Textdaten
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Autor: E. Hirzel
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Titel: Von einer alten Dame
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 729-731
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Besuch bei der Tochter des Mainzer Revolutionärs Adam Lux
Siehe auch späteren Artikel Adam Lux’s Tochter in: Heft 16, 1862.
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[729]

Von einer alten Dame.

Eine Erinnerung vom Sängerfest in Nürnberg.

Die Sonne stand brennend am blauen, wolkenlosen Himmel, der auch keine einzige Wolke zur Trübung oder Dämpfung des allgemeinen Jubels an seiner Wölbung duldete. Die Hitze war manchmal drückend; der Staub, immer auf’s Neue aufgerührt von den tausend und tausend Füßen, die ihn auf dem Wege nach dem schattigen Festplatze treten mußten, überaus lästig und setzte sich wie dichter Puder auf die schwarzen Ueberwürfe der Damen, auf die koketten dunkeln Federhütchen derselben, die so viel Frische und Heiterkeit der jugendlichen Gesichter halb versteckten und halb sehen ließen. Die beiden Wege, die hinausführten, vom Lauferthor und vom Maxthor aus, wurden gewöhnlich halb seufzend unternommen, boten aber immer wieder so viel Ausbeute an Vergnügen, so viel Lust am Sehen und Gesehenwerden, daß Staub und Hitze vielleicht noch nie geduldigere Menschen getroffen haben.

Dann war aber vom Maxthor aus, vielleicht just in der Mitte des heißen Weges, in der Umgebung einiger schöner, alter Bäume ein neueres kleines Landhaus zu treffen, das für’s Auge einen erfrischenden Ruhepunkt bildete. Ich meine weniger das Häuschen selbst mit seinen schmalen Blumenrabatten vor der Hausthüre. Aber zur Seite stand wieder ein kleines Gewächshaus, das in der Zusammenstellung seiner blühenden Gewächse, in dem Reichthum, dem Farbenschmelz und auch der Seltenheit derselben aussah wie ein wunderschönes, noch vom Thau glänzendes Blumenbouquet. Alle ermüdeten Füße blieben wohl einige Momente dort stehen, und alle vom Staub nicht halb erblindete Augen verweilten mit Wohlgefallen auf dem lieblichen Anblick. Längs der Mauer, die das ganze Gehöfte umschloß, führte alsdann der Weg weiter dem rauschenden Festplatz zu.

Ich meinte gegen meinen Nürnberger Freund, der unser gewöhnlicher Begleiter zu den Festfreuden und Genüssen war, das sei ein angenehmer Ruhepunkt, und der Besitzer des Häuschens, ohne Zweifel ein großer Blumenfreund, verdiene sich den Dank aller Vorüberwandernden.

Mein Freund bejahte es etwas zerstreut, indem er eben zu den niedrigen Fenstern eines noch kleineren Häuschens hinauf grüßte, das mehr im Hintergrunde nur halb über der angedeuteten Mauer [730] sich erhob und einem ältern Frauenzimmer zur Wohnung zu dienen schien, welchem der Gruß galt.

„Noch mehr, als der liebliche Blumenflor Sie erfreut,“ sagte der Freund im Weitergehen zu mir, „wird es Sie interessiren, wenn ich Ihnen sage, wer die kleine, alte Dame ist, die am Fenster da oben stand und meinen Gruß mit ihrem schwachen, unsichern Blick kaum beachten konnte. Sie mit Ihrem lebendigen Interesse für Geschichte müssen wissen, daß das die einzige noch lebende Tochter des Adam Lux, des heroischen Mainzers ist, der in dem traurigsten Zeitpunkte der französischen Revolution den Muth hatte, für Charlotte Corday seine Stimme zu ihrer Vertheidigung und zur Verdammung ihrer gefühllosen Richter laut und frei zu erheben. Wie Sie ja wissen, wurde er der Märtyrer seiner edlen Freimüthigkeit und fiel ebenfalls der Guillotine zum Opfer.“

Ich war betroffen. „Was, eine leibliche Tochter dieses edeln, viel bewunderten Mannes existirt noch, und zwar hier in Nürnberg? Ich muß sie jedenfalls kennen lernen! Können Sie mich vor meiner Abreise nicht bei ihr einführen?“

„Warum nicht? Obgleich sie nicht gewohnt und wahrlich nicht eingerichtet ist, Fremde zu sehen und zu empfangen, wird sie mir, einem langjährigen Bekannten, nicht verübeln, wenn ich bei einem Besuche Jemand mit mir bringe, der so viel Interesse und Theilnahme an ihrem unglücklichen Vater genommen. Die Tochter hat in anderer Art recht viel Schweres in ihrem Leben durchgemacht.“

Vielleicht kennen einige Leser der Gartenlaube die Geschichte des Vaters nicht. Lux war ein junger, mit dem Weibe seiner Jugendliebe verheirateter Mann und durch dieses Gutsbesitzer in Kostheim in der Nähe von Mainz geworden. Er lebte allgemein geliebt und geehrt in einem kleinen Kreise ausgewählter Freunde, hatte trotz seiner gelehrten Bildung sich aller Ansprüche auf irgend ein Amt vor der Hand begeben, erfreute Sinn und Herz neben seinen ökonomischen und ländlichen Geschäften am Lesen der von ihm so geliebten Classiker und war für Frau und Kind der liebevollste Familienvater.

Die neuen, meteorartigen Erscheinungen am politischen Himmel des Nachbarlandes mußten seinen Geist und sein Denken lebhaft anregen. Wahrscheinlich war er ein näherer oder entfernterer Bekannter des geistreichen Forster, kam vielleicht öfters in jenen Kreis, der, längst angeekelt von den traurigen Zuständen in Deutschland und vorzugsweise von der verkommenen Pfaffenherrschaft, in nächster Nähe mit innerem Frohlocken eine neue Zeit anbrechen sah, ein Morgenroth der Freiheit und der Menschenrechte. Wer kann es jenen Männern verdenken, die ganz gewiß in der Mehrzahl die Edelsten und Gerechtesten, die Vorurteilslosesten ihres Volkes waren, daß sie bei all dem Jammer der damaligen Wirthschaft endlich im Laufe der Ereignisse glauben und annehmen konnten, im Verein mit Frankreich ließen sich ihre hohen Ideale für Gründung und Befestigung neuer und volksthümlicher Staatseinrichtungen besser realisiren?

Lux wurde durch die Wahl seiner Mitbürger zum Mitglied der Nationalconvention jener Städte und Ortschaften ernannt, welche der Aufforderung der französ. Republik, sich frei zu erklären, Gehör gegeben und sich als Rheinisch-deutscher Freistaat constituirt hatten.

Dann wurde er von demselben mit Forster und einem andern Mainzer Bürger Potocki zum Gesandten nach Paris erwählt, um das oben angeführte Gesuch um Anschluß an Frankreich dem französischen Convent vorzutragen. Er entwand sich den Armen seiner geliebten Familie, schöne, weitgehende Hoffnungen für sein Vaterland in der Seele tragend, und seine Gattin, die in ihren Ueberzeugungen ganz mit ihrem Manne stimmte, soll nach dem Zeugniß der Tochter mit allen Schritten desselben vollkommen einverstanden gewesen sein.

Die Mainzer Gesandten trugen das Vereinbarungs-Gesuch vor, und mit allgemeiner Beifallsbezeigung wurde es vom französischen Convent aufgenommen und sofort decretirt den 31. März 1793.

Aber der Aufenthalt in Paris öffnete den Mainzer Abgeordneten die Augen in einer Weise, wie sie nicht erwartet hatten. Besonders Forster und Lux müßten nicht die bedeutenden, die für Wahrheit und Recht glühenden Seelen gewesen sein, wenn nicht das Getreibe, das Wüthen der beiden mächtigen Parteien, die sich bekämpften und mit jener schreckenerregenden Willkür um die Herrschaft stritten, auf sie einen traurigen und darniederschmetternden Eindruck gemacht hätte. Haben wir doch in dem Nachlaß von Forster, in seinen Briefen aus Paris, die vor mehreren Jahren auf’s Neue von Gervinus herausgegeben wurden, deutlich genug den Eindruck gelesen, den die Ereignisse und Zustände im damaligen Frankreich auf das Gemüth dieser nur das Gute und Rechte wollenden Männer machten.

Nach den Vorgängen des 31. Mai und des 2. Juni 1793 zogen sich die geschlagenen Girondisten von Paris zurück nach Caen, welche Stadt sie zum Mittelpunkt ihrer Partei und ihres offenen Aufstandes gegen die Bergpartei machten. Marat, der Haupturheber der letzten Ereignisse, der Führer und Leiter des Berges, war in den Augen des hochherzigen, schwärmerischen Mädchens von St. Saturin (in der Nähe von Caen) die verabscheuenwürdigste Persönlichkeit, die das Unglück und das Verderben über ihr geliebtes Vaterland brachte. Hatte er nicht selbst in öffentlicher Rede geäußert, daß noch zwanzigtausend Köpfe fallen müßten, um die Revolution sicher und fest zu begründen? Sie macht sich auf aus ihrer Heimat, die junge und schöne Charlotte Corday. reist nach Paris, dringt zu dem blutigen Fanatiker, erstickt ihn im Bade und erwartet alsdann ruhig ihre Verhaftung und Verurteilung.

Ihre enthusiastische That blieb nutzlos, die Ereignisse wurden zu mächtig und schritten über die Leiche Marat’s weg ihren fürchterlichen Gang. Aber der Heldenmuth des Weibes, ihre edel gehaltenen Antworten vor dem Revolutionstribunal, dem sie unerschrocken sagte: „Ich hoffte einen Menschen zu tödten, damit ich Hunderttausende damit retten könnte, einen Bösewicht, um Unschuldige sicher zu stellen, ein wildes Thier, um meinem Vaterlande die Ruhe zu geben. Ich war Republikanerin vor der Revolution, und es hat mir nie an Energie gefehlt“ – das erschütterte Viele, deren Herzen für Frankreich schlugen, doch unter der Schändung menschlicher Gesetze und Gefühle in der Stille bluteten.

Lux sah sie dem Tode entgegengehen, den 17. Juli, auf dem schrecklichen Armensünderkarren mit einen, rothen Mantel bekleidet, und war ergriffen von dem Ausdruck des schönen Antlitzes voll Ruhe und Sanftmuth, mitten unter dem Geheule und Gelächter einer bestialischen Menge. Wie der Henker mit Rohheit und Hohn den guillotinirten Kopf dem Volke zeigte, rief eine Stimme aus dem Haufen: „Seht, sie ist größer als Brutus!“

Es war die Stimme des furchtlosen Deutschen. Und am 19. Juli schrieb er jenen Ruf an Frankreich und dessen edlere Bürger, über Charlotte Corday und ihre That. Er mißbilligt darin den Mord an Marat, läßt aber der Tugend und den Beweggründen Charlottens alle Gerechtigkeit widerfahren, appellirt an das Urtheil der gerechten Nachwelt, die das Außergewöhnliche der That erst würdigen werde, obgleich in jenem Moment der ermordete Marat noch ein größerer Gegenstand den Enthusiasmus der Pariser, seine Büste an allen Plätzen aufgestellt, seiner Leiche die Ehre des Pantheon zu Theil wurde. Er spricht ihr eine Ehre und Bewunderung aus, eine Verachtung gegen die Macht ihrer Richter und Henkersknechte, die nothwendig seine Verdächtigung als schlechter Patriot, als Landesverräther nach sich ziehen mußte. Schon vor diesem Schriftstück hatte Lux eine andere Flugschrift herausgegeben: „Avis aux Français“, worin er eben so offen seine Ueberzeugung aussprach, daß es unter dem gefährlichen Streite der Freunde der Ordnung und der Anarchisten mit der Freiheit zu Ende ginge und der Bürgerkrieg die nothwendige Folge sein würde; er versuchte es die Vaterlands- und Freiheitsliebe in dem Herzen jedes Franzosen neu anzufachen, verfluchte die Jacobiner und weihte seine vollständige Achtung den Girondisten.

Beide Schriften vereint bewirkten denn auch seine Verhaftnahme bald nach der Herausgabe. Drei Monate nachher wurde auch er zur Guillotine geführt, – „die,“ wie er in seinen Worten über die Corday sagt, „in seinen Augen nichts mehr ist, als ein Altar, worauf man unschuldige Opfer schlachtet und womit – seit dem reinen Blute, das am 17. Juli darauf geflossen ist – keine Schande mehr verbunden sein kann.“ – Sein Haupt fiel, indem er mit wahrer Seelengröße das Schaffot betreten hatte.

Wedekind meint, er hätte sein Leben retten können, wenn er sich vertheidigt, wenn er eingestanden hätte, seine Schriften in melancholischer Gemüthskrankheit abgefaßt zu haben. Wirkliche Patrioten hätten ihm alsdann zu einem solchen Ausgange verholfen. Aber Lux war ein Deutscher, mit deutscher Wahrheit und Ueberzeugungstreue, die er als Mann höher schätzte, als sein Leben. Er starb lieber, als daß er sich durch eine Lüge rettete. So weit die Geschichte des wackern Mannes.

[731] Ueber all dem Jubeln, Singen und Feiern des Sängerfestes hatte ich die Tochter des Adam Lux nicht vergessen. Am Abend des nächsten Tages mahnte ich meinen Freund, sein Versprechen zu erfüllen, und wir gingen den heute so viel stillern Weg hinaus nach dem kleinen Häuschen.

An der niedrigen Hofthüre sagte uns ein junges strickendes Mädchen, die Tochter der Gemüsegärtnerin, der die Wohnung gehört, daß die alte Dame zu Hause sei, und wir stiegen die schmale, reinliche Treppe hinauf zu dem Zimmer, das sich auf unser bescheidenes Klopfen öffnete.

Eine kleine freundliche Frau bewillkommnete meinen Freund mit einiger Verlegenheit, weil sie meinte, Zimmer und Toilette sei nicht in der besten Ordnung, um Besuch zu empfangen. Er beruhigte sie rasch darüber und stellte mich als einen seiner Bekannten aus der Ferne vor, der aus großem Interesse an ihres Vaters Wirken und Schicksal ihre Bekanntschaft zu machen wünsche.

Die heitere, milde Gestalt drückte mir dankend die Hand und nöthigte mich, neben ihr auf dem einfachen schwarzen Kanapee zu sitzen, wo ich im Laufe des Gesprächs ihr Aeußeres, das von dem Lichte des Hoffensters beleuchtet wurde, betrachten konnte.

Das Alter – sie zählt schon 72 Jahre – hat tiefe Furchen in angenehme Gesichtszüge geschnitten, die von dem freundlichen Blicke der blauen, aber schwachen Augen beherrscht werden. Eine feine Röthe färbt immer noch die schmalen Wangen, die von einer weißen Krause und einem schützenden Spitzentüchelchen eingerahmt sind. Weder Crinoline, noch bauschende Kleider umhüllen ihren zerbrechlichen Körper, und nur das einfachste dunkle Wollenkleidchen fällt auf die Füße hernieder, die übrigens die einsame, fast verlassene Frau bei gutem Wetter, wie sie mir sagte, alle Morgen auf größere oder kleinere Spaziergänge leiten müssen.

Die Einrichtung des kleinen, aber hellen Zimmers, nebst dem daran stoßenden Schlafstübchen und dem dunkeln Heerde daneben, ist äußerst einfach, dünkt ihr aber ein köstliches Besitzthum zu sein, weil sie erst seit einem halben Jahre, die Arme, die einzige und unumschränkte Besitzerin einer jeweiligen Wohnung ist – die Folge drückender Verhältnisse. An der bis zur Hälfte der Zimmerhöhe gehenden Vertäfelung der einen Wand steht ihr altes liebes Instrument, das sie sich durch viele Stürme des Lebens hindurch gerettet hat, und dessen kurze Tasten noch manchmal von ihren zitternden Fingern zu einem Chorale angeschlagen werden, wenn ihre Verlassenheit, ihre alten Tage sie ängstigen wollen und sie sich auf’s Neue Stärke und Heiterkeit da suchen muß, wo, wie sie mit kindlichem Glauben und Vertrauen sagt, auch sie nicht vergessen ist. Gegenüber an der Wand hängen über einem kleinen Tischchen im Kreise herum mehrere Silhouetten von Freunden aus früherer Zeit und geben der alten Frau schmerzliche und liebe Erinnerungen.

Sie erzählte mir auf leise Fragen hin, wie sie – eine geborne Mainzerin – hierher nach Nürnberg verschlagen wurde, wo sie als kinderlose Frau ihren Mann verlor, der in einem dortigen Geschäfte Mitantheilhaber gewesen. Schon lange Jahre ist er jetzt gestorben und hatte sie allein ohne Kinder und ohne nahe Verwandte zurückgelassen. Das Geschäft, worin ihre beiden kleinen Vermögen niedergelegt waren, nahm nach seinem Tode keinen günstigen Verlauf, und doch hatte er unselige Verfügungen getroffen, daß seiner Wittwe Existenz bis an ihr Lebensende an die Familie des Associé gefesselt bliebe in Bezug auf ihr Vermögen und ihren Unterhalt. In dem schlimmen Falle, den die Angelegenheiten genommen, für beide Theile ein drückendes Verhältniß! Sie schien es aber mit wahrer Religiosität und heiterer Ergebung bewältigt zu haben, und fühlt sich trotz Abhängigkeit und der einfachsten, ärmlichen Lebensweise zufrieden in einer Bedürfnißlosigkeit, die mir wahrhaft rührend war.

Hat sie wohl als Erbtheil ihres edeln Vaters, den sie freilich kaum gekannt hat – denn er starb, als sie kaum drei Jahre alt war – seinen Stoicismus, seine Verachtung der Welt und ihrer bösen Elemente als Erbtheil überkommen und sie unbewußt in ihre Lebensansichten und Verhältnisse übertragen? – Sie erschien mir wirklich ehrwürdig, wie sie ungesucht und anspruchslos von ihrer einfachen und einsamen Lebensweise sprach, ohne männlichen Schutz, ohne Dienerin, ohne gesellschaftliche Verbindungen, als einige befreundete weibliche Wesen, die sie dann und wann aufsuchen.

Sie hatte Freude an meiner lebhaften Theilnahme für sie und das Andenken ihres Vaters. Sie holte mir aus ihrer alten Commode die einzigen alten, vergilbten Reliquien, die in ihrem langen Leben und im häufigen Wechsel des Wohnortes ihr geblieben waren, als von ihm selbst herrührend. Es sind drei Hefte. Das erste gedruckte Heft enthält die in lateinischer Sprache abgefaßte Doctor-Dissertation von A. Lux und zwar über den Enthusiasmus, welche er hielt in Mainz, den 19. November 1784. Das zweite Heft, von seiner Hand geschrieben, enthält Bruchstücke aus Ossian’s Gesängen und aus dem Homer. Das dritte, wiederum gedruckte kleine Bändchen heißt: „Republikanischer Nachlaß von Adam Lux, weiland Mitgliede des Rheinisch-Deutschen Convents und außerordentlichem Gesandten zu Paris, in Straßburg gedruckt im dritten Jahr der fränkischen Republik“ und herausgegeben mit einer Vorrede von dem bekannten oder berüchtigten Wedekind. Der in seinen Folgen so tragische Aufruf für die Charlotte Corday ist hier am Schlusse mitgegeben.

Die Tochter bestätigt übrigens das oben Angeführte aus ihren Erinnerungen, oder vielmehr aus den Erzählungen ihrer Mutter. Es war dieser und ihrem Gatten während der drei Monate seiner Einkerkerung die Möglichkeit geblieben, mit einander zu correspondiren; und Lux muß seiner Frau mitgetheilt haben, daß, wenn er seine Flugschriften auf eine gewisse Weise widerrufen würde, er Hoffnung haben könnte, ihr und seiner Familie erhalten zu bleiben. Er appellirte an ihre Entscheidung, als diejenige, die ein Recht an sein Leben, aber auch an seine unbefleckte Ehre hätte. Die geistesstarke Frau bestärkte ihn mit bewunderungswürdiger Fassung in seinem Entschlusse, nichts von dem zurückzunehmen, was er aus tiefster Ueberzeugung gesprochen und veröffentlicht. Und Lux starb als Märtyrer seiner Grundsätze mit Heldenmuth.

Die Wittwe verkaufte bald nachher ihr Besitzthum in Kostheim und zog sich mit ihren beiden Mädchen, von denen die noch Lebende damals kaum drei Jahre alt war, nach Mainz, wo ihr mehrere Verwandte lebten. Sie starb einige Jahre nach dem Tode ihrer ältern Tochter, und zwar noch ehe die Jüngere verheirathet war.

So kam es, daß die Matrone, deren Bekanntschaft ich eben gemacht, ziemlich einsam durchs Leben ging, welches ihr nicht viele Rosen, sondern viele Dornen brachte, – und nun in ihrem zweiundsiebenzigsten Jahre beinahe in Verlassenheit die trübern Tage des hohen Alters an sich herantreten sieht. Der Himmel erhalte ihr für die nunmehr noch kurze Zeit ihres Erdenwallens die Gesundheit, die Heiterkeit und die Ergebung, die über ihr ganzes Wesen verbreitet ist, und mit der sie gewiß Jedermann – neben dem Interesse für ihre Abstammung – unwillkürlich fesselt.

Sollte nicht vielleicht da oder dort die Verehrung für einen echt deutschen Mann Pietät für die Tochter hervorrufen?

Das waren meine Gedanken, als ich bei der Abendämmerung still mit meinem Freund nach der Stadt zurückkehrte, und die nämlichen sind es, die mich bewogen, diese Begegnung für weitere Antheilnehmende niederzuschreiben.

E. Hirzel.