgespielten „Muster“-Ausgaben der philologisch-historischen Schule einer vernichtenden Kritik. Zuweilen griff der Meister persönlich in diesem Streite zur Feder; sein „Offener Brief an Eduard Hanslick“ wie seine „Mitteilungen über J. S. Bach’s Magnifikat“ (bei Leuckart-Leipzig erschienen) dürfen nicht übersehen werden. Die wichtigsten der Franz’schen Bearbeitungen sind: Matthaeuspassion, Magnificat, Weihnachtsoratorium, Trauerode und viele Cantaten mit Orchester- oder Clavierbegleitung, sowie Arien von J. S. Bach, Messias, Jubilate, L’Allegro, il Pensieroso ed il Moderato, sowie viele Arien und Duette von Händel; Stabat mater von Astorga, Durante’s Magnificat. Nicht unerwähnt dürfen ferner Franzens vorzügliche Clavierbearbeitungen einzelner Kammermusiken von Mozart, Schubert und Tartini bleiben.

Der äußeren Laufbahn Rob. Franzens stellte sich leider frühzeitig ein empfindliches Nerven- und Ohrenleiden – dieses nach und nach zur vollständigen Taubheit führend – immer hinderlicher entgegen. 1868 sah er sich infolge der Krankheit gezwungen, den ihm mit der Zeit übertragenen Aemtern des Organisten an der Ulrichskirche, des Dirigenten der Singakademie und schließlich des Universitätmusikdirectors, die er sämmtlich mit rastloser, temperament- und erfolgreicher Energie versehen hatte, zu entsagen. Nun pochten die Noth und die Sorge an die Thüre des Meisters und seiner Familie. Seit 1848 war er mit Maria, der Tochter des Philosophen Hinrichs, vermählt, die sich als Componistin ansprechender Lieder einen geachteten Namen erworben. Dem glücklichen Ehebunde waren drei Kinder entsprossen, von denen ein Sohn († 1900 als praktischer Arzt in Heidelberg) und eine Tochter (Gattin des Superintendenten Bethge in Giebichenstein) die Eltern überleben sollten. Da enthob 1871 eine durch Konstantin Sander, den Hauptverleger Franzens, und durch den Freiherrn Senfft v. Pilsach, einen begeisterten Franzsänger, angeregte, reiche Ehrengabe seitens der Verehrer des Componisten (Liszt an der Spitze) diesen für immer der materiellen Sorge. Die vom Actionscomité zu Gunsten des Ehrenfonds in allen größeren Städten Deutschlands unter großem Zulauf veranstalteten Concerte unter Mitwirkung erster Künstler, wie Joachim, Gura, sowie die gleichzeitigen Bemühungen der Freunde des Meisters in Wien und Amerika (Otto Dresel) brachten ein Capital von 30000 Thalern ein.

Der Lebensabend des Meisters verlief – von dem noch immer wogenden Kampf um die Bearbeitungsfrage abgesehen – in Ruhe und stillem Glück. Auch an äußeren Ehren hat es ihm übrigens nicht gefehlt; so wurde F. u. a. Ehrendoctor der Universität Halle, erhielt den bairischen Maximiliansorden für Kunst und Wissenschaft, den preußischen Kronenorden u. s. f. Die Huldigungen, die der Meister zur Feier seines 70. Geburtsfestes (Juni 1885) seitens der ganzen musikalischen Welt empfing, durften ihn in rührender Weise versichern, daß sein Name und sein Lied im Herzensgrunde vieler Tausender tief Wurzel gefaßt habe, um fortan unverwelklich zu leben und zu blühen, – mag sich auch vorübergehend die Schneedecke der Gleichgültigkeit darüber breiten. Die nirgend und nimmer fehlenden Diener des Neides und der Bosheit ausgenommen, blickten Künstler und Laien in Ehrfurcht und Bewunderung auf diesen letzten Großen aus der classisch-romantischen Tonwelt, den Liszt so treffend einen „Fixstern der deutschen Lyrik“ genannt hatte. Der nach kurzer Krankheit am 25. October 1892 erfolgte Hingang des greisen, doch bis in die [723] letzten Lebenstage rüstigen und schaffensfrohen Meisters überraschte die Freunde der Tonkunst tiefschmerzlich. Unter allgemeiner Theilnahme wurde sein Leichnam auf dem Stadtgottesacker zu Halle beigesetzt, an der Seite der ihm 1891 im Tode vorangegangenen Gattin. Allenthalben fanden, zumal in den Musikstädten Deutschlands, Trauerfeiern für den Verstorbenen statt. Zuerst in Halle selbst. Die Vaterstadt des Componisten, die auch den langen Weg von der ursprünglichen Leugnung des heimathlichen Propheten bis zu seiner endlichen Anerkennung durchgemacht und ihn u. a. 1885 zu ihrem Ehrenbürger ernannt hatte, ehrte das Gedächtniß ihres großen Sohnes weiter, indem sie eine der schönsten Straßen nach ihm benannte und endlich 1903 dem Meister in den Parkanlagen des Theaters ein würdiges Denkmal (die überlebensgroße Marmorbüste von Schaper modellirt) setzte. (Bereits zu Lebzeiten des Meisters, 1882, wurde seine Portraitbüste von Max Landsberg modellirt, ein im städtischen Museum zu Halle befindliches Oelbildniß wurde 1885 von H. Herrmann gemalt.)

Mit F. war nicht nur einer der besten Musiker, auch einer der edelsten Menschen dahingegangen. Ein tadelloser, streng in sich geschlossener Charakter, ein Mann, der sich durch ein kampf- und arbeitsreiches Leben zu den lichten Höhen einer geläuterten Kunst- und Weltanschauung emporgerungen. In seinen Adern rollte echtes Künstlerblut. Eine ungemein impulsive und oft nur allzu aufrichtige Natur spricht aus den vielen hinterlassenen Briefen des Meisters, die ihm den persönlichen anregenden Verkehr mit der Außenwelt, von der ihn sein physisches Leiden abschloß, ersetzen mußten. Mit sanguinischem Temperament geht er da für Personen und Sachen, die seine Theilnahme wachgerufen, ins Feuer, wenn er sie im Einklang mit seinen Idealen glaubt. Andernfalls bekämpft er sie mit aller Kraft. Dort nicht selten ein Ueberschwang der begeisterten Anerkennung, da oft wieder ein völlig vernichtendes Richten mit aller seiner Feder zu Gebote stehenden Kaustik. Häufig schlägt das in jeder Hinsicht scharfe Urtheil ins Gegentheil um, einem und demselben Objecte gegenüber, – dieses hatte sich offenbar gewandelt, nicht der Meister. War’s eine Wandlung zum Bösen, und ist der charakterfeste Meister davon im Innersten ergriffen, verletzt, dann wettert die Satire in seiner sonst von urgesundem Humor getragenen, oft bilderreichen, poetisch-plastischen Ausdrucksweise. Als rother Faden aber leuchtet immer und überall, seien die Worte nun gut oder schlimm gemeint, eines durch: die seltene Ehrlichkeit im Denken, Wollen und Handeln. Sie, der wir nur selten und gar solchen Maaßes im Kunstleben begegnen, breitet einen Schimmer der Verklärung über alle Härten, selbst über gewisse Derbheiten im äußeren Wesen und Sichgeben bei F., – jene rauhe Schale, die als edlen Kern die reine, lautere Seele birgt, den krystallenen Quell all der keuschen, blüthenweißen Lieder.

Zeitlebens hat es F. als eine besondere Gunst des Schicksals gepriesen, daß es ihn, wenige Fälle ausgenommen, in die stillen Mauern des damals kleinen Halle gebannt hielt, von wo aus er mit dem ihm eigenen Scharfblicke das Getriebe nicht nur der Kunstwelt allein wie aus der Vogelperspective beobachten und beurtheilen konnte. Gewissermaßen mit ein Ergebniß der Concentration seines dem ablenkenden Treiben der Großstadt wohlthätig entrückten, äußerlich so ruhigen Daseins, dafür eines um so reicher bewegten Innenlebens sind die Lieder des Meisters, (op. 1–52, mit Ausnahme der auf die früher genannten anderen Compositionen entfallenden Opuszahlen 15, 19, 24, 29, 32, 45–47, 49), – jene Lieder, die für uns die glücklichste Vereinigung von Classicismus und Romantik darstellen, in welcher vordem kaum für möglich [724] gehaltenen Lösung eines Problems nicht zum geringsten Theile ihre musikgeschichtliche Bedeutung liegt.

Lange genug hatte Robert F. eine gewisse Zweideutigkeit seiner Stellung zur Kunst und zum Publicum zu beklagen. Die einsichtiger seinwollenden, sagte er selbst einmal, warfen ihn mit Schubert und Schumann, die blinde Reaction mit Wagner, Liszt und den Männern der Musik der Zukunft zusammen. Gegen letztes wehrte sich der Meister besonders energisch. Verhältnißmäßig spät erst ließ die Kritik seiner Musik ihr Recht widerfahren, erfuhr vor allem sein Verhältniß zu den beiden großen Vorgängern auf dem Gebiete des Liedes ein klärendes Urtheil. Wir sehen, daß in der aufsteigenden Linie der Liedercomponisten, Schubert, Schumann, Franz, des letzten tonkünstlerische Gestaltungskraft nicht nur durchschnittlich einen in die Augen springenden Fortschritt nach der ideellen wie formellen Seite hin bedeutet, vielmehr die Spitze des Ausdrucks in der Liedform selbst. Es gilt hier den Zusammenhang und die Unterschiede zwischen den drei Meistern klarzulegen. Schubert ist der geniale, unvergleichliche Schöpfer der modernen Lyrik, der als erster das Lied zu individualisiren wußte. Bei ihm waltet zumeist die Kraft der Naivetät, des künstlerischen Instincts – die beiden integrirenden Attribute jedes echten, starken Talentes – gewissermaßen noch ungebrochen vor. Conflicte zwischen Situation und Stimmung einheitlich zu lösen ist im allgemeinen seine Sache noch nicht, auch hemmt bei ihm häufig ein gewisser musikalischer Formalismus die Liedform in ihrer freien Entwicklung. Ausnahmen, wie „Am Meere“, die Ossianlieder, vieles aus der Winterreise, vor allem Kleinodien wie „Gretchen am Spinnrad“, stehen freilich für immer einzig, unübertroffen da; sie beweisen, daß der Meister, hätte der Tod ihn nicht leider so früh, mitten in seiner besten Productivität dahingerafft, jenen Culminationspunkt selbst erreicht, daß namentlich Heine mehr Einfluß auf ihn gewonnen hätte – Schumann und F. wären dann wol überflüssig gewesen. Schubert’s Verhältniß zur Poesie erscheint im allgemeinen ziemlich äußerlich, lose geknüpft: ihm gilt es vor allem Musik zu machen, weniger mit seiner Kraft den Dichter zu durchdringen; und gar häufig verschwendet er, unbekümmert um den Stoff, nur Anregung suchend, seine schönste Musik an die Plattheiten der damals lebenden Wiener Poeten. Bei Schumann, der jenen Schematismus durchbrach, dafür aber den Schwerpunkt des Ganzen noch zu sehr auf das specifisch Musikalische verlegte, viel mehr aber noch bei F., der in seinen Liedern das natürliche Gleichgewicht wieder herstellen will, tritt ungezwungen vor und nach Ausgestaltung des ersten Wurfes in der geistigen Werkstatt prüfend und sichtend das strenge Denken hinzu. In dem Maße, wie sich die Poesie zu läutern, d. i. über sich selbst zum Bewußtsein zu kommen anfing, mußte nothwendigerweise auch die Musik den dichterischen Stoffen gegenüber eine andere Stellung einnehmen, als ihr Schubert sie gab. Heine, Lenau, Geibel u. a. erschienen und reinigten die Luft durch ihre Werke. Weiter that die Kritik das ihre, um den Unterschied zwischen Sinn und Unsinn, Sentimentalität und Empfindung endgültig festzustellen. Schumann thut nun einen riesigen Schritt über Schubert hinaus, und zeigt zuerst, wie die Musik der poetischen Intention beikommen müsse. Zunächst – wir reden hier von dem Schumann vor der Peri – wendet er sich in der Wahl der Texte entschieden den besten zu: Goethe, Heine, Chamisso, Burns. Er will nicht bloß Musik an sich machen, sondern seine Kunst durch die Poesie befruchten lassen. Zur Herstellung eines intimen Verhältnisses zwischen beiden Künsten war es nothwendig, daß die Musik ihr Uebergewicht, das sie bisher namentlich durch Vorherrschaft der Melodie in Anspruch nahm, beschränkte und aufgab. Schumann streicht nun [725] zunächst das Phrasen- und Floskelwesen der sogenannten melodischen Gänge, von denen sich Schubert, der Zeit der praedominirenden Melodie zu nahe stehend, nicht ausreichend loszumachen wußte, und bringt seine Cantilene mehr mit der natürlichen Deklamation ins rechte Gleichgewicht. Was die Melodie an selbständiger Abrundung hierbei einbüßt, kommt der Begleitung, die bisher meist ziemlich nebenbei gelaufen war, zu gute: sie nimmt nun lebhaftesten Antheil an allen inneren und äußeren Vorgängen. So erhebt Schumann das Lied zum Charakteristicum, zum plastischen Bilde. Gewiß ein Fortschritt über Schubert hinaus. Den großen Vorzügen stehen bei Schumann nun allerdings wieder einzelne Schwächen gegenüber, die wir – es thut solches der unbegrenzten Verehrung für diese Meister nicht den geringsten Abbruch – hier ebenso wie bei Schubert nicht unerwähnt lassen dürfen, wollen wir auf F. übergehen und zeigen, wie dieser die Tugenden seiner großen Vorgänger sich nach Kräften anzueignen suchte, gleichwie er stets bemüht war, deren Fehler zu vermeiden. Neben dem Streben nach dem Edelsten verräth Schumann nicht wenig Gefallen an manch wunderlichen Schrullen und Sonderbarkeiten – seine Neigung zum Phantastischen, Barocken konnte auf die Dauer auf sein Verhalten zur Poesie nicht ohne Einfluß bleiben. Gar oft unterzieht er der musikalischen Behandlung Stoffe, deren reflectirendes Gepräge von Haus aus eine solche verboten (die Myrten, viele Heine’sche Lieder, namentlich der „Dichterliebe“ enthalten dergleichen Beweise für den Hang Schumann’s, durch die Musik das Wort beherrschen zu wollen). Ueberdies legt er in seinen Gesangscompositionen den Schwerpunkt nicht selten zu sehr auf die Begleitung – der Clavierspieler erhält sein Vor- und Nachspiel, auch wenn es nicht unbedingt nöthig – und läßt den Sänger oft nur zwischendrein zur Geltung lommen. Ein richtiger Instinct führte Schumann auf eine feinere Detailarbeit im Liede, konnte er doch nur durch diese den vielen Feinheiten der Dichter seiner Wahl gerecht werden. F. folgt ihm in dieser Detailarbeit, die er überall der letzten Prüfung und Nachfeile zu unterziehen nicht müde wird.

Stimmen Schumann und F. auch hinsichtlich der musikalisch-poetischen Intentionen ziemlich überein, so gehen die Resultate schließlich doch wieder sehr auseinander. Schumann schildert die Situation meist äußerlich, läßt sie weniger theilnehmen an der Stimmung desjenigen, dessen Fühlen unter ihr befangen ist: er ordnet dieses jenem unter. Man vergleiche nur einen Stoff, den beide Meister bearbeitet haben, beispielsweise das Heine’sche „Im Rhein, im heiligen Strome“: Schumann zeichnet hier einen musikalischen, gothischen Dom mit all seinen wunderlichen Einzelheiten – ihm wird diese Absicht zur Hauptsache. Franzens Auffassung ignorirt zwar weder den Dom noch den Rhein, ordnet aber beides einer allgemeinen Empfindung unter, die ihren Mittelpunkt im Herzen dessen findet, der in jener Umgebung handelnd, oder besser fühlend auftritt. Eine Grundverschiedenheit der Auffassung der Stoffe, die sich noch an vielen Beispielen ähnlich nachweisen ließe. Während so Schumann’s Musik dem gewählten poetischen Stoffe meist sozusagen despotisch (siehe auch jene Vor- und Nachspiele) gegenübertritt, weiß Franzens Musik dem Texte gegenüber sich mehr zu bescheiden und Selbstbeschränkung zu zeigen, sobald sie mit den gegebenen Worten in Widerspruch tritt. Fraglos geht auch Schumann in einzelnen Fällen direct auf den Kern des Gegenstandes zu; indessen ergibt sich aus dem Gesagten von selbst, daß in den Franz’schen Liedern durchschnittlich eine größere Einheit der Stimmung anzutreffen ist, ein Vorzug, der schwer genug ins Gewicht fällt. „Ihr Hügel dort am schönen Don“ (op. 4, 4), um hier nur ein Beispiel zu nennen, veranschaulicht dies einheitliche Zusammenfassen des Widerspruches von Situation und Stimmung, das [726] mit jenem strengen Festhalten an einem einheitgebenden Gesichtspunkte und dem Rückwärtsbiegen der poetischen Pointe über die ganze Composition charakteristisch ist für die durch die Musik gewonnene Auffassung bei F.

Eine nicht geringe Anzahl der Lieder des Meisters ist überdies unter einem besonderen Gesichtspunkte zu fassen: wir sehen da den schaffenden Künstler gewissermaßen über dem Stoffe stehen, siegend über die Materie. Wir begegnen in den Franz’schen Liedern allenthalben dem Bestreben, die Gegensätze aufzuheben, sie zu identificiren: seine Freude hat überall einen Beigeschmack von Trauer, und seine Schmerzen bemühen sich wenigstens stets, den Frieden zu erringen – ein Zurückgreifen auf die Urempfindungen des wahren Menschen, in dessen Brust jene Gegensätze ewig gleichzeitig schaffen und wirken. Das wußten auch die alten Griechen in ihrem göttergleichen Instinct richtig herauszufühlen: der Schmerz hat auch bei ihnen stets seine Sänftigung in der Ruhe, die Freude ihre Milderung in einem leisen Anflug von Trauer. Unter den deutschen Poeten erinnern uns Goethe und namentlich Heine („Es träumte mir von einer weißen Heide“ und hundert andere seiner Lieder) an diesen Standpunkt, der die Franz’sche Musik mit ihrem wohlthuenden, trostreichen Element deutlich von so manchen künstlerischen Erzeugnissen seiner Zeitgenossen – den späteren Schumann nicht ausgenommen – wie der Moderne scheidet.

Aber auch in Bezug auf die musikalisch-formelle Behandlung finden wir zwischen beiden Meistern wesentliche Unterschiede. Bei F., den das melodische oder vielmehr declamatorische seiner Behandlung der Singstimme, die Innerlichkeit in der Ausführung die Reihe der modernen Meister eröffnen läßt, ist der Gesang durchwegs ausgearbeiteter und den natürlichen Bedingungen des Organs entsprechender – Eigenschaften, die ihn nothwendig auch ausdrucksvoller gestalten müssen. Seine Harmonie ist reiner und mehr auf die allgemeinen Gesetze des Wohllauts basirt: dadurch erzielt F. einen Stil, der seine Beziehungen über das Individuelle einigermaßen hinausdehnt. Als originale Züge des Harmonikers treten hervor die eigenartige Verschmelzung von Dur und Moll, das Hinzufügen der alten Kirchentöne, das Uebergewicht der Dominante, die strenge Stimmführung und das Figurenwesen, nicht zuletzt die Art der Behandlung beim Vortrag. Der Einfluß des protestantischen Chorals auf die Franz’sche Lyrik wurde schon oben erwähnt; mit gewissen Einschränkungen treffen Sarans in dessen bedeutungsvoller Schrift (s. unten) aufgestellte Behauptungen zu und kann man sagen, daß wenigstens ein großer Theil der Franz’schen Gesänge nach dem ganzen Wesen und der musikalischen Structur „im tiefsten Grunde nichts ist, als das mit den Mitteln moderner Kunst bereicherte und idealisirte deutsche Volkslied“. Franzens Rhythmus ist bei allem Reichthum der einzelnen Arten (Eigenthümlichkeiten wie ein 7/4 Takt und Taktwechsel finden sich nicht selten) einfacher und entspricht mehr dem natürlichen Gefühle. Der Franz’schen Rhythmik eignet das Zusammenziehen der Perioden, das Aufheben gleichzahliger Rhythmen. Auf Details, wie die feinsinnige Verwendung der Synkope, des Vorhalts, auf den Reichthum charakteristischer Begleitungsfiguren und Verzierungen, das Bewegen in fremden, ungewohnten Tonarten und eigenthümlichen Modulationen kann hier nur kurz hingewiesen werden. Zu Schumann’s mehr sinnlicher Muse steht die keusche Franzens in strengem Gegensatz. Diese Bemerkung betrifft das sittliche Recht der Franz’schen Lieder – ein reinmenschliches Wesen zu vertreten sind sie bemüht. Dieses Reinmenschliche aber, nicht naturwüchsige, sondern durch die Civilisation veredelte natürliche, auf das es hier ankommt, kann eben keusch sich oder nicht keusch fassen. Und Keuschheit nimmt F. – das kann nicht oft [727] genug betont werden – für seine Musik entschieden in Anspruch. So bewundert der Amerikaner Apthorp in den Franz’schen Liedern die „Reinheit und Schönheit, die wir in den englischen Liebesgedichten aus der Zeit Elisabeth’s finden – kein Liebender kann genug leidenschaftlich sein, um sie zu singen, kein Mädchen zu rein, um sie zu hören“. F. steht in gedachter Beziehung ebenso förmlich schroff Robert Schumann gegenüber, als es nach anderer Richtung hin gilt, die seinen Gesängen innewohnende Berechtigung und Wahrheit mit der Anmaßung und Lügenhaftigkeit des sogenannten Salonliedes der Abt und Kücken zu confrontiren, zu denen sich zuweilen auch die parfümirte Vornehmheit Mendelssohn’s herablassend neigt.

Von der Seite des Handwerks betrachtet, zeigen uns die Lieder Franzens, daß der Meister eigentlich mit einem reinen Nichts zu arbeiten gewohnt ist – entweder ist es ein ergiebiger Rhythmus oder eine dehnbare Harmoniefolge oder ein geringfügiges melodisches Motiv, denen die meisten seiner sich dann allerdings gar reich entfaltenden Lieder ihr Entstehen verdanken. Für die Kunst der Liedcomposition in diesem Sinne, einen einfachen, doch biegsamen Grundgedanken oben gedachter Art reich auszubeuten, ohne ihn müde zu Tode zu hetzen, gibt es hier viel zu lernen. Der Tonmalerei ist F. in seinem Accompagnement – wenn von einem solchen hier, bei der unlöslichen Verbindung der Gesangstimme kat exochen mit den stimmungserzeugenden übrigen überhaupt gesprochen werden kann – keineswegs abhold; wo immer er sie aber anwendet, ergibt sie sich förmlich von selbst, ohne jedwede verstimmende Absicht, und nie wird ihm die Nebensache zur Hauptsache. Unverrückt hält der Meister stets den einen Kern im Auge, aus dem das Lied organisch wachsen muß, der die Einzelheiten mit Naturnothwendigkeit heraustreibt, so daß kein Motiv gezwungen in den Vordergrund tritt, keines aber auch jene feste Körperlichkeit vermissen läßt, die seine bequeme Benutzung ohne Widerstand ermöglicht. Dies die wesentlichsten Unterschiede, über die erst in den sechziger Jahren namentlich Saran, Schäffer und Ambros der Kritik die Augen öffneten. F. persönlich protestirte ebenso entschieden gegen die Absichten auf der einen Seite, ihn in ein Abhängigkeitsverhältniß zu Schumann bringen und seine Selbständigkeit leugnen zu wollen, als gegen den Uebereifer der Freunde, Schubert und Schumann mehr bei ihren Schwächen, als bei ihren Vorzügen, selbe als hinlänglich bekannt voraussetzend, zu fassen. Seine Hochverehrung Schumann’s gab er bei jeder Gelegenheit zu erkennen, die Schubert’s beweisen am schönsten jene Bearbeitungen einzelner Werke des Wiener Meisters. „Niemals wird es mir einfallen“, schreibt er selbst einmal, „mit der Schubert’schen Genialität rivalisiren zu wollen –, mein ganzes Leben und Schaffen hat gezeigt, daß ich mich vor ihr bis in den Staub beuge. Schubert hat so zu sagen aus Nichts etwas hervorgebracht, seine Primitivität steht unzweifelhaft fest. Daß aber dies Etwas einer Ausbildung und Erweiterung fähig war, und daß die Leute, die sich diese Arbeit am Herzen liegen ließen, als Vollender des begonnenen Werkes zu erachten sind, wird auch jeder billig Denkende gern zugeben. Es kommt hierbei gar nicht auf die Untersuchung an, wessen Horizont der weitere, wessen der engere war: es handelt sich allein um das, was der Kunst innerhalb einer bestimmten Gattung, die ja auch ihren besonderen Organismus hat, für Gewinn zugeführt wurde.“ In diesem Sinne sind denn auch unsere Bemerkungen über Schubert und Schumann aufzufassen und nicht etwa mißzuverstehen. Gehören doch Schubert’s und Schumann’s Lieder zum längst errungenen, kostbar gehüteten Gemeingut der gebildeten Welt, zu jenem, was endgültig als wahrhaft schön und groß erkannt ist, – angesichts der Fülle des von ihnen ausströmenden Lichtes vermöchte denn ein Hinweis auf einige [728] Schatten so wenig zu bedeuten, als die Entdeckung der Sonnenflecken in der strahlenden Schönheit dieses Gestirns. Aber es wäre nun auch an der Zeit, daß endlich den Liedern des dritten Meisters im Bunde die Erlösung aus jenem Banne der Gleichgültigkeit werde, der ja lange genug auch die Lieder Schumann’s und Schubert’s der allgemeinen Anerkennung entzog. Man nenne den Meister, der im Liede so verschiedenes geschaffen wie F., daß jeder förmlich für seinen Herzensbedarf hier finden kann, was er eben braucht. Hat jemand ihren Ausdruck erst wirklich verstehen gelernt, dann läßt ihn diese Musik nicht leicht mehr los; es ist ein Specificum in ihr. Die reinliche und saubere Technik thut es nicht allein, wie man vielleicht glauben könnte, – diese ist nur das natürliche Resultat einer entsprechenden Empfindung, die wiederum das treue Spiegelbild des Inhaltes seiner Texte sein will. Die von F. gewählten Stoffe sehnen sich förmlich nach dem Tone, der eben das ausspricht, was das Wort nicht sagen kann.

Die allgemeine Charakteristik der Franz’schen Gesänge will der Biograph nach dem Gesagten in knapper Weise zusammenfassen: „Reiner, schlichter als bei irgend einem andern Componisten herrscht bei F. die einfache Liedform der Alten vor; „durchcomponirte“ Gesänge finden sich nur ausnahmsweise. Wie Bach sehen wir auch ihn des öfteren auf alte, volksthümliche Wendungen zurückgreifen, und enge schließt sich an den Tonfall der gewählten Worte der Rhythmus der mit ihnen vermählten Melodie. Hierzu tritt veredelnd und vertiefend eine auf höchster Stufe stehende künstlerische Verwerthung und Durchbildung des melodischen Hauptmotivs, eine unendliche Mannigfaltigkeit der Rhythmen und Harmonien, sowie die Kunst einer F. wie keinem zweiten Componisten eigenen, wahrhaft Bach’schen Contrapunktik. Aus der jedwede leere Begleitungsfiguren ausschließenden Polyphonie des Claviersatzes – seine größtentheils streng vierstimmige Führung zeugt von bewunderungswürdiger Meisterschaft – geht ein kräftig dramatisches Element hervor, das, vereint mit tiefem Empfinden, die Stimmung des Gedichtes meisterlich und wirksam zum Ausdruck bringt, ohne die im Liederstile gegebenen Grenzen jemals zu überschreiten. Solcherweise gehören die Franz’schen Lieder zu den eigenartigsten und bedeutendsten Tonschöpfungen unserer Musiklitteratur überhaupt; sie lassen uns F. nicht nur als Ausgestalter und Vollender jener Bahnen erkennen, die seine Vorgänger gewandelt, sondern als einen Meister, der, unbeschadet der eigenen Originalität, unter den Segnungen der Großmeister Bach und Händel, auf dem Mutterboden des Volksliedes ein Kunstlied geschaffen hat, welches die Lieblichkeit und den dramatischen Schwung eines Schubert, die Klarheit des musikalischen Baues eines Mendelssohn und die echt deutsche Gemüthstiefe eines Schumann in glücklichster Weise verbindet. Als Zeugen der Ursprünglichkeit seines Genius aber tritt uns in den Liedern von F. eine unabsehbare Fülle der interessantesten und überraschendsten Details, sowol was die Behandlung der Singstimme als die Clavierbegleitung anlangt, entgegen, welche neben berührten Eigenschaften einen hervorstechenden Grundzug in ihrem Charakter bilden und beim vertrauten Genusse uns Schumann’s Worte unaufhörlich ins Gedächtniß rufen: Man findet kein Ende, immer neue, feine Züge an ihnen zu entdecken!

Wohlgemerkt: nicht als Musiker, wol aber als Poetmusiker ist F. gleich Schumann über Schubert hinausgegangen. Nicht in der besseren Art zu declamiren, liegt, wie einige meinten, der Unterschied –, auch Schubert hat sich fürwahr auf gute Declamation verstanden; diese ist nur conditio sine qua non, nicht das Wesentliche, und gelegentliche Verstöße, die auch bei F. wie bei allen Meistern zu entdecken und schließlich leicht zu beseitigen sind, anzukreiden, wäre angesichts des Uebergewichtes der Vorzüge beckmesserisch. Der Unterschied liegt [729] vorerst in der Wahl der Stoffe, der Rücksicht auf deren poetische und musikalische Beschaffenheit, dann in ihrer Behandlung durch die Musik –, also darin, daß F. einmal Geschmack genug besaß, um nur gute, inhaltreiche Texte zu componiren (so meist von Burns, Eichendorff, Lenau, Heine, seinem Freunde Osterwald und Volkslieder), und dann, daß er die ergriffenen Dichtungen durch seine Musik bis ins innerste Wesen hinein erfaßte und künstlerisch darstellte. Sicherlich hat Schubert, wo seine Darstellungsart mit der zu Grunde liegenden Dichtung harmonirt, Werke geschaffen, die ihm keiner nachmachen wird: ein Lied wie „Trockene Blumen“, das Nachspiel ausgenommen, hätte weder Schumann noch F. schreiben können. Andererseits liegen wieder Werke von diesen Beiden als deren specifisches Eigenthum vor uns, und sind z. B. Franzens Compositionen polyphonen Stils nicht denkbar ohne das Studium Bach’s; eine Seite, von der bei Schubert wol wenig die Rede ist. Aber die Lyrik konnte sich auch nicht gut an einem Individuum erfüllen; sie ist ihrer ganzen Natur nach so reich und mannichfaltig, daß verschiedene Leute an der Aufgabe arbeiten mußten. Auch Goethe erschöpfte sie nicht; Heine, Eichendorff, Lenau u. s. w. hatten manches zu vollenden, wozu jener allerdings die erste Anregung gab. Keinem Vernünftigen wird es nun beifallen, etwa Heine, der sich an Goethe herangebildet und dessen ungeachtet ein Mann im weitesten Sinne des Wortes geworden ist, deshalb geringer zu schätzen, weil Goethe ihm als bahnbrechendes Genie vorausgegangen. So verehren wir denn in Schubert denjenigen, der den ersten und schwierigsten Wurf zum modernen Liede gethan: er legte kühn die ersten Fundamente, und seinen Nachfolgern war die Vollendung des Baues nicht schwer gemacht. Als dritten im Bunde aber mit Schumann haben wir F. hochzuhalten, ihn, der einer der deutschen Meister gewesen im wahrsten Sinne des Wortes. Aber gar oft beklagte sich dieser liederreiche Mund über die Theilnahmslosigkeit der singenden Welt. Ein paar Favoritlieder abgerechnet, hört man F., der auf den Concertprogrammen der fünfziger und sechziger Jahre noch weniger fehlen durfte als augenblicklich Hugo Wolf, seit langem nur vereinzelt. Wol mag es für die Eigenart seiner Lieder sprechen, daß heute gerade nur die besten, vornehmsten unserer Sänger des Meisters gedenken und just mit seinen wenigst gekannten Liedern die größte Wirkung erzielen; wol erklingen sie im trauten Heim vieler Hunderte, und ihrer stillen Bewunderer sind genug. Die breitere Oeffentlichkeit jedoch, die so gern mit Schubert und Schumann, Brahms und Wolf zu prunken gewohnte, für sie scheint F. kaum noch zu existiren. Warum? Ist er vielleicht nicht modern? Veraltet? Kaum! – noch heute mag Hinrichs’ Wort gelten: „Franz befriedigt das Bedürfniß, seine Musik ist wirklich neu, und das ist das Recht des Neuen, daß es solchem Bedürfniß entspricht“. Eher, daß sie nicht recht in den realistischen, sinnlich erregten Zug der Gegenwart paßt, die sich nur ab und zu, wol der Abwechslung wegen, Vorliebe für Märchen und Mystik vorlügt. Aber sicher muß und wird auch F. eines Tages, bis nur die Menschen wieder sich selber finden werden, seine Renaissance feiern: mit seinen Liedern wie mit seinen Neuschöpfungen eines Bach und Händel. „Nur wer selbst – wir wollen hier mit einem schönen Worte Kelterborn’s schließen – eine gründliche Kenntniß dieser Werke erworben hat, kann die Größe dieser Leistungen von F. ermessen und wird sich in Bewunderung und dankbaren Herzens vor dem Geiste verneigen, der als eine der ersten Zierden unserer jüngsten Musikepoche dasteht, als einer der Berufensten, die Zahl der großen Meister würdig fortzusetzen, die wir als die Eckpfeiler in der Geschichte unserer Kunst verehren. Nicht der Umfang eines Kunstwerkes bedingt seine Größe, sondern der ideale Gehalt. Wer im Kleinsten der Größte ist, dem gebührt ein Ehrenplatz neben den Großen aller Zeiten.“

[730] Die ersten ausführlichen Studien und Kritiken über Robert Franz schrieben: Franz Liszt in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ Bd. 43, Nr. 22 und 23; A. W. Ambros in seinem Buche „Bunte Blätter“, und Dr. H. M. Schuster in der Wiener „Deutschen Ztg.“ Nr. 405/6, 1873; separat erschienen diese werthvollen Arbeiten in C. Sander’s (F. E. C. Leuckart’s) Verlag zu Leipzig 1872/74, woselbst 1875 auch die bedeutungsvolle Schrift „Robert Franz und das deutsche Volks- und Kirchenlied“ von Aug. Saran erschien. Der für die Bearbeitungsfrage hochwichtigen Schriften von Julius Schäffer wurde bereits oben Erwähnung gethan. 1866 folgte Wilhelm Osterwald mit einem kleinen, doch inhaltreichen „Lebensbild“ (Leipzig, Gebr. Hug), 1889 Dr. Kelterborn mit seinem geist- und gehaltvollen Essay „Robert Franz, ein Meister der deutschen Musikwelt“ im „New-Yorker Belletristischen Journal“ Nr. 1955 (Separatabdruck bei C. Sander), endlich der Jugendgenosse Franzens, Theodor Held, mit seinen interessanten Mittheilungen „Zum Lebensbilde von R. F.“ im Beibl. zur „Magdeburger Ztg.“ 1893. Bemerkenswerth erscheinen auch die Abhandlungen von Ehrlich in „Nord und Süd“ 1886, Bernh. Vogel in Nr. 39 der „Deutschen Liederhalle“ 1886, Schuster in der „Deutschen Dichtung“ Mai 1887 und in der Beil. z. „München. Allg. Ztg.“ 1892, 304, sowie die in der Bearbeitungsfrage mit Erfolg gegen Spitta gerichteten Artikel von Th. Ernst in Nr. 24 der „Hamburger Signale“ 1887 und Dr. Prieger in Nr. 1 des 3. Jahrg. derselben Zeitschrift. – 1894 erschien bei Reclam in Leipzig (Nr. 3273/74 der Univ.-Bibliothek) die erste (bisher einzige) abgeschlossene und ausführ-[liche] Biographie des Meisters von Rudolph Frhrn. Procházka, fußend auf reichhaltigem authentischen Material (unveröffentlichte Briefe von Robert Franz an Sander, Osterwald u. A.) und persönlichen Erinnerungen des Verfassers aus dessen Verkehre mit dem Meister. 1894 veröffentlichte Dr. Wilh. Waldmann (bei Breitkopf & Härtel, Leipzig) seine „Gespräche aus zehn Jahren“ mit Robert Franz, die indessen als Aufzeichnungen mündlicher Aeußerungen – der Meister ist in solchen zumal bei seiner Impulsivität und oft derben Ausdrucksweise vielfach mißverstanden worden – mit Vorsicht aufzunehmen sind.