Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Zweyter Theil/Eilftes Buch

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[258]
Eilftes Buch.
Veredelter und verschönerter Genuß der Liebe.


Erstes Kapitel.
Einleitung.

Unsterbliches Andenken, selige Gegenwart, begeisternde Hoffnung! Bilder dessen, was ich durch Liebe empfand, empfinde, zu empfinden möglich ahnde! stellt euch in aller Klarheit und Stärke vor meiner Seele dar, und daß die Wärme, die mein Wesen durchströmt, in meine Worte dringe!

Wer wagt es, die Freuden der edeln Liebe zu schildern? Ach! hat sie nicht unzählige Kräfte Wonne zu geben, unzählige Wege Wonne zu empfangen? Sie, die ungebunden an Zeiten, ungebunden an Oerter, im Glück und im Unglück, beym Streben und im Besitz, im Reiche der Wirklichkeit und der Chimäre, alles beseligt, alles veredelt, alles verschönert! – Halt ein Verwegener! Kein endlicher Geist mißt ihren erhabenen Gehalt, kein sterbliches Auge faßt ihre schönen Formen zusammen!

[259] O du, der du so mit mir fühlst, ich will dich nicht über Empfindungen belehren, die du längst gekannt hast, und die keine Darstellung denjenigen kennen lehrt, der sie nicht gehabt hat! Ich bin nicht anmaßend genug, zu glauben, daß ich ein Bild, würdig der Göttlichen, die wir beyde verehren, liefern könne! Aber vereinige dich mit mir: folge den Zügen, die ich vorzeichne, mit deiner Erfahrung, mit deiner Phantasie und deinem Herzen! So werden wir ein Gemählde der Wohlthaten, die wir von der Göttin empfangen haben, in ihrem Tempel wie eine tabula votiva, wie ein Gelübde aufhängen dürfen, dessen kunstlose Form durch die frommen Gesinnungen des Gebers geheiligt wird: ein Denkmahl unserer Dankbarkeit, eine labende Erinnerung für eine eherne Zukunft!

Noch darf ich von Liebe reden: noch kann ich ihre Wonne fühlen; aber das Schicksal ist veränderlich, die Natur gebrechlich, und das Alter übereilend! Bald werde ich nur ein Herz für Freundschaft, für Menschen- und Bürgerliebe übrig behalten! Bald werde ich den Myrthenkranz, der noch mein Haupt umschlingt, mit der Krone des Epheus und des Eichenlaubs umwinden müssen! Für diesen Zeitpunkt will ich den gegenwärtigen, wenn auch mit schwachen Umrissen, aufbewahren, damit ich beym Rückblick auf diese Blätter mit edelm Stolze und süßer Schwermuth mir sagen kann: Auch ich war in Arkadien!

[260]
Zweytes Kapitel.
Erwachen unsers Wesens zur Liebe.

Dumpf und träge, ohne wahren Antheil an seinem eigenen Daseyn und an allem, was ihn umgiebt, irrt derjenige umher, in dem die Anlage zur Liebe ihre Bestimmung noch nicht erreicht hat. Leere des Herzens, undeutliche Ahndungen, unbestimmte Wünsche nach Ergänzung seines Wesens treiben ihn auf: er sucht er verwickelt sich in Schlingen, die Eitelkeit und Sinne seiner Unerfahrenheit legen. Aber sein edler Geist erkennt die Verirrung: er reißt sich los, und kehrt zu sich selbst zurück. – Zu sich selbst? Ach! was ist er ohne jene Anhänglichkeit an einem Wesen außer ihm, wozu das Bedürfniß mit ihm geboren wurde; ohne jene Energie eines gespannten Zustandes, an deren Gefühl seine Seele gewöhnt ist! Er wirft sich in die Arme eigennütziger Leidenschaften: Ehrgeitz soll forthin sein ganzes Wesen ausfüllen. Umsonst! Bald erblickt er sich mit Schrecken unter dem Bilde des selbstsüchtigsten Wesens; er schaudert vor dem Spalt zurück, der ihn von Natur und Menschen trennt, und sehnt sich nach dem matten Scheine des Glücks, der die vorigen Irrungen seines Herzens begleitete. Er will dieß mit seiner Vernunft, mit der Wirklichkeit vereinigen; er verlacht die Ideale seiner Jugend, er verwechselt den Trieb nach Häuslichkeit und Sinnlichkeit mit Liebe, und hängt sich, um an Etwas zu hangen, an ein harmloses Geschöpf, das jene Triebe begünstigt. Nicht lange, so führen ihn Langeweile, wehmüthiges Trauern über den Abstand von dem verbündeten, aber nicht mit ihm vereinigten Wesen, Gefühl einer zwangvollen, immer herabsinkenden Lage, mit der verglichen seine vorige [261] Einsamkeit ihm noch erträglich dünkt, an den Rand der Verzweiflung. Jetzt tritt sein guter Genius hinzu! Er zeigt ihm das Wesen, bestimmt das seinige zu ergänzen, und eine neue Schöpfung hellt sich vor seinen Augen auf: ein neues Leben durchdringt ihn, er glaubt wieder an Liebe, er glaubt wieder an Adel und Schönheit! O Mutter Natur, du sammelst den Verlornen zu deinen Kindern!

Wie fühlt er sich nun so ausgefüllt, so verwandt, so genügend mit allem, so muthig, so vertrauend zu andern und sich selbst! Welche erhöhete Beweglichkeit und Reitzbarkeit in jeder Muskel und in jedem Nerven. Welche verjüngte Animalität in dem schneller kreisenden Blute! Welcher Reichthum von Bildern in der gespannten Phantasie! Welcher Scharfsinn in dem verfeinerten Geiste! Und vor allen welche Fülle des wieder erweiterten Herzens!

Zwar hat dieser Zustand auch seine Ungewißheiten, seine Bekümmernisse, seine Niedergeschlagenheit, seine Ermattung. Aber sie wechseln mit sanftem Genügen an kleinen Vortheilen, mit hoher Entzückung über einen Gewinn, der wichtige Aussichten eröffnet, mit Träumen künftiger ganz ungemischter Seligkeit; und eben dieser Wechsel von Furcht und Hoffnung, von Versagung und Genuß, von Bedürfniß und Wonne, erhöht den Reitz der Situation des Liebenden. Eine süße Schwermuth, Folge des Gefühls unserer Abhängigkeit von dem geliebten und noch nicht gewonnenen Wesen, in welchem wir uns selbst mit der ganzen Welt um uns her verlieren, gesellet sich zu jener rastlosen Thätigkeit, die den Geist so angenehm beschäftigt, wenn er das allmählige Fortrücken seiner Plane bewacht, und jene Schwierigkeiten überwindet, [262] die sich ihm bey der Eroberung eines Herzens, an dessen endlichem Besitz er nicht verzweifelt, entgegensetzen!

So führt schon die einseitige Liebe ihre großen Süßigkeiten mit sich, und es giebt viele Menschen, welche die Periode der Bewerbung für die glücklichste in der Liebe halten. O ihr Egoisten! wie verkennt ihr das Wesen dieser Liebe und die höheren Freuden, welche die Vereinigung der Herzen mit sich führt. Dieser Zustand von Spannung und Erhöhung eurer Kräfte ist Anfang des Verhältnisses, worunter die zusammengesetzte Person erscheint, ist Theil ihres Ganzen, und in so fern gehört er mit zur Liebe, in so fern wird euch dessen Genuß gegönnt. Aber glaubt nicht, daß er unbedingte Folge der Liebe sey; die eigennützigste Leidenschaft kann ihn mit sich führen! Glaubt nicht, daß er der süßeste Genuß sey, den sie darbiethet! Für denjenigen, der wahrhaft liebt, ist die Gewißheit gelungener Vereinigung der Herzen ganz anders reitzend, als das Gefühl des Nachstrebens! Sucht ihn daher nicht willkührlich zu verlängern, diesen Zustand, durch Hindernisse, die ihr der Vereinigung selbst in den Weg legt, euch in der edlen Bestimmung gemeinschaftlich glücklich zu seyn, aufzuhalten, und durch eine Unruhe, die euch einseitig angenehm ist, die Ruhe der Geliebten zu stören! In diesen Irrthum sind viele Schwärmer gefallen; diesen Fehler begehen viele müssige Intriguanten. Aber Liebe ist mehr wie eine Belustigung, wie ein Spiel, das mit dem Bekenntniß der Gegenliebe endigt; mehr wie ein schaler Roman, dessen Interesse hinschwindet, sobald die Hindernisse überstiegen sind, welche die Herzen der Liebenden trennen!

[263] Du, den das Schicksal ohne dein Verschulden länger in dieser gespannten Bestrebung erhält, such ihr eine edle und schöne Richtung zu geben! Fühle dich dadurch gestärkter zu großen Gesinnungen und Thaten, erweichter für die Eindrücke allgemeiner Menschenliebe! Laß die Welt um dich her in schönerer Gestalt erscheinen, laß jedes deiner Werke, deiner Worte, deiner Handlungen von dem Geiste athmen, den nur die Liebe zu einem edlen Gegenstande, und der Wunsch seiner würdig zu seyn, ihnen einhauchen kann. Dann wirst du dich mit Rousseau über dein niedriges Selbst heben; dann wirst du mit Petrarca in den Blüthen der Bäume Liebesgötter flattern, in deiner Geliebten das Ideal weiblicher Sittlichkeit und Anmuth sehen, und mit Plato, Raphael und Milton dich zu dem Urbilde der Schönheit hinauf schwingen! Dein Beyspiel wird die Geliebte zur Tugend entflammen, und zu einer Zeit, worin sie noch nicht das Glück der Liebe mit dir theilt, wirst du bereits durch die erweckten Gefühle der Achtung und Nacheiferung ihr ein hohes Gut und einen süßen Genuß bereiten.


Drittes Kapitel.
Erstes Ausfinden der Gegenliebe.

Herder sagt: den höchsten Grad der Entzückung in der Liebe suche ich in dem ersten glücklichen Finden, in dem über alle Beschreibung glücklichen Augenblicke, in dem die Geliebten gewahr werden, daß sie sich lieben!

Freylich ein hoher Grad der Entzückung, ein ewig merkwürdiger Augenblick! Aber warum der höchste Grad, [264] warum der einzige Moment in der Liebe, dessen Glück unbeschreiblich wäre? Ach! Vollständigkeit und immer wachsende Sicherheit des Bewußtseyns, daß wir geliebt werden, sind der Neuheit wohl werth! Welche Wonne, sich nach unzähligen Beweisen immer bey dem letzten sagen zu können: so ward ich noch nicht geliebt, ich werde ewig geliebt bleiben!

Und wenn nur die Entzückung über dieß erste Ausfinden der Gegenliebe wirklich immer der Liebe, nicht so oft der befriedigten Eitelkeit gehörte! O Weiber, harmlose Opfer der Ränke ausgelernter Verführer, wie geb’ ich euch die Kennzeichen an, welche den Uebermuth des Siegers von der Freude des erhörten Liebenden unterscheiden? Jener denkt nur an die Verherrlichung seines Triumpfs; er schont nicht eurer Zartheit, achtet nicht der innern Bedenklichkeiten, der Selbstüberwindung, die euch das Geständniß kostet, daß ihr überwunden seyd. Sein Auge funkelt von Selbstgefühl und Anmaßung, seine Gestalt hebt sich und schauet auf euch herab, wie auf eine schwer errungene Beute. Seine Wonne an dem gegenwärtigen Gewinn ist vorübergehend; neue Forderungen nach vollständigeren Beweisen eurer Gunst folgen bald auf den Schein der Befriedigung. Aber der wahrhaft Liebende, mehr bekümmert um euer Wohl als um sein eigenes, theilt mitten in seiner Entzückung die Mühe, die euch euer Bekenntniß kostet. Er weiß, wie viel ihr über eure Schamhaftigkeit gewinnen müßt, ehe ihr es gestehen könnt, daß ihr liebt. Er weiß es, daß das edle Weib dadurch einen Vertrag eingeht, den es sein ganzes Leben hindurch nicht wieder brechen wird, und wobey es gemeiniglich mehr giebt und einbüßt, als es wieder erhält. Er fühlt weit weniger die [265] Rechte, die er dadurch bekommt, als die Verbindlichkeit, die ihm aufgelegt wird. Glücklich soll er machen; von ihm will man das Schicksal des ganzen künftigen Lebens erwarten! Wird er es machen, wird er es geben können? Diese Besorgniß mischt sich in seine Freude. Darum erniedrigt er sich selbst in dem Augenblicke seiner Erhöhung. Er läßt der Geliebten das beglückende Geständniß nicht vollenden. Das Verhüllen des Hauptes, der Druck der Hand, der gepreßte Seufzer, die der Rede vorangehen, sind ihm genug. Er stürzt zu ihren Füßen, er verbirgt sein Antlitz in ihrem Schooße, und Thränen, Thränen der Freude, des Antheils und der Bekümmerniß verkündigen in ihm das Gefühl des feyerlichen, wichtigen Moments, der über Glück und Unglück des Lebens entscheidet!

O Sinn für Wahrheit, Adel und Schönheit! Wie unmittelbar steht dieser Augenblick unter deiner Obhut und Leitung! Bey dem Liebhaber, bey der Geliebten! Wie viel kann auch diese letzte davon in ihr Bekenntniß legen!

Wenn das wonnevolle Bestreben, den Liebenden zu beglücken, sich unverdächtig ankündigt; wenn das Hinreißende, alles Ueberwindende, alles Aufopfernde dieses Bestrebens ohne Zweydeutigkeit und Ziererey aus dem Betragen der Geliebten hervorleuchtet; wenn dieß Betragen Achtung für die sittliche Würde der vereinigten Person verräth; wenn die Form reitzend erscheint; dann ist das Geständniß der Gegenliebe wahr, edel und schön!

Sophie, arm und ohne Vermögen, geliebt von einem Manne, der bey einem sparsamen Einkommen in der Verbindung mit ihr seinen Zustand verschlimmern [266] würde, hält mit dem Bekenntnisse ihrer Gegenliebe zurück, um seiner Leidenschaft keine neue Nahrung zu geben. Sie wird reich, und der erste Gebrauch den sie von der Verbesserung ihrer Lage macht, ist der, dem Liebenden ihr Herz und ihre Hand anzubieten. Dieß Geständniß der Liebe ist wahr und zweckmäßig.

Louise hat lange heimlich geliebt, aber die Ueberzeugung, daß ihre Eltern ihre Empfindungen mißbilligen würden, hält ihre Aeußerungen zurück. Ihr Geliebter wird von seinem Nebenbuhler beleidigt; es geschieht vor ihren Augen, in Gegenwart ihrer Eltern und anderer angesehenen Personen. Die Entzweyeten wollen sich entfernen, um ihren Streit mit den Waffen zu endigen. Die Liebe bricht durch. Schont seines Lebens, ruft sie, das meinige hängt daran! Auch hier äußert sich die Liebe wahr und zweckmäßig.

Nehmt eine andere Liebende, die sich gleichfalls noch nicht erklärt hat, in eben der Abhängigkeit von äußern Verhältnissen steht! In ihrer Nachbarschaft, vor ihren Augen geräth ein Haus in Brand. Der untere Theil ist von der Flamme ergriffen, aus dem obern Stockwerke strecken Unglückliche ihre Arme nach Hülfe aus, und schreyen ängstlich um Rettung. Die Liebende sieht um sich her, ob sich kein Retter finde, und erblickt den Geliebten, der sich unaufgefordert durch die Flammen stürzt. Sie unterdrückt die Stimme, die ihn aufhalten könnte, aber eine Ohnmacht verkündigt ihre Besorgnisse. Als sie daraus erwacht, stellt ihr der edle Geliebte die geretteten Unglücklichen vor. Sie stürzt vor aller Augen an seinen Hals. Ich darf dich lieben, ruft sie; meine Liebe ist mein Stolz! So zeigt sich die Gegenliebe edel in ihrem Geständnisse!

[267] Wie edel zeigt sie sich noch in jenem Bekenntnisse das Julie that, als sie ihr Herz mit ihrer Unschuld in St. Preux Hände gab, und von seiner Großmuth, von seiner Tugend, von seinem Ehrgefühle Schutz gegen ihre eigene Schwäche erwartete! Ich weiß es, schrieb sie ihm, ich brauchte mich nur mit einiger Klugheit verächtlich zu machen, um dich zu beherrschen. Freund! ich überlasse sie dir, diese eitle Oberherrschaft: laß mir dagegen das Gefühl meiner Unschuld! Ich will lieber deine Sklavin mit reinem Herzen seyn, als deine Abhängigkeit mit dem Verlust meiner Ehre erkaufen!

Der Reitz, den das Geständniß der Gegenliebe durch die Form der Einkleidung erhalten kann, ist von der Wahrheit und dem Adel ihres innern Gehalts verschieden. Sie ist schön, diese Einkleidung, wenn sie dem niedern Beschauungshange schmeichelt; sie ist ästhetisch schön, wenn dieß unter Leitung der Gesetze des Verstandes und der Vernunft geschieht.

Die Naivität, mit der ein unbefangenes Mädchen dem schönen Jünglinge, der ihm gefällt, bey der ersten Zusammenkunft sein Herz anträgt, kann, unterstützt von Anmuth der Gestalt, des Tons und der Geberden, auf unsere Phantasie und unser Auge wohlgefällig wirken. So schauen wir das Geständniß einer Gurli in der Indianerin in London mit Vergnügen an. So kann eine Zelie, in der Entfernung von allen Mannspersonen, außer ihrem Wohlthäter, erzogen, in dem Gesellschaftstheater der Marquise de Genlis, schön erscheinen, wenn sie mit der Stärke der Leidenschaft diesem Wohlthäter bloße Freundschaft zu bezeugen glaubt. So können die Babets, Annetten und Agnesen auf unsern niedern Beschauungshang angenehm wirken, wenn wir uns gleich bey einiger Prüfung [268] sagen, daß diese Zeichen innerer Empfindungen unwahr und untüchtig an sich selbst sind, und nur auf Albernheit und Ziererey zurückweisen. Crebillon will die unschuldige Zeneis schildern. Ihr Liebhaber wirft ihr vor: daß wenn sie ihn liebte, sie nicht suchen würde, der Einsamkeit, worin sie sich zusammen befanden, zu entfliehen; daß sie nur besorgt für Störung seyn würde. Ach! wer sagt Ihnen denn, antwortet Zeneis, daß ich etwas anders fürchte! Wer wird bey einigem Nachdenken in dieser vermeinten Naivität den decenten Witz einer ausgelernten Buhlerin verkennen?

Jene hochherzigen Weiber in den Romanen eines d’Urfe und Scüdery, jene Heldinnen in den Trauerspielen des Corneille, glauben sich durch das Geständniß ihrer Liebe etwas gegen den Liebhaber zu vergeben, und verfahren dabey wie Renomisten, die sich bey einem Ehrenhandel in Vortheil zu setzen suchen. Demungeachtet reitzen sie durch den Schein des Erhabenen. Sylvander in der Asträa will sein Leben aufopfern, um die Freundin seiner Geliebten zu retten. Schonen Sie ihres Lebens, sagt die stolze Phylis, und wissen Sie, daß ich Sie nicht hasse! Wie unwahr! und dennoch liegt etwas Reitzendes für den Beschauungshang in der Einkleidung dieses Geständnisses, vorzüglich wenn wir es aus dem Munde einer Juno, und von ihrem Anstande begleitet denken!

Welch ein ganz anderes Bild für Phantasie und Auge liefert die Oper le Magnifique. Der Liebhaber liegt auf den Knieen vor der Geliebten. Bewacht von einem eifersüchtigen Vormunde darf diese sich nicht durch Worte erklären. Aber sie hält eine Rose in ihren Händen, und der Liebhaber will in dem Falle der Blume das Zeichen seines Glücks und der Ergebung ihres Herzens erkennen. [269] Lange bleibt die Rose bey allem Flehen des Liebhabers unbeweglich; jetzt fängt sie an in der zitternden Hand zu wanken; sie sinkt, sie hebt sich wieder auf, aber endlich fällt sie nieder! Wie anziehend diese Blume, dieses durch Liebe belebte Wesen! Und zugleich wie bestimmt, wie zusammenhängend, wie innerlich wohlgeordnet, wie angemessen zu den äußern Verhältnissen dieß Zeichen einer innern Empfindung! Welch ein schönes Ganze, als bloße Form betrachtet!

Deutlicher auf Liebe zurückweisend erscheint eben diese Form in der Erzählung von Marmontel, le Connoisseur. Celicour steht bey Agathen, als ein Feuerwerk vor dem Hause ihres Onkles abgebrant wird, an der Oeffnung eines Fensters. Die übrige Gesellschaft, aufmerksam auf das Schauspiel, bemerkt nicht unser Paar. Seine Hand findet die ihrige, und sein Zittern verräth die Bewegung, welche die zufällige Berührung in ihm hervorbringt. Sie will ihre Hand zurückziehen, er wagt es sie aufzuhalten. Ihre Augen begegnen sich; die seinigen bitten um Gnade. Sie fühlt, daß sie ihm wehe thun wird, wenn sie ihren Entschluß ausführt, und läßt ihre Hand liegen. Aber sie ist geschlossen, diese Hand; Celicour darf sie nach und nach entfalten, er darf sie zärtlich drücken; Sie erwiedert nicht den Druck, aber sie leidet ihn, und der Liebende, dreister nach dieser Gefälligkeit, zieht die geliebte Hand an sich. Er beugt ihr seine Brust entgegen, er führt sie an sein Herz! Nun will sie entwischen, aber er hält sie so lange gefangen, bis das schüchterne Wesen das Klopfen seines Herzens fühlt. O der magnetischen Kraft! o des Triumpfs! des Entzückens! Celicour braucht nicht mehr diese Hand anzudrücken; sie bietet sich selbst spähend seinen Herzschlägen entgegen! Ihre Blicke schmelzen [270] schmachtend in einander, und legen das rührendste Bekenntniß ihrer gelungenen Vereinigung ab. Doch nun geht ein großer Kranz von Raketen in die Luft und das Feuerwerk naht sich seinem Ende. Während daß alles um sie her die Pracht des Schauspiels bewundert, drückt Agathe noch einmahl stärker ihre Hand an das Herz des Geliebten, und ein brennender Seufzer, in dem sie beyde zusammen treffen, verkündigt ihren Schmerz über die zu frühe Trennung.

Ich will die Gemählde nicht weiter häufen. Leset die Darstellung einer Gabrielle de Vergy, einer Prinzessin von Cleve, und jene nicht genug gekannte Episode der Liebe des Brutus zur Lucretia in der Clelie, um zu fühlen, wie der Ausdruck erhabener Liebe durch die Einkleidung ihres Geständnisses gehoben werden könne.


Viertes Kapitel.
Genuß physischer Gegenwart.

Ihr Glücklichen! Ihr wißt nun, daß ihr euch wechselseitig liebt! Neue Wünsche, neue Wonne, neues Bedürfniß, neue Befriedigung heben für euch an!

Ihr strebt nach der sinnlichsten und ununterbrochensten Ueberzeugung, daß eure Wesen vereinigt sind, daß zwey Menschen, die gewaltsam getrennt waren, jetzt zu einer Person zusammengesetzt sind! Das sucht ihr euch wechselseitig anhaltend zu bezeugen? Ja, aber nicht mit der Anmaßung, es deutlich zu machen. Es bricht durch, es geschieht, ohne es zu wollen, zum Theil ohne es zu wissen.

[271] Willst du das eitle gefallsüchtige Wesen, das Wesen, dem mehr an Beschäftigung als an Ausfüllung seines Herzens gelegen ist, von dem zärtlich liebenden unterscheiden, so prüfe sein Betragen in denjenigen Augenblicken, worin es sicher zu seyn glaubt nicht von dir bemerkt zu werden. Ueberrasche es da, wo es auf sich selbst nicht achtet, sein äußeres Betragen nicht bewacht! Ja, sieh nicht auf die einzelne Handlung, sieh auf das Betragen im Ganzen. Der unwillkührliche, anhaltende, stets rege Wunsch, sich mit dir in Vereinigung zu denken, das Streben nach Zusammensetzung der Personen, das sich oft unverdächtiger in Kleinigkeiten als bey wichtigen Vorfällen äußert, das bürgt allein für die Wahrheit der Gegenliebe. Alle andere Beweise sind unzuverlässig, sind trüglich. Die Kunst macht sie alle nach, und wenn du gar eine Ziererey bemerkst, diese Beweise recht auffallend für dich und andere zu geben, so sey sicher, daß das Herz kalt und ungerührt ist. Ich habe eine Dame gekannt, die in der Gesellschaft mit mehreren Personen zuweilen mit einer Art konvulsivischer Zuckung nach dem Gewande oder nach der Hand des Geliebten griff, und dann mit der Anmaßung, bemerkt werden zu wollen, um sich her sah. Der Sinn des Wahren ward dadurch eben so beleidigt, als der Sinn des Schönen.

Der erste Genuß, dem die Vereinigung der Herzen nachstrebt, ist das Gefühl physischer Gegenwart. Unerklärbar für jeden, unbegreiflich und lächerlich für alle, die nicht lieben, ist diese Begierde, sich zu sehen, und zusammen zu seyn, welche Liebende auszeichnet. Wo sie dieser Gegenwart nicht wirklich theilhaftig werden können, da symbolisieren, da allegorisieren sie diese durch Bilder, die oft nur ihnen verständlich seyn können. Seht, [272] der Mensch, der sich der Geliebten zuletzt genähert hat, ist ein Auserwählter, der des Anblicks einer Gottheit theilhaftig wurde! das Gewand, das sie abgelegt hat, ist die Relique einer Heiligen. Die Locke von ihrem Haupte ist ein Theil ihres Wesens; das Licht das sie umscheint, die Luft die sie einathmet, das Zimmer, die Stadt die sie umgeben, die Wege die dahin führen, alles das sind Theile von ihrem Selbst! Nach dem Grade der Annäherung zu der Person der Geliebten mißt der Liebende alle Formen. Ist er mit ihr unter einem Dache, so fühlt er sich glücklicher, als wenn nur die nehmlichen Stadtmauern ihn mit ihr umschließen, und muß er auch aus diesen weichen, so fängt die ganze Schreckniß der Einöde erst da an, wo er die Thurmspitze ihres Wohnorts aus dem Gesichte verliert. Was liegt dabey zum Grunde? Was anders, als daß die Liebenden sich besitzen, die sinnlichste Ueberzeugung empfinden wollen, daß ihr ganzes Wesen, daß alle ihre Verhältnisse möglichst vereinigt sind!

Wo dieser Trieb nach physischer Gegenwart, dieser Geschmack an Symbolisierung der geliebten Person bey den entferntesten Veranlassungen nicht vorhanden sind, da ist auch keine warme Zärtlichkeit, und am wenigsten leidenschaftliche Liebe vorhanden. Diese suchen ihren Gegenstand auf, auch da, wo sie sicher sind ihn nicht zu finden. Wer vor der Wohnung der Geliebten, die sie längst verlassen hat, vorbeygehen kann, ohne einen Blick, ohne einen Seufzer nach den öden Fenstern hinauf zu schicken, der liebt nicht die Person, der liebt nur das Verhältniß, worin er mit ihr steht.

Rousseau läßt seine Julie ausrufen: welch ein trauriger Zufluchtsort für zwey Liebende, der einer [273] Assemblee! Welche Qual, sich vor lästigen Zeugen unter unaufhörlichem Zwange zu sehen! Dafür besser der Gegenwart ganz entbehren!

Ach! das ist die Sprache des Unmuths solcher Liebenden, die sich in ungestörten Zusammenkünften vereinigen. Aber für denjenigen, der kein anderes Mittel kennt, der Gegenwart der Geliebten froh zu werden, für den bleibt die zwangvolleste Zusammenkunft noch immer Bedürfniß und Genuß! dem werden die langweiligsten Gesellschaften, der unbedeutendste Zeitvertreib unterhaltend durch die Annäherung an die Hälfte seines Wesens! Eine Luft mit ihr einzuathmen, ihre Gestalt zu erblicken, den Ton ihrer Stimme zu hören; das ist mehr, als alle Einbildungskraft zu geben vermag! Aber freylich nur für das Herz! Der begeisterte Egoist ist glücklicher in der Einsamkeit mit seinen Bildern.

Aber soll die Liebe in diesem Streben nach Vereinigung wahr und tüchtig erscheinen, o so verwechsele sie es nicht mit jenem Instinkt, der auch Thiere antreibt, sich einander aufzusuchen, unbekümmert um das Wohl des Gefährten! Liebe strebt nach Ueberzeugung, daß der Geliebte sich glücklich fühle. Sie beseelte eine Briseis, die als Sklavin ihrem Geliebten in den Krieg folgen wollte, ihn vor Gefahren zu warnen, seinen Schweiß zu trocknen, ihm jede Wartung und Pflege zu beweisen; sie war aber jener Laodomeja fremd, die den Protesilaus bat, sich durch Flucht aus der Schlacht zu entehren, um sich nur an seiner Seite zu fühlen!

Wo die physische Gegenwart auf Kosten der Ruhe und des Glücks des Geliebten erkauft werden muß, da unterdrückt sie diesen Trieb, und giebt durch Entfernung den größten Beweis ihres Daseyns und ihrer Wirksamkeit! [274] So fleht Hero ihren Leander bey aller Ungeduld, die sie ihn zu sehen empfindet, daß er zurückbleibe, und sein Leben nicht in Gefahr setze. So trennt sich St. Preux von Julien, um die Ruhe ihres Gewissens wieder herzustellen! So fliehst du, edle Gabrielle, deinen Coucy, um dich und ihn ferner zu achten!

Es giebt ein Bestreben nach Annäherung, das zu gesucht ist, als daß es wahr und zweckmäßig seyn könnte. Beyspiele davon liefern viele Sonnette des Petrarca, denen man nicht so wohl wahre Darstellung eines leidenschaftlichen Zustandes, als den des liebenden Strebens nach Vereinigung mit der Person der Geliebten absprechen darf. Wenn er sich über den Tod seiner Laura freuet, weil er sie nun unter den Sternen sieht, wer erkennt hierin nicht den Dichter der in sein Ideal verliebt ist! Mehrere Gleichnisse und Beziehungen beym Ovid, die gleichfalls jenen Trieb nach physischer Annäherung ausdrücken sollen, verrathen mehr Witz als Empfindung.

Je zusammenhängender, je bestimmter, je wohlgeordneter und angemessener das liebende Streben nach Zusammenseyn sich ankündigt, je mehr es mit sich selbst übereinstimmt, um desto mehr paßt das Bild der Vollkommenheit auf dessen innern Gehalt. Welch ein Opfer bringt nicht St. Preux, der von Paris nach Vevay eilt, seine Julie, die an Blattern krank darnieder liegt, zu sehen, durch seinen Anblick vielleicht ihr Leiden zu mildern, und der sich selbst der Gefahr der Ansteckung und des Todes aussetzt!

Oft besteht aber diese Vollkommenheit nicht mit den Forderungen, die unser Edelsinn an diese Proben der Liebe macht, die Liebe ist dann nur vollkommen in ihrer Art. Es ist vielleicht ein eben so großes Opfer, als [275] dasjenige, was St. Preux seiner Julie brachte, wenn der Mann mit Anlagen geboren, seine Zeitgenossen aufzuklären und seinem Vaterlande zu dienen, seine schönste Zeit verschwendet, um unter den Augen beschwerlicher Zeugen, bey dem langweiligsten Zeitvertreibe, die Geliebte mit seiner Gegenwart zu erfreuen! Aber kann unser Edelsinn dieß billigen? Es mag immer in dem unthätigen, und wenn ich den Ausdruck brauchen darf, dummen Beyeinanderseyn ein Reitz liegen, der dadurch geheiligt wird, daß er die vereinte Person beglückt. Aber edel erscheint doch nur derjenige Trieb nach Annäherung, dessen Befriedigung nicht auf Kosten unserer Würde, als vernünftiger Wesen erkauft wird, und am edelsten erscheint er dann, wenn er Ermunterung, Stärke, Belohnung für jede gute That[WS 1] in den Anblick des geliebten Gegenstandes sucht, und der Liebende sich nicht bloß behaglicher, sondern auch besser an der Seite derjenigen fühlt, die ihm das versinnlichte Bild der Tugend auf dieser Erde darstellt. So sehnte sich Heloise nach ihrem Abelard, um von seiner Gegenwart Stärkung in ihrem strengen Berufe zu erhalten.

Auch der Sinn des Schönen muß über den Aeußerungen dieses Triebes nach Vergegenwärtigung des Geliebten wachen. Es giebt Formen desselben die ekelhaft, es giebt andere, die ärmlich, albern, bey der Beschauung erscheinen. Rousseau ißt mit Madame von Warens. In dem Augenblicke, wo sie bereits einen Bissen im Munde hat, ruft er, er sähe ein Haar daran, und sie läßt ihn fallen. Er wirft sich darauf und verschlingt ihn. Das Bild ist widrig, wenn es gleich als Symbol der Vereinigung wahr und tüchtig ist.

[276] In einem neueren Romane erscheint ein Liebhaber, der mit keinem andern Messer essen will, als mit dem Taschenmesser seiner Geliebten. Das Bild ist wahr, aber es ist von der Vorstellung einer kindischen Denkungsart unzertrennlich.


Fünftes Kapitel.
Genuß der Vereinigung durch bloße Ideen.

Oft sind die Geliebten weit von einander entfernt; Schicksal oder Menschen haben sie getrennt, haben ihnen alles entrissen, was ihre wechselseitige Gegenwart versinnlichen könnte; dennoch sind sie bey einander.

Kurzsichtige, ohnmächtige Gebieter der Herzen! vergebens strebt ihr durch Entfernung der Oerter, durch Wächter und Riegel zwey vereinigte Wesen aus einander zu reißen! Welchen Winkel der Erde könnt ihr so verborgen wählen, den nicht die Phantasie des Liebhabers ausfände! Welches Behältniß könnt ihr so hermetisch versiegeln, wo hinein nicht das Bild des Geliebten, und die Ueberzeugung von seiner Treue und Würdigkeit dränge! Nehmt den Liebenden alles, ihr nehmt ihnen nicht die Erinnerung, nicht die Phantasie, nicht den Stolz auf sich selbst und ihre gepaarte Person!

Hoher Genuß an sich selbst, einzige Schadloshaltung für den Verlust alles übrigen! Wie suchen dich zärtliche Herzen auf in dem Dunkel der Nacht, in den Schrecknissen der Einöde! Aber du kommst ungerufen zu ihnen, wie ein dienstfertiger Schutzgeist, spiegelst dich ihnen in beglückenden Träumen vor, und begleitest sie auf allen ihren Wegen!

[277] Glücklich derjenige, der viel von den persönlichen Verhältnissen der Geliebten weiß! Der kleinste Umstand wird zur Nahrung für das Herz. Die Bekanntschaft mit dem Wohnzimmer der Geliebten, mit ihren Beschäftigungen, mit allem was sie umgiebt, ist ein wichtigeres Eigenthum in dem Reiche der Liebe, als der Besitz einer Provinz für den Welteroberer. Hier sitzen wir neben ihr, hier stehen wir bey ihr, hier begleiten wir sie bey jeder Bewegung, hier beginnen und endigen wir mit ihr jedes Geschäft! So strebt die Seele immer nach sinnlichen Bildern persönlicher Vereinigung!

Ach! aber vor allen seyd ihr uns theuer, Bilder dessen, was wir zusammen erlebt, zusammen erfahren haben! Freude und Leid, jedes Verhältniß wird unzählige Mahl ins Gedächtniß zurückgerufen, mit täuschender Wahrheit ausgemahlt, mit Wonne und zugleich mit Schwermuth empfunden! Bald nimmt die Phantasie einen höheren Flug. In ihrem Zauberspiegel erscheint die Geliebte mit neuen nie gesehenen Reitzen; die trübe Zukunft hellt sich auf, die zusammengesetzte Person stellt sich unter den glücklichsten Verhältnissen dar; allen Hindernissen entrückt, theilen wir in seliger Träumerey Freuden, wie die vortheilhafteste Wirklichkeit sie nie darbiethen kann! So ist der liebende Mensch erhaben über Schicksal, und Natur und Gewalt anderer Menschen! Stolzer Gedanke! du vollendest die Summe unsers Glücks!

Noch einen edleren Genuß giebt es in dieser Lage, und vielleicht ist er der einzige, der wahre Liebe, das Streben, den Geliebten zu beglücken, unverdächtig verkündigt! Welch eine Mittheilung, im lauten Getön glorreicher Thaten, oder im sicheren Gelispel des stillen sich [278] nie verleugnenden Verdienstes durch Länder hin zu einander zu reden, und in dem Ruhme des würdigsten Bürgers, des sittigsten Weibes, dem vereinten Wesen das Daseyn, die Würde, das Wohl eines andern Wesens zu verkündigen, das sich zu dem allen durch Liebe und Treue gestärkt fühlt! Wie labt eine solche Nachricht, wie rechtfertigt sie unsere Wahl, wie stärkt sie unsern Vorsatz, unsere Bemühung durch fortschreitende Ausbildung unsers sittlichen Charakters des Geliebten würdig zu bleiben! Ja, dann, dann wird das Andenken an ihn ein Penat, ein Genius, für den man alles leidet, alles duldet, den man in den verwickeltsten Lagen anruft, auf den man jedes günstige Schicksal zurückführt; Leiter, Tröster, Ermunterer auf dem Pfade der Liebe und des Lebens!

Dieser Genuß, den die Liebe selbst bey der Trennung darbiethet, eingegeben von ihrer Wahrheit und Zweckmäßigkeit, durch ihren Edelsinn, kann von dem Sinn des Schönen noch geschmückt werden!

O Freundin, möchte ich es darstellen können, wie dein Geliebter an dich denkt! Noch schläft alles um mich her; ein glücklicher, aber durch die Lebendigkeit seiner Erscheinungen zu früh geendigter Traum hat mich früh von meinem Lager geweckt! daß mein Geist auf den Rosenflügeln dieses lieblichsten der Söhne des Schlafs zu dir hinüber eilen könnte! – Ich sehe dich! Noch schlummerst du, hingegossen in der Ruhe deines reinen schuldlosen Gewissens, mit allen Reitzen deiner Gestalt, und ach! mit dem Ausdrucke des liebenden Herzens, den selbst dein Schlaf nicht verleugnet! – daß mein sanfter, bescheidener Kuß dir den Traum einhauchen könnte, der mich entzückte! – Ich Glücklicher! es gelingt. Dein Busen fängt an sich mächtiger zu heben, deine Athemzüge [279] folgen sich geschwinder, du lächelst! Ha! mein Bild steht vor deiner Seele! Schon streckst du deine Arme nach mir aus, rufst meinen Nahmen, – und erwachst! – Seufzend erblickst du das Licht des anbrechenden Tages, der dich in deine Einsamkeit zurückbringt. Du schließest deine Augen noch einmahl, die geliebte Täuschung umzuholen, aber vergebens! Unfähig den Flüchtling zu erhaschen, erflehst du jetzt vom Himmel Segen für uns beyde, und erneuerst die Gelübde ewiger Liebe und Tugend! O Correggio, o Guido! Von euern Madonnen entlehne ich die Gestalt meiner betenden Geliebten! O Fielding, o Rousseau, eure Sophien erscheinen mir, wenn ich sie jetzt in der Ausübung mühsamer Pflichten, oder unterhaltender Talente sehe! Ueberall leiht ihr die Liebe neue Stärke und einen reitzenden Ausdruck! Ja, sie wähnt, mein Ohr horche auf ihren Gesang, mein Auge prüfe das Werk ihrer Nadel, meine Hand leite sie in die Hütte des Armen, den ihr Zuspruch mehr als ihre thätige Hülfe erfreut! So schmücke ich dein liebes Wesen, Freundin, und o! der seligen Zukunft, die uns wieder vereinigt! Ein goldenes Zeitalter, ein Eden, aus allem zusammengesetzt, was Natur und Kunst, was Erfahrung und Ahndung reitzendes darbiethen, bildet sich mein schaffender Genius zum Wohnort für uns beyde! Komm, komm hier in meine Arme! Ewige Huldigungen sind dir hier bereitet, unaussprechliche Lust an edler Geselligkeit, und vor allem Wonne der Liebe, ohne Furcht vor Sättigung, und ohne Besorgniß gewaltsamer Störung!

[280]
Sechstes Kapitel.
Genuß der Liebe durch schriftliche Mittheilung.

Die beste Schadloshaltung, welche die Liebe für den Verlust der persönlichen Gegenwart geben kann, ist die schriftliche Mittheilung. Man sagt, die Liebe sey es, welche die Mahlerey erfunden habe. Aber gewiß! früher als Dibutade den Schatten des nahen Geliebten abnahm, hat das Bedürfniß getrennter Liebenden eine Bilder- oder Zeichenschrift erfunden. Ja, es ist unvermeidliches Bedürfniß zu wissen und zu sagen wie wir leben, und dieß hat dem Menschen den ersten Griffel in die Hand gegeben, dieß bindet noch jetzt in jenem an Werken der bildenden Kunst so armen Orient den beredten Blumenstreuß!

Ich habe dein Bildniß, Freundin, meine Hand hat es entworfen! Kein Künstler würde es so geliefert haben, ich nahm es aus meinem Herzen! Aber ich selbst mahle dich nicht wie ich dich sehe! Der treueste Abglanz deiner Züge bleibt immer nur ein schwaches Symbol von dem Bilde, das mein Busen von dir in sich schließt! Aber ein Brief! ein Brief nach lang entbehrter Mittheilung, nach langem Harren! Wie ganz anders theuer ist der dem Herzen! Briefe leben, Briefe sprechen! Sie tragen den Ausdruck des Herzens über, sie athmen von unsern feurigen Gefühlen. Sie sagen oft mehr, als der Mund, schüchtern oder gespannt durch die Gegenwart des Geliebten, sagen kann. Sie sind ein dauernderes Monument der Liebe, als gesprochene Worte! Wie findet sich das Herz erleichtert, wenn man nur schreiben kann; oft ohne Hoffnung, daß der geliebte Gegenstand unser Geschriebenes erhalten werde. Aber wenn sie abgegangen [281] sind, diese Briefe, wie ausgefüllt fühlen wir uns durch die Hoffnung, daß sie rühren werden! Und dann die ungeduldige Erwartung, welche die Phantasie so mächtig hebt: die unaussprechliche Wonne bey dem Empfange! O wie zählen wir Tage und Stunden und Augenblicke bis zu demjenigen, der das lang ersehnte Gut unserer Rechnung nach herbeybringen wird! Er kommt, und bey dem Anblicke des wohlbekannten Siegels erfahren wir alle Symptome der Bewegung, die der Anblick der geliebten Person selbst hervorbringen würde. Wir reißen den Brief an uns, verzehren ihn, lernen ihn auswendig! Kostbare Documente unsers Glücks! unschätzbare Kleinodien unsers Stolzes! Wer kann sich von euch trennen! Wir tragen euch auf unserm Herzen, so gleichgültig euer Inhalt jedem andern scheinen mag, so gefährlich die Aufbewahrung vielleicht wirklich ist!

Briefe machen ein wesentliches Ingredienz in jeder liebenden Verbindung aus. Briefe gehören in jeden Roman. Niemand hat ihren Werth besser empfunden, als die edle aber unglückliche Heloise. O Abelard, schreibt sie, ich will deine Briefe immer bey mir tragen, ich will sie ohne Unterlaß küssen. Du sollst keine Eifersucht kennen, als diejenige, welche die Liebkosungen, die ich an sie verschwende, dir erwecken könnten! Ich kann nicht ohne Versicherung deiner Liebe leben! Schreib mir ohne Sorgfalt! Laß nur dein Herz reden! Wie leicht, wie natürlich muß dir der Ausdruck werden, daß du mich liebst!

Anders zeigt sich die Liebe in Briefen wahr, anders edel, anders schön. Die bekannten Briefe der portugiesischen Nonne sind vielleicht das Wahreste, was wir [282] in dieser Art kennen. Nichts unwahreres dagegen als die Briefe, die sich in den meisten Romanen, und besonders in denen der Mademoiselle Scuderi finden. Aber selbst in Rousseaus Heloise sind viele Briefe, besonders von Julien, die zwar durch den Ausdruck der Sittlichkeit, durch die Ermunterungen zum Guten, die sie enthalten, edel, aber als Ausdruck der Liebe unwahr sind. Sie würden dem Pädagogen besser ziemen, als dem liebenden Weibe. Unter den Heroiden des Ovid giebt es viele Briefe, die wohlgefällig durch ihre Form, aber ohne wahren und ohne edeln Gehalt sind.

Dagegen trifft man im gemeinen Leben viele Briefe an, die weder von Seiten der Sittlichkeit, noch des schönen Styls unsern Beyfall verdienen, aber durch den Ausdruck eines tief gerührten Herzens hinreißen. Und es ist unbegreiflich, wie die Leidenschaft den Menschen von den mittelmäßigsten Anlagen selbst in ihrem Style nachhilft. Daher kommt es, daß Schriftsteller, die sonst höchst mittelmäßige Produkte geliefert haben, in Werken, welche ein gerührtes Herz eingegeben hatte, sich selbst übertroffen haben. Die lettres de Babet von Boursault können zum Beweise dienen. Wie viele andere höchst berühmte Nahmen könnte ich neben diesem nennen! Wieder aber sinken geistreiche Menschen, die sonst den Styl ganz in ihrer Gewalt haben, unter sich selbst herab, wenn sie bey kaltem Herzen eine Leidenschaft in ihren Briefen heucheln!

Alles Gesuchte, alles Weithergeholte ist dem Charakter der Liebe zuwider! Aber es läßt sich bey dem wahrhaft Liebenden eine frühere Bildung denken, die sich selbst [283] im Ausdruck der höchsten Leidenschaft nicht verleugnet, und diesem Reitze leihet, die ihm der ungebildete Geist nicht zu geben vermag!


Siebentes Kapitel.
Gefahren des Genusses durch Bilder und schriftliche Mittheilung für die Liebe.

So giebt uns denn die Liebe Genuß selbst bey physischer Trennung durch Bilder und schriftliche Mittheilung! Der Reitz dieses Genusses ist an sich so hoch, so süß; – der Geist fühlt sich dabey so gespannt; – das Thierische im Menschen scheint daran so wenig Antheil zu nehmen; – das Herz ist dabey so sicher vor der Gefahr des Ueberdrusses und der verminderten Begeisterung, daß viele Menschen die Freuden der Liebe willkührlich darauf beschränken, und dasjenige, was bloß Schadloshaltung seyn sollte, für ihre höchste Wonne ansehen! Eine Dame von großem Geiste sagte mir einst: das Beste was die Liebe giebt, ist, daß man an einander denkt und an einander schreibt.

Aber wer fühlt es nicht, daß diese Beschränkung, wenn sie weder Pflicht noch Schicksal auflegt, wenn bloße Klugheit sie anräth, ein Spiel der Eitelkeit und der Phantasie, eine Befriedigung des Triebes nach Beschäftigung und Unterhaltung ist, und der Natur eben so sehr, als dem Wesen der Liebe zuwiderläuft!

[284]
Achtes Kapitel.
Genuß der Liebkosungen.

Nein, ich vereinige sie wieder die Menschen, welche die Bestimmung, ihr Glück in der Zusammensetzung ihrer Personen zu fühlen, in möglichster Ausdehnung erfahren sollen. Ich befreye sie von allem Zwange, den nicht Schicksal oder Pflicht ihnen auflegen. Sie dürfen beysammen seyn, sie dürfen zusammen leben! die äußern Umstände erlauben es und ihr Gewissen!

Ihre Freuden sind jetzt von doppelter Art: einige nimmt die Seele unmittelbar von der Seele hin: andere erhält sie mittelbar von den Körpern und den näheren und den entfernteren Verhältnissen der gepaarten Person!

Worin liegt die Seligkeit jener Augenblicke, in denen die Rede schweigt, um das wechselseitige Gefühl glücklicher Liebe durch Liebkosung sprechen zu lassen? Worin die Wonne jener stummen Entzückung, wenn Liebende, fest von einander umschlungen, von einander durchathmet, in Blicken, Händedruck, Umarmung ihre innigste und grenzenloseste Vereinigung genießen! Sie liegt, wer wird es läugnen, zum Theil in jenem sympathetischen Reitze, den sich die Körper unmittelbar durch ihre Annäherung zuführen; sie liegt aber eben so sehr in der Wonne der Seele, die in dieser Mimik das Symbol des Strebens nach Einswerden erkennt. Der Sinn des Edeln und Schönen zieht dann oft aus diesen Liebkosungen neue, nur höheren und feineren Geistern sichtbare Freuden!

Ueppigkeit, Lüsternheit, ist nicht Liebe! Welch ein Unterschied zwischen der lasciven Betastung und dem [285] treuen Druck der Zärtlichkeit! Umarme mich, und ich will dir sagen, ob Liebe, Begierde oder Kälte in deinem Busen wohnt! Unaussprechlich sind freylich diese Kennzeichen, aber nicht unbemerkbar. Herrscht zu wenig Inbrunst in der Liebkosung, so ist sie die Larve der Gleichgültigkeit; herrscht mehr Unruhe der Erwartung als Wonne an dem gegenwärtigen Symbole der Vereinigung darin, so gehört sie der Lüsternheit, und ist eine zweydeutige Probe der Liebe!

Wie abwechselnd, wie reich, wie stark kann die Bedeutung dieser Mimik werden! Der Mann sinkt zu den Füßen des Weibes und umfaßt ihre Knie. O Bild der Stärke, die gegen Zartheit geschmeidig wird! Das Weib schmiegt sich an den Geliebten, hängt an seiner Schulter, wird von ihm aufgehoben mit mächtigem Arme. O Bild der Stütze, die Zartheit bey der Stärke sucht und findet! Warum verhüllet die Liebende ihr Haupt an seinem klopfenden Busen? Hier will sich ihre Schamhaftigkeit vor ihrem Stolze bergen, hier will sie die Rechtfertigung für ihre Schwäche finden. O wie fein und wie deutlich zugleich! Sie führt die geliebte Hand an ihr Herz, tastet spähend das seinige aus, und spricht mit dieser Handlung und mit ihrem Blicke: du bist mir so viel werth, ach möchtest du mich eben so fühlen!

Wie viel wird diesem Ausdruck verziehen! Wie kann es nicht rühren, wenn die Liebende in der Höhe ihrer Entzückung die Grenzen der Schamhaftigkeit und des Anstandes beynahe überschreitend streift, und in dem Augenblicke darauf durch höheres Erröthen, durch Verhüllung des Antlitzes und strengeres Verwehren, den ganzen Adel ihrer Seele und die ganze Uebermacht ihrer Empfindungen verkündigt!

[286] Daß aber dennoch der Sinn des Edeln über diesen Ausdruck vollkommener Liebe im Ganzen wache! Hütet euch, keinen Lucretz [1] zu berechtigen, euern Liebkosungen den Vorwurf thierischer Wuth und eigennütziger Vorliebe für euer einseitiges Vergnügen zu machen. Der edlere Mensch wird auch hier aus seinem Charakter nicht heraus treten, und Wahrheit mit Würde zu vereinigen wissen! Der ernste Mann darf sich nicht wie das Kind geberden: das sanfte Weib nicht wie das muthwillige Mädchen. Förmlichkeit ist der wahren Liebe zuwider, aber eben so sehr widerspricht ihr Ausgelassenheit und Empfindeley. Harmonie, Schicklichkeit, Ordnung, Angemessenheit, Uebereinstimmung mit uns selbst, kann auch der kosende Ausdruck der Liebe zeigen.

Ach! und wenn nun gar der Sinn des Schönen hinzu tritt! Doch! um diesen befriedigt zu fühlen, müssen die Liebenden selbst Formen an sich tragen, die der sichtbaren Anmuth fähig sind. Aber wenn sie diesen Vorzug wirklich besitzen; – o! des seltenen und vielleicht einzigen Genusses in seiner Art, sich mit der Geliebten zu einer Gruppe vereinigt anzuschauen, die von des Künstlers Hand in Marmor gebildet, schon jedem fremden Zuschauer Gefühle der Schönheit einflößen würde! Und nun gar diese Gruppe lebend; – und sich selbst in dieser Gruppe; – und liebend, und wiedergeliebt! – O Gedanke ohne Ausdruck!

Doch! wo Ziererey hinzu tritt, die Anmaßung schöne Formen zu zeichnen hervorsticht, Eitelkeit überherrschend wird über Liebe; – fort mit dem widerlichen Anblick!

[287]
Neuntes Kapitel.
Der Kuß.

O Kuß, du wirst geschändet, wenn man in dir eine armselige Nachbildung des unnennbaren Genusses sucht! Du hast deinen dir eigenthümlichen Reitz; du bist eines der auffallendsten Symbole der Vereinigung der Wesen!

Doch! was kann die arme Rede sagen, deine Wollust und Wonne auszudrücken, da die sinnlichste aller Darstellungen, jene Gruppe des Alterthums, welche die Umarmung Psyche’s und Amors bildet, nur so mangelhaft an deine Freuden erinnert! Seht, wie die Liebende den Geliebten umschlingt, gleich dem Epheu, der den freundlichen Stamm umwindet, um sich nie wieder von ihm zu trennen! Seht, wie sie sich an ihm hinauf hebt, damit Herz auf Herz, Mund auf Mund passe! Seht, wie seine Rechte, verstrickt in ihre Seidenlocken, das Hinterhaupt an sich preßt, während die schmeichelnde Linke ihren zarten Kinn an den seinigen andrückt! Das, oder ungefähr das mag die Kunst des Bildners liefern! Aber ach! welche Kunst mag den Ausdruck der innern Regungen darstellen, die das ganze Wesen der Liebenden durchströmen! Nicht bloß den feinsten Geist der Animalität, mit dem ihre Körper hoch beladen sind, suchen sie einander mitzutheilen. Mehr; ihre Arme pressen aus den Körpern selbst die Seelen hervor, die getheilt zwischen Verlangen und banger Erwartung des Momentes harren, wo sie in das geliebte Wesen übergehen werden.

Schwellend und niedergedrückt von ermattender Begierde und Aengstlichkeit öffnen sich die Augenlieder halb und mühsam. Der schüchterne, wonnetrunkene [288] Augapfel verbirgt sich hinter ihrer Hülle, und eine Thräne, der Thau der Wollust und der Zärtlichkeit, schimmert auf den zitternden Wimpern. Jetzt ermannt sich die Liebende! ihr Blick, der ihre ganze Seele in sich faßt, sucht die ganze Seele des Geliebten, der ihr mit den Strahlen seines Blicks entgegenkommt, in sich aufzufangen. Aber gleich einer neuen Semele trägt sie nicht den Sonnenglanz des Gottes! Gebrochen zieht sich ihr Auge mit ihrer Seele in sich selbst zurück, und nimmt nur das Bild der Entzückung mit sich über, die sie erregt, und die sie selbst empfindet!

O! der halbgespaltenen Lippen, die sich nun an einander saugen, um auf diesem Wege den kostbaren Geist, der auf der Oeffnung des Mundes schwebt, zu empfangen! O des Einschlürfens ihres feurigen Hauches, des Auffangens ihrer brennenden Seufzer! Seele, wie hältst du deine Entkörperung aus? Körper, wie verweilst du auf dieser Stufe deines vollkommensten Zustandes? Und du Herz! wie trägst du die Fülle des gegenwärtigen Genusses, und die Ahndung eines höheren der deiner wartet!

Welch Wunder, wenn Wollüstlinge, die die höchsten Freuden der Liebe in verfeinerter Lüsternheit setzen, unter allen dem Kuß den ersten Rang eingeräumt haben! Bey ihm, sagen sie, fällt die Gefahr des Ueberdrusses weg. Unzählige Küsse folgen auf unzählige Küsse ohne Sättigung und Ermüdung! Die gegenwärtige Wollust ist mit der Ahndung einer noch höheren verknüpft, mit einer Entbehrung und Erwartung, die schon an sich Vergnügen ist, und jedes andere erhöhet und würzt. Indem der Mensch willkührlich der höchsten Stufe der Lust entsagt, fühlt er sich freyer, stolzer auf sich selbst, strebender [289] und gespannter. Ja, die Seele bleibt hier noch im Gleichgewicht mit dem Körper; sie nimmt mit ihm noch gleichen Antheil an den Freuden der Liebe; sie bewacht, sie leitet diese zu ihrem Vortheile. Einen Schritt weiter, und die Seele verliert sich im Uebermaße körperlicher Entzückung, sie theilt nicht mehr mit dem Gefährten, sie erniedrigt sich unter ihm. Psyche, das Bild der Seele durfte den Cupido nur küssend umarmen!

So räsonniert die feinere Lascivität. Aber wahre Liebe hat nur Ein Gesetz: beglücke den Geliebten! Wenn die Umarmung ihn beglückt, so umarmt sie ihn! kennt sie einen höheren Genuß für ihn, so eilt sie, ihm diesen zu geben! Wahre Liebe fürchtet keinen Ueberdruß, keine Ermattung! Sie weiß auch den unnennbaren Genuß zu veredeln, und ihn der Seele würdig zu machen!

Und wie verschieden ist nicht der Kuß, den wahre Liebe auf unsere Lippen drückt, von demjenigen, den die Lascivität, selbst die feinere, von diesen Lippen für sich hinnimmt! O Raphael, leih’ mir deinen Pinsel; ich will wahre Liebe in einer Umarmung mahlen! O Julio Romano! du sein Schüler, leih’ mir den deinigen; ich will eine andere Umarmung zum Gegenstücke mahlen, in der niemand die eigennützige Begierde verkennen soll!

Vollkommene Liebe äußert sich also schon im Kusse, den sie als Ausdruck ganz vereinigter Herzen nutzt. Der Sinn des Edeln kann ihn als Symbol der Vereinigung achtungswürdiger Wesen brauchen. Er entfernt von ihm alles, was auf den Mangel zarter sittlicher Empfindungen schließen läßt; er nutzt ihn zur Belohnung der Tugend, und zur Ermunterung in dem Kampfe gegen [290] unser niedriges Selbst! Soll ich noch hinzufügen, welche Reitze der Sinn des Schönen ihm leihen kann? Ach! seht Ciprianis Medor und Angelica an: seht an die Gruppe der Psyche und des Amors!


Zehntes Kapitel.
Der unnennbare Genuß.

Es giebt einen Genuß! Edel Liebende ahnden ihn kaum, wenn ihre Herzen zuerst nach Vereinigung streben. Sie nennen ihn nicht, wenn sie ihn ahnden! Seine Natur scheint ihnen eben so unaussprechlich als seine Freuden, und bey der Ohnmacht oder Verdorbenheit unserer Sprache würden sie ihn durch jeden Nahmen zu entheiligen glauben!

Unnennbarer Genuß! Heilige Mysterien der Natur, an die sie die Fortdauer aller Gattungen lebendiger Wesen band! Es hat Schwärmer gegeben, die sich deiner enthielten, im Wahn, du gehörtest weder der Liebe noch den edleren Menschen! Es hat Elende gegeben, welche den physischen Reitz, der dich begleitet, für das Höchste achteten, was die Liebe darbiethet! Beyde gleiche Thoren! Beyde gleich unwissende Genießer! Du bist wenig, wenn das Herz dich nicht empfängt und giebt, wenn der Sinn des Edeln und Schönen dich nicht leitet; du bist viel, sehr viel, aus jener Quelle, unter dieser Führung!

Unzählige Bande laufen hier zusammen; ich möchte sagen, alle, die sich unter Menschen denken lassen, welche freye Wahl aneinander knüpft. Schon als Symbol der innigsten Verwebung unserer Wesen, Symbol, angenommen [291] von allen Völkern, um daraus Begriffe und Gesetze herzuleiten über Besitz, Eigenthum freyer unabhängiger Menschen, Kränkung dieses Eigenthums, Ausdehnung der Bande der Blutsfreundschaft; – wie wichtig für das Herz, wie hebend für die Imagination!

Und dann wirkliche, unmittelbare Quelle so vieler glücklichen und unglücklichen Folgen nach dem Laufe der Natur, nach dem Irrgange unserer Conventionen, physisch und moralisch, für Mann und Weib! Aber besonders für das Weib, Quelle von Freuden und Schmerzen, von Ehre und Schande! Folgen, welche durch die Unbeständigkeit und Undankbarkeit der Männer noch wichtiger werden, so daß dieser Genuß, leider, oft verdient hat, der letzte genannt zu werden.

Wie viel räumt das keusche, ehrliebende Weib ein, wenn es sich zum ersten Mahle so seinem Liebhaber hingiebt! Welche Verbindlichkeiten nimmt dieser auf sich, wenn ein Herz in ihm schlägt, empfindlich für Pflicht, Rechtschaffenheit und Liebe! Verbindlichkeiten, welche oft das Ende der Liebe nicht aufhebt, und die so lange dauern als das Leben! Es ist daher die erste Vereinigung dieser Art für edle Menschen nicht so wohl eine Wonne, als eine Feyer, die ein ewiges Bündniß, am Altare der Liebe geschworen, besiegelt! Auch hat das Weib unter so vielem Kampf, Schrecken und Besorgnissen wenig oder keine Freuden, und darum ist dieser erste Genuß auch unvollständig für den Mann!

Aber wenn die Geliebte nun den Liebenden zugleich so genügsam in seinem Siege, und so bescheiden in seinem Triumpf, so froh gerührt und so schonend dankbar sieht, – dann, dann fängt er an, der hohe Genuß dieser Art! Er faßt es auf, der edel liebende, das [292] Weib seiner Wahl, seiner Wünsche, seiner Sorge, seiner langen Bewerbung; faßt es auf, drückt es an sich, und fühlt und ruft: du bist mein, und ich bin dein! mit Körper und Seele und allem was dein ist, und allem was ich habe! Wehe dem der hintergeht, der sein Glück von dem Glück des andern trennt! Er sagt’s und überzeugt, und die Geliebte vergißt nun den vorigen Kampf und die vorigen Besorgnisse, und das Mißtrauen, und stürzt, nicht mehr überwunden, nein, ausgefüllt durch Liebe, zur höchsten Entzückung in seine Arme!

Unbeschreibliches Gefühl einer so vollkommenen Zusammenwebung! Glückliche! nun ist nichts mehr an euch was ihr nicht mit und durch einander habt! Und doch, was habt ihr? Euer Herz! Dieß ist es, was ihr in dem Körper sucht und besitzet, dieß ist es, was den Genuß eurer Körper hauptsächlich schätzbar macht! Seht, wie jeder der beyden Liebenden seiner eigenen Wonne unterliegt, und doch nur des andern Wonne zu genießen, nur diese zu erhöhen sucht! Seht, wie alles das Gefühl der Schätzung und der Dankbarkeit ausdrückt, daß ihr einander so viel werth seyn könnet! Ihr Armen! ihr verliert im vereinigten Entzücken der Selbstheit, der Beschauung und der Liebe das Bewußtseyn eurer selbst! Ihr täuschet euch mit dem Bilde der Auflösung eurer einsamen Wesen und der Zusammensetzung zu einem neuen, das eure Seelen auf immer vereinigt! – Aber ach! nur auf einen Augenblick! Ihr schnellt bald in euch selbst zurück, und findet, nicht ohne Mischung von Wehmuth, nur die Körper innigst vereinigt!

Kurzsichtige! sagt darum nicht, der unnennbare Genuß sey nur ein kurzer vorübergehender Moment! Ich sage euch, er ist der Anfang einer Ewigkeit! Wie [293] vielfache Freuden führt er in seinem Gefolge! Jenes süße Versinken in dem Gefühle eines so vollkommenen Besitzes, – jene köstliche Ermattung, Folge eines theuer erkauften Sieges, – jene zärtlichen Liebkosungen, jene Herzergießungen, jene täuschende Ruhe unserer Begierden, jenes Vorgefühl einer Seligkeit ohne weitere Wünsche, unter denen das Verlangen bald mit neuer Stärke erwacht! – Nun die zitternde Wiederannäherung an die Wohlthäterin, von der man so viel empfing und noch so viel erwartet. – Endlich, o wem schwindelt nicht bey dem Gedanken! jenes erste Erwachen einer Hoffnung, daß vielleicht ein Keim zu einem Wesen, in dem beyde auf immer zusammenschmelzen, – ein ewiges Denkmahl ihrer Verbindung, – ein empfindendes, – zu unzähligen Reprodukzionen unter gleichen Freuden bestimmt, – ewige Erinnerung an eine Art von Liebe, – Gegenstand, Quelle einer andern, der elterlichen, – die oft jene aufnimmt, immer verstärkt; – Dieser Genuß sollte die Männer aus den Armen der Geliebten los winden, diese allein fester in die unsrigen einschlingen? Es ist nicht wahr! Nur dann wahr, wenn er als ein rohes Opfer auf dem Altare der irdischen Venus ohne Liebe, ohne Sinn des Edeln und Schönen dargebracht wird! Nicht aber wenn das Herz ihn darbiethet, und Venus Urania mit weiser Mäßigkeit und wahren Reitzen seine Freuden austheilt!

Inzwischen mag ich nicht leugnen, daß dieser Genuß zugleich eine der höchsten Prüfungen ist, womit die Göttin die Wahrheit und Heiligkeit der Gesinnungen ihrer angeblichen Anbeter zu erforschen strebt! Zu welchen Entdeckungen physisch und moralisch giebt er Anlaß! Wie viel glaubt man für Herz und Charakter des geliebten [294] Gegenstandes aus seinem Betragen in diesem kritischen Momente schließen zu können! Wie viel mehr aus demjenigen, der ihm vorhergeht und darauf folgt! Aus der Art des Angriffs, aus der Art wie man wehrt, aus der Art wie man noch Vieles behauptet, indem man Vieles einräumt, Vieles erspart, was man nehmen könnte, und das Abgewonnene theilt! Wie oft haben der zu leichte Sieg, oder die zu gänzliche Hingebung, die zu starke oder zu schwache Mitempfindung, erlogene Thränen, oder unanständiger Leichtsinn, Ziererey oder Ausgelassenheit den feurigen Liebhaber erkaltet! Wie oft haben auf der andern Seite Mangel an Dankbarkeit, Ausdruck des Uebermuths und Frevel in dem Manne, dem gewonnenen, aber nicht unterjochten Weibe Muth und Kräfte geliehen, die Gabe, welche nur das Herz verdient, der thierischen Begierde zu versagen!

O! Liebe zeigt sich auch wahr, auch edel, im unnennbaren Genuß! Vielleicht nirgends so deutlich als hier, Lascivität ist nicht Liebe! Der Schamvergessene liebt nicht die Person, er liebt nur das Geschlecht und sein Vergnügen. Er sieht den Theilnehmer seiner Freuden nur als ein nothwendiges Werkzeug eines einseitigen Genusses an, der durch die Mitempfindung des andern zu seinem Vortheile erhöhet wird. Selbst der feinere Egoismus, der Stolz, dem Geliebten so viel werth seyn zu können, ihm so viel Vergnügen zu geben; ein Stolz, worin feinere Wollüstlinge den ganzen Antheil setzen, den die Seele an dem unnennbaren Genuß nehmen könne; dieser Stolz gehört weder dem Herzen noch dem Edelsinn! Und wie oft artet er in eine niedrige Eitelkeit auf Vorzüge aus, deren Schätzung man dem edleren Weibe nicht zutrauen kann, ohne es zur Buhlerin zu erniedrigen! Nein, suche [295] dem Vereinigten das Gefühl zu geben, daß du nicht durch sein Geschlecht, sondern durch seine Person, und durch den Besitz seines Herzens beglückt wirst; unendlich beglückt, mehr als du je wiederbeglücken zu können glaubst! Suche ihn zu überzeugen, daß wenn du einen Werth auf dich selbst legst, du ihn in deinem Herzen findest, das besser als jedes andere das seinige zu schätzen weiß!

Der Sinn des Schönen leiht dem unnennbaren Genusse mancherley Reitze, die oft dem Herzen, oft dem Edelsinn, und oft selbst der Vollständigkeit des Vergnügens gefährlich seyn können! Vielen Menschen ist die Grazie so eigen, daß ihre Handlungen selbst in den Augenblicken, wo sie sich ganz vergessen, diese an sich tragen. Nur bey diesen mag der Sinn des Schönen mit der Liebe im Bande gehen, nur hier wird er selbst die Freuden des unnennbaren Genusses erhöhen. Aber wo Wahrheit fehlt, wo man in dem Benehmen bey einer Gelegenheit, die alle überlegte Selbstbeachtung ausschließt, die Sorge, sich schön zu zeigen, wahrnimmt, da wird alles Glück gestört!

Es ist eben so merkwürdig als traurig anzusehen, wie der Mensch, der die wahren und nahe liegenden Mittel zu seinem Glücke verkennt, auf die ausschweifendsten Verirrungen der Imagination verfällt, um den Reitz des unnennbaren Genusses immer neu und dauernd zu erhalten. Bald hat er in den abenteuerlichsten Abwechselungen der Art, ihn einzunehmen, ein Mittel gegen den Ueberdruß gesucht, bald hat er durch unvollständige Befriedigung des unnennbaren Triebes seine Lüsternheit zu verlängern, und der Abstumpfung seines Geschmacks vorzubeugen gesucht!

[296] Thor! verkenne nicht die einfachen und süßen Gesetze der Natur! Rotte sie nicht aus, jene Wärterinnen deines sinnlichen Vergnügens, Schamhaftigkeit und Achtung für deine sittliche Würde! Erschöpfe nicht durch Unmäßigkeit seine Quellen! Aber vor allen nimm und gieb nichts als Liebe!


Eilftes Kapitel.
Genuß der Beschauung körperlicher Schönheit und der Ahndung einer schönen Seele aus schönen Formen des Körpers und seiner Beywerke.

Die letzte Sprosse in der Leiter von Freuden, welche die Körper der gepaarten Person ihren Seelen zuführen, ist der Genuß, den die Beschauung der physischen Schönheit, so wie die Ahndung einer schönen Seele aus schönen Formen des Körpers und seiner Beywerke gewährt!

Ja, es giebt Augenblicke, in denen wir die Wohlgestalt des ganzen Körpers, gleich einem todten Kunstwerke, mit Wonne ohne Bestrebung und ohne Begierde, selbst während des leidenschaftlichen Verhältnisses beschauen mögen. Jene Bestimmtheit der Züge, jener leichte Zusammenhang des Umrisses, jenes Wohlverhältniß der Hauptabtheilungen des Körpers unter einander, jenes Gleichgewicht der Gliedmaßen gegen einander, jene Harmonie der Farbe und des Helldunkeln, jene Einstimmung des Ganzen mit dem Ur- oder Regelbilde seines Standes, Alters und Geschlechts, jene Angemessenheit desselben zu den Körpern, die mit ihm zusammenstehen, können, wenn Zeichnung, Farbe und Helldunkles dem Auge und dem [297] niedern Beschauungshange zugleich angenehm sind, unmittelbare Lust bey der Auffassung der Form in Ruhe erwecken.

Zunächst an diesen Genuß der Schönheit der Form des Körpers in Ruhe schließt sich der Genuß der Ahndung der schönen Seele an, die sie in sich faßt. Ich wiederhole es hier, ich werde es noch öfter sagen, es ist mehr als Vorurtheil, wenn wir aus schöner Gestalt auf einen edeln Geist schließen. Der schöne Mensch trägt einen angebornen Adel an sich, der ihm die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen sichert, leicht ein Sporn zu höherer Ausbildung werden kann, und ihm jene Zuversicht zu sich selbst erleichtert, in der, wenn sie nicht in Uebermuth ausartet, der Keim zu hohen Tugenden liegt. Vermöge des Bewußtseyns seiner Schönheit, und des Werths der darauf gelegt wird, wächst er auf mit Bildern von Vorzügen, die durch ihre Seltenheit uneigennützig gefallen; diese werden leicht zu Bildern des Vollkommenen und Edeln gehoben, und gehen dann unvermerkt in seine ganze Beurtheilungs- und Handlungsweise über. Mögen unsere Erfahrungen uns noch so oft das Gegentheil zeigen; es bleibt immer wahr, daß die Anlagen zu einer schönen Seele, bey übrigens gleichen Fähigkeiten und Verhältnissen, sich glücklicher in einen schönen als häßlichen Körper hüllen. Nur durch Verwahrlosung des Charakters wird die Wohlgestalt gefährlich: nicht anders wie Weichheit des Herzens und feurige Imagination glückliche Dispositionen zu einem edeln Geiste, aber auch gefährliche Klippen für die Tugend werden können!

So gewährt denn die Schönheit des Körpers in Ruhe feiner organisierten Seelen einen hohen Genuß; [298] theils durch sich selbst, theils als Symbol einer schönen Seele. Aber allgemeiner und auffallender ist derjenige, den die Schönheit in Bewegung mit sich führt. Der Anstand beym Einhergehen, das Spiel des Auges und aller Gesichtsmuskeln, die Bewegung der Glieder, können anmuthig durch sich selbst, und noch mehr durch den Ausdruck des Geistes werden, der sie leitet. Unsere Nerven und Muskeln theilen so gern das freye Spiel dieser Mienen und Geberden, so wie sie sich gern der leckenden Flamme, dem flatternden Segel, den schwankenden Baumästen nachbewegen. Aber wir schließen auch gern aus diesen Aeußerungen eines lebendigen und vernünftigen Wesens auf jede glückliche Anlage des Herzens, über die der Sinn des Edeln und Schönen wacht, und mit denen wir völlig sympathisieren. Diese Anmuth, dieser reitzende Ausdruck, gereichen dem Menschen, den wir zum ersten Mahle sehen, zur Empfehlung, und entschädigen oft für den Mangel an Schönheit. Selbst nach der längsten Bekanntschaft bleiben sie ein gefälliges Bild des Charakters, den wir lieben und verehren!

Alles dieß kann nun selbst der Liebende in ruhigen Momenten von dem Körperlichen der Geliebten mittelst der Contemplation hinnehmen. Mit welcher Wonne faßt er oft ihre Wohlgestalt auf! Wie gern gleitet sein Blick mit ihren Bewegungen fort! Wie süß ist es, sich zu sagen: in diesem Blicke liegt ihre Sanftmuth, in diesem Lächeln ihre himmlische Heiterkeit und Milde! In jedem ihrer Tritte und Züge, in jeder Geberde liegt das unaussprechliche Sie, das nicht uns allein wohlgefällig ist, das es jedem seyn muß der sie sieht. Und von diesem uneigennützigen Gefühle ist Begierde nach körperlicher Vereinigung, ist Stolz des Besitzes noch verschieden. [299] Selbst in Augenblicken der Erschöpfung, nach der vollkommensten Befriedigung des unnennbaren Triebes, bleibt das Wonnegefühl: sie ist so schön, so reitzend! Selbst nach dem Tode, oder in den Armen des Nebenbuhlers gesehen, muß dieß Gefühl unsern Schmerz und unsern Grimm vermehren.

Zu den körperlichen Verhältnissen der gepaarten Person gehört auch das Beywerk womit sie erscheint: das Eigenthum, was zu den Bedürfnissen, der Bequemlichkeit, der Gesundheit, so wie zum Schmuck gehört. Der Anzug, der Putz, die Wohnung, die Geräthschaften, sind als Theile des Ganzen anzusehen, welches die beyden Liebenden in ihrer Vereinigung bilden.

Sie können schön durch sich selbst seyn, diese Nebenwerke, sie können es dadurch werden, daß sie die Schönheit des Körpers, den sie umringen, heben. Wie theuer aber werden sie uns dadurch, daß ihre Wahl und Einrichtung auf Geschmack, Erfindsamkeit, und ein feines Gefühl des Sittlichen und Anständigen in dem Besitzer schließen läßt! Wie sehr beleidigt dagegen der Mangel an Nettigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit, Eleganz, in diesen Nebensachen, besonders bey dem zärteren Geschlechte, an welches wir wegen seines ihm einwohnenden Verschönerungstriebes, und seiner ihm angebornen Emsigkeit, doppelte Forderungen in dieser Rücksicht machen. Eine Frau, die kein Verhältniß in ihre Außenseite zu ihrer Lage und ihrem Charakter, keine Harmonie in das Ganze ihres Schmuckes zu bringen weiß, jeder Mode ohne Auswahl dessen, was sich für sie schickt und ihr kleidet, huldigt; eine solche Frau erweckt die größte Vermuthung wider sich, daß sie weder für Vollkommenheit und Schönheit, noch für Wahrheit und Zweckmäßigkeit [300] Sinn habe. Hingegen pauscht diejenige, welche diesen Sinn hat, kein Tuch, legt keine Falte, steckt keine Nadel, aus der er nicht hervorleuchten sollte.

In welchem erhöheten Lichte sieht nun noch der Liebende diesen Vorzug an der Hälfte seines Wesens! Nein, das Gewand der Farnesischen Flora kann den Kenner des Schönen nie so rühren, wie den Liebenden die einfache Rose entzückt, von der geschmackvollen Hand der Geliebten in das Gewebe ihrer Haare geflochten. Vor seinen Augen kann sich die Colonnade des Louvres an Wirkung nicht mit dem Blumentopfe messen, den eben jene Hand zur Vase von gefälliger Form umgeschaffen hat!


Zwölftes Kapitel.
Hieroglyphie der Liebe.

Unzählig sind die kleinen Gefälligkeiten und Aufmerksamkeiten, wodurch der Liebende das Gefühl der Wesenvereinigung auszudrücken und zu erwecken, und dadurch die unbedeutendsten Gegenstände, die alltäglichsten Vorfälle interessant zu machen weiß! Ein Genuß, der vielleicht jedem andern an Reitze beykommt, wenn er schon nicht in jedem Augenblicke mit gleicher Stärke empfunden wird. Wie süß ist es, mitten unter einem Haufen kalter Zuschauer aus Zeichen und Handlungen, die diesem ganz gewöhnlich, ganz gleichgültig scheinen, die Gewißheit zu nehmen, daß man unaussprechlich geliebt werde.

Es giebt keinen Gegenstand in der Welt, so unbeträchtlich er auch scheint, der unter den Händen der Liebe [301] nicht zum Instrumente würde, um liebliche Töne für das Herz daraus zu ziehen! Das Gefühl der Wesenvereinigung duftet uns entgegen aus jeder Blume, die das liebende Mädchen an seinen Busen steckt; es leuchtet uns entgegen aus jeder Nadel die sein Gewand heftet, oder den Bau seiner Locken fesselt!


Dreyzehntes Kapitel.
Geschwätzigkeit der Liebe.

Aber wovon reden sie denn, diese Liebenden: was haben sie sich so unaufhörlich zu sagen? Daß sie sich lieben, davon reden sie: daß sie sich lieben, das haben sie sich unaufhörlich zu sagen!

Sonderbar! Die Süßigkeit dieser Rede nimmt nie ab. Wir haben sie unzählige Mahl gehört, sie ist uns unter den feyerlichsten Betheuerungen wiederholt worden; – und dennoch bleibt unersättlich das Bedürfniß, zu fragen: liebst du mich auch? unermüdet die Geduld, zu antworten: ja, ich liebe dich! Mitten im Taumel der Liebe, mitten in ihren höchsten Entzückungen spricht unaufgefordert der Liebende: ach! wie ich dich liebe!

Aber wenn sie auch das Wort nicht sagen, so reproduciert sich doch das Geständniß und die Ueberzeugung ihrer innigsten Verwebung unter unzähligen Gestalten. Wer macht sich im ruhigen Zustande einen Begriff von der unerschöpflichen Erfindsamkeit der Liebe in dieser Sprache der Herzen! Wer von dem Reichthum der Wendungen, womit sie ein einziges, allein herrschendes Gefühl [302] ausdrückt! Die bloßen Benennungen, welche sich die Geliebten einander geben, machen ein eigenes Wörterbuch unter ihnen aus, und nicht zufrieden, aus der wirklichen Welt die Bilder ihrer Wesenverwebung zu entlehnen, eröffnet sich für sie ein neues Reich von Chimären, worin Erscheinungen, Vorgesichter und Träume der Lebhaftigkeit ihres Ausdrucks zu Hülfe kommen!

So hat jedes Symptom, das von einem innigst nach Vereinigung strebenden Herzen zeugt, ein unmittelbares Anrecht auf Wichtigkeit und Unterhaltung. Einen so umständlichen und zugleich so unterhaltenden Annalisten, als die Liebe, giebt es nicht. Sie bewahrt genau auf den glücklichen Tag, und die glückliche Stunde, und den glücklichen Ort, wo sich die Liebenden zuerst gesehen haben. Ihre Zwiste, ihre Aussöhnungen, ihre glücklichen und unglücklichen Augenblicke, sind Epoquen, Revolutionen in der wichtigsten unter allen Geschichten, in der Geschichte ihrer Herzen. Sie ist aber auch die kühnste Prophetin, diese Liebe! Welche Ahndungen, welche Erwartungen, welche Gewißheit, hat sie nicht von einer Zukunft, in der die Verbündeten ganz vereinigt jeder Störung des Schicksals, jedem Einflusse der Zeit, in ungetrübter Seligkeit trotzen werden!

Man hat Recht zu sagen, Liebe spreche immer von sich selbst! Liebe sey der größte aller Egoisten. Sie spricht von dem vereinten Selbst, sie führt alles auf das gepaarte Ich zurück.

[303]
Vierzehntes Kapitel.
Genuß der schönen Künste.

So genießt sich die Liebe selbst! So nimmt das Gefühl der Wesenverwebung von den gleichgültigsten Gegenständen Freuden ab, die kalten Zuschauern zum Theil langweilig erscheinen müssen. Aber wie sehr werden die Mittel, wodurch jene Gefühle erweckt werden und sich ausdrücken, veredelt und verschönert, wenn sie unabhängig von dem Interesse, das ihnen die Liebe gewährt, durch das genaue Verhältniß, worin sie mit unserer sittlichen Würde stehen, den höchsten Anspruch auf Unterhaltung für alle vernünftige Wesen haben.

Musen, Künste! Ihr, das Labsal und der Trost meines Lebens, ihr! denen ich die dauerndsten und reinsten Freuden meines Daseyns verdanke! Wie könnt’ ich eurer hier vergessen! Ihr leiht dem Ausdruck der Liebe den reitzendsten Schmuck, so wie sie euch vielleicht das höchste und allgemeinste Interesse leihet!

Der Tanz ist das Talent der Jugend, das beym Erwachen, beym Wachsthum und beym Genuß der Liebe von unendlicher Wichtigkeit ist. Sein Ursprung, seine geheime Bedeutung, darf bey den meisten Nationen in einer Darstellung der Liebe gesucht werden, und er erhält nach den verschiedenen Stufen der Kultur, worauf die Völker stehen, bald den Ausdruck gröberer Sinnlichkeit, bald feinerer Galanterie. Der Fondango, die Tarantela, der deutsche Tanz, die Menuet können zum Beweise dienen. Jene allmählige, wechselseitige Annäherung, jene Uebereinstimmung der Bewegungen und der Schritte, jene Verschlingung der Arme in einander, endlich jene Harmonie der Töne, die beyde führt und beseelt, welch [304] sprechendes Symbol der Sympathie der Herzen! Dieß fühlen Liebende bey ihrem Tanze. Aber unabhängig von dem Genuß des Herzens kann der edlere Ausdruck in Stellung und Geberden, und der wallende Reitz der Formen jedem kälteren Zuschauer und den Liebenden selbst, Wonne der Beschauung gewähren.

Der Triumf der Musik ist der glückliche Ausdruck der Liebe. Keine andere Kunst ist so nahe verwandt mit ihr als diese! Das Vergnügen welches der Spieler oder Sänger genießt, theilt sich unmittelbar denen mit, die seine Töne anhören, und reißt sie zu der nehmlichen Rührung hin, die ihn selbst beseelt. Keine Kunst ist daher mittheilender, keine liefert ein so auffallendes Symbol der Wesenverwebung! Nie sind wir empfänglicher für Liebe, nie fühlen wir ihre Freuden und ihre Schmerzen stärker, als beym Anhören der Musik! Und wenn nun gar eine liebende Seele diese Töne hervorruft, sie mit ihrem Ausdrucke belebt; wenn sie an den geliebten Zuhörer gerichtet werden, und dieser wohl gar mit harmonierenden Tönen, und gleichem Ausdrucke einstimmt! – O! ich behaupte es dreist, eine zärtliche Arie läßt sich vor kalten Zeugen von Liebenden nicht singen, ohne den Anstand zu beleidigen oder die Musik zu verderben. Ein Duo ist die Erfindung der Liebe, ein Vorbild der Art, wie himmlische Geister sich ihre Empfindungen mittheilen!

Poesie! Alles was Liebende sich sagen, trägt für kalte Herzen schon deinen Hauptcharakter, Begeisterung, an sich! Alle Liebenden sind mehr oder weniger Dichter! Schon bey rohen Völkern finden wir Lieder der Liebe, welche das Herz ins Interesse ziehen, und oft selbst den Sinn des Schönen befriedigen. Aber ein Gedicht ohne Declamation und Musik ist ein kalter Buchstabe der selten [305] zum Herzen dringt! Warum hat die neuere Zeit getrennt was die Natur verband, und die Alten mit Recht vereinigten? Laßt beydes im Bande gehen, und ihr werdet die Gewalt erfahren, die der Ausdruck wahrer Gefühle, durch die Reitze der Phantasie und wohlklingender Rede erhöht, über die Herzen ausübt. Sie ist so groß, daß sie selbst den Mangel körperlicher Reitze in dem Künstler ersetzen kann.

Das Talent der schönen Declamation, besonders der dramatischen, ruht unter den höheren Ständen, besonders in Deutschland, noch in seinen Windeln! Ach! wie vielfachen Genuß gewährt es der Liebe! Wie erhöht es das Gefühl jeder Art von Schönheit! Welch ein Genuß, die reitzendste Geberde, die wohlklingendste Modulation der Stimme bey dem richtigsten Verständniß des Gelesenen, und bey der wärmsten Empfindung anzutreffen! Laut aufzuschreyen bey vortrefflichen Stellen, die durch einen angemessenen Vortrag noch gehoben werden, aufzustürzen, in seine Arme fassen, – und nicht weiter lesen!

Die Ausübung der Talente, welche zur Führung einer schönen Nadel gehören, kommt dem zärteren Geschlechte zu. Aber der Mann mag mannigfaltigen Antheil daran nehmen. Der Stückrahmen ist ein Altar, auf dem der Zärtlichkeit schon manches interessante Opfer dargebracht ist. Bey jedem Faden, den das holde Weib einfädelt, erspart es sich einen Seufzer nach dem Geliebten hin. Jeder Nadelstich ist eine Pendel, welche die Zahl der Augenblicke anschlägt, die noch bis zu seiner Ankunft verfließen müssen. Er kommt! O der reitzenden Stellung und Bewegung der Arme und der Hände! O der traulichen Unterredung, wodurch die Arbeit versüßt [306] wird, die schon an sich den Reitz des Schönen mit sich führt! Aber was seh ich! Es ist das Werk der Liebe, welches unter der Hand der schönen Künstlerin entsteht! Der Blumenstrauß, den ich ihr gab, in unendlichen Windungen mit seinem Nahmen durchflochten – ein Gewebe unserer gemischten Haare – zum unnöthigen, aber doch so schätzbaren Denkmahle unserer Liebe bestimmt! – Ich vergesse, daß ich verlorne Freuden beschreibe und mein Auge füllt sich mit Thränen!

Die Mahlerey scheint dem ersten Anblick nach der Liebe nicht nahe anzugehören. Sie giebt dem Beschauer nicht in gleicher Maße mit dem Künstler Freude und Genuß. Aber die Liebe, diese allgewaltige Schöpferin, weiß auch sie zu ihrem Vortheile zu nutzen. Geht mit mir in die Villa Olgiati, in den heiligen Wohnort Raphaels und seiner Geliebten! Unter unzähligen Gestalten findet ihr dort ihr Bildniß, verwebt mit Amorinen, deren reitzende Spiele das Glück seiner Verbindung noch spätern Jahrhunderten sympathetisch verkündigen. Seht, wie Rubens von seiner Gattin bald die Formen der Venus, bald einer Madonna, die mit ihrem lieblichen Kinde koset, entlehnt! Ach! und denkt euch, daß der Liebende mahlt, und sie, die Liebende, an seiner Seite seinen Pinsel durch eine gefühlvolle Declamation aus einem Dichter begeistert! Sie vergessen die Welt um sich her, und verlieren sich in einer neuen Welt von Formen und Gedanken! Die Erfahrung einer ähnlichen Situation hat mir ehemahls oft den Pinsel aus der Hand gebracht; bey der Erinnerung lasse ich hier die Feder fallen! –

[307]
Funfzehntes Kapitel.
Fortsetzung.

Allen diesen Talenten giebt nur Eigenthümlichkeit der Erfindung, oder wenigstens des Ausdrucks, wahren und dauernden Werth. Und hier zeigt sich der große Einfluß der Liebe; Sie ersetzt oft die Originalität des Genies!

Der Liebende nimmt alles, was er giebt, aus seinem Herzen, aus seinen individuellen Verhältnissen, um es einem Herzen unter gleichen Verhältnissen zuzuführen. Er giebt sich folglich selbst in seinem Talente, und zwar nicht zur Bewunderung, sondern zur Rührung. Aber eben darum, weil er aus dem Umfange der Kunst nur dasjenige aufnimmt, worin er sich selbst wiederfindet, weil er es in der unmittelbaren Absicht anwendet, um ein Herz, das er ganz kennt, zu rühren; eben darum giebt er oft mehr als der Virtuose, der nur aus Gewinnsucht oder aus Eitelkeit, seine Talente ausübt. Der Stümper kann zuweilen im Ausdrucke der Liebe als Genie erscheinen!

Ohne diese Eigenthümlichkeit sind alle schönen Künste ein elendes Unterhaltungsmittel für Geist und Herz, wenn sie gleich mit der größten Fertigkeit ausgeübt werden. Das Angelernte, Anempfundene, setzt in Bewunderung, aber nur dasjenige, was aus uns selbst hervorgefühlt ist, rührt.

Liebe spannt die Phantasie, Liebe erhöht die Vorahndungsgabe, das Vermögen entfernte Verhältnisse an das Gegenwärtige anzuknüpfen, welche bey der Schöpfungsgabe so wichtig sind. Liebe schärft den leisen Anschlag für das Zusammenhängende, Wohlgeordnete, [308] Schickliche, worauf der Geschmack beruhet. Liebe spornt uns endlich, des Geliebten würdig zu seyn, vor seinen und anderer Augen. Liebe ist folglich eine mächtige Beförderin der Talente in jeder Rücksicht. Es ist unmöglich, daß der Dilettante, der sich nicht von Jugend auf, und ausschließlich auf eine schöne Kunst hat legen können, je in irgend einer zum Virtuosen werden möge! Aber es giebt eine Art, sich aus Liebhaberey mit den schönen Künsten zu beschäftigen, die einen Schönheitssinn verkündigt, der sich über alles verbreitet, was wir angreifen, und einen Trieb, der selbst in demjenigen, was nur zur Unterhaltung dient, nach einem gewissen Grade von Vollkommenheit strebt. Diesen Geschmack, dieß edle Streben, schärft und spornt die Liebe!


Sechzehntes Kapitel.
Genuß des Austausches der Ideen im traulichen Gespräch.

Der dauerndste Genuß, den die Liebe zur wechselseitigen Unterhaltung darbiethet, ist der Austausch der Ideen im traulichen Gespräch über alles, worüber Liebende von verschiedenem Geschlechte sich einander verstehen und begreifen mögen. Man musiciert, man zeichnet, man dichtet und tanzt sich bald müde; aber nie hört man auf, gern seine Bemerkungen zusammenzutragen, sich darüber zu erklären, ihre Richtigkeit festzusetzen. Der Stoff ist unerschöpflich, er reicht so weit, als das Gebiet des Verstandes, der Vernunft, der Imagination [309] und des Gefühls, unter gemeinschaftlichen Verhältnissen reichen kann.

Vor allen Dingen gehört hieher, was zur Menschenkenntniß und zur Philosophie des Lebens beyträgt, Beurtheilung der Charaktere, einzelner Kräfte des Menschen, seiner Pflichten, seiner Schicksale, seiner geselligen und häuslichen Verhältnisse, seiner Werke, vorzüglich in den schönen Künsten. Darüber mit Beobachtungsgeiste, Scharfsinn, Streben nach wechselseitiger Aufklärung, und besonders mit der traulichen Unbefangenheit zu räsonnieren, auf welche ganz vereinigte Herzen allein Anspruch machen können; welch ein Genuß!

Die Wahl des Stoffs kann veredelt werden, verschönert die Einkleidung. Je ausgebreiteter die Gegenstände geselliger Unterhaltung werden, je größer der Reichthum der Ideen ist, die uns zufließen, je näher sie ins Verhältniß mit allgemeiner Wahrheit und Schätzbarkeit treten, je angemessener und gefälliger der Vortrag wird, um desto befriedigender ist dieser Austausch der Ideen für den Sinn des Edeln und Schönen! Doch, darüber, und besonders über den Gewinn, den die Liebenden aus der Verschiedenheit der Geschlechter in dieser Rücksicht ziehen, mehr in dem Kapitel von der Ausbildung des Geistes.

[310]
Siebzehntes Kapitel.
Genuß der Natur und ländlicher Scenen.

Laßt Liebende aus den Mauern der Stadt in die offenen Gefilde eilen! Dort geht erst ihr wirkliches Leben an! Hier schmeicheln sie sich von der ganzen Welt vergessen zu seyn, wie sie diese vergessen. Hier schweigen alle eigennützigen Triebe, hier machen Eitelkeit, und die Lust vor andern zu glänzen, wohlwollenden Neigungen und der Liebe Platz. Hier finden sie alles gepaart, alles vereinigt, vom Thiere an bis zur Pflanze, von dem scheinbar Belebten, bis zum scheinbar Unbelebten! Aufs Land und in Gärten haben alle Dichter die Scenen glücklicher Liebe gelegt. Milton schuf für die ersten Eltern ein Paradies; Tasso zauberische Gärten für Rinald und Armiden, und Rousseau wählte die reitzenden Ufer des Genfersees zum Aufenthalt für St. Preux und Julien.

Milton, Tasso, Rousseau! Es bedarf nicht eurer Zaubergärten, eures Edens, eures Elysiums, um denen, die durch Liebe selig sind, einen angemessenen Wohnort zu bereiten! Eine reinliche Bauerhütte, eine Laube, ein Kornfeld, und darüber weg eine Aussicht auf ein Dorf, neben einem Bach und Hölzchen! Himmel, wie glücklich könnt ihr machen! Ich habe die Ufer des Rheins, der Loire, der Donau und des Genfersees befahren, ich habe den Lago maggiore und den Golfo von Neapel gesehen! Aber ich sahe sie allein, und fühlte erst an der Seite der Geliebten den ganzen Reiz der Natur in einer Heide.

O des Glücks, den geliebten Gegenstand zuerst in das Gütchen zu führen, das von unsern Voreltern auf uns vererbt, der Ort unserer Geburt und unserer Spiele [311] war! Ihm hier zu sagen: es ist wenig, aber es ist mein alles! Nimm es hin! Sey hier Herrscherin! Lange ehe du es kanntest, war es voll von dir! Lange habe ich hier um dich geweint: und dennoch hat dein Bild, das Bild des Glücks, das nun meiner wartet, diesem Orte erst seinen höchsten Reitz gegeben!


Achtzehntes Kapitel.
Genuß der Liebe von der Freundschaft.

Es ist Liebenden ein großes Bedürfniß und ein hoher Genuß, von ihrer Liebe gegen einen dritten zu sprechen, von dem sie wissen, daß er an ihren Schicksalen Theil nimmt, und in ihre Freuden und Leiden hineingeht. Ein Freund ist daher Liebenden ein höchst schätzbarer Fund! Aber freylich auch ein höchst seltener, und sein Besitz ist gewiß mit großen Gefahren umwunden.

Man pflegt zu sagen: jeder Vertraute des Liebenden sey sein Nebenbuhler. Dieß ist zu viel gesagt. Aber daß nichts sympathetischer ist, als der Anblick glücklich Liebender, um ähnliche Empfindungen in uns zu erwecken; daß diese leicht gegen die Person unsers Geschlechts Neid und Mißgunst hervorbringen; daß Männer vorzüglich es selten gleichgültig ertragen, wenn sie von dem Glück eines sehr geliebten Mannes hören; das ist gewiß, und nicht selten hat bloß darum Liebe die Freundschaft geendigt. Aber es lassen sich noch andere Ursachen angeben, warum beyde nicht immer einem und demselben Menschen zu Theil werden. Der ruhige Freund kann sich zu selten in die Lage des Verliebten, und dieser wieder [312] in die seinige versetzen. Dieser möchte von nichts als von seiner Liebe mit ihm reden; glaubt, daß ihn alles darin interessiert, und schwatzt ihm unaufhörlich von Begebenheiten vor, die jener höchst unbedeutend findet. Die Sorglosigkeit, mit der sich Liebende den Ausbrüchen ihrer Leidenschaft vor dem erprobten Freunde überlassen, ekelt diesem oft an, macht ihm Langeweile, und bringt ihn wohl gar auf den Wunsch, daß dieß Verhältniß geendigt werden möchte. Der Freund des Verliebten, vorzüglich des unruhig Verliebten, ist daher gewiß nicht der glücklichere Freund!

Unter dem zärteren Geschlechte scheint die Liebe das Band der Freundschaft weniger zu lösen. Die Freundin nimmt engeren und stärkeren Antheil an der Herzensvereinigung der Freundin, und hört gern von ihr das Detail aller glücklichen und unglücklichen Schicksale, die ihr die Liebe bereitet.

Beynahe alle Romanschreiber haben der zärteren ernsteren Liebenden eine muntere, beynahe närrische Vertrautin zugegeben, die denn natürlich auch die Freundin des Geliebten geworden ist. Ich kann mir denken, wie diese Mischung auf vielfache Art zum Glück der Verbindung ausschlagen könne; wie diese Mittelsperson durch ihre muthwilligen Neckereyen die Liebenden oft in ihren Liebkosungen stören, den Reitz ihrer Verbindung dauerhafter machen, wie sie durch ihre gutherzige Fröhlichkeit die ernstere Stimmung der Liebenden erheitern, und ihre kleinen Zwiste durch lächerliche Darstellung der Veranlassungen geschwinder endigen und seltener machen könne. Vielleicht enthält ein solches Trio die höchste Stufe glücklicher Geselligkeit.

[313]
Neunzehntes Kapitel.
Genuß größerer und kleinerer geselligen Zusammenkünfte.

Liebende suchen nicht die Freuden größerer Zusammenkünfte auf. Sie leihen nichts sagendem Geschwätz ungern ihr Ohr, noch ungerner ihre Zunge. Sie fürchten von der Menge bemerkt, belacht, durchkreuzt und gehindert zu werden! Dennoch giebt es einige Freuden für sie, die nur in Versammlung mit mehreren Menschen eingenommen werden können, und diese läßt die Liebe nicht verloren gehen.

Das Schauspiel hat den Vorzug, daß die gemeinschaftliche Unterhaltung, welche es gewährt, eine Menge von Menschen vereinigt, von denen ein Jeder, unbekümmert um den andern, für sich genießt. Unter allen Vergnügungen, welche größere Zusammenkünfte gewähren, biethet keines den Liebenden so vielen Vortheil an. Sie sehen und hören nur für sich allein.

Das Schauspiel, das Werk der Kunst, dem alle Künste zu Gebothe stehen, das sich der Wirklichkeit am meisten nähert, alle Kräfte der Seele in Bewegung setzt, ist besonders auch darum den Liebenden so wichtig und so theuer, weil sie hier ihr Verhältniß unter unzähligen Gestalten reproduciert sehen. Welch ein Glück, Hand in Hand auf die Meisterstücke der Bühne zu horchen, die Wahrheit des Ausdrucks der Liebe zugleich in den Akteurs und in den Blicken und Thränen der Geliebten zu prüfen, und gleichsam des doppelten Schauspiels, der darstellenden Kunst und ihrer wahren Wirkung auf das geliebte Wesen zu genießen.

[314] Größere Zusammenkünfte, in denen von einem jeden ein Beytrag zur gemeinschaftlichen Unterhaltung gefordert wird, haben minderen Werth für die Liebenden, und dennoch bleiben sie nicht ohne Nutzen für ihre vereinigte Person. Welche Ausbeute von Bemerkungen zur Kenntniß der Welt und der Menschen tragen sie nicht für ihre Einsamkeit daraus zusammen! Mit welcher Freude vergleichen sie nicht ihre edlere Verbindung mit jenen Verhältnissen, die gemeiniglich für Liebe in der großen Welt gehalten werden, und sagen sich: o wie lieben wir so anders! Wie freuen sie sich der Achtung, deren jeder von ihnen, und beyde in der zusammengesetzten Person, bey bloßen Bekannten genießen! Wie theuer werden ihnen die feinen Aufmerksamkeiten, die sie sich, unbemerkt von andern, auch da einander zu bezeigen wissen, wo gewöhnliche Menschen sich selbst unter Zerstreuungen vergessen!

Ruhige Liebe nimmt oft große Freude auf in jenen engeren Zirkeln erprobter Bekannten, wo man laut denken und empfinden, und sich zeigen darf wie man ist; wo man keine Larve in andern, und seine eigene Offenherzigkeit zu fürchten braucht! Hier weiß sie kleine Mahle und Feste zu bereiten, bey denen anständige Heiterkeit und guter Geschmack den Vorsitz führen, wobey Alles für einen geschieht, ohne die übrigen durch den Vorzug zu beleidigen!

O Winter! Auch du giebst der Liebe wahre, und dir eigenthümliche Freuden! Ein glückliches Häufchen rückt an deinen langen Abenden in einem wöhnlichen Zimmer näher zusammen. Wie ist hier alles so freundlich! Wohl verwahrte Thüren und Fenster, bestimmt den Einfluß rauher Lüfte abzuhalten, scheinen zugleich [315] jedem Ueberlästigen den Eintritt zu wehren. Ein weicher Teppich, der das Geräusch unbescheidener Tritte mildert, scheint jeder lästigen und vorlauten Anmaßung Stille zu gebiethen, und das Gesumse des ziehenden Kamins, das Geflüster des kochenden Wassers zum ausländischen Getränk, scheint den zutraulichen Ton angeben zu wollen, der in der ganzen Unterhaltung herrschen soll!

Wie man hier über sich selbst und andere ausredet! Wie man hier den Stoff zum geselligen Vergnügen vervielfältigen und veredeln kann, ohne Furcht, den eingeschränkten Geschmack der Mitglieder des geselligen Zirkels zu beleidigen, oder das kränkende Gefühl mangelnder Fähigkeiten zu erwecken!


Zwanzigstes Kapitel.
Genuß wechselseitiger Geistesausbildung.

Ich habe bis jetzt gleichsam die Form entworfen, in welche sich die zusammengesetzte Person der beyden Liebenden beym Genuß einkleidet. Ich habe sie dargestellt, wie ihr niederes Wesen auf mannigfaltige Art zur Wollust und Wonne unter Leitung des Sinnes für das Edle und Schöne aufgefordert wird. Jetzt ist es Zeit, daß ich ihren innern Gehalt zeige, daß ich sie in einem ernsthafteren Charakter auftreten lasse, wie sie den Bedürfnissen ihres höhern Wesens abhilft und diesem Wonne zuführt.

Eine der höchsten Freuden der Liebe ist unstreitig das Gefühl des Antheils, den die Vereinigten an der wechselseitigen Ausbildung ihres Geistes nehmen.

[316] Ich habe bisher den Geist des Menschen für sein höheres Wesen überhaupt, für seine engste Adhärenz, dann aber auch in einer damit correspondierenden Bedeutung, für das letzte belebende Princip im Gemüthe, gleichsam die Lebenskraft der Seele, genommen. Hier verstehe ich besonders darunter jenen Inbegriff von Anlagen, Kenntnissen, Fertigkeiten, wodurch das höhere Wesen des Menschen zur Wirksamkeit geschickt wird.

Dieser Geist kann auf eine doppelte Art ausgebildet werden; theils indem wir seine innere Tüchtigkeit überhaupt vermehren, theils indem wir ihm eine bestimmtere Richtung auf Zwecke geben, die eines vernünftigen Wesens, daß sich selbst und andern nützlich seyn soll, würdig sind. Beydes zusammen heißt Kultur des Geistes.

Nichts ist interessanter, als die Entwickelung dieses Geistes zu verfolgen, mit seinen Fortschritten sympathetisch weiter zu streben, und ihn endlich auf der Höhe, wozu er gelangt, mit Bewunderung anzuschauen. Die Menschheit im Ganzen, einzelne Nationen, einzelne Individuen, können uns dieses Schauspiel gewähren. Stärker muß es uns rühren, wenn wir den Freund, oder die geliebte Hälfte unsers Wesens unter unserer Führung empor streben sehen; aber nichts kommt der Wonne bey, uns dadurch zugleich an Geisteskultur mit gehoben, und die zusammengesetzte Person dadurch veredelt zu fühlen.

Laßt uns untersuchen, wie Personen von verschiedenem Geschlechte in einer liebenden Verbindung sich um die Ausbildung ihres Geistes wechselseitig verdient machen können?

Nach meiner Ueberzeugung sind die Geistesanlagen beyder Geschlechter bereits ursprünglich verschieden. Gesetzt aber, dieß könnte bezweifelt werden, so scheint es [317] doch unleugbar zu seyn, daß bey der Verschiedenheit der Kenntnisse, deren Aufbewahrung, und der Geschäfte, deren Ausführung bald diesem bald jenem Geschlechte nach unsern bürgerlichen Einrichtungen, und nach unserer geselligen Denkungsart seit so langen Zeiten anvertrauet sind, die Geisteskräfte des Mannes und des Weibes eine ganz verschiedene Richtung erhalten müssen. Diese verschiedene Richtung erscheint bereits so früh in jedem Kinde, daß sie der ursprünglichen Anlage völlig gleich kommt.

Nach unsern Begriffen gehört der stärkere Geist dem Manne, der zärtere dem Weibe. Alle Wissenschaften, alle Künste, alle Geschäfte, die eine anhaltende Uebung im Denken, Abstrahieren, Schließen, einen vielumfassenden und tief eindringenden Blick, ein ausgebreitetes Sachgedächtniß, ein reifes, von den gegenwärtigen Verhältnissen unabhängiges Urtheil, eine Phantasie und ein Herz erfordern, die unter strenger Leitung des Verstandes und der Vernunft stehen, gehören beynahe ausschließend dem Manne. Er ist Metaphysiker, Mathematiker, Staatsmann, Heerführer, Schöpfer weitläuftiger Compositionen der Kunst.

Dem Weibe legen wir dagegen diejenigen Kenntnisse, diejenigen Künste und Beschäftigungen bey, die eine leichte Fassungskraft, einen feinen Beobachtungsgeist, ein schnelles Auffassen des Zunächstliegenden, die Gabe, das Schicklichste für den Augenblick zu wählen, Zeichengedächtniß, Emsigkeit, behende Sorgfalt, Reichthum, Glanz, Irritabilität einer Phantasie und eines Herzens voraussetzen, die mehr mit dem Reiche der Sinnlichkeit, als mit dem übersinnlichen zusammenhängen. Das Weib ist Hausfrau, Führerin geselliger Zusammenkünfte [318] und Verhältnisse, Mutter, endlich Künstlerin in allen Werken des schönen Talents und des Genies, die mehr zur Befriedigung des Geschmacks an leichter aber edlerer Unterhaltung, als zu Mustern der Vollkommenheit selbst in den Spielen der Imagination bestimmt sind.

Dieß ist die Regel. Es kann seyn, daß das Gefühl des Außerordentlichen zuweilen unsere Forderungen anders modificiert, daß wir es lieben, das Weib mit den Vorzügen des Mannes, den Mann mit den Vorzügen des Weibes ausgerüstet zu sehen. Aber ich fürchte, daß früh oder spät das Unpassende einer solchen Ausbildung des Geistes zu unsern Begriffen von den wesentlichen Vorzügen des einen und des andern Geschlechts unsere Bewunderung hemmen, und uns wünschen lassen wird, daß die Frau, die außerordentlich erscheint, weil sie sich durch ihren Geist zur Stärke des Mannes erhebt, lieber als ein zartes Weib außerordentlich und zugleich vollkommen geworden seyn möchte.

Die Stärke des Geistes, die ein Leibnitz, Newton, Richelieu, Cäsar, Homer, Raphael zeigten, scheint über der Zartheit zu stehen, welche eine Cornelia, Sappho, Heloise, Sevigné, Kaufmann, Siddons u. s. f. ausgezeichnet haben. Allein dürfen wir darum behaupten, daß die Julien, die Zenobien, die Elisabeth, u. s. w. auf einer höheren Sprosse über den vorhergenannten Personen ihres Geschlechts auf der Leiter vollkommener Geister stehen? Ich zweifle! Wer in seiner Art vollkommen ist, steht über demjenigen, der seine Art verläßt, und indem er einer Vollkommenheit nachstrebt, die bey der Vergleichung beyder Arten unter einander als die höhere zu betrachten ist, in beyden Rücksichten unvollkommen bleibt.

[319] Gewiß aber ist es, daß das Ideal eines menschlichen Geistes, die Vorzüge, welche wir vorhin unter dem Nahmen der Zartheit dem Weibe beygelegt haben, neben den Vorzügen erfordert, die wir unter dem Nahmen der Stärke zusammengefaßt haben. Nur dann vereinigt der Mensch alles in sich, was wir in unserer Welt sinnlicher Erscheinungen von seinem Geiste fordern, wenn die Feinheit und Gewandheit seines Geistes dessen Tiefblick und Gründlichkeit unterstützt, und ein glücklicher Instinkt den Operationen seiner höheren Seelenkräfte zu Hülfe kommt. Gesetzt also, wir könnten einen vorzüglichen weiblichen Geist mit einem vorzüglichen männlichen zusammensetzen, so würde dieses neugeformte Wesen die Vorzüge der ganzen Gattung in sich fassen, und gewiß den höchsten Anspruch auf Geistesvollkommenheit haben.

Nach diesen Bemerkungen dürfte es nicht schwer werden, den wahren Gesichtspunkt anzugeben, aus dem der Antheil beurtheilt werden muß, den beyde Geschlechter an ihrer wechselseitigen Ausbildung nehmen können.

Laßt uns zuerst sehen, in welchen Fällen der Geist des Mannes durch die engere Verbindung mit einer geistreichen Frau gewinnen kann! Ich denke ihn mir im handelnden Leben als Verbreiter der Wahrheit und Wissenschaft, als Beförderer nützlicher Anstalten, als Künstler, als Gesellschafter. In allen diesen Fällen kommt es ihm oft darauf an, gegenwärtig auf den größeren Haufen zu wirken, die öffentliche Meinung zu seinem Vortheile zu leiten, der Wahrheit und Zweckmäßigkeit Eingang zu verschaffen, das Schöne reitzend, das Unterhaltende belustigend darzustellen. Wahl des Gehalts und Einkleidung werden ihn dabey gleich wichtig, und hierzu, ich behaupte es dreist, kann ihm die Bildung des Geistes, [320] die er von dem zärteren Geschlechte erhält, von unendlichem Nutzen seyn.

Vergebens würde sich derjenige schmeicheln, einen starken Eindruck für den Augenblick auf die Menge zu machen, der nur an den Verstand und die Vernunft reden, und nicht die Sympathie und die Einbildungskraft zu rühren suchen wollte. Gerade hierin aber besitzt das Weib seine Stärke. Es hat außerdem ein entschiedenes Talent, die Schwächen eines jeden Menschen bey dem ersten Blick aufzufassen, und dessen kleine aber allgemeine Leidenschaften, besonders dessen Eitelkeit zu seinem Vortheile zu behandeln. Es hat den feinsten Takt für dasjenige, was nach Zeit und Umständen Wirkung thut. Es setzt von Jugend auf einen zu hohen Werth auf die öffentliche Meinung, um nicht die Mittel zu kennen, wodurch diese geleitet wird. Es hat eine große Gewalt über sich selbst, die Kunst zurückzuhalten, gegenwärtigen Schwierigkeiten auszubeugen, und den Vortheil durch Ueberraschung zu gewinnen. Es besitzt einen großen Reichthum an Bildern, wenn gleich nicht an klaren Ideen. Daher seine große Fruchtbarkeit an Erfindung von Auswegen. Vor allen Dingen aber steht ihm jene allgemeine Verschönerungsgabe, und jene gesellige Liebenswürdigkeit zu Gebothe, deren Mangel oft dem wahren Verdienste in den Weg tritt, und deren Besitz Natur und Erziehung seinem Geschlechte mehr als dem unsrigen sichern.

Weltklugheit und Schmückungsgabe sind daher ausgezeichnete Geistesvorzüge des Frauenzimmers, und beyde kann der Mann aus dem Umgange mit ihm lernen und zu seinem Vortheile nutzen. Er kann sicher seyn, daß dasjenige, was in seinen Schriften, in seinen Reden und [321] Handlungen den Augen einer geistreichen Frau Thränen entlockt, oder ihre Aufmerksamkeit ununterbrochen fesselt, oder sie gar begeistert, die Wirkung auf den großen Haufen nicht verfehlen werde. Er wird hinreißen, wo er nicht überzeugen kann; er wird gefallen, wo man allenfalls fühlt, daß seine Produkte die Prüfung der Kritik nicht bestehen dürften. Vor allen Dingen aber wird er lernen, Schwerfälligkeit und alle diejenigen Klippen zu vermeiden, woran sich die Schwäche und der ekle Geschmack des Zeitalters stoßen. Kurz, er wird lernen, wie die Stärke seines Geistes in ihren Aeußerungen sich mit Feinheit und Zartheit paaren könne.

Auf der andern Seite kann der Geist des Weibes an Richtigkeit, an Gründlichkeit, an Umfang von Kenntnissen in dem Umgange mit dem geistreichen und gebildeten Manne sehr gewinnen. Das Frauenzimmer ist oft zu einseitig, zu sehr geneigt aus einzelnen Fällen aufs Ganze zu schließen, zu leicht, zu hüpfend in seinen Sätzen. Hier tritt der Mann hinzu, lehrt von mehreren Seiten und im Ganzen zu übersehen, bringt mehr Zusammenhang in die Gedankenreihe, und lehrt zu unterscheiden und zu prüfen.

Gelehrsamkeit ist nicht die Sache der Weiber, aber auf Kenntnisse haben sie so gut Ansprüche wie wir, weil sie den Trieb nach Wahrheit mit uns theilen, und sich keine wahre gesellige Liebenswürdigkeit unter kultivierten Menschen ohne einen gewissen Vorrath von Kenntnissen denken läßt. In der gebildeten Unterhaltung kommen beständige Anspielungen auf Begebenheiten, Nahmen, Charaktere der Geschichte und der Fabel vor. Die Länderkunde, die öffentlichen Angelegenheiten, die Meisterstücke der Kunst, die Naturgeschichte, die Sitten der [322] Völker, die Philosophie des Lebens und des Geschmacks, liefern den Stoff zum Gespräch unter Menschen von besserer Erziehung. Wie drückend ist der Mangel an den nöthigen Kenntnissen in diesen Stücken, den der Liebende an dem geliebten Weibe antrifft. Es werden so viele Gegenstände von der Unterredung ausgeschlossen! Man muß sich so sehr hüten, durch die Erinnerung daran den heimlichen Vorwurf vernachlässigter Geistesbildung zu erwecken und zu machen! Es werden so viel Freuden genommen, die man mit der Geliebten theilen möchte! Und dann, wie reitzend ist die Unterhaltung, welche die edlere Frau aus einer zweckmäßigen Aufklärung ihres Geistes für sich selbst zieht! Wie sehr hält sie diese Beschäftigung von gefährlichen Zerstreuungen ab! Ich glaube sogar, daß eine gewisse Gründlichkeit in denjenigen Kenntnissen, die den weiblichen Geistesanlagen angemessen sind, zu den Vorzügen des zärteren Geschlechts gehören könne. Ich glaube, daß das Frauenzimmer, seiner Liebenswürdigkeit unbeschadet, die Geschichte, die Länderkunde, die Naturkunde, die Botanik, die Theorie der Künste, die Sprachlehre, ja, die Philosophie des gemeinen Lebens in einem gewissen Umfange und Zusammenhange inne haben könne, und daß es zu seinem Bestreben nach Vollkommenheit gehöre, es darin so weit als möglich zu bringen. Nur muß es nicht dabey vergessen, daß es alles zu einem praktischen Gebrauche, und keinesweges um des leeren Wissens Willen erlerne; daß es die Sache des Mannes sey, die Wahrheit aufzufinden, die seinige aber, sie sich anzueignen, sie faßlich und gefällig darzustellen, damit sie frappanter und eindringender werde. Ich möchte sogar dem Weibe unter gewissen Lagen nicht das Recht absprechen, Schriftstellerin zu werden, [323] und unter seinem Nahmen als Lehrerin in der Weltklugheit und Moral, und als Künstlerin in Werken des Genies und des Talents aufzutreten.

Diejenigen, welche das zärtere Geschlecht so gern auf die bloße Bestimmung der Hausfrau, oder gar der Haushälterin einschränken möchten; diejenigen, welche ihm höchstens Anspruch auf oberflächliche Bekanntschaft mit den Künsten eingeräumt haben, in so fern diese zu den Reitzen der Unterhaltung dienen können, diese haben nicht bedacht, daß das Weib so gut wie wir den Trieb nach Wahrheit in seinem Busen trägt; sie haben nicht bedacht, daß es Lagen giebt, worin das Frauenzimmer aus den höheren Ständen in dieser Ausbildung seines Geistes das einzige Verwahrungsmittel gegen gefährliche Verirrungen des Herzens und der Einbildungskraft findet, und daß es lächerlich sey, von einer Frau, die in großem Wohlstande lebt, die eigene Besorgung wirthschaftlicher Angelegenheiten zu fordern, die nur dann mit gehöriger Sorgfalt getrieben werden, wenn Bedürfniß und Nothwendigkeit dazu auffordern.

Aber, wird man sagen, wie leicht wird auch diejenige Frau, die billig nur Wirthschafterin seyn sollte, ihren Geist mit Kenntnissen bereichern wollen, und unterdessen die ihr viel näher liegende Sorge für ihr Hauswesen versäumen; wie leicht werden alle nur lernbegierig seyn, um zu schimmern, und die Gelehrten spielen wollen, statt daß sie nur aufgeklärt seyn sollten? Allerdings läßt sich dieser Mißbrauch besorgen. Allein, dieß ist kein hinreichender Grund, eine an sich gute Sache zu verwerfen. Es werden wenig Lagen so drückend seyn, daß bey einer weisen Eintheilung der Zeit nicht einige Muße zur Ausbildung des Geistes übrig bleiben sollte, und dann ist es [324] die Sache des liebenden Mannes, den Studien des geliebten Weibes die gehörige Richtung zu geben, und es vor den Gefahren der Anmaßung und der Uebertreibung zu bewahren. Auf solche Art tragen also beyde Geschlechter zur wechselseitigen Vervollkommnung ihres Geistes bey! Und selbst da, wo ihre Bestimmung, wo ihre Kräfte zu weit von einander abliegen, als daß sie sich unmittelbar zu Hülfe kommen könnten, wie viel können sie sich noch da durch wechselseitige Ermunterung und Anfeuerung einander werth werden. Es liegt ein hoher Antrieb zur Veredlung unserer Geisteskräfte in dem Gedanken, daß der geliebte Gegenstand uns auch darum achtet, daß wir in unserer Art schätzbar sind, unserer eigenen Achtung genießen, und der Achtung anderer Personen unsers Geschlechts! Dieß Gefühl flößt der Gelehrte, der Held, der Staatsmann seiner Gattin, die kluge Hausfrau, die geschätzte Regentin der örtlichen Gesellschaft, dem Gatten ein, wenn gleich beyde nicht völlig beurtheilen können was dazu gehört, um in den angezeigten Verhältnissen einen ungewöhnlichen Geist zu zeigen.

Eben diese Bemerkungen zeichnen nun aber auch die Grenzen vor, worin sich die wechselseitige Sorge für die Ausbildung des Geistes unter den beyden Liebenden von verschiedenem Geschlechte halten muß.

Nur zu häufig ist der Fehler, daß die Liebenden sich in der ihrem Geschlechte angemessenen Ausbildung hindern, weil der eine verlangt, daß der andere die Kräfte seines Geistes ganz allein zur Behandlung solcher Gegenstände anwenden soll, worin sie beyde mit ihrer Wirksamkeit zusammentreffen können. Es ist gar nicht selten, daß der liebende Mann die Geliebte von aller weiblichen [325] Sorge und Beschäftigung abziehen will, damit sie nur mit ihm über die Verhältnisse seines Geschlechts, oder ihrer zusammengesetzten Person Ideen wechseln, und darauf ihre ganze Aufmerksamkeit wende. Eben so gewöhnlich und vielleicht noch häufiger ist der Fall, wo die Geliebte von dem liebenden Manne verlangt, daß er vergessen soll, was er von seinem Geiste dem Staate und den Wissenschaften schuldig ist, um mit ihr zu kosen, und das Glück des häuslichen und geselligen Zusammenseyns ununterbrochen zu genießen.

Edel Liebende finden in dem Gedanken, daß der Geliebte durch Ausbildung und Anwendung seines Geistes nach der Bestimmung, die ihm sein Geschlecht giebt, sich achtungswürdiger und dadurch glücklicher fühle, eine Schadloshaltung für die Einsamkeit und Trennung von ihm, die jene Bemühung ihnen zuweilen auflegt.

Eben hieraus fließt aber auch die Vorsicht, daß die Liebenden, indem sie wechselseitig ihren Geist auszubilden suchen, ihm nicht solche Vorzüge beyzulegen streben, die für sein Individuum gar keine Vorzüge sind. Der Gelehrte, der seine Frau in abstrakte Wissenschaften, der Staatsmann, der seine Gattin in politische Intriguen zu verwickeln sucht, und umgekehrt, die Gattin, die von ihrem Manne verlangt, daß er in das Detail der häuslichen Wirthschaft, oder der geselligen Fürsorge hineingehen soll; alle diese handeln der wahren Bestimmung der Liebe entgegen, die den andern in Gemäßheit seiner Selbständigkeit zu beglücken sucht.

[326]
Ein und zwanzigstes Kapitel.
Genuß der Vereinigung zu einem Schicksale.

Liebende haben nur Ein Schicksal mit einander, und dieß Bewußtseyn macht einen neuen hohen Genuß für sie aus. Himmel! welch ein tröstender, welch ein hebender Gedanke: es ist ein Herz in der Welt, das von meiner Freude lebt; ein Herz, dessen Theilnahme alle meine Leiden lindert!

Die Vereinigung zu einem Wesen unter gleichen Verhältnissen gegen alles, was außer der zusammengesetzten Person gedacht wird; zu einem Wesen, auf welches nur eine und die nehmliche Beziehung alles Aeußeren Statt findet; das Bewußtseyn, daß es für zwey Individuen nur ein Eigenthum, einen Wohlstand, eine Ehre, ein Glück, ein Unglück giebt: kurz, das Zusammenschmelzen zu einer Reitzbarkeit, zu einem Herzen, ist eines der erhabensten Gefühle, deren der Mensch fähig ist. Der Arme! Es ist nicht genug, daß er, für sich abhängig von Bedürfnissen, das Spiel eines eigensinnigen Schicksals sey; er ladet noch die Bedürfnisse und die Leiden eines andern Wesens auf sich! Aber wird er wirklich ärmer? Nein! Er vermehrt sein Wohlseyn, indem er sich alle Freuden, alle Vortheile des andern aneignet; er vermehrt die Stärke, womit er dem Schicksale die Stirn biethet, indem die andere Hälfte seines Wesens einen Theil der Last auf sich nimmt, die ihn allein zu Boden drücken würde!

Aber was seinen Zustand wirklich verschlimmert, ist die Ueberzeugung, daß sein eigenes Leiden die Ruhe des vereinigten Wesens stört! Welcher Streit in der Seele des Liebenden in solchen Augenblicken! Er möchte den [327] Schmerz, der ihn verzehrt, vor den Augen des Geliebten verbergen, und doch fürchtet er einen Raub an der Zärtlichkeit durch sein Verhehlen zu begehen! Er fürchtet mit Recht! Denn nichts betrübt edle Seelen so sehr, als eine Schonung, welche dem leidenden und zu bescheidenen Geliebten die Labung ihres Mitgefühls entzieht!

Das sicherste Merkmahl, daß wir nicht lieben, ist dieß, wenn bey glücklichen Begebenheiten nicht eines unserer ersten Gefühle dieses ist: der Geliebte wird mit mir theilen; und bey unglücklichen dieses: ach! möchte ich ihm den Schmerz der Theilnehmung ersparen dürfen!

So fein, so schnell, so mächtig wie die Liebe Glück, Trost und Hülfe zu bereiten weiß, giebt sie nie die Freundschaft. Diese überlegt und denkt, ehe sie handelt; die Liebe fühlt und handelt zugleich! Ihr Scharfsinn im Ausspähen des wahren Sitzes des Uebels, der dringendsten Bedürfnisse, und der Stellen, deren Berührung am empfindlichsten schmerzt, ist eben so unbegreiflich, als ihre Erfindsamkeit in den Mitteln zu lindern, zu befriedigen, zu schonen. Man könnte auf eine vorahndende Sympathie, auf eine himmlische Inspiration rathen! Es ist wahr, das weibliche Geschlecht übertrifft darin bey weitem das unsrige, und seine sorgfältige Uneigennützigkeit möchte uns sogar die Freude zu danken, grausam durch zu viel Güte, entziehen. Seine Aufmerksamkeiten sind feiner, dauernder und anhaltender. Aber auch der Mann weiß zu theilen und zu helfen. Er sieht nicht so leicht und so schnell die Gelegenheit dazu ab, allein einmahl aufmerksam gemacht, ersetzt er durch Stärke und Aufopferung, was ihm an leichtem Anschlage und an Emsigkeit abgeht. Er giebt ein Weniges, aber Viel: das Weib Viel durch Vieles! Auch hier zeigt sich der Vortheil, den [328] die Vereinigung Geschlechtsverschiedener Personen hervorbringt!

Aber ach! es theilt, es lindert nicht jeder, der es will! Es ist nothwendig, daß dieser sich ganz in unsere Lage hineinversetzen, und ihre Individualität ganz ausfühlen könne! Oft haben wir das Bewußtseyn, daß der Geliebte uns gern helfen, wenigstens trösten würde; aber die Furcht, in unsern Bedürfnissen, in unsern Leiden nicht verstanden zu werden, oder gar die Besorgniß, daß die unbesonnene Wahl seiner Hülfsmittel unsern Zustand noch verschlimmern könne, verschließt unser Herz vor ihm! Er fühlt, daß wir uns in uns selbst zurückziehen, er ahndet den Grund, und leidet selbst durch das Bewußtseyn seiner Unzulänglichkeit! Eine harte Lage für beyde, der aber freylich nur edlere Seelen unterworfen sind!

Oft sind es Schwächen des Charakters, die uns unsere größten Leiden bereiten! Wie schwer wird hier eine Schonung von Seiten des stärkeren Liebenden, die das wahre Mittel zwischen erniedrigender Härte und unedler Nachgiebigkeit hält! Hütet euch vor der Handlungsart gewisser Tröster, die euch stolz zurechtweisen, oder auch gar mit euern Klagen lächerlich machen wollen! Diese Verfahrungsart ist der Liebe zuwider! Hütet euch aber eben so sehr vor jener schmeichlerischen Gefälligkeit, die jede Grämeley in dem Geliebten billigt, und ihn wie ein verzogenes Kind behandelt. Dieß ist der Würde unsers sittlichen Wesens zuwider. Der weisere und edlere Mensch schont die ersten Aufwallungen der Laune des Verbündeten, ohne ihn durch Beyfall darin zu bestärken: und in dem Augenblicke, wo [329] seine Vernunft wiederkehrt, weiß er ihm durch verdoppelte Aeußerungen der Liebe ein heimliches Erröthen abzugewinnen, ohne ihn durch anmaßende Ueberführung seines Unrechts zu nöthigen, daß er der fehllosen Größe des Strafenden förmlich huldige!

Es giebt eine Art, glückliche Verhältnisse mit einander zu theilen, die aller Pflicht dankbarer Erwiederung überhebt. Wir nehmen den Geliebten in unsern Wohlstand, in unser Ansehn auf, und lassen ihm fühlen, daß es eine Wohlthat sey. O wie schwer ist es, wirklich zu verbinden! Wie leicht erwecken wir selbst durch Aufopferungen das Gefühl, daß wir genug dadurch belohnt sind, uns ihrer rühmen zu können! Wie leicht treten wir jeder zärtlichen Empfindung dadurch in den Weg, daß wir Dankbarkeit erkaufen wollen! Ach! Alles was du giebst, gieb aus Liebe, mit einem Herzen, das nichts schätzbar findet, was es nicht mit dem Geliebten theilt, mit einem Herzen, das nichts schenken zu können, und bey dankbarer Erwiederung nicht einmahl vergelten zu können glaubt.


Zwey und zwanzigstes Kapitel.
Genuß der Leiden, die sich Liebende selbst bereiten.

Die Liebe, sagt man, nährt sich von Thränen! Und wahr ist es, selten ist treue, edlere Liebe glücklich! Aber oft durch die Schuld der Liebenden. Sie schaffen sich selbst zum Theil die Leiden, die sie dulden; das sollten sie nicht thun!

[330] Oft liegt dabey hervorstechende Selbstheit zum Grunde. Man quält sich, um sich das Gefühl zu bereiten, daß man ganz von einander abhängt. Man mißgönnt dem Geliebten jede frohe Empfindung, die er nicht von uns empfängt, und die uns den Stolz raubt, einzige Schöpfer seines Glücks zu seyn. Man sucht durch den Schein der Kälte, oder gar der Untreue, die Stärke mit der wir geliebt werden zu erproben, oder durch Vorwürfe, deren Ungerechtigkeit wir selbst fühlen, den Grad des Werthes zu erforschen, der auf unsern Beyfall gesetzt wird.

Diese Art zu denken und zu handeln gehört der Liebe nicht; sie gehört der Herrschsucht und der Eitelkeit. Aber näher liegt jener die Besorgniß, daß zu große Ruhe in dem Geliebten der Vorbote der Gleichgültigkeit sey, und daß das Glück, welches er zu anhaltend einseitig genießen mag, uns entbehrlich machen, und Trostgründe für eine künftige Trennung herbeyführen dürfte!

Wer mag von der Liebe alle Eifersucht trennen? Wer mag sich zuweilen den geheimen Wunsch verleugnen, daß der Geliebte fürchten könne, uns zu verlieren? Ach, wie natürlich ist jener Ausruf der portugiesischen Nonne: „Oft finde ich dich nicht glücklich genug durch meine Liebe, oft finde ich, daß du zu glücklich bist, als daß ich mir allein die Ursach davon beymessen könnte!“ Wer wird selbst einen St. Preux verdammen können, wenn er die rührende Blässe zurück wünscht, die Juliens Antlitz ehemahls überzog; das kostbare Unterpfand der Leidenschaft, mit der sie an ihm hing!

Schonung verdient das alles, aber keinen Beyfall! Nein! Die Liebe soll nicht grausam seyn, die Liebe soll nicht quälen! Aber wenn es unwillkührlich geschieht, [331] o so erweckt wenigstens nicht den Verdacht, als wenn ihr an unserer Qual, an unsern Thränen Gefallen nähmet! Hütet euch vor Ungerechtigkeit, und wenn ihr darein verfallt, so laßt uns wenigstens die Ueberzeugung, daß die Gewalt einer liebenden Leidenschaft euch hingerissen hat, und daß ihr nicht in der Freude eures Herzens uns durch erlogene Kälte und hervorgesuchte Vorwürfe mißhandelt! Dann, dann dulden wir gern! Dann sind uns selbst die Thränen theuer, die wir unverschuldet vergießen!

Und wie hält die Wonne der Wiederversöhnung für alle Martern des kurzen Mißverständnisses schadlos! Man sollte glauben, diejenigen, welche diesen Augenblick nicht kennen, hätten die Freuden der Liebe nicht völlig ausgekostet! Wer beschreibt die frohe Wahrnehmung der unbefangenen Unschuld, oder auch der innigen Reue, neben der liebenden Schonung, die gern selbst das Unrecht auf sich nehmen möchte, das der Schuldige anerkennt! Wer die himmlische Ahndung der Zärtlichkeit, die durch den Unmuth durchbricht, und der endlich alles besiegenden Liebe, wenn sich jetzt das Auge der Geliebten sanfter zu euch wendet, und ihre Hand sich dem Druck der eurigen nicht länger versagt! Jetzt sinken sie an einander, die Liebenden, die Wiedervereinten! Auf ihren Wangen, die zugleich von der erlöschenden Hitze des Zorns, und der empor steigenden Wärme sanfterer Affekte glühen, mischen sich Thränen des Kummers unter Thränen der Freude! Der gepreßte Seufzer des Schmerzens verliert sich in den süßathmenden Hauch der zärtlichsten Wonne, und das Herz deutet mit lauten Schlägen das Gefühl einer Seligkeit an, das durch kurze Entbehrung noch erhöhet ist.

[332]
Drey und zwanzigstes Kapitel.
Höchste Veredlung der Liebe; Zusammenstreben nach Tugend.

Wenn es wahr ist, daß Liebe das wonnevolle Bestreben ist, den Geliebten zu beglücken, welcher Genuß kann ihr dann näher angehören, als das Gefühl, ihm, diesem Geliebten, das höchste Gut, Tugend, und dadurch Achtung für sich selbst, und Achtung bey andern zuzuführen! Dadurch bringen wir die Liebe auf den höchsten Gipfel der Veredlung, und bereiten uns selbst, wo nicht den lebhaftesten, doch gewiß den dauerndsten, sichersten Genuß, den das Herz mit der Vernunft im Bande zu gewähren vermag!

Glaubt es mir zu: wenn eure Geliebte alle Reitze des Körpers und der Seele in sich vereinigte, die den berühmtesten Freundinnen Griechenlands und Frankreichs jemahls eigen gewesen sind; wenn sie schön wäre wie eine Phryne, geistreich wie eine Aspasia oder Ninon; wenn sie an euch hinge wie eine Sappho, – und ihr fändet in ihrem Herzen Lieblosigkeit gegen ihre Mitmenschen, Mangel an Sanftmuth und Bescheidenheit, kurz, keine der Grundlagen weiblicher Tugend; sie hätte keinen Sinn für Vervollkommnung ihrer Moralität; – euer Herz würde sich nicht gerechtfertigt finden, sie zu lieben, und früh oder spät würdet ihr das Drückende der Schlinge fühlen, in der sie euch zu fangen gewußt hätte.

Aber wohl dem, der sein Auge aufschlagen mag vor seinem edleren Ich, indem er sich sagt: ich liebe! Wohl dem, der in seiner Verbindung einen neuen Grund findet sich selbst zu achten! Selige Stunden, in denen der [333] gemeinschaftliche und doppelte Bund geschlossen wird, der Liebe und der Tugend ewig treu zu bleiben! Himmlischer Ausdruck des weiblichen Mundes, der euch unter Thränen beschwört, das Herz vor dem Vorwurfe zu retten, daß es einen Unwürdigen liebt! Heiliger Schwur des Mannes, der das Leben eher als die Tugend verlassen, und die erste lasterhafte Handlung als eine stillschweigende Entsagung auf das Recht geliebt zu werden, betrachtet wissen will!

Wer mag die stolzen süßen Gefühle beschreiben, die den Liebenden das Bewußtseyn einflößt: sie sind tugendhafter durch Liebe, als sie es ohnedem seyn würden! Und gewiß, sie steht mit der Tugend in naher Verwandschaft! Durch sie wird das Herz weich und geöffnet für alle sympathetischen und geselligen Empfindungen, ohne deren freye Wirksamkeit sich keine Tugend denken läßt. Sie erweckt Mitleiden, Sanftheit, Duldung, Mittheilung, Uneigennützigkeit. Wenn wir lieben, sind wir überhaupt reitzbarer und empfindlicher gegen das Schicksal anderer. Es scheint, als ob wir besser fühlten, was der Antheil, das Wohlwollen des einen Menschen dem andern werth seyn könne. Ausgefüllt durch einen einzigen Gegenstand, auf dessen Beyfall wir den Werth unsers Wesens und Handelns beynahe allein zurückführen, legen wir weniger Gewicht auf die Befriedigung der Eitelkeit, des Ehrgeitzes und der Habsucht. Die Versagung dieser eigennützigen Neigungen macht uns minder bitter. Der Liebende ist genügsam in allem, was nicht die Vereinigung der Wesen befördert. So lange wir noch in einem Herzen herrschen, so lange scheint uns das Regiment der Welt, so wie ihr Besitz, ein entbehrlicher Vorzug.

[334] Und dann tritt so leicht die Begeisterung hinzu, die aus dem Geliebten ein verkörpertes Bild der Vollkommenheit schafft! Wer kann vor seinen Augen schlecht handeln! Sein Beyfall ist eine hinreichende Belohnung für alle Aufopferungen, die wir der Tugend bringen, die Krone des Sieges, die wir über unsere Sinnlichkeit davon tragen! Endlich giebt die Achtung, welche die zusammengesetzte Person durch den vereinigten Adel der Denkungsart beyder Verbündeten bey allen Edeln im Volke erweckt, einen neuen Anreitz, nur dem Lobenswerthen nachzustreben!

Wer wird nicht gern mit Yorick ausrufen: „nie war meine Seele so sehr im Einklange mit der Tugend, als wenn ich liebte! Nach einer genauen Prüfung, die ich mit mir selbst angestellt habe, sind alle meine schlechten Handlungen in die Zeiten gefallen, worin mein Herz über Leere seufzte!“ [2]

Nicht mit Unrecht sagt Rousseau: [3] „jene Begeisterung, welche die Liebe in ihrem Gefolge führt, bildet sich ein chimärisches Wesen aus dem geliebten Gegenstande. Aber opfern wir diesem Bilde nicht eben so wohl unsere Lieblingsschwächen auf? Füllen die Vorzüge, womit wir den Geliebten schmücken, darum weniger unser Herz? Suchen wir uns darum minder von unserm niedrigen Selbst loszuwickeln?“

Aber ach! meine Freunde! meine Freundinnen! ihr, die ihr so gern an Tugend glaubt, hütet euch, daß euch keine ränkevolle Buhlerin, kein listiger Wüstling, mit ihrem Scheine täusche! Worte, einzelne Handlungen, [335] beweisen nichts! Erst, wenn ihr den anhaltenden rüstigen Kampf gegen Lieblingsschwächen wahrnehmt, erst wenn ihr die Fertigkeit im Siegen über die Sinnlichkeit bemerkt; erst dann dürft ihr glauben, daß der Geliebte eurer würdig ist!

Mehr! wollt ihr wirklich dem Geliebten das höchste Gut zuführen, um ihn zu beglücken, so lehrt ihn die Tugend um ihrer selbst willen lieben, nicht um des Ideals willen das er sich von eurer Vollkommenheit bildet, nicht um eures, nicht um des Beyfalls willen, den ihm die Welt zollt!

Was ist Tugend? Nicht der glückliche Instinkt allein, der uns zu einem Betragen führt, das andere beglückt, und uns selbst Zufriedenheit für die ganze Zeit unsers Daseyns sichert. Nicht die Anwendung des Verstandes und der Vernunft allein, die uns in unsern Verhältnissen zu andern vernünftigen Wesen, und zu unserm eigenen fortdauernden vernünftigen Wesen Zufriedenheit sichert! Nein, es ist beydes zusammen, und überher wird noch Fertigkeit, und Liebe zu dieser Fertigkeit im Guten erfordert. Die geliebte, von Verstand und Vernunft geleitete Fertigkeit in der Erfüllung unserer Pflichten gegen das Reich vernünftiger Wesen, die ist Tugend: und als solche ist sie noch weit verschieden von jener Scheintugend, die wir glücklichen Anlagen, oder zufälligen Verhältnissen verdanken!

Es ist der Liebe erlaubt, den geliebten Gegenstand als ein Idol, als ein sinnliches Bild aller Vollkommenheit zu betrachten, um seinetwillen gegen unser niedriges Ich anzukämpfen, und in seinem Beyspiele, in seinem Beyfalle einen neuen Antrieb zu allem Guten [336] zu finden! Aber derjenige, der edel liebt, wird nicht wünschen, daß der geliebte Gegenstand nur so mittelbar durch ihn an der Tugend hänge! Er weiß, daß Begeisterung nicht dauert, daß die Vernunftidee von Vollkommenheit mit keinem Gegenstande in der Welt sinnlicher Erscheinungen übereinkommt, und daß, früh oder spät, Gewohnheit oder unwillkührliche Schwäche, über die er sich nicht erhoben fühlt, weil er Mensch bleibt, das Traumbild, zu dem er den Stoff hergiebt, und damit zugleich die Anhänglichkeit an der Tugend bey dem Geliebten endigen werde!

Es ist der Liebe, es ist der Tugend vergönnt, in der Achtung, die sie dem Geliebten einflößen, ein neues Beförderungsmittel ihres edeln Strebens zu finden. Es ist kein gleichgültiger Genuß, wenn die Achtung, die wir für uns selbst, und für die zusammengesetzte Person hegen, auch von den Menschen, die es werth sind, uns zu würdigen, erkannt wird. Allein höher, sicherer ist der Genuß, den die Selbstachtung unmittelbar, und auch da mit sich führt, wo wir nicht erkannt, auch wohl gar unrecht beurtheilt werden!

Es sey also das Bestreben der edelsten Liebe, dem Geliebten Liebe zur Tugend einzuflößen! Diese wird länger dauern, als das Idol von Vollkommenheit, das die Begeisterung schafft; ja, länger als selbst die Liebe zu dem Geliebten! Daß lange nach geendigter Vereinigung der ehemahls Verbündete sich noch sagen könne: von der Zeit meiner Liebe an rechne ich die Heiligung meines Charakters; ewig werde ich ihm dankbar seyn, dem Liebenden, er hat mir das höchste, das sicherste Gut gegeben, das Menschen zu Theil werden kann!

[337] Laßt uns noch sehen, wie beyde, Mann und Weib, sich darunter wechselseitig, und auf eine ihrem Geschlechte eigenthümliche Art zu Hülfe kommen können.

Tugend, ich habe es schon mit andern Worten gesagt, ist das anhaltende Wohlgefallen an unserer Bestimmung, dem vernünftigen Wesen in uns und in andern für die ganze Zeit unsers und ihres Daseyns nützlich zu werden, verbunden mit überlegter, durch Gesetze der Wahrheit und Zweckmäßigkeit geleiteter Fertigkeit, diese Bestimmung auszufüllen.

Jede Kunst setzt in dem Künstler Fähigkeiten, Liebe zu seiner Bestimmung, Kenntniß der Zwecke und der Mittel, sorgsame Behandlung, und eine durch Nachahmung und Uebung erlangte Fertigkeit zum Voraus. So auch die Tugend.

Unsere geselligen, unsere selbstliebenden Triebe, in so fern sie auf Erhaltung und Fortbildung unsers vernünftigen Wesens gehen, sind die Fähigkeiten, die Anlagen zur Tugend. Sie machen gleichsam den Stoff aus, den Verstand und Vernunft bearbeiten, indem sie ihm eine innere Wahrheit und Tüchtigkeit, (Nutzbarkeit,) und eine äußere Brauchbarkeit, (ein Nützlichseyn,) anweisen und geben. Dann müssen Fertigkeit und Liebe zum Dinge hinzutreten.

Der Stoff ist bey dem Weibe weit besser als bey dem Manne, weit geschickter die Zwecke der Vernunft zu erfüllen; das sogenannte gute Gemüth ist dem zärteren Geschlechte der Regel nach angeboren. Es ist von Natur mitleidig, sanft, zuvorkommend, aufopfernd. Es ist vorsichtiger, mäßiger im Genuß des Gegenwärtigen, geduldiger bey Erwartung der Zukunft, weniger übermüthig im Glück, weniger niedergedrückt durch Unglück. [338] Auch hat das Weib weit mehr Anlage zur Liebe an seiner Bestimmung, wohlzuthun, zu helfen, zu trösten, als der Mann: weit mehr Fähigkeit zur Begeisterung für alles, was mit Aufopferung für andere, Ewigkeit, Uebersinnlichkeit und Gottheit in Beziehung steht; weit mehr Gefühl für Anstand und Ehrbarkeit. Zuletzt ist auch bey ihm die Anlage zur fertigen Anwendung einmahl angenommener Richtungen des Willens viel stärker, theils weil es minder durch schädliche Neigungen gestört wird, theils weil der Nachahmungstrieb viel mächtiger bey ihm wirkt, theils endlich, weil es leicht zu einer mechanischen Gleichförmigkeit in seinen Handlungen übergeht.

Dagegen besitzt das zärtere Geschlecht weit weniger von jenem höheren Triebe nach Wahrheit, Tüchtigkeit und Vollkommenheit, vermöge dessen der Weise dahin strebt, aus seinem Charakter ein mit sich selbst in allen seinen Theilen und Verhältnissen übereinstimmendes, der Menschheit in ihm selbst und andern, nutzbares Ganze zu bilden. Ein Ideal, das zwar hienieden nie erreicht werden kann, zu dem kein Muster unter den Menschen angetroffen wird, dem sich aber einige mehr als andere nähern, und das demjenigen, der ihm am nächsten steht, einen unstreitigen Anspruch auf Selbstzufriedenheit und Schätzung von andern, unabhängig von aller Rücksicht auf die Folgen seiner Handlungen und ihre wirkliche Brauchbarkeit sichert. Das zärtere Geschlecht besitzt auch weniger Kraft, den Zweck seiner Anlagen, das allgemeine Nützlichseyn für unser und anderer vernünftiger Wesen Daseyn und Wohl, auf immer zu fassen: es hält sich zu sehr an das Gegenwärtige und Einzelne; thut entweder andern und sich selbst für den Augenblick wohl, und verdirbt dadurch andere und sich selbst für die [339] Zukunft; oder hält sich bloß an diese Zukunft, und übersieht das Bedürfniß des Augenblicks. Es fehlt auch oft in der Wahl der zweckmäßigsten Mittel, und in ihrer klugen Behandlung. Kurz, die guten, zum Besten der Menschheit abzweckenden Handlungen des Weibes sind gemeiniglich mehr Folgen des Instinkts, als freyer und vernünftiger Selbstbestimmung. Bey dem Manne wird diese mehr angetroffen; aber weniger von seinem Instinkte unterstützt, handelt er dennoch viel unzusammenhängender, und oft viel unsicherer zum Besten der Menschheit in ihm selbst und andern!

Nun kann die einzelne Handlung, abgerissen von dem Reste des übrigen Lebens der Person, die sie begeht, dieser unmöglich den Nahmen eines tugendhaften Charakters, bar und für sich betrachtet, sichern; wenn gleich jene Handlung in dem einzelnen Falle aus wahrer Ueberzeugung der Pflicht entspringt, andern Menschen nützlich zu seyn, oder wenn sie dem Triebe nach der vollkommensten Harmonie eines der Menschheit nutzbaren Charakters angehört, oder wenn sie auch vermöge eines richtigen Gebrauchs unserer Vernunft, der Menschheit im größten Umfange wirklich nützlich wird. Ein Sokrates, der aus Achtung für die Gesetze seines Vaterlandes den Giftbecher leert; ein Cato, der den Verlust der Freyheit nicht überleben zu dürfen glaubt, ohne die Menschheit an sich und andern zu entehren; ein Luther, der die Wahrheit mit seinem Tode zu besiegeln bereit ist, und ihre Ausbreitung durch diese Standhaftigkeit befördert; alle diese Personen, sage ich, können nur in so fern um dieser Thaten willen für tugendhaft gehalten werden, als die Stimmung, welche in ihrem ganzen übrigen Leben die herrschende war, sie dazu aufgefordert hat. Wie [340] viele ähnliche sind nicht während der französischen Revolution von den verworfensten Wollüstlingen in einem vorübergehenden Anfall von Achtung für Pflicht und Menschenwerth geschehen! Auf der andern Seite kann die anhaltendste Wirksamkeit eines gutgearteten Instinkts, der zufällig die besten Folgen für die Menschheit hervorbringt, nicht für Tugend gelten, wenn Verstand und Vernunft ihn nicht leiten. Wer wird die leichtgestimmte, gutherzige Buhlerin eines Fürsten, darum tugendhaft nennen wollen, weil ihre Gesellschaft den Herrscher über ein großes Volk zur Milde, zur Mäßigung, und zu friedliebenden Gesinnungen stimmt, wodurch Wohlstand und Aufklärung befördert wird?

Zur Begründung der Tugend muß daher natürliche Anlage zum Guten mit überlegter Fertigkeit bey der Ausübung zusammengehen, und zu dieser Mischung werden die vereinigten Vorzüge beyder Geschlechter die glücklichste Veranlassung geben! Der Instinkt des Mannes wird durch den steten Umgang mit dem gutgearteten Weibe gebessert; er wird sanfter, duldender, mäßiger, billiger, mittheilender. Er legt höheren Werth auf Anstand und Ehrbarkeit; und das Beyspiel der Geliebten, ihre gleichförmigere Handlungsart, fordern ihn zur Nachahmung und anhaltenderen Uebung auf; dadurch gewinnt er zugleich an Fertigkeit. Er von seiner Seite wird sie lehren, ihre gute Gemüthsart nach Grundsätzen zu leiten, und in ihre Fertigkeit mehr Ueberlegung zu bringen.

[341]
Vier und zwanzigstes Kapitel.
Genuß der Liebe von Elternzärtlichkeit.

O Kinder! Lebendige Darstellungen der Liebe, der sie ihr Wesen verdanken! Wahre Mittel zur Unsterblichkeit unsers leiblichen Daseyns, das sich durch sie in allen künftigen Generationen der Körperwelt reproduciert! Emanationen unserer geistigen Natur, die den nächsten Fortsatz in der Reihe übersinnlicher Wesen bilden! Unserer Fürsorge anvertrauet, unser Werk, unser Stolz! Erben unsers Nahmens, unserer Güter, unsers Ansehns, und ach! vielleicht unserer Tugenden und Schwächen, unserer verschuldeten und nicht verschuldeten Schicksale! – O ihr neuen süßen und heiligen Bande zwischen den Mitzeugern und Mitbildern, und den gemeinschaftlichen Theilnehmern an hohen Pflichten und großen Verantwortungen! Ich ahnde nur, was der Vater, was die Mutter den Liebenden zugiebt, und meinen Gefühlen fehlt zugleich Erfahrung und Ausdruck!


  1. Et stimuli subsunt, qui instigant laedere id ipsum,
    Quodcunque est, rabies unde illae germina surgunt.

  2. Alexander’s History of Woman. T. II. p. 142.
  3. Emile L. V.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Thut