Textdaten
Autor: Johannes Justus Rein
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Titel: Über Marokko
Untertitel: Vortrag, gehalten auf dem siebenten deutschen Geographentag zu Karlsruhe
aus: Separatabdruck aus den Verhandlungen des siebenten deutschen Geographentages zu Karlsruhe
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Dietrich Reimer
Drucker: W. Pormetter
Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Internet Archive, Commons
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[1]
ÜBER MAROKKO.

VORTRAG, GEHALTEN AUF DEM SIEBENTEN DEUTSCHEN GEOGRAPHENTAG ZU KARLSRUHE
VON
Professor Dr. J. REIN
IN BONN.


SEPARATABDRUCK AUS DEN VERHANDLUNGEN DES SIEBENTEN DEUTSCHEN GEOGRAPHENTAGES ZU KARLSRUHE.
(VERLAG VON DIETRICH REIMER IN BERLIN.)



BERLIN, 1887.
DRUCK VON W. PORMETTER


[3] Als August Petermann im Jahre 1862 seine Specialkarte der Meerenge von Gibraltar herausgab, hob er die Bedeutung dieser Straße mit folgenden Worten hervor: „Sie bildet eine Scheidewand zwischen zwei Erdteilen, zwischen dem Weltmeer und seinem größten Busen, dem Mittelmeer, zwischen zwei Staaten und zwei Religionen, zwischen Bibel und Koran. Auf dem einen ihrer Gestade steht das Kreuz, auf dem andern weht die grüne Fahne des Propheten mit dem Halbmond“. Größer und einflußreicher jedoch, als die Scheidewand, welche die Natur hier gezogen hat, ist diejenige, welche die muhamedanische Religion bewirkte. Ihr ist es zuzuschreiben, daß Marokko, obgleich es in wenigen Stunden von der iberischen Küste aus erreicht werden kann, doch immer noch, wie dies schon Cosson hervorgehoben hat[1], das am wenigsten erforschte und am schwersten zugängige Land Nordafrikas ist[2].

Günstige Gelegenheiten führten mich im Frühling 1872 mit einem Freunde, dem Professor Freiherr K. von Fritsch in Halle nach Marokko und auf den Kamm des hohen Atlas, anderthalb Jahre später aber nach Japan. So habe ich hintereinander zwei Länder der alten Welt mehr oder weniger kennen gelernt, welche man wohl als ihre äußersten Glieder in westöstlicher Richtung bezeichnen kann: das „Maghreb el Aksa“ oder den äußersten Westen der Araber, und Nippon, das Morgenland der Chinesen im fernen Osten.

Die Natur beider Länder und ihre Produkte sind grundverschieden; größer noch ist der Gegensatz zwischen den Bewohnern und ihrer [4] Kultur. Die Gestalt Japans, eines langgestreckten, vielgegliederten Inselreichs, ist wohl bekannt. Marokko erscheint dagegen an der nordwestlichen Ecke Afrikas abgerundet und schwer zugängig, wie der ganze Erdteil. Ein ansehnlicher Teil der Gebirge und isolierten Kuppen, ja selbst der Ackerkrume der Ebenen, bekundet gleich zahlreichen Solfataren und häufigen Erdbeben die weitverbreitete vulkanische Thätigkeit in Nippon, während deren Spuren in Marokko noch nicht beobachtet wurden. Jenes hat infolge reicher Niederschläge, zumal im Sommer, Wasser in Überfluß und eine üppige Vegetation mit einer Menge der verschiedenartigsten wertvollen Holzgewächse, während in Marokko das auf den Winter beschränkte bescheidene Regenmaß sich an mancherlei Erscheinungen erkennen läßt. Das Land nimmt eben Teil am Charakter der Mittelmeerregion, wie im Klima so in der Flora und Fauna und vielen seiner Erzeugnisse. Es weist dementsprechend vielerlei aromatische Kräuter, zumal Labiaten, mit Filz- oder Borstenbedeckung und starkbewehrte Sträucher, nirgends aber, außer bei künstlicher Bewässerung, tropische Fülle und holzreiche Wälder auf. Viehzucht ist in ihm hervorragender Erwerbs- und Nährquell, während dieselbe in Japan bisher nur untergeordnete Bedeutung hatte; Milch, Butter und Wolle gar nicht gewonnen und Fleisch nur wenig genossen wurde. In Marokko wechseln Berge mit Buschwald und Ebenen von steppenartigem oder Wüsten-Charakter mit weiten Strecken von größter Fruchtbarkeit ab; aber auch in diesen ist der Ackerbau vernachlässigt und erzeugt nicht viel über den Bedarf der dünnen Bevölkerung. In Nippon giebt es viele Gebirge mit Wald- und Ödland, das der gewohnten Kultur nicht fähig ist; aber die kleinen Ebenen, die Thalsohlen und ihre sanfteren Gehänge hat man mit der Sorgfalt und dem Geschick gelernter Gärtner bebaut und entlockt ihnen jahraus jahrein mehr als genügend Nahrung für die sehr dichte Bevölkerung.

Der mongolische Japaner besitzt nur selten eine stattliche, ansprechende Gestalt, während die Araber und Mauren Marokkos oft dem Typus kaukasischer Schönheit nahekommen, mit einem Ebenmaß und einer Gelenkigkeit des kräftigen Körpers, welche uns in hohem Grade gefallen. Aber in diesen schönen Menschen wohnt kein thätiger Geist; Ignoranz und religiöser Fanatismus beherrschen Jugend und Alter, und von Fortschritt, von nationaler Entwickelung zeigt sich keine Spur.

Wie ganz anders erscheint der unscheinbare Japaner, der Heide! Welche hervorragenden Leistungen weist er nicht auf, im Feld- und Gartenbau, in mancherlei Zweigen des Kunstgewerbes, welche Bildungsfähigkeit, welches Streben! Kaum wurde er in der Neuzeit mit den [5] Errungenschaften des christlichen Abendlandes näher bekannt, so begann er ihre Vorteile seinem Lande zuzuführen; er eignet sich fremde Sprachen und Sitten an und bemüht sich seinem ganzen bisherigen nationalen Leben einen andern Zuschnitt zu geben.

Demgegenüber sind die Marokkaner ein Volk, das weder Fuhrwerke noch Fahrstraßen besitzt, dem das Bedürfnis nach Telegraphen, Eisenbahnen und Dampfschiffen noch nicht gekommen ist. Der blühende Zustand, in welchem das Land, das Mauritania Tingitana, zur Zeit der Römerherrschaft sich befand, ist verschwunden. Nicht klimatische Wechsel haben den Umschwung herbeigeführt, sondern der Einzug des Arabers und Muhamedanismus. Wie Mehlthau ruht diese Religion auf den Menschen, erstickt alle Blüten des Geistes und der freien Entwickelung im Keime und hüllt die Völker in ein Traumleben, dem kein frisches Erwachen folgt. Willkür, Eigennutz und Stumpfsinn sind die Hauptzüge der Beamtenwelt und der Verwaltung muhamedanischer Staaten. Dem Despotismus stehen als Stützen religiöser Fanatismus und Ignoranz zur Seite. So ist es in persischen und türkischen Ländern und in Marokko, kurzum von Indien an bis zum Atlantischen Occan. Wo in der Neuzeit, wie in Ägypten und Algier eine größere Thätigkeit sich kund gab, der Landwirtschaft neue Nutzpflanzen zugeführt, dem Handel durch Eisenbahnen und Kanäle neue Wege geöffnet wurden und infolge dessen die Leistungsfähigkeit mit Handel und Wandel sich hoben, geschah es unter dem Einflusse des christlichen Abendlandes; das einheimische, muhamedanische Element verhielt sich passiv und indolent.

Mit der Unwissenheit und dem despotischen Druck, welche in Marokko die Herrschaft üben, gehen religiöser Fanatismus und Mangel an Wahrheitsliebe Hand in Hand. Wenn s. Z. Liebig den Verbrauch der Seife als Gradmesser der Civilisation hinstellte, so scheint mir die Wahrheitsliebe eines Individuums und eines Volkes ein noch viel besseres Zeichen der Kulturstufe zu sein, auf dem es sich befindet. Nach den Eindrücken, welche wir in dieser Beziehung in Marokko erhalten haben, ist diese Tugend hier überaus selten. Wir haben keinen dort geborenen und erzogenen Menschen näher kennen gelernt, der uns nicht belogen hätte. Sir Joseph D. Hooker, der mit zweien seiner Landsleute, Ball und Maw ein Jahr vor uns Marokko bereiste, schrieb mir bezüglich dieses Punktes: „Wenn ich erklärte, Pflanzen und Sämereien für die Gärten der Königin von England zu sammeln, glaubte mir Niemand, sondern erwiderte mir wohl, daß weder die Königin noch ich solche Thoren seien, um hier nach Pflanzen zu suchen, deren es in England selbst genug gebe. Vom Hofe bis zum gemeinen Mann [6] hielt man mich vielmehr für einen Spion, ausgesandt das Land zu erforschen, nur mit dem Unterschied, daß der Sultan dies von England annahm, die Paschas, Kaïds und Scheichs aber vom Sultan“. Diesem hatte Hooker das Versprechen zu geben, keinen Stein des Landes mitzunehmen. Das klingt sonderbar, ist aber leicht zu verstehen und ein weiteres Zeichen der tiefen Bildungsstufe, auf welcher sich Hoch und Niedrig befinden. Der Gedankengang ist dabei einfach etwa der: „Wenn Du Fremder es der Mühe wert hältst, einen Stein vom Wege aufzuheben oder vom Felsen abzuschlagen und mitzunehmen, so muß jedenfalls etwas Wertvolles darin sein; wir kennen dasselbe zwar noch nicht, möchten es aber unter keinen Umständen verlieren“. Das unwissende Volk, die Regierung obenan, hat keine Vorstellung von einem selbstlosen wissenschaftlichen Interesse, das den Fremden zu ihm führen könnte. Einige weitere Beispiele, wie beschränkt und befangen das Wissen und Urteil der maßgebenden Persönlichkeiten in Marokko ist, mögen hier noch Platz finden.

Vor etwa 20 Jahren lebte in der Stadt Rabat ein Lehrer, Sohn eines griechischen Renegaten, der sich herausnahm, seine Schüler neben dem Koran auch etwas Geographie zu lehren. Er hatte dafür zwei Jahre im Kerker zu büßen. Der Kaïd (Gouverneur) von Mogador bemerkte uns bei einem Besuch, den wir ihm abstatteten, Prusse (Preußen), von dem er noch nichts gehört hatte, müsse wohl sehr weit sein, noch weiter als Mekka.

Daß die geographischen Kenntnisse der Marokkaner seitdem nicht gestiegen sind, können wir auch aus einer Unterredung ersehen, welche Dr. R. Jannasch, der um unsere Kolonialbewegung hochverdiente Leiter der vorjährigen deutschen Handelsexpedition nach der marokkanischen Küste, mit dem jetzigen Sultan hatte, wobei dieser sich nach dem Lande Kamerun erkundigte und fragte, ob es in demselben einen Fluß gebe, der Nil heiße[3].

Die vorerwähnten Beispiele dürften zur Kennzeichnung des Bildungszustandes des marokkanischen Volkes und seiner Regierung genügen. Dasselbe ist nicht ohne Schulen; die männliche Jugend lernt darin arabisch schreiben und im Chor den Koran lesen. Aber bei diesen elementaren Fertigkeiten bleibt es; der Aufbau, welcher die befangenen Geister freimachen und des Volkes Blick und Urteil erweitern und schärfen könnte, fehlt.

Die Autorität der despotischen Regierung erstreckt sich nur so weit man ihre Macht fühlt. Ist dies eine Reihe von Jahren hindurch [7] nicht mehr der Fall, so lockern sich die Bande des Gehorsams, zumal bei den Berberstämmen des Atlas und jenseits desselben. Daher sind hier die Grenzen des Reichs schwer bestimmbar und vielen Schwankungen unterworfen. Hat anderseits die Aussaugung einer Provinz durch einen Kaïd oder Gouverneur, der auf seiner Kasbah wie ein Raubritter des deutsehen Mittelalters wohnt, das gewöhnliche Maß überschritten, so empört sieh wohl das Volk, verjagt den Tyrannen und zerstört seine Burg. Dafür muß es dann wieder in eigentümlicher Weise büßen. Der vertriebene Kaïd flüchtet zum Sultan und berichtet über das Treiben der Rebellen. Nach einiger Zeit wird ein kleines Heer aufgeboten und dasselbe so lange in das aufständische Gebiet verlegt, bis dieses „aufgegessen“ (so lautet der landläufige Ausdruck dieser Strafe) ist. Das macht mürbe und schafft dem inzwischen eingesetzten neuen Gouverneur den nötigen Gehorsam. So erging es bald nach unserm Aufenthalt in Mogador der benachbarten Provinz Haha, deren unbändige, aufständische Horden damals so gefürchtet wurden, daß wir den Gedanken an eine Reise nach Agadir und dem Sus aufgeben mußten.

Aus dem Erwähnten ergeben sich die großen Schwierigkeiten und Gefahren, welche sich dem Reisen in Marokko entgegenstellen. Sie sind nicht durch die Natur des Landes (Klima, Bodenverhältnisse, wilde Tiere u. dgl.) bedingt, sondern durch die Bewohner. Das Klima ist gesund, wiewohl im Sommer und landeinwärts von der feuchten und kühlen Küste, heiß und trocken, eine Folge der Besonnung und der herrschenden Passatwinde, welche, von dem stark erwärmten Landesinnern angezogen, an der Westküste ihre Hauptrichtung ändern[4].

Der Marokkaner ist träge, apathisch, sinnlich, unwissend und stolz, dabei argwöhnisch und fanatisch. Mit diesen Eigenschaften muß der fremde Reisende um so mehr rechnen, als er in der Regel die Sprache des Landes nicht versteht und auf einen Dolmetsch von einem der Hafenorte angewiesen ist, welcher – meist ein armer verachteter Jude – weder durch Bildung noch Stellung seine Interessen wirksam zu vertreten vermag.

Nur wer im Lande als Arzt oder Kaufmann reist, findet einigermaßen Verständnis für seine Zwecke. So folgten denn auch wir dem [8] uns von erfahrener Seite gewordenen Rat und gaben uns für Hekim oder Ärzte aus, ohne genügend zu erwägen, welche Last und Verantwortung wir damit auf uns luden. In Mogador hatte damals der einzige gelernte Arzt eine längere Reise nach seiner südfranzösischen Heimat angetreten und für diese Zeit seinem Diener die Fortsetzung seiner Praxis anvertraut. Mit diesem konkurrierten ein spanischer Barbier und während unseres mehrwöchentlichen Aufenthaltes daselbst auch wir, denen sich namentlich die vornehmere Judenschaft zuwandte. Aus der für uns mitgenommenen kleinen Hausapotheke wandten wir die unschuldigsten Mittel an, so daß wir wenigstens die Beruhigung mitnahmen, daß durch unsere Kurpfuscherei Niemand zu Schaden gekommen ist. Während unserer Reise ins Landesinnere sollten wir hier und da auch vornehme Mauren und Araber von Leiden befreien, welche sich hier nicht näher bezeichnen lassen, die uns aber eine der großen Schattenseiten der Vielweiberei in überraschender Weise kennen lehrten.

Wer ohne des Sultans spezielle Erlaubnis und Empfehlung reist, setzt sich den größten Gefahren aus. So erwähnt O. Lenz in seinem „Timbuktu“, daß man 1880 den österreichischen Maler Ladein, einen kräftigen Mann und tüchtigen Jäger, der sich ungeachtet der erhaltenen Warnung im Vertrauen auf seine Kraft und Geschicklichkeit allein und ohne einen solchen Schutz nach dem Atlasgebirge begeben wollte, eines Tags auf dem Wege von Marokko nach Amsmiz in der Nähe des Flusses Nfys ermordet fand. Anderseits hat ein Reisepaß vom Sultan wieder eine Menge Belästigungen und Beschränkungen der freien Bewegung zur Folge, ohne in allen Fällen für persönliche Sicherheit vollständige Gewähr zu bieten.

Das Deutsche Reich besaß im Jahr 1872 noch keinen Vertreter in Marokko. Dafür waren wir durch Vermittelung des Auswärtigen Amtes in Berlin an die englischen und spanischen Gesandten in Tanger und die denselben unterstellten Konsuln der Hafenstädte empfohlen worden und fanden dementsprechend auch überall eine freundliche Aufnahme.

Wir hatten uns in Tanger mit dem englischen Gesandten Sir John Hay besprochen und seinem Rate gemäß unsere Reise mit kurzen Unterbrechungen an verschiedenen marokkanischen Hafenorten nach den Canarischen Inseln fortgesetzt, von denen wir vier Wochen später nach Mogador (Suërah) zurückkehrten. Da die Erlaubnis des Sultans, welche uns Sir John Hay mittlerweile auswirken wollte, noch nicht eingetroffen war, benutzten wir die nächsten 14 Tage zu Ausflügen in die Umgegend, von denen namentlich derjenige auf den gegen 800 m hohen Dschˇbél Hadíd uns eine reiche naturwissenschaftliche Ausbeute bot. Endlich teilte uns der englische Konsul den Empfang des ersehnten [9] Schreibens mit. Seiner Aufforderung folgend, begaben wir uns mit ihm zum Stadtgouverneur Kaïd Hadsch Amaza Ben Abd Sadek, einem Mauren von edler Gestalt, der uns wie früher freundlichst empfing. Er hatte zu unserer Bequemlichkeit Stühle beschaffen lassen und, während wir hier Platz nahmen, überreichte ihm der Konsul den kleinen Brief. Als der Kaïd sah, daß derselbe vom Sultan selbst herrührte, legte er ihn mit der Hand ans Gesicht, das Siegel wider die Stirn, und küßte die Unterschrift, während die Umstehenden ein „Allah erhalte den Sultan!“ murmelten. Nach dem Durchlesen des Schreibens sagte der Kaïd, der Sultan heiße uns in seinem Lande willkommen, gebe gern seine Erlaubnis zur Reise ins Innere und befehle ihm, uns dabei in jeder Weise zu unterstützen. Morgen, fuhr der Gouverneur fort, könnten wir unsere beabsichtigte Reise nach der Stadt Marokko antreten. Er werde sofort Empfehlungen vorausschicken und uns anmelden, uns auch drei Mokhasni (Polizeisoldaten) zur Begleitung mitgeben.

Nun ging es rasch an den Abschluß der Reisevorbereitungen und am andern Morgen folgte auf frühes Satteln ein spätes Reiten der kleinen Karawane. Sie bestand aus zehn Personen (dem Freiherrn Dr. K. von Fritsch, mir, einem Dolmetsch, zwei Dienern, den drei Soldaten und zwei Führern der Lasttiere) mit drei Pferden und fünf Maultieren. Die Diener gingen zu Fuß. Am Thor hatte sich eine große Schar von Neugierigen und von Bettlern eingefunden, welche gegen Bakschisch ihre guten Wünsche austauschten.

Der Weg von Mogador nach Marokko beträgt in gerader Linie ca. 190 km. Wie es gewöhnlich geschieht, so legten auch wir ihn in fünf Tagen zurück. Die Zeit ist eben in Marokko billig, und wer etwa eilen wollte, würde bald finden, daß er damit nicht durchkommt.

Unser Nachtquartier schlugen wir, wie auf unserer Weiterreise in den hohen Atlas, bald in der Kasbah eines Kaïd oder dem Hause eines Scheich[5], bald im Freien auf, zogen aber die Zeltwohnung im Olivenhain allen andern vor. Da waren wir schon des engen Raumes wegen mehr für uns, genossen die erfrischende nächtliche Kühle, wenn die trockene Sonnenhitze des Tages unser Gesicht gerötet und schmerzlich entzündet hatte, und den Gesang der zahlreichen Nachtigallen und Amseln ringsum. Doch hatten wir in dieser Beziehung, wie in unserer ganzen Bewegung, keineswegs immer freie Wahl. Des Sultans Empfehlungen machten uns zu Gästen seiner Beamten, und diese denselben [10] auferlegte Gastfreundschaft fühlten wir in vielen Fällen als eine Last, so scheinbar zuvorkommend und herzlich der Empfang und die Bewirtung auch aussahen.

Vor dem Eintritt in ein Zimmer entledigten wir uns nach Landessitte des Schuhwerks; dann wurde auf einem Teppich mit untergeschlagenen Beinen (Schneidersitz) Platz genommen und dabei der rechte Arm auf ein Wollkissen gestützt. Darauf begann die Unterhaltung, welche meist aus zahlreichen Fragen an uns und den entsprechenden Antworten bestand, woran sich bald die erste Bewirtung mit grünem chinesischem Thee reihte[6]. Gewöhnlich brachte ein Negerknabe auf einem großen Präsentierteller alle dazu nötigen Vorrichtungen und stellte sie vor seinen Herrn oder den Vertreter desselben. Nachdem dieser die erforderliche Menge Thee in die Kanne gethan und mit wenig warmem Wasser abgespült hatte, wurde Zucker, dann kochendes Wasser hinzugefügt, und bald darauf versucht, ob der Aufguß dem Geschmack entspreche. War dies endlich der Fall, so füllte der Wirt die vor ihm stehenden Tassen oder Gläser und ließ sie seinen Gästen ringsum reichen. Meist kommen auch einige frische Blätter der sehr beliebten Pfefferminze in die Theekanne, die dem Aufguß einen angenehmen Beigeschmack geben, an den man sich rasch gewöhnt und der jedenfalls mitwirkt, die fetten Speisen, welche dem Thee folgen, verdaulicher zu machen.

In der Regel gab es zwei Mahlzeiten, die eine morgens zwischen 8 und 11 Uhr, die andere spät abends mit je drei Gängen. Die Art, wie gespeist wurde, ist nicht ohne Interesse. Als Beispiel erwähne ich unser Nachtessen in Ali Henschan 25 km östlich von Mogador. In der Abenddämmerung rückten wir in diese festungsartige Kasbah des Gouverneurs der Provinz Schiodma ein, müde vom langen Ritt und der Hitze des Tages. Nachdem wir stundenlang Thee getrunken und der Neugierde unserer Wirte in mancherlei Weise gedient hatten, kam endlich gegen Mitternacht das Essen. Zu dem Zweck wurde ein Eßtischchen hereingebracht, welches an Größe und Gestalt auffallend einem gewöhnlichen Sieb unserer Landwirte glich. Es ruhte auf zwei parallelen handhohen Leisten, statt der sonst quadratisch gestellten vier Füße, und hatte natürlich einen festen Boden. In der Mitte stand eine große [11] irdene Schüssel, bedeckt mit einem kegelförmigen Hute aus grob geflochtenem Stroh, während ringsum dampfende, frischgebackene Brote lagen. Wir nahmen mit untergeschlagenen Beinen gleich zweien unserer Wirte um diesen Eßtisch Platz. Der Negersklave, welcher uns vorher beim Thee bedient hatte, reichte ein kupfernes Becken mit lauwarmem Wasser nebst Seife und Handtuch zum Händewaschen herum, dann wurde der Hut über der Schüssel entfernt. In derselben lagen vier gebratene Hühner, umgeben von Arganöl. Nun zerteilte man mit beiden Händen den noch warmen Brotkuchen aus einem Gemisch von Weizen- und Gerstenmehl, und damit hörte die Thätigkeit der linken Hand auf. Sie darf der rechten, die als Messer, Gabel und Löffel zugleich fungieren muß, nicht zur Hülfe kommen, nicht in die gemeinsame Schüssel tauchen[7]. Es erfordert einiges Geschick, um mit einer Hand vom weichen Braten die Muskeln zu lösen und dem Munde zuzuführen. Wir suchten es jedoch in Allem unseren Wirten gleich zu thun, tauchten dazwischen unsere Brotbissen in das Öl und leckten, als die erste Speise entfernt wurde, gleich unsern Vorbildern die Finger ab. Nun kam das zweite Gericht, welches in ähnlicher Weise aufgetischt wurde. Es bestand aus einem Schöpsenbraten, umgeben von Gemüse und Öl, und wurde ebenso behandelt. Endlich gelangten wir zum Schluß, „der süßen Schüssel“, hier Kuskus oder Kuskesuh genannt. Es ist eine Art Pastete, aus Weizen- oder Gerstengraupen, im Innern mit Lammfleisch und gekochten Gurken gefüllt, oder auch ein Pudding ohne diese Zuthaten, in beiden Fällen reichlich mit geschmolzener ranziger Butter, die man frischer vorzieht, versehen. Man schaufelt mit den Fingern hinein, rollt das Abgelöste durch kreisende Bewegung der Hand zu einem lockeren Ballen und befördert diesen in den Mund. Zum Schluß werden die Finger abgeleckt und dann beide Hände, wie bei Beginn der Mahlzeit, wieder gewaschen. Als Getränk dient während des Essens Wasser und nach demselben wieder Thee.

Ähnlich war der Verlauf unserer Mahlzeiten auch anderwärts. Die irdene Schüssel blieb selbst im Hause Ben Dris an der Mamuniapforte zu Marokko, wo wir fünf Tage lang aus der Küche des Vicesultans El Graui gespeist wurden; aber an Stelle des Arganöls trat im Innern des Landes überall das Olivenöl. In den Zwischenzeiten gab es wohl auch einmal Honig mit Gebäck oder reifes Obst (Apfelsinen und Aprikosen oder Datteln und Wallnüsse vom vorigen Jahr).

[12] Schlugen wir irgendwo unser Zelt zum Übernachten auf, so mußten uns der Kaïd oder die Scheichs der umliegenden Orte einen einjährigen Hammel, 4–6 Hühner, ein Körbchen voll Eier, einen Zuckerhut, Thee und andere Dinge zum Lebensunterhalt liefern. Unsere militärischen Begleiter, deren Zahl durch El Graui in Marokko um drei vermehrt worden war, hatten gleich unsern Dienern ein lebhaftes Interesse daran, daß diese vorschriftsmäßigen Lieferungen regelmäßig eingingen, selbst dann, wenn wir noch auf Tage hinaus reichlich versehen waren. Ja einmal, auf dem Plateau von Sektana vor der mächtigen Kette der Rerajaberge, wurden die drei benachbarten Dorfältesten in den polnischen Bock gespannt und mußten so die ganze Nacht hindurch vor unserm Zelt Sitzhocken machen, weil sie jene Lieferung versäumt hatten. Wir hatten Vorrat in Überfluß und Mitleid mit diesen Leuten, die wahrscheinlich ganz unschuldig waren, aber offenbar ihre Strafe uns zuschrieben; doch Kaïd Buir, der Führer unserer tapferen Bedeckung, blieb unerbittlich. Ein ander Mal waren wir nicht wenig erstaunt, bei einem Flußübergang unsere Begleiter ein Lamm verhandeln zu sehen, das man uns abends zuvor gegen reichen Bakschisch aufgedrungen hatte.

Wir hatten in Marokko den lebhaften Wunsch, die noch völlig unbekannten Atlaslandschaften Demnet, Ntifa und Glaui im Südosten der Stadt aufzusuchen, aber El Graui erlaubte es nicht, angeblich, weil die Berberstämme daselbst unlenksam geworden seien und er dort für unsere, dem Sultan verbürgte Sicherheit, nicht einstehen könne. So wurden wir denn gegen unsern Willen in dieselbe Richtung gelenkt, welche ein Jahr zuvor Sir Joseph Hooker und seine Begleiter eingeschlagen hatten, d. h. nach dem Gebirge im Süden und Südwesten der Hauptstadt. Wenn unsere Reise dessen ungeachtet nicht ohne Erfolge war, so verdanken wir dies zum Teil der besseren, späteren Jahreszeit, sowie mehreren andern günstigen Umständen. Unsere Begleiter bildeten aber den steten Hemmschuh, gegen den wir nicht immer erfolgreich ankämpften.

Der Japaner freut sich über die sich bietende Gelegenheit, einen hohen Berg besteigen, die auf- und untergehende Sonne und die von ihr beleuchtete Landschaft schauen zu können: unsere marokkanische Begleitung scheute all das und bot alles auf uns vom Gebirge fern zu halten. In der Ebene und den unteren Atlasthälern, wo man reiten, lang schlafen und an den Fleischtöpfen sich erfreuen, wohl auch sonst noch die Wirte mehr brandschatzen konnte, da fanden sie das rechte Behagen.

Ich übergehe die weiteren Einzelheiten unserer Reise, welche mein Freund und Gefährte, Professor Freiherr Dr. K. von Fritsch in Halle [13] bereits an einer andern Stelle[8] ausführlich geschildert hat, und will hier bloß die wichtigsten Resultate derselben, sowie von den vielen der Lösung noch harrenden Fragen bezüglich des interessanten Landes und seiner Bewohner nur diejenigen hervorheben, deren Inangriffnahme ganz besonders zu wünschen ist.

Das nach zwei Seiten an das Meer stoßende, im Osten und Süden aber mit unsicheren Grenzen versehene Sultanat Marokko umfaßt nach neueren Berechnungen ein Areal von rund 12 000 Quadratmeilen mit etwa 6 Mill. Bewohnern (Araber, Berber, Mauren, Neger und Juden). Es zerfällt naturgemäß in folgende vier Gebiete:

1. Das ehemalige Sultanat Fâz oder Fez zwischen Mittelmeer, Atlantischem Ocean, dem Um-er-Rebbia und Muluya mit sehr fruchtbaren Ebenen und einem noch unerforschten Gebirgsland im Nordosten.

2. Das frühere Sultanat Marokko, südlich des vorigen und bis zu dem Kamm des hohen Atlas. Steppenartige Strecken und cretaceische Steinwüsten wechseln in ihm mit äußerst fruchtbaren Partien, wo der Weizen trotz vernachlässigtem Ackerbau vortrefflich gedeiht und reiche Ernten liefert.

3. Das weite Gebiet östlich der beiden vorigen bis zur algerischen Grenze, noch wenig erforscht, aber ohne Zweifel größtenteils plateauartige Steppe.

4. Das Übergangsgebiet südlich vom Atlas und Antiatlas zur großen Wüste mit dem Uëd Draa als Grenze. Dasselbe wird wohl insgesamt Sus genannt, wiewohl man diesen Namen richtiger auf jene äußerst fruchtbare subtropische Landschaft zwischen Atlas und Antiatlas beschränkt, welche der Uëd Sus bewässert und deren Hauptstadt Tarudant ist.

Der hohe Atlas durchzieht als mächtiges Kettengebirge 700 km lang Marokko vom Kap Ghir im Westen bis zur französischen Grenze im Osten. Er ist ohne Zweifel das imposanteste und lehrreichste Objekt für mancherlei Forschung. Durch Hookers und unsere Reise wurde in wissenschaftlicher Hinsicht über dieses Gebirge zum ersten Mal etwas mehr Licht verbreitet; doch sind noch weite Strecken von keines Europäers Fuß berührt worden und somit völlig unbekannt. Es hat sich aus jenen Reisen und der Lenz’schen Überschreitung des niedrigeren westlichen Atlas Folgendes ergeben:

1. Aus der cretaceischen Ebene, in welcher die Stadt Marokko 483 m hoch gelegen ist[9], steigt das Atlasgebirge steil empor. Hier [14] folgen auf die Vorberge aus Kalkstein, coulissenartig hinter einander und immer höher aufsteigend, Schiefer- und Buntsandsteinrücken, gleich den cretaceischen Vorbergen mit teilweiser Plateaubildung, und endlich die Centralzone, welche gen Westen vornehmlich aus alten Schiefern, südlich von Marokko in Reraja aus Porphyr und Melaphyr, mehr ostwärts aber aus Gneiß, Granit und Syenit aufgebaut ist.

2. Der höchste Teil des Gebirges befindet sich im Süden und Südosten der Stadt Marokko mit einer Kammhöhe von etwa 3700 m. Als höchster Gipfel erscheint der Glaui im Südosten im Quellgebiet des Tensift und eines Arms des Uëd Draa, als höchster und steilster Kamm das Gebirge in Reraja südlich von Marokko, von den Berbern des Gebiets Aderar-n-Dern genannt, worin über den Tisi Tacherat (Tacheratpaß) 3581 m hoch ein Saumpfad nach dem Sus führt. In diesem steil aufgerichteten, vielfach zerklüfteten und schluchtenreichen Porphyrgebirge gehen noch im Juni Streifen Lawinenschnees abwärts bis zu 2500 m Höhe.

3. In größerer Entfernung, wie aus der marokkanischen Hochebene oder vom Meer her gesehen, geben diese zahlreichen Schneestreifen und Schrammen diesem Hochgebirge das Aussehen einer kontinuirlichen Schneelandschaft.

4. Die höchsten Gipfel des Atlas erreichen wohl nahezu 4000 m Höhe. Der Name Miltsin, welchen Lieutenant Washington für einen derselben nach seiner Gesandtschaftsreise 1829–30 einführte, und der sich seitdem in unsern Atlanten eingebürgert hat, scheint auf Verwechselung mit dem Okeimden, an welchem der Rerajafluß entspringt, dem Sitifers oder einem andern hohen Gipfel zu beruhen; denn weder Hooker und seine Gefährten, noch wir, hörten trotz vieler Nachfragen einen Atlasberg so benennen. Nach Washingtons Angaben soll Miltsin 3475 m Höhe haben und unter 31° 12′ N und 6° 40′ W Gr. gelegen sein.

5. Obwohl der Atlas sich an Höhe den Alpen nähert, bleibt er in Bezug auf landschaftliche Reize doch weit hinter denselben zurück. Es fehlen ihm reiche Niederschläge und die vielen damit zusammenhängenden Erscheinungen, wie Gletscher, Wasserfälle und Seen, sowie die Mannigfaltigkeit und Eigenart der Hochgebirgsflora.

6. Die Trockenheit des Klimas erkennt man unter Anderm an der artenarmen, charakterlosen Vegetation des Hochgebirges und dem Vorkommen anstehenden Steinsalzes. Wir beobachteten letzteres zweimal, und [15] zwar in zersetztem altvulkanischem Doleritgestein, erst in der Nähe von Urica, später und viel ausgebreiteter oberhalb Tamarut im Rerajathal[10].

7. Auf den Vorbergen des Atlas bis zu 2000 m Höhe zeigt sich ein reiches Tier- und Pflanzenleben von südspanischem Charakter. Wald in unserem Sinne giebt es nicht. Der lichte Buschwald mit Sträuchern, welche selten 3 m Höhe überragen, wird vornehmlich von Cistrosen, stechpalmenblätterigen Eichen, Phyllyrea, Lentiscus, Blasenstrauch, zwei Wachholder und Callitris gebildet. Dazwischen findet man zahlreiche zum Teil filzig behaarte und aromatische Kräuter, besonders Kompositen, Leguminosen, Labiaten und Umbelliferen. In den unteren Regionen gesellt sich wie in Andalusien die Zwergpalme hinzu und an den Wasserläufen der Oleander, sowie Tamarix gallica und Vitis Agnus Castrus.

8. Das höhere Gebirge über 2000 Meter ist vegetationsarm. Vertreter der arktisch-alpinen Flora fehlen fast vollständig; dagegen findet man neben endemischen Arten solche der Mittelmeerregion, insbesondere der Sierra Nevada, allverbreitete Ackerunkräuter und eine Reihe gewöhnlicher Bewohner unserer Wiesen und Wälder. Von letzteren nenne ich nur Hieracium Pilosella, Cerastium arvense, Geranium lucidum, Myosotis sylvatica, Veronica Beccabunga, Mentha rotundifolia, Ribes Grossularia, ferner Lamium amplexicaule und L. purpureum, Capsella bursa pastoris, Fumaria officinalis, Taraxacum officinale[11].

9. Am Ausgang der Thäler findet man hier und da unter künstlicher Bewässerung Dattelpalmen und Orangegärten, ferner schöne Olivenhaine höher hinauf viel Wallnußbäume und zuletzt nahe der Kulturgrenze in etwa 2000 m Höhe auch Äpfelbäume, während die Kastanie fehlt. In dieser Höhe tritt neben Gerste der Roggen an Stelle des Weizens und genießt man noch einmal den der eigentlichen Mittelmeerregion fremden Anblick eines schönen Rasens mit einer Menge unserer gewöhnlichen Wiesengräser und -kräuter. Dann aber folgt mit schroffem Übergang [16] die überraschende Pflanzenarmut des Hochgebirges und das Auftreten der mitteleuropäischen Formen am Rande des Schnees.

So gilt denn auch vom Atlasgebirge, was der Araber vom Libanon sagt: „Auf seinem Haupte ruht der Winter, der Frühling spielt auf seinen Schultern und zu seinen Füßen weilt der Sommer.“

Marokko bietet noch ein vielversprechendes Feld für den Natur-, Sprach- und Geschichtsforscher. Die persönlichen Gefahren und ansehnlichen Kosten, welche mit dem Reisen in diesem Lande verbunden sind, dürften sich bei genügender Kenntnis des Arabischen und der Landessitten beträchtlich vermindern. Nur wer sich diese aneignen konnte, wird die Sprache der Berber, das noch wenig bekannte Schellah oder Schelluch (das u wie in Züricher Mundart das i zu sprechen) studieren und damit viele Rätsel lösen, sowie den großen Wirrwarr beseitigen können, der bislang in der Schreibweise geographischer Namen des Atlasgebietes herrscht. Von hohem geschichtlichen Interesse wäre unter Anderm der Nachweis des Ursprungs und der Bedeutung verschiedener alter Ruinen auf den nördlichen Vorbergen des Atlas, so bei Tasserimut (unter 31° 29′ N und 7° 13′ W 1080 m hoch) im Südosten der Stadt Marokko, ferner auf dem Kalkplateau von Sektana, südlich von Marokko, ungefähr 1400 m hoch unter 31° 12′ N und 7° 30′ W Gr. gelegen. Die Einwohner schreiben diese Ruinen vielfach den Christen zu. Es ist aber nicht bekannt, ja höchst unwahrscheinlich, daß die Portugiesen, um die es sich in diesem Fall allein handeln, könnte, soweit ins Landesinnere vorgedrungen sind. Vielmehr dürften wir es hier mit Resten römischer Festungswerke zu thun haben, welche errichtet wurden, um die Kolonisten der Ebene gegen die räuberischen Überfälle der unabhängigen Gebirgsbewohner, der Getules, zu schützen.

Viele wichtige Fragen harren namentlich im Atlasgebirge noch der Lösung. Sein Kamm wurde bisher nur an fünf Stellen erreicht, beziehungsweise überschritten. Was dazwischen liegt, ist gleich dem Antiatlas noch fast völlig unbekannt. Betrachten wir jene bekannten Stellen von Westen nach Osten, so sind es folgende:

1. Der Paß zur Seite des Dschebel Buibaun (Lenz schreibt „Paß von Bibauan“, nennt ihn auch Dschebel Tisi; doch dürfte hier eine Namensverwechselung vorliegen, d Dschebél auf Arabisch Berg, Tisi im Schellah Paß bedeutet). O. Lenz überschritt diesen Paß auf seiner Reise von Marokko nach Tarudant im Sus und Timbuktu am 13. bis 15. März 1880 und fand seinen Schieferrücken etwas über 1200 m hoch. Es ist derselbe Weg, dem Jackson am Anfang dieses Jahrhunderts folgte, als er den Sultan auf einer Militärexpedition von Marokko nach der Hauptstadt des Sus begleitete.

[17] 2. Der Dschebél Tezah. Hooker und Ball bestiegen diesen Schieferberg südlich von Amsmiz im Quellgebiet des Uëd Nnfis am 21. Mai 1871 und fanden ihn 3380 m hoch. Die Reisenden konnten von seinem Gipfel weite Umschau halten und die Kette des Antiatlas im Süden deutlich erkennen.

3. Der Tisi Tacherat oder Tacherat-Paß. Derselbe wurde von uns, K. von Fritsch und J. Rein, am 11. Juni 1872 bei prächtigem Wetter und 17° Lufttemperatur erstiegen. v. Fritsch berechnete seine Hohe auf 3581 m. Ein Saumpfad führt über denselben aus dem Rerajathal in das obere Sus. Die Paßhöhe wird von den benachbarten Gipfeln des Adrar-n-Denen , so vom Sitifers im Osten, um etwa 2–300 m überschritten. Von der Hookerschen Expedition, welche Mitte Mai 1871 den Tisi-Tacherat bestieg, erreichte wegen eines heftigen Schneegestöbers, das zur Umkehr zwang, nur Maw die Paßhöhe.

4. Der Glaui-Paß vom jungen Vicomte de Foucauld im Jahre 1883 überschritten. Derselbe schreibt „Tisi-n-Guelǎwi“.

5. Endlich hat zuerst René Caillié, dann 1864 Gerh. Rohlfs und endlich 1884 der erwähnte Vicomte de Foucauld den östlichen Atlas im Tisint (Tisi?) el Riut beim schneebedeckten Aiachin, dem Quellgebiet des Siss und der Muluya überschritten. Die Höhe dieses Passes beträgt nach Rohlfs’ Angaben 2586 m.

Es ergiebt sich hieraus, daß weitaus der größte Teil des Atlas und der ganze Antiatlas noch ebensowenig orographisch, wie geologisch und biologisch erforscht ist. Von besonderem Interesse ist auch die Frage, ob in diesem Gebirge Gletscherspuren vorkommen, oder ob es von der Eiszeit unberührt blieb, wie man aus dem Fehlen arktisch-alpiner Pflanzen im Hochgebirge schließen möchte.

Ein weiteres fruchtbares Forschungsgebiet öffnet sich in Marokko dem Pflanzengeographen. Schließt der Atlas oder der Antiatlas die Mittelmeerregion gen Süden ab? Finden sich unsere gewöhnlichen Wiesenblumen und Gräser auch noch einmal auf der Südseite des Gebirgs? Wie weit gehen die Obstbäume und andere Kulturpflanzen südwärts vor? Auch vom Arganbaum (Argania Sideroxylon Roem. u. Sch.), dem bemerkenswertesten Gewächs des südwestlichen Marokko zwischen 28° und 32° N ist die geographische Verbreitung noch genauer zu erforschen und insbesondere die Grenze seines Vorkommens landeinwärts und deren Abhängigkeit vom feuchteren Küstenklima zu ermitteln. Im übrigen haben die Arbeiten des älteren Hooker[12] und unsere eigenen [18] Beobachtungen[13] Charakter und Verwertung dieses Baumes vollständig klar gelegt. Kultiviert bildet er lichte Haine an den Abhängen und Hügeln der Plateaus und sendet seine nahrungsuchenden Wurzeln oft weit über die tertiären und cretaceischen Kalkfelsen und tief in die Spalten derselben. Wir sahen die Arganbäume bedeckt mit Blüten und zugleich mit reifenden vorjährigen Früchten; wir ruhten im Schatten ihres dunkelgrünen Laubdaches während der Mittagshitze und tunkten abends mit unsern arabischen Wirten die Brotbissen in das aus den Kernen ihrer pflaumenartigen Steinfrüchte bereitete heiße Öl.

Die Eigenart der canarischen Flora mit ihren vielen Sukkulenten gegenüber der an solchen Fettpflanzen so armen Mittelmeerregion ist wohlbekannt, aber ihre Deutung noch nicht recht gelungen. Da hat denn das Vorkommen verwandter sukkulenter Gewächse im benachbarten südwestlichen Marokko, wie der Kleinia pteroneura D C. und der Apteranthes Gussoniana Miek. in der Umgebung von Mogador, sowie kaktusartiger Euphorbien (E. cactoides Maroccanis Coss., E. resinifera Berg., E. Beaumierana Hook., E. echinus Coss.) mehr südlich im Sus auf mesozoischen Sand- und Kalksteinen erhöhte Bedeutung, weil man hoffen darf, daß hierdurch und nach einer genaueren Erforschung der Flora des Sus jenes Rätsel am ehesten in befriedigender Weise gelöst werden kann.

Die Fauna des Sus, wie von Marokko überhaupt, ist noch viel weniger erforscht. Unter 54 von uns gesammelten Arten Landconchylien fand Prof. Mousson in Zürich 17 neue[14]. Aus marokkanischen Bächen brachten wir drei neue Arten Barben mit, obwohl unsere Reise nur von kurzer Dauer war[15]. Nach einer Mitteilung Dr. Günthers in British Museum, des ersten der lebenden Ichthyologen, hat aber Niemand seitdem den marokkanischen Fischen seine Aufmerksamkeit geschenkt. Das Gleiche gilt von den meisten andern Klassen des Tierreichs, so daß auch in dieser Beziehung für die marokkanische Landeskunde das meiste noch zu thun bleibt und so auf mehreren andern Gebieten.

Der gegenwärtige verwahrloste Zustand Marokkos, sein Marasmus und schwaches Zucken in den alten Banden, aus denen es sich selbst wohl nie befreien kann, werden von den am meisten interessierten Mächten, den Franzosen, Engländern und Spaniern, aufmerksam und [19] mit gegenseitiger Eifersucht verfolgt. In Marokko selbst, wie auch auf Seiten der andern Mächte, fürchtet man am meisten die französische Nachbarschaft. Seit lange strebt Frankreich darnach, seine konventionelle algerische Westgrenze bis zum Muluyaflusse vorzuschieben; auch hat es sich von Senegambien her dem Marokkanischen Reich bis Kap Blanco genähert. England befürchtet eine weitere Ausdehnung der französischen Machtsphäre in Nordafrika nicht bloß seines marokkanischen Handels wegen, sondern auch mit Rücksicht auf seine beherrschende Stellung an der Straße von Gibraltar. Spanien endlich hat allen Grund, keinem dieser mächtigen Konkurrenten im marokkanischen Nachbarreiche mehr Einfluß zu wünschen. Sind auch seine alten Besitzungen, die Presidios an der marokkanischen Mittelmeerküste, (Festung Ceuta, Peñon de Velez, Alhucemas, Melilla und Chafarinas) mit kaum 13 000 Einwohnern von keiner großen Ausdehnung, so gewahren sie ihm doch einen festen Halt, wie sie ihm denn auch im Kriege 1860 teilweise zur Operationsbasis dienten, und einen gewissen Trost für den Verlust von Gibraltar. Im übrigen hat Spanien bisher wenig gethan, um sich in Marokko größeren Einfluß zu verschaffen. Seine Bewohner beziehen von dort ansehnliche Mengen Garbanzos (Kichererbsen) und Mais, lassen aber den übrigen Handel in englischen und französischen Händen. Sie sind überzeugt, daß „die Natur Spanien zwischen zwei große Weltteile gestellt hat, um gleichsam anzudeuten, daß ihr Land die Bestimmung habe, dem einen die vorgeschrittene Civilisation des andern zu bringen“[16], haben aber seit den Tagen, wo auf den Rat des Kardinals Ximenes die unersetzliche maurische Bibliothek in Granada verbrannt wurde, keinerlei ernste Schritte gethan, um diesem stolzen Satz entsprechend zu handeln.

Wir Deutsche standen den widerstreitenden Interessen der in Marokko konkurrierenden Mächte noch vor 15 Jahren als unparteiische und uninteressierte Zuschauer gegenüber. Seitdem aber der deutsche Handel in den marokkanischen Küstenstädten ebenfalls festen Fuß gefaßt und die Reichsregierung demselben durch Verträge und offizielle Vertretung den nötigen Schutz geschaffen hat, ist das anders. Nunmehr gesellt sich zu unserem reinwissenschaftlichen Interesse auch ein handelspolitisches und kann es uns nicht mehr gleichgültig sein, welche europäische Macht das morsche islamitische Reich am großen Eingangstor zum Mittelmeer einmal über den Haufen wirft und dort ihre Flagge hißt, ob Freund oder Feind.


  1. Cosson, Notes sur la géographie botanique du Maroc. Bull. de la Soc. bot. de France. Tome XIX, p. 50.
  2. In ähnlichem Sinne äußert sich Duveyrier bezüglich Marokkos: „Pour qui n’est pas bien au courant de l’histoire moderne de la géographie, la sûreté du dessin rassure l’esprit, et on se croit là en terrain à peu près sinon complétement connu. Il n’en est pourtant rien.“ (Bull. de la société de géographie 1885, p. 323.)
  3. Siehe „Die deutsche Handelsexpedition 1886 von Dr. R. Jannasch“. Berlin 1887, p. 246–247.
  4. Zur Zeit unseres fünftägigen Aufenthaltes (1–5. Juni) in der Stadt Marokko (unter 31° 37′ N 483 m hoch gelegen) war das Temperaturmittel 26° C, während wir als Extreme 32° C u. 19° C im Schatten beobachteten. Die mittlere Temperatur in Mogador (unter 30° 30′ N) betrug zur selben Zeit nur 19,3° C., und so ist die ganze Küste im Sommer verhältnismäßig kühl, so daß hier die Dattelpalme ebenso ihre Früchte reift, wie in Andalusien.
  5. Das Wort Scheich (Ältester, Distrikt- oder Ortsvorsteher) klingt aus dem Munde des Marokkaners genau so, wie der Züricher mit seinem gutturalen ch „Schich“ aussprechen würde.
  6. Kaffee und Chokolade sind bei Marokkanern nicht gebräuchlich. Der gemeine Mann trinkt nur Wasser und Milch, der vornehmere nebenbei auch grünen Thee (Young Hyson), den er, wie die Kanne aus Britanniametall und die schönen kleinen, mit Gold gezierten Porzellantassen oder Gläser, aus England bezieht, während der Zucker, ächte Raffinade in kleinen Hüten, früher ausschließlich aus Frankreich kam.
  7. Sie gilt eben für unrein. Eine Erklärung dieser Erscheinung fanden wir bald, als wir die eigentümliche primitive Einrichtung in dem notwendigen kleinen Raume näher kennen lernten. Da diese Sitte in Marokko überall herrscht, nehmen wir an, daß sie unter den Orientalen der Mittelmeerregion allgemein verbreitet ist.
  8. Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Halle a. S. 1877–79.
  9. Von K. v. Fritsch nach unsern fünftägigen Beobachtungen in Marokko und [14] gleichzeitigen des franz. Konsuls Beaumier in Mogador berechnet, während Hooker die Lage von Marokko zu 512 m bestimmt hat.
  10. Dieses Vorkommen mit seinen auffallenden weißen Ausblühungen wurde von Hooker und seinen Gefährten auf ihrem Wege zum Tisi Tacherat (Hooker schreibt Tagherot) nicht bemerkt, vielleicht deshalb nicht, weil sie Mitte Mai, also in einer noch feuchten Jahreszeit, wir dagegen am 10. Juni hier vorbeikamen.
  11. Die Gewächse des hohen Atlas gruppieren sich nach John Ball (siehe Hooker Marocco p. 441) wie folgt:
    Mitteleuropäische Arten 78 oder 44,3 %
    Weitverbreitete Mittelmeerpflanzen 43 24,4 %
    Westliche Miitelmeerpflanzen 20 11,4 %
    Endemische Arten 35 19,9 %.

    Unter letzteren befinden sich auch die von uns beobachteten Ranunculus Reinii Ball und Astragalus Reinii Ball.

  12. „On the Argan-tree of Marocco by Sir William Hooker“, in Hooker’s Journal of Botany. Vol. VI. p. 97–107.
  13. Über einige bemerkenswerte Gewächse aus der Umgebung von Mogador von Dr. J. Rein. Jahresbericht der Senckenb. naturf. Gesellschaft zu Frankfurt a. M. 1873. S. 119 ff.
  14. A. Mousson, Bericht über Conchylien aus Westmarokko im Jahrb. d. deutsch. Malakozoologischen Gesellschaft 1874.
  15. Notice on some new species of fiches from Marocco by Dr. A. Günther. Annals & Magazine. March 1874.
  16. Siehe Compendio de Historia de España por Alfonso Moreno y Espinosa. Cadix 1873. S. 3.