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Artikel „Ehrlich, Karl Gotthilf“ von W. Fix. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 5 (1877), S. 715–721, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ehrlich,_Carl_Gotthilf&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 23:25 Uhr UTC)
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Ehrlich: Karl Gotthilf E., bekannter Pädagog aus der Pestalozzi’schen Zeit, geb. 3. Jan. 1776 zu Halle an der Saale, † 7. Juni 1857 in Soest als emeritirter Director des dortigen evangelischen Lehrer-Seminars. – E. ist aus einem tüchtigen Bürgerhause hervorgegangen; der Vater, Universitäts-Zinngießer und Obermeister seiner Gilde, wird von ihm selber als ein ernster und ehrenfester, im Berufe unablässig thätiger Mann geschildert, während er zugleich der milden, liebevollen Frömmigkeit und Aufopferungsfreudigkeit seiner Mutter gedenkt. Für seine Ausbildung auf die mit dem Waisenhause verbundenen Anstalten hingewiesen, besuchte er vom J. 1790 ab die lateinische Schule, welche er 1795 verließ, um sich auf der Universität seiner Vaterstadt, hauptsächlich unter A. Chr. Knapp, dem Studium der Theologie zu widmen. Zugleich aber benutzte er während seines Trienniums mit löblichem Eifer jede sich ihm darbietende Gelegenheit zur Beschäftigung mit anderen Wissenschaften; namentlich scheinen die Untersuchungen des Physikers Chladni den weitreichendsten Einfluß auf ihn ausgeübt und die in seiner ganzen spätern Wirksamkeit erkennbare Vorliebe für Mathematik und Naturkunde hervorgerufen zu haben. Von größter Bedeutung wurde es für den strebsamen und tüchtigen jungen Mann, daß Aug. Herm. Niemeyer, der ausgezeichnete Vorsteher der Francke’schen Stiftungen, ihm 1797, noch vor Abschluß seiner akademischen Vorbildung, die Verwaltung eines Lehramtes übertrug und ihn in demselben Jahre in die Stelle eines wirklichen Oberlehrers beförderte. Der praeceptor Germaniae, wie Niemeyer zu jener Zeit in weiteren Kreisen genannt wurde, gewann den jungen Theologen für die pädagogische Thätigkeit, indem er ihn durch fortlaufende und planmäßige Mittheilungen aus dem reichen Schatze seiner Erfahrungen unterstützte und ihn zum rastlosen Fortschreiten auf der neuen Bahn ermunterte. Und die Hoffnungen, welche er von Ehrlich’s fernerer Entwicklung hegte, gingen in Erfüllung. Durch beharrlichen Fleiß wußte E. die ihm obliegende bedeutende Arbeitslast, welche sich nur noch steigerte, als er im J. 1802 in das Amt des Inspectors der neuen Bürgerschule und des mit demselben verbundenen Convictes aufrückte, zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten zu bewältigen. Niemeyer selbst rühmt seines jüngern Freundes glückliche Unterrichtsgabe und unverdrossenen Eifer, seine [716] reifen Kenntnisse, wie sein durchaus reines und tadelloses Verhalten, und kann sich nur schwer entschließen, ihn in die Ferne ziehen zu lassen, als sich die Aussicht auf ein anderes Arbeitsfeld eröffnete.

In Wesel am Niederrhein, der ansehnlichsten Stadt des seit 1666 in den unbestrittenen Besitz der brandenburgischen Hohenzollern übergegangenen Herzogthums Cleve, bestand schon von den Zeiten des großen Kurfürsten her ein allerdings nur dürftig ausgestattetes Schulmeister-Contubernium, vielleicht die älteste Anstalt dieser Art auf deutschem Boden. Um 1784 war dasselbe zu einem förmlichen Seminar erweitert worden, und hatte sich besonders der preußische Geheimrath v. Wylich und Lottum, welcher im Auftrage der clevisch-märkischen Kriegs- und Domänenkammer zu Hamm die Verwaltung des Herzogthums leitete, durch diese Umgestaltung verdient gemacht, angeregt durch die Bestrebungen eines Hecker in Berlin und des Domherrn v. Rochow auf Rekahn. Volle Selbständigkeit war dem Institute freilich auch jetzt noch nicht eingeräumt worden; vielmehr hatte man der Kostenersparnis wegen die Verbindung mit dem Gymnasium bestehen lassen. In dem letzteren sollten die Zöglinge immer noch einen großen Theil ihres Unterrichtes empfangen, und ein Gymnasiallehrer war zugleich Inspector des Seminars. In diese schwierige Doppelstellung wurde der von Niemeyer aufs wärmste empfohlene E. berufen. Anfangs 1805 trat er in vollster jugendlicher Rüstigkeit und Begeisterung das neue arbeitsvolle und verantwortungsreiche, trotzdem aber seinen Neigungen entsprechende Amt an. Jedoch schon nach Jahresfrist, als er kaum den schweren Anfang durchgekämpft hatte, wurde er durch die politischen Verhältnisse zur Entsagung genöthigt. Das linksrheinische Cleve war schon im Frieden zu Luneville an Frankreich abgetreten worden; jetzt, im Februar 1806, mußte die Krone Preußen auch auf die rechtsrheinischen Gebiete Verzicht leisten. Wesel selbst, die altberühmte deutsche Grenzfestung, bestimmte der Sieger von Austerlitz zur Hauptstadt des Departements der Roer. Zwar ließ der neuernannte französische Präfect kund und zu wissen thun, daß er entschlossen sei, das Seminar als kaiserl. Normalschule beizubehalten; E. zog es in seinem warmen Patriotismus jedoch vor, dem alten Vaterlande auch ferner seine Kräfte zu widmen, und sagte mit Freuden zu, als er veranlaßt wurde, das im Herzogthum Cleve begonnene Werk für die im preußischen Besitz verbliebene Grafschaft Mark fortzuführen. Die Kammer zu Hamm verordnete, daß das Weseler Seminar unter Beibehaltung der bisherigen Einrichtungen nach Soest zu verlegen sei, und forderte E. im Juni 1806 auf, seinen Umzug schleunigst zu bewerkstelligen. Wenige Monate später trat er in das Lehrercollegium des Archigymnasiums der altehrwürdigen Stadt ein; am 3. Oct. eröffnete er sein neues Seminar, zwar nur mit einem einzigen Schüler, jedoch voller Hoffnung auf ein fröhliches Gedeihen.

Aber noch in demselben Monat October erzitterte die preußische Monarchie in Folge der Schlacht bei Jena in ihren Grundfesten. Der Friede zu Tilsit riß auch die treue Grafschaft Mark aus ihrem seitherigen staatlichen Verbande; sie wurde dem Großherzogthum Berg einverleibt, welches Napoleon bekanntlich zumeist von Paris aus regieren ließ. Auch für Ehrlich’s Wirksamkeit war wieder alles in Frage gestellt; indessen erkannte er mit klarem Blicke, daß eine nochmalige Verlegung seiner jungen Anstalt unmöglich sei, daß er vielmehr selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen auszuharren habe. Es gelang ihm, das neue Regime für seine Schöpfung zu gewinnen und es zur Zahlung von Unterhaltungskosten zu bewegen, die er dann freilich, als sich die Zahl seiner Schüler mehrte, fast in ihrem ganzen Umfange zu deren Unterstützung verwenden mußte. Der Präfect des Ruhrdepartements, ein landessässiger Freiherr v. Romberg, verfolgte seine Bemühungen mit Theilnahme und suchte zu helfen, so weit er es [717] vermochte; aber für die Erwerbung eines Hauses oder für die Anstellung eines ständigen Gehülfen des schwer belasteten Mannes eröffnete sich nirgends eine Aussicht. E. war und blieb auf ein gemiethetes Local und auf die eigene Kraft und Ausdauer hingewiesen, und es ist sein großes Verdienst, daß er selbst im kümmerlichsten Dasein standhaft ausgeharrt und dem Jammer der Fremdherrschaft muthig die Stirn geboten hat. Schon nach wenigen Jahren waren Fortschritte in dem bis dahin sehr vernachlässigten Schulwesen der Grafschaft Mark zu verspüren, zumal da E. sich nicht mit der Unterweisung seiner Seminaristen begnügte, sondern zu Zeiten, für seine Person auf Ferien gern verzichtend, die älteren, zum Theil noch mangelhaft vorgebildeten Lehrer um sich sammelte, um sie mit den wichtigsten Erfordernissen einer richtigen Methode bekannt zu machen. Er folgte dabei dem Beispiel Overberg’s im benachbarten Fürstenthum Münster, der nach dem Auftrage seines Ministers v. Fürstenberg in der von ihm geleiteten Normalschule den gleichen Zweck verfolgte.

Als die Kunde von der Niederlage der Franzosen bei Leipzig erschollen war, forderte E. in freudiger Begeisterung seine Zöglinge auf, dem Rufe des Vaterlandes zum Kampfe gegen den fremden Unterdrücker zu folgen. Den Dürftigen unter ihnen verschaffte er selbst die Mittel zu ihrer Ausrüstung; alle aber, welche heeresfähig waren, ließen sich den tapferen Schaaren der freiwilligen Markaner einreihen und nahmen Theil an dem letzten blutigen Feldzuge der Befreiungskriege. – Erst nach der Schlacht bei Belle-Alliance füllte sich wieder das bescheidene Lehrzimmer des Soester Seminars. Bald wurde in ihm kaum noch Raum gefunden für die zusehends wachsende Zahl der Seminaristen. Denn selbst in den entlegensten Provinzen der preußischen Monarchie war der Wille Friedrich Wilhelms III. bekannt geworden, daß das durch die hingeschiedene Königin Luise angebahnte Werk fortgesetzt und der Jugendbildung fortan die gewissenhafteste Pflege zugewendet werden solle, daß insbesondere den Ideen des großen schweizerischen Pädagogen die volle Aufmerksamkeit zuzuwenden und auf solcher Grundlage die Besserung und einheitliche Gestaltung des gesammten niederen Schulwesens anzustreben sei. Nirgends stellten sich der Erreichung dieses Zweckes bedeutendere Hindernisse in den Weg, als in der neu gebildeten, aus den verschiedenartigsten Gebietstheilen zusammengefügten Provinz Westfalen; nirgends fanden sich aber auch so glücklich die Männer zusammen, welche mit Sachkenntniß, Umsicht und Energie dem königl. Befehle nachzukommen suchten.

Kaum hatte der Freiherr v. Vincke, das unerreichte Muster eines preußischen Oberpräsidenten, die seiner Leitung anvertraute neue Provinz in ihren äußeren Formen aus dem Gröbsten herausgearbeitet, als er von Potsdam her den ihm in seiner früheren Stellung als Chefpräsident der kurmärkischen Kammer bekannt gewordenen Oberconsistorialrath Natorp nach Münster berief, mit dem Auftrage, die evangelisch-kirchlichen Angelegenheiten zu verwalten und zugleich das Volksschulwesen zu reformiren. Dieser schon damals wegen seiner weitreichenden pädagogischen Erfahrung, sowie als Organisator und Verfasser gediegener Schriften über die verschiedensten Fragen aus dem Gebiete des Unterrichts- und Erziehungswesens vielgenannte Mann erkannte bei seinem Eintritt in den neuen Wirkungskreis sofort, daß er zunächst eine Operationsbasis gewinnen müsse und sich nach Gehülfen umzusehen habe, die befähigt und geneigt wären, auf seine Pläne einzugehen und zu deren Durchführung mitzuwirken. Naturgemäß sah er sich in erster Linie auf das Seminar zu Soest und seinen Inspector E. hingewiesen. Er fand, was er suchte, und säumte nicht, seinen Hoffnungen in den lebhaftesten Worten Ausdruck zu geben, während E. selbst gleich nach der ersten Zusammenkunft verkündete, daß nun „der Arzt gefunden“ sei, der aller Noth seiner Anstalt ein Ende machen und auch die Krankheit heilen werde, welche er [718] sich gerade damals durch das Uebermaß der ihm auferlegten Arbeit zugezogen hatte. Schon nach wenigen Wochen fühlte er sich merkwürdig gekräftigt, und als Natorp noch im Laufe des Jahres 1817 die unzweckmäßige und störende Verbindung des Seminars mit dem Gymnasium aufzuheben und ihn auf eigene Füße zu stellen wußte, da floß sein Mund über von Dank und Verehrung für seinen Gönner, der ihn nun endlich in den Stand gesetzt habe, die Aufgabe seines Lebens zu lösen. Auch der treffliche Oberpräsident wandte Ehrlich’s Bestrebungen seine ganze Aufmerksamkeit zu. Er ließ einen ausführlichen „Einrichtungs- und Lehrplan für das Seminarium“ ausarbeiten, forderte die Pfarrer und älteren Lehrer auf, sich der Vorbildung von Aspiranten anzunehmen, verschaffte dem Inspector die Mittel zu einer pädagogischen Reise durch Sachsen, Brandenburg und Schlesien, welche diesen mit einer beträchtlichen Zahl bedeutender Schulmänner in nähere Verbindung brachte und viel dazu beitrug, seine Anschauungen über das theoretisch Bedeutsame und praktisch Erreichbare zu klären; er erwirkte die Verlegung der Anstalt aus den gemietheten Localen in die disponibel gewordenen Räume des aufgehobenen Minoritenklosters, in welchem zugleich Lehrzimmer für eine Uebungsschule gewonnen wurden; er brachte die Gehälter zur Anstellung eines zweiten Hauptlehrers und eines Musiklehrers auf, welche dem zum Director ernannten E. für eine lange Reihe von Jahren als treue Mithelfer zur Seite standen, sowie in einer späteren Zeit auch noch die zur Besoldung eines ordentlichen Lehrers der Religion erforderlichen Gelder; er zweigte im J. 1825 von dem bis dahin als Simultananstalt bestandenen und in Folge dessen allzusehr gefüllten Seminar zu Soest das katholische zu Büren ab, befürwortete aufs wärmste die Einrichtung eines Internates, als sich das Externat unter den örtlichen Verhältnissen nicht bewährt hatte, verband mit dem Seminar eine Taubstummenanstalt, um auch durch den Verkehr mit nicht vollsinnigen Kindern die methodische Einsicht der künftigen Lehrer zu erweitern, und gab durch alle diese Fürsorge zu erkennen, daß er Natorp’s Grundsatz zu dem seinen gemacht habe: „Jede wahre Verbesserung der Schulen hat mit der besseren Vorbildung ihrer Lehrer zu beginnen.“ Mochte für alle diese in einer höchst knappen Zeit und von einem äußerst sparsamen Beamten aus der altpreußischen Schule getroffenen Einrichtungen auch noch vieles zu wünschen übrig bleiben, so sah doch E. seine bescheidenen Wünsche vollauf erfüllt, und so begann für ihn um 1820 die Zeit der freudig-ernsten Mannesarbeit, die sich auf feste Grundlagen stützt und sich ihrer Ziele klar und sicher bewußt ist.

Seit den Anfängen der Reorganisation seines Seminars war es E. noch 30 Jahre lang beschieden, als dessen Leiter und erster Lehrer thätig zu sein. Mit nie ermüdendem Eifer und in dem regsten Pflichtgefühl suchte er stets und bis in sein hohes Alter hinein den Anforderungen, welche sein Amt nach so manchen Seiten hin an ihn stellte, vollauf zu genügen. Ordnung, Pünktlichkeit, gewissenhafte Ausnutzung der Zeit und gemeinnützigen, brüderlichen Sinn sah er als die Grundpfeiler des Anstaltslebens an, und keine Mühe ließ er sich verdrießen, um seinen Zöglingen diese Tugenden einzupflanzen und durch dieselben aus ihrem Zusammenleben den rechten Gewinn hervorgehen zu lassen. Nicht die Neigung zu einem frischen und fördernden Verkehr mit den Freunden, die er sich erworben, nicht die Sorge für eine zahlreiche Familie, deren nicht immer ungetrübt gebliebenes Glück er unausgesetzt fester zu begründen trachtete, konnten ihn von der Erfüllung seiner Obliegenheiten zurückhalten. Sein Amt war und blieb ihm das höchste und liebste Gut seines Lebens. Einer Versäumniß hätte er sich innerhalb desselben wissentlich nicht schuldig machen können; vielmehr war er tief durchdrungen von dem Gedanken, daß das Geschäft der Erziehung die vollkommenste Hingabe und Selbstverleugnung beanspruche, und daß insbesondere [719] der Vorsteher und Lehrer eines Alumnates sich nur für befugt erachten dürfe, von den ihm anvertrauten Jünglingen zu fordern, was er in seinem eigenen Wandel zur Darstellung zu bringen gewillt sei. Rasch und entschieden in seinen Anordnungen, hat er nicht jedes scharf einschneidende Wort zu verhüten vermocht; die klar zu Tage tretende Absicht ließ indessen den Verdacht nicht aufkommen, daß er jemals habe verletzen wollen.

Nicht weniger erfolgreich war Ehrlich’s Wirksamkeit als Lehrer. Während seiner jüngeren Jahre in der theoretischen Auffassung dem System des gereinigten Philanthropinismus huldigend, trat er nach Natorp’s Vorgang mehr und mehr in die Reihen derjenigen deutschen Pädagogen, welche den Uebergang zu den Anschauungen Pestalozzi’s zu vermitteln suchten. Seine eigentliche Bedeutung aber hat E. auf dem Boden der Praxis gewonnen. In den sämmtlichen Lehrgegenständen, welche er, abgesehen von der Methodik, mit besonderer Vorliebe im Seminarunterrichte zu behandeln pflegte – Muttersprache, Rechnen und Raumlehre, Physik –, kam es ihm weniger auf einen bedeutenden Umfang des Materials, als auf die sorgfältigste und gründlichste Durcharbeitung aller Einzelnheiten, auf Anschaulichkeit und Klarheit der Begriffsbildung an. Die Mittel, welche er zur Erreichung dieses Zweckes benutzte, zeugten bei aller ihrer Einfachheit von geschicktester Wahl und waren oft von überraschender Wirkung; die lebendige und interessante Art ihrer Anwendung machte, daß sein Unterricht in besonderem Maße vorbildlich wirkte und daß seine Schüler bei weitem nicht in dem Grade einer einseitigen Verstandesbildung verfielen, wie es nach der Richtung der Zeit anzunehmen war. Aufs zweckmäßigste wußte er die Unterweisung der Seminaristen nach ihrer sachlichen und methodischen Seite hin durch den Unterricht zu ergänzen, welchen er in der Uebungsschule theils selbst übernahm, theils im Verein mit seinen Mitlehrern überwachte. Wer ihn unter den Kindern, namentlich den allerkleinsten, sah und hörte, der mußte den Eindruck gewinnen, daß er einen der ersten Meister in der Kunst des elementaren Unterrichts vor sich habe, und in Diesterweg’s „Entzücken“ über die unvergleichliche „Klarheit, Innigkeit und Anmuthigkeit“ des Verfahrens einstimmen. Ueberhaupt stellt dieser competente Beurtheiler E. in seiner praktischen Tüchtigkeit noch über Wilberg, den von ihm sonst so hoch gepriesenen „Meister am Rheine“. Es war das Feld der Sprachbildungsübungen, der sogenannten reinen Denk- und Sprechübungen, auf dem E. seine höchsten Triumphe feierte. Die neueren Pädagogen haben in ihrer großen Mehrzahl über diese Uebungen nach Inhalt und Form den Stab gebrochen; Ehrlich’s Ruhm, sie in höchster Vollendung zur Anschauung gebracht zu haben, wird indessen durch diesen Wechsel der Ansichten nicht im mindesten geschmälert.

Es konnte bei der thatkräftigen Einwirkung, welche E. auf seine Seminaristen ausübte, nicht fehlen, daß die vielen Hunderte derselben, trotzdem daß sie sich über die ganze Provinz und weit über deren Grenzen hinaus verbreiteten, sich als eine besondere „Schule“ fühlten und stillschweigend die Verpflichtung übernahmen, aus der ihnen zu Theil gewordenen nachhaltigen Anregung die rechte Frucht hervorwachsen zu lassen. Das Schulwesen Westfalens gedieh sichtlich; der Dank der Gemeinden, die Anerkennung der Behörden und selbst die Zeichen königlicher Huld wurden dem verdienten Förderer einer geistbildenden Behandlung der Lehrgegenstände mehr und mehr zu Theil. – Mit seinen Schülern verkehrte E., wenn er dieselben später in ihrer Berufsthätigkeit wiederfand, voll persönlicher Theilnahme, in freundlicher und wohlthuender Weise. War ehemals ein „Zwischenfall“ eingetreten, so war er jetzt auf beiden Seiten sicherlich vergessen. Amtlich trat er ihnen bei Gelegenheit der Inspectionsreisen wieder nahe, die er im Auftrage der Bezirksregierungen eine lange Reihe von [720] Jahren hindurch fast regelmäßig in seinen Sommerferien zur Ausführung brachte. Er benutzte diese Reisen, um guten Rath zu ertheilen, zu ermuntern und zurecht zu helfen, wo es ihm angemessen schien, zugleich aber auch zu seiner eigenen Information, wie zu der seiner Mitlehrer in Bezug auf die praktischen Ergebnisse des Seminarunterrichts. Wie sehr er geneigt war, diese Seite in den Vordergrund treten zu lassen, ergibt sich am deutlichsten aus seiner Schrift: „Meine Schulbereisung“, in der er seine gesammten Wahrnehmungen beim Besuche der Schulen übersichtlich zusammengestellt hat.

Auch die sonstigen Schriften Ehrlich’s sind aus der Schulpraxis hervorgegangen oder für dieselbe berechnet. Die methodische Durcharbeitung und die Folgerichtigkeit der Stufengänge sind in ihnen das vorzugweise Rühmenswerthe. Außer mehreren Programmen, durch welche er richtige Vorstellungen über das Leben und Streben in seinem Seminar zu verbreiten und die Vorbereitung für dasselbe zu regeln sucht, finden sich unter denselben Schulhefte und Anleitungen zum Kopf- und Tafelrechnen, sowie zum schriftlichen Ausdruck, ein methodischer Leitfaden für die Sprechbildungsübungen in der Unterclasse, der wol als eine Hauptschrift auf diesem Gebiete gelten kann, und Lehrbücher für die verschiedenen Stufen der Elementarschule, unter denen das für die Oberclasse bestimmte Soester („gemeinnützige“) Lesebuch Ehrlich’s Namen in die entferntesten Kreise getragen hat. Es ist in 25 starken Auflagen erschienen und hat 50 Jahre lang einen großen Einfluß auf den Volksschulunterricht weiter Länderbezirke ausgeübt, bis es, ein echtes Kind seiner Zeit, den neueren Anschauungen über die Vertretung der Realien im Volksschullesebuche zum Opfer gefallen ist.

Während seiner späteren Amtsjahre gestaltete sich Ehrlich’s Verhältniß zu seinen Vorgesetzten Vincke und Natorp immer erfreulicher; ja, es entwickelte sich dasselbe zu einer aufrichtigen, auf gegenseitiger Achtung und Anerkennung beruhenden Freundschaft, wie sie inniger und herzlicher unter gleichen Umständen wol kaum jemals bestanden haben mag. An allem, was den Director bewegte, was dieser zu ordnen und zu schaffen fand, nahm der Consistorial- und Schulrath, wie der Oberpräsident den regsten Antheil, und je näher dem ersteren die Schwächen des Alters traten, desto mehr fühlte er sich gehoben durch Natorp’s einsichtsvolle und humane Mitwirkung. Den Tod der beiden ausgezeichneten Männer (v. Vincke 1844, Natorp 1845), der in ganz Westfalen die tiefste Trauer hervorrief, empfand E. darum für seine Person als einen unersetzlichen Verlust und als er das 70. Lebensjahr vollendet hatte, über welches nach seiner Meinung ein Seminardirector in seinem Amte nicht hinausgehen solle, gab er seinen Wunsch zu erkennen, in den Ruhestand treten zu dürfen. Noch wurde in den Räumen des Seminars im Kreise seiner Angehörigen, Collegen und Schüler sein 50jähriges Dienstjubiläum gefeiert; dem ihm bei dieser Veranlassung in der ehrendsten Weise ausgesprochenen Verlangen der Behörden, ihn noch länger in seiner Stellung zu behalten, glaubte er indessen nicht nachkommen zu können. Sein Antrag auf Pensionirung wurde unter vollster Anerkennung seiner Leistungen genehmigt und so war am 5. Jan. 1848 die Stunde gekommen, in der er mit bewegtem Herzen von der Anstalt Abschied nahm, die ihm ihr Bestehen und ihre Entwicklung zum großen Theil zu danken hatte. Als Emeritus hat er sodann noch über 9 Jahre im stillen Familienkreise ein durch die zärtliche Liebe der Seinen, durch die Freundschaft seiner ehemaligen Mitarbeiter und die Anhänglichkeit seiner Schüler verschöntes Alter durchlebt. Im Innern des sonst so lebhaften Mannes kehrte mehr und mehr eine milde Ruhe ein. Die Neigung zu geregelter Thätigkeit verließ auch den hochbetagten Greis nicht; vorzugsweise beschäftigte er sich mit der Umarbeitung und Vervollständigung der von ihm verfaßten Schriften. Nachdem bereits am 3. Oct. 1831 das 25jährige [721] Erinnerungsfest der Gründung des Seminars unter großer Theilnahme zugleich als ein hoher Ehrentag für ihn selber gefeiert worden, war es dem 80jährigen beschieden, im J. 1856 auch noch das 50jährige Jubiläum der von ihm gegründeten Anstalt mit zu durchleben. Zwar war ihm die persönliche Theilnahme an dem Feste durch seine zunehmende körperliche Schwäche versagt; doch versicherten ihn die in großer Zahl herbeigeeilten dereinstigen Schüler ihrer unwandelbaren Verehrung. Mit wehmüthigem Ernste reichte er ihnen allen die Hand zum Abschied; er fühlte, daß seine Stunde nahe sei. Gefaßt und völlig ergeben in Gottes Willen bereitete er sich zu seinem Ende; am 7. Juni 1857 ist er unter der sorgsamsten Pflege seiner Lieben heimgegangen. – 1872, 15 Jahre nach Ehrlich’s Tode, versammelten sich am Gründungstage des Seminars die letzten Reste jener Zahl von Schülern, welche 50 Jahre früher zu den Füßen ihres Meisters gesessen, trotz des hohen Alters, in welches auch sie nun eingetreten waren, noch einmal an der Stätte ihrer Vorbildung fürs Lehramt, um in dankbarer Erinnerung an die ferne Jugend die Gräber ihrer hingeschiedenen Lehrer mit Denksteinen zu schmücken; ein rührender Act der Pietät, der deutlich genug zeigt, daß Ehrlich’s Wirken in Westfalen unvergessen bleiben wird.

W. Fix.