Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

nicht mehr der Fall, so lockern sich die Bande des Gehorsams, zumal bei den Berberstämmen des Atlas und jenseits desselben. Daher sind hier die Grenzen des Reichs schwer bestimmbar und vielen Schwankungen unterworfen. Hat anderseits die Aussaugung einer Provinz durch einen Kaïd oder Gouverneur, der auf seiner Kasbah wie ein Raubritter des deutsehen Mittelalters wohnt, das gewöhnliche Maß überschritten, so empört sieh wohl das Volk, verjagt den Tyrannen und zerstört seine Burg. Dafür muß es dann wieder in eigentümlicher Weise büßen. Der vertriebene Kaïd flüchtet zum Sultan und berichtet über das Treiben der Rebellen. Nach einiger Zeit wird ein kleines Heer aufgeboten und dasselbe so lange in das aufständische Gebiet verlegt, bis dieses „aufgegessen“ (so lautet der landläufige Ausdruck dieser Strafe) ist. Das macht mürbe und schafft dem inzwischen eingesetzten neuen Gouverneur den nötigen Gehorsam. So erging es bald nach unserm Aufenthalt in Mogador der benachbarten Provinz Haha, deren unbändige, aufständische Horden damals so gefürchtet wurden, daß wir den Gedanken an eine Reise nach Agadir und dem Sus aufgeben mußten.

Aus dem Erwähnten ergeben sich die großen Schwierigkeiten und Gefahren, welche sich dem Reisen in Marokko entgegenstellen. Sie sind nicht durch die Natur des Landes (Klima, Bodenverhältnisse, wilde Tiere u. dgl.) bedingt, sondern durch die Bewohner. Das Klima ist gesund, wiewohl im Sommer und landeinwärts von der feuchten und kühlen Küste, heiß und trocken, eine Folge der Besonnung und der herrschenden Passatwinde, welche, von dem stark erwärmten Landesinnern angezogen, an der Westküste ihre Hauptrichtung ändern[1].

Der Marokkaner ist träge, apathisch, sinnlich, unwissend und stolz, dabei argwöhnisch und fanatisch. Mit diesen Eigenschaften muß der fremde Reisende um so mehr rechnen, als er in der Regel die Sprache des Landes nicht versteht und auf einen Dolmetsch von einem der Hafenorte angewiesen ist, welcher – meist ein armer verachteter Jude – weder durch Bildung noch Stellung seine Interessen wirksam zu vertreten vermag.

Nur wer im Lande als Arzt oder Kaufmann reist, findet einigermaßen Verständnis für seine Zwecke. So folgten denn auch wir dem


  1. Zur Zeit unseres fünftägigen Aufenthaltes (1–5. Juni) in der Stadt Marokko (unter 31° 37′ N 483 m hoch gelegen) war das Temperaturmittel 26° C, während wir als Extreme 32° C u. 19° C im Schatten beobachteten. Die mittlere Temperatur in Mogador (unter 30° 30′ N) betrug zur selben Zeit nur 19,3° C., und so ist die ganze Küste im Sommer verhältnismäßig kühl, so daß hier die Dattelpalme ebenso ihre Früchte reift, wie in Andalusien.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Justus Rein: Über Marokko. Dietrich Reimer, Berlin 1887, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:%C3%9Cber_Marokko.pdf/11&oldid=- (Version vom 1.8.2018)